Der deutsche Wahlkampf: Seltsame Figuren, die irgendwann nur noch Karikaturen sein werden in den Geschichtsbüchern der Zukunft…

Seit Wochen tobt in Deutschland der Wahlkampf um die zukünftige Sitzverteilung im Bundestag. Wobei Kampf genau das richtige Wort ist. Vielleicht fällt es mir als Schweizer, der das alles als Zuschauer mit einer gewissen Distanz von aussen mitverfolgt, noch stärker auf als denen, die selber mittendrin sind. Was ich vor allem wahrnehme: Viel Hass, viel Aggressivität, gegenseitige Schuldzuweisungen aller Art, sture Rechthaberei, wenig Bereitschaft, anderen zuzuhören, Phrasen und Schlagwörter, mit denen man den politischen Gegner klein zu machen versucht. Nur selten Humor, fast nie ein verzeihendes Lächeln, kaum je die Bereitschaft, gegensätzliche Meinungen ernst zu nehmen, etwas daraus zu lernen oder gar eigene Fehler einzugestehen.

Es kommt mir vor wie Mäuse in einem zu engen Käfig. Man kennt das von Experimenten: Ist zu wenig Platz vorhanden, nimmt die Aggressivität zwischen den einzelnen Tieren immer mehr zu, und jede Zunahme von Aggressivität erzeugt wiederum ein noch höheres Mass an Aggressivität. Wobei es in diesem Wahlkampf nicht, wie im Fall der Mäuseexperimente, um die Anzahl der Quadratmeter oder Quadratzentimeter geht, welche dem Einzelnen zur Verfügung stehen, sondern um den geistigen Raum, in dem man sich bewegt.

Dieser geistige Raum, in dem sich die deutschen Bundestagswahlen zurzeit gerade bewegen, scheint ziemlich eng zu sein. Und so nimmt die Aggressivität der darin Agierenden ebenso laufend zu wie die Aggressivität der sich in einem zu engen Käfig befindlichen Mäuse. Dieser beschränkte geistige Raum nämlich ist letztlich nichts anderes als das kapitalistische Wirtschafts- und Denksystem. Ob es sich um den wachsenden Zeitdruck, Stress und Konkurrenzkampf am Arbeitsplatz handelt, die permanente Zunahme psychischer Erkrankungen, die soziale Ausgrenzung eines wachsenden Teils der Bevölkerung, die immer tiefer werdende Kluft zwischen Arm und Reich, die Ängste vor „Überfremdung“ und Bedrohung eigener kultureller Werte, den Klimawandel oder die sich insbesondere bei jungen Menschen immer weiter ausbreitende Resignation und Ohnmacht in Bezug nicht nur auf die individuelle, sondern auch auf die Zukunft der gesamten Menschheit, noch zusätzlich verstärkt durch die Angst vor einem drohenden dritten Weltkrieg – alle diese und beliebig viele weitere Missstände und Fehlentwicklungen , unter denen viel zu viele und immer mehr Menschen nicht nur in Deutschland, sondern weltweit leiden, lassen sich, ohne dass es hierfür irgendwelcher aufwendiger Analysen oder Studien bedürfte, unmittelbar auf das herrschende Machtsystem eines globalisierten Kapitalismus zurückführen, das beinahe ausschliesslich auf unbeschränkte Profitmaximierung und nicht enden wollende Bereicherung und Privilegierung einzelner Bevölkerungsgruppen auf Kosten anderer ausgerichtet ist. Kein Wunder, äussern sich in Umfragen, in Deutschland ebenso wie in anderen Ländern, regelmässig eine Mehrheit der Befragten dahingehend, dass der Kapitalismus insgesamt mehr Schaden als Nutzen anrichte.

Doch statt dass sich Politikerinnen und Politiker über alle Grenzen hinweg zusammensetzen und endlich darüber nachzudenken beginnen, wie denn eine Alternative zum Kapitalismus aussehen könnte und wie sich eine solche verwirklichen liesse, klammern sie sich unerbittlich am eingeschlagenen Irrweg fest. Radikal antikapitalistisches Denken findet höchstens noch in ein paar winzigen Nischen „Ewiggestriger“ statt und wird von den Mächtigen in aller Regel schon nach zaghaftestem kurzen Aufblitzen unmittelbar ins Reich des Bösen und der ewigen Finsternis verbannt. Als hätte das Denken in Alternativen zu jenem Zeitpunkt endgültig aufgehört, als der amerikanische Politologe Francis Fukuyama im Jahre 1989, berauscht vom scheinbar endgültigen Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus, verkündete, nun sei die Menschheit am „Ende ihrer Geschichte“ angelangt. Und nicht einmal in Deutschland wurde diese Behauptung Fukuyamas in den vergangenen 35 Jahren jemals ernsthaft in Frage gestellt, als hätte es in diesem Land nie einen Georg Friedrich Hegel gegeben, der schon vor über 200 Jahren in seiner wegweisenden Lehre der Dialektik genau das Gegenteil postulierte, nämlich, dass die Geschichte nie am Ende sei, sondern sich, ausgehend von Thesen und ihnen widersprechenden Antithesen, zu stets wieder neuen Synthesen weiterentwickeln kann. Es wäre im Jahre 1989 wohl um vieles zukunftsträchtiger gewesen, nicht auf Fukuyama zu hören, sondern auf eben diesen Georg Friedrich Hegel, um das kapitalistische Primat individueller Selbstverwirklichung und das sozialistische Primat sozialer Gerechtigkeit nicht gegeneinander auszuspielen und den Sieg des Ersteren gegen das Zweite zu feiern, sondern aus diesen beiden Ansätzen im Sinne einer Synthese etwas Neues, Drittes, Besseres zu schaffen.

Nun gibt es aber nebst dem Stillstand alternativen Denkens und der Absage an die Dialektik wohl auch noch einen weit handfesteren Grund dafür, dass sich die bestehenden politischen Parteien nicht aus dem kapitalistischen Denksystem zu lösen vermögen bzw. dies auch gar nicht wirklich wollen. Denn sie selber gehören ja in der kapitalistischen Klassengesellschaft zu 99 Prozent zu den Privilegierten, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, und haben deshalb auch kein echtes Interesse an einer grundsätzlichen Überwindung eines Machtsystems, das ihnen selber so viele Vorteile verschafft. Und so verlaufen die tatsächlich entscheidenden Konfliktlinien eben nicht zwischen den einzelnen politischen Parteien, sondern vielmehr zwischen den einzelnen Schichten der kapitalistischen Klassengesellschaft von ganz oben im Paradies der Reichsten bis ganz unten in der Hölle der Ärmsten und am meisten Ausgebeuteten. Tiefgreifende politische Veränderungen können daher nur von aussen oder von unten kommen, nicht aus dem Inneren des bestehenden Politsystems.

Einmal mehr ist auch der gegenwärtige, von Hass und Schuldzuweisungen geprägte deutsche Wahlkampf ein Paradebeispiel dafür, wie von den tatsächlich lebensbedrohenden Problemen, welche der Kapitalismus Tag für Tag verursacht, abgelenkt wird, indem man sich am untersten Rand dieses Machtsystems gezielt einzelne individuelle Sündenböcke aussucht, auf denen dann alle, gegenseitig sich anstachelnd und miteinander wetteifernd, bis zum Gehtnichtmehr herumhacken können. Da das „Böse“ ja nicht in den Grundprinzipien der herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung liegen darf, muss es demzufolge im Wesen oder in der Herkunft von ganz besonders „bösen“ Individuen liegen, die, wie man ihnen unterstellt, nichts anderes im Schilde führen, als den angeblich so ehrlich erschaffenen Wohlstand ihres „Gastlandes“ zu missbrauchen, zu gefährden oder gar zu zerstören: Die typische Ablenkung von der Systemgewalt auf die Individualgewalt, um die Existenz des herrschenden Machtsystems nicht zu gefährden, wie das auch schon zur Zeit der Hexenverfolgungen oder anderer Progrome so hervorragend funktionierte. Denn, wie schon Karl Marx sagte: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“

Ein einzelner Afghane oder Syrier, der eine Mordtat begeht, wird über Tage und Wochen zum fast einzigen Thema sämtlicher Zeitungsartikel, TV-Nachrichten, Talkshows und öffentlichen Debatten emporstilisiert, während allein in Deutschland gleichzeitig durchschnittlich jeden Tag eine Frau von ihrem eigenen Mann umgebracht wird, jeden Tag rund 50 unschuldige palästinensische Kinder von den Machthabern eines Staats getötet werden, mit dem man eng befreundet ist und dem man sogar in grossem Stil Waffen zum Töten dieser Kinder liefert, und jeden Tag weltweit rund 15’000 Kinder unter fünf Jahren sterben, weil sie nicht genug zu essen haben, und zwar nicht etwa deshalb, weil insgesamt zu wenig Nahrungsmittel vorhanden wären, sondern aus dem einzigen und alleinigen Grund, dass im globalisierten Kapitalismus – der angeblich einzig möglichen und besten Wirtschaftsweise aller Zeiten – die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo die multinationalen Nahrungsmittelkonzerne damit am meisten Geld verdienen können. Doch Meldungen und Nachrichten dieser Art sucht man in den allermeisten Medien vergebens, und erst recht nicht in den Verlautbarungen all jener Politikerinnen und Politiker, die jetzt gerade im Wahlkampf stehen. Wie man auch nie etwas davon hört, dass auf jeden Flüchtling, der eine Straftat begeht, etwa zehntausend andere kommen, die sich noch nie auch nur des geringsten Vergehens schuldig gemacht haben. Und man auch nie etwas davon hört, dass die vielbeklagte Migration aus dem Süden in den Norden nichts anderes ist als die zwangsläufige Folge von 500 Jahren kolonialer Ausbeutung, welche die Voraussetzung dafür war, dass die Länder des Nordens trotz weitgehenden Mangels an Rohstoffen und Bodenschätzen überhaupt so reich werden konnten, wie sie heute sind, Reichtum also, der letztlich nur entstehen konnte aus der Ausbeutung, Beraubung, Plünderung, Fremdbestimmung und Verelendung des Südens. Was nichts anderes bedeutet, als dass Menschen, die aus dem Süden in den Norden fliehen, nichts anderes versuchen, als sich einen winzigen Teil dessen, was ihnen und ihren Vorfahren über Jahrhunderte gestohlen wurde, wieder zurückzuholen.

Diese systematische Täter-Opfer-Umkehr, das geradezu hysterische Herumhacken auf den Schwächsten, hat mittlerweile schon fast dermassen pseudoreligiöse, wahnhafte Dimensionen angenommen, dass selbst eine durchaus intelligente und kritische Politikerin wie Sahra Wagenknecht das „Migrationsproblem“ an die oberste Stelle ihrer politischen Agenda gesetzt hat, weil sie genau weiss, dass sie sonst im gegenseitigen Macht- und Konkurrenzkampf mit den anderen Parteien kläglich untergehen würde. Erfolgreich ist heute offensichtlich nur noch, wer die dicksten Muskeln zeigt, gnadenlos auf den Allerschwächsten herumhackt und die eigentlichen Ursachen aller wirklich grossen Probleme systematisch verschweigt und von ihnen ablenkt. Hass als politisches Programm.

Luisa Neubauer spricht in Bezug auf den Klimawandel von „Kipppunkten“, kürzesten Zeitfenstern, in denen Dinge geschehen können, die sich definitiv nie mehr rückgängig machen lassen werden. Auch die Schwelle zu einem dritten, alles vernichtenden Weltkrieg als letzte, perverseste Konsequenz kapitalistisch-patriarchaler Weltherrschaft könnte ein solcher Kipppunkt sein.

Aber könnte es nicht auch Kipppunkte in die umgekehrte Richtung geben? Ist nicht denkbar, dass der Hass, den so viele sich heute an der Macht Befindliche um sich herum verbreiten, doch noch eines Tages ins Gegenteil kippen könnte? So etwas wie Menschenliebe scheint aus der heutigen Politik nahezu gänzlich ausgelöscht worden zu sein. Aber das heisst doch nicht, dass sie sich deshalb in nichts aufgelöst hat. Irgendwo anders staut sie sich doch gewiss wieder auf, wie Wasser im See hinter einer Staumauer, wie Blumen, die aus den Ruinen zerstörter Städte wieder neu herauswachsen, wie ein jedes Kind, das voller Hoffnung und Sehnsucht nach einer Welt voller Frieden, Gerechtigkeit und einem Leben voller Glück und voller Lachen neu geboren wird. Irgendwann werden doch diese seltsamen Figuren, die heute noch das Weltgeschehen dominieren, für immer der Vergangenheit angehören müssen und nur noch Karikaturen sein in den Geschichtsbüchern der Zukunft, die in den Händen neuer Generationen, die das alles fast nicht mehr glauben können werden, die Runde machen werden. Ja, so utopisch es klingen mag, aber die Liebe ist der einzige Schlüssel, der die althergebrachten Denkmuster, die schon viel zu viel Schaden angerichtet haben, aufzubrechen und den Blick in eine neue, von Grund auf andere Zukunft zu öffnen vermag. Nicht die am meisten von Hass, Arroganz und Rechthaberei Besessenen werden in dieser neuen Zeit die verantwortungsvollsten Posten in der Gesellschaft einnehmen, sondern die Liebevollsten, Zärtlichsten, Dünnhäutigsten, Empfindsamsten. Die, welche sich selber so stark lieben, dass sie auch jeden anderen Menschen voll und ganz lieben, in allem zuallererst das Gute sehen, auch noch das „Fremdeste“ in ihr Herz hereinlassen, auch noch mit den „Verrücktesten“ das Gespräch suchen und die auch selber erst dann wirklich ruhig schlafen können, wenn auch alle anderen Menschen auf dieser Welt frei von Hunger, Armut, Ausbeutung, Verfolgung und Kriegen ebenso ruhig schlafen können…

Von Benjamin Netanyahu über Donald Trump und Leon de Winter bis zur Sonntagszeitung vom 9. Februar 2025: Man muss es mindestens zwei Mal lesen, um es zu glauben…

Man muss es zwei Mal lesen, um es zu glauben: Ein israelischer Ministerpräsident lässt Zehntausende Kinder, Frauen und Männer töten und ihre Heimat in Schutt und Asche legen. Ein soeben gewählter US-Präsident hat die glorreiche Idee, alle, welches dieses Massaker überlebt haben, in andere Länder fortzuschaffen und auf den Ruinen der zerstörten Häuser eine Riviera mit Badestränden für Reiche aus aller Welt zu bauen. Ein niederländischer Erfolgsautor findet das eine „tolle Idee“. Und die Sonntagszeitung stellt diesem Autor zwei ganze Seiten zur Verfügung, um seine Begeisterung kundzutun.

Für diesen Autor namens Leo de Winter ist Donald Trump ein „Dichter“, der sogar „neue Wörter kreiert“, in dessen „ganz grossen Träumen“ es „keine Grenzen“ gibt, der „höchst intelligent“ ist und der „mit seinem Rhythmus die meisten seiner Kritiker einfach überfordert“. Auf den Ruinen der zerstörten palästinensischen Wohnhäuser die „besten, schönsten und grössten Hotels, die es je auf der Welt gegeben hat“, zu bauen, findet de Winter einen „schönen Gedanken“. Und dem Vorschlag Trumps, die verbliebenen Palästinenserinnen und Palästinenser nach Indonesien zu verfrachten, wo es noch „Tausende sehr schöne,  unbewohnte Inseln“ gäbe, würde er sich ebenfalls anschliessen.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein solcher Artikel vor fünf Jahren hätte geschrieben werden können, zu gross wäre die Empörung der Leserschaft gewesen. Inzwischen scheint der Wahnsinn offensichtlich zur Normalität geworden zu sein.

300 Reichste um 38,5 Milliarden Franken reicher geworden und immer mehr Obdachlose im gleichen Land: Kein Zufall…

Immer mehr Menschen in der Schweiz sind von Obdachlosigkeit betroffen. Gleichzeitig sind die 300 Reichsten innerhalb eines Jahrs um 38,5 Milliarden Franken reicher geworden. Auf den ersten Blick hat das nichts miteinander zu tun. Tatsächlich aber findet unsichtbar eine permanente Umverteilung statt, von denen, die viel zu viel haben, zu denen, für die immer weniger übrig bleibt. So sind Tiefstlöhne und sich überpurzelnde Konzerngewinne die beiden unauflöslich miteinander verbundenen Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze. Das Gleiche gilt auch bei der „Gesundschrumpfung“ von Betrieben: Bedeutet das für die einen Erwerbslosigkeit und Armut, so bedeutet es für die anderen höhere Profite, da sie nun mit geringeren Lohnkosten eine höhere Rendite erreichen. Solche Zusammenhänge werden kaum je diskutiert. Obwohl es evident ist: Geld fällt nicht vom Himmel, es wächst auch nicht auf Bäumen. Wenn es sich am einen Ort so gewaltig auftürmt, fehlt es an anderen Orten umso schmerzlicher. „Wärst du nicht reich“, sagt der arme zum reichen Mann in einer bekannten Parabel von Bertolt Brecht, „dann wäre ich nicht arm.“ Deshalb lässt sich dieses Problem nicht durch mehr Sozialprogramme oder Notschlafstellen lösen, sondern nur durch eine radikale Umgestaltung des Wirtschaftssystems. Es braucht nicht Almosen, sondern Gerechtigkeit. Man muss nicht die Armut bekämpfen, sondern den Reichtum. Wenn der übermässige Reichtum verschwindet, dann verschwindet die Armut ganz von selber.

Mehr Geld für den Krieg auf Kosten der ärmsten Länder der Welt: In was für einer verrückten Zeit leben wir eigentlich?

Weltweit eskalierende Rüstungsausgaben werden von jedem einzelnen Land stets damit begründet, dass es alle anderen Länder auch machen – eine jeglichem gesundem Menschenverstand zutiefst widersprechende Logik, die im schlimmsten Fall zu nichts anderem führen könnte als zu einer Selbstvernichtung der gesamten Menschheit. Viel logischer wäre das Gegenteil: Dass ein Land damit beginnt, seine Rüstungsausgaben zu reduzieren, um auf diese Weise die anderen Länder zu ermutigen, es ihm gleichzutun, bis es am Ende keine Waffen, keine Armeen und keine Kriege mehr gäbe. Wenn es ein Land gibt, das, aufgrund seiner jahrhundertelangen humanitären Tradition, diesen ersten Schritt wagen könnte, dann wäre es wohl zweifellos die Schweiz.

Stattdessen beteiligen wir uns, wie alle anderen, blindlings am Wahnsinn der globalen uferlosen Rüstungsspirale: Die Ausgaben für die Schweizer Armee sollen 2025 und 2026 um je 3 Prozent und 2027 sogar um 5,1 Prozent gesteigert werden. Und wo wird das benötigte Geld eingespart? Ausgerechnet bei der Entwicklungshilfe! Konkret soll zum Beispiel die finanzielle Unterstützung für zwei der ärmsten Länder, Sambia und Bangladesch, zur Gänze gestrichen und für eine Reihe weiterer Länder teilweise massiv gekürzt werden, ebenso die Beiträge für die internationale Aids-Hilfe, weitere UNO-Entwicklungsprogramme und die Unicef, wovon beinahe ausschliesslich notleidende Kinder betroffen sein werden. Dabei war bereits die bis anhin von der Schweiz geleistete Entwicklungshilfe alles andere als grosszügig und betrug laut der Entwicklungsorganisation Oxfam bloss einen Fünfzigstel dessen, was unser Land gleichzeitig im Handel mit Entwicklungsländern an Profiten erwirtschaftet.

Aber es kommt noch besser: Die Reduktion der Entwicklungshilfe wird sogar noch mit den Aufwendungen von rund 4 Milliarden Franken für die 13. AHV-Rente begründet. Am Ende sollen also noch die Rentnerinnen und Rentner, die sich endlich einen einigermassen finanziell gesicherten Lebensabend erkämpft haben, daran Schuld sein, wenn zukünftig Aids-Kranke in aller Welt, notleidende Menschen in von Kriegen zerstörten Ländern und Zehntausende von Kindern, die nicht genug zu essen haben, von der Schweiz keine Unterstützung mehr bekommen. Gleichzeitig werden in der Schweiz jedes Jahr Erbschaften in der Höhe von fast 90 Milliarden an „überschüssigem“ Geld von einer Generation zur nächsten weitergeschoben und die 300 Reichsten des Landes sind im letzten Jahr wiederum, ohne dafür einen Finger krümmen zu müssen, um insgesamt 38,5 Milliarden Franken, mehr denn je zuvor, reicher geworden. In was für einer verrückten Zeit leben wir eigentlich?

Leiser werdende Proteste gegen das WEF: Alles andere als ein Grund zu Euphorie…

„Die Ära der grossen Anti-WEF-Proteste ist vorbei“, schreibt die „Sonntagszeitung“ am 19. Januar 2025, „was gewiss damit zusammenhängt, dass sich der globale Handel entgegen früherer Befürchtungen insgesamt als Erfolgsrezept und als regelrechtes Wirtschaftswunder erwiesen und einigen Ländern einen spektakulären Aufstieg ermöglicht hat.“

Was für eine unglaubliche Schönfärberei. Dass der globalisierte Kapitalismus ein Erfolgsrezept sein soll, gilt doch, wenn überhaupt, bloss für eine winzig kleine Seite der Medaille. Die andere, ungleich viel grössere, ist, dass in einer Welt, an deren einem Ende sich eine nie dagewesene Fülle an Luxus auftürmt, nach wie vor am anderen Ende jeden Tag rund 15’000 Kinder unter fünf Jahren sterben, weil sie nicht genug zu essen haben, nicht weil weltweit insgesamt zu wenig Nahrung zur Verfügung stünde, sondern schlicht und einfach deshalb, weil im globalisierten Kapitalismus die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo sich mit ihnen am meisten Geld verdienen lässt. Zudem wüten an diesem anderen, viel grösseren Ende der Welt zurzeit rund 60 fürchterliche Kriege, mehr denn je seit 1945, und in den meisten von ihnen ist es immer auch ein Kampf um stets knapper werdende Rohstoffe, welche vom Wachstumswahn der kapitalistischen Wirtschaftsideologie in immer grösserem Ausmass verschlungen werden. An diesem anderen Ende der Welt sind zurzeit auch rund 100 Millionen Menschen auf der Flucht, ebenfalls mehr denn je, viele von ihnen werden vom tunesischen Militär in die libysche Wüste gejagt, wo sie elendiglich verdursten, andere versinken namenlos im Mittelmeer oder im Ärmelkanal, wieder andere liegen bei Minustemperaturen mit gebrochenen Armen und Beinen in Wäldern und Sümpfen im bosnisch-kroatischen Grenzgebiet, und auch dies alles nur deshalb, weil das Gefälle zwischen armen und reichen Ländern im Zuge der kapitalistischen Globalisierung immer grösser wird und infolge der ebenfalls durch kapitalistisches Profitstreben verursachten Klimaerwärmung in zahlreichen Ländern des Südens die Landwirtschaftserträge mehr und mehr zurückgehen und nur schon das nackte Überleben immer mehr in Frage gestellt ist. In dieser angeblich von kapitalistischem Erfolgsrezept geprägten Welt, in der gerade wieder innerhalb von nur einem Jahr das Vermögen sämtlicher weltweiter Milliardäre drei Mal stärker gewachsen ist als im Jahr zuvor, die zehn reichsten Milliardäre pro Tag um 100 Millionen US-Dollar reicher geworden sind und den Menschen immer noch die Lüge eingetrichtert wird, Reichtum können geschaffen werden, ohne gleichzeitig auch Armut zu schaffen.

Dass die Proteste gegen das WEF leiser geworden sein sollen, weil sich der globalisierte Kapitalismus als Erfolgsmodell erwiesen hätte, ist reines Wunschdenken jener, die immer noch auf der kleineren, schönen Seite der Medaille sitzen. Der tatsächliche Grund ist indessen genau das Gegenteil: Dass es gerade an allen Ecken und Enden brennt und die, welche mit ihrer ganzen Leidenschaft für eine friedlichere und gerechtere Zukunft kämpfen, halt schlicht und einfach nicht überall gleichzeitig sein können. Dass der globalisierte Kapitalismus insgesamt ein nie dagewesenes Erfolgsmodell sein soll, können wirklich nur all jene behaupten, welche die Welt ausschliesslich von oben sehen und offensichtlich immer noch nicht mitbekommen haben, dass das, was von oben wie der Himmel aussieht, von unten gesehen nichts anderes ist als die Hölle.

Die zunehmende Attraktivität rechtsnationaler Kräfte und das Fehlen einer glaubwürdigen Alternative auf der linken Seite

„Es gibt eine weltweite Tendenz, wonach die nationale Politik zunehmend von Gerichten und internationalen Abkommen bestimmt wird“, so der Historiker Oliver Zimmer in der „Sonntagszeitung“ vom 12. Januar 2025, „die gewählten Politikerinnen und Politiker haben immer weniger Handlungsspielraum. So wird die Demokratie untergraben und die Menschen haben das Gefühl, dass es eigentlich gar keine Rolle mehr spielt, wen sie wählen, denn die Bandbreite, worüber die gewählten Politikerinnen und Politiker noch bestimmen können, ist sehr schmal geworden.“

Dass in den Demokratien die Handlungsspielräume für die Politik immer kleiner werden, mag gewiss ein Grund dafür sein, dass sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger von den etablierten Parteien abwenden und rechtsnationale Kräfte vermehrt Zulauf erhalten. Es gibt aber noch einen weiteren, vermutlich viel wesentlicheren Grund. Er lässt sich mit einem Wort auf den Punkt bringen: Kapitalismus. Denn wir leben nicht nur in mehr oder weniger schlecht funktionierenden Demokratien. Wir leben gleichzeitig auch in einem kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem und fast alle Probleme, mit denen wir uns heute immer hilfloser herumschlagen, sind unmittelbare Folgen dieses Systems, das auf den Prinzipien grösstmöglicher Profitmaximierung und unaufhörlichen Wachstums beruht: Stetige Umlagerung des Reichtums von der Arbeit zum Kapital, zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich, immer weniger Geld für öffentliche Aufgaben, maximale Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und natürlicher Ressourcen, zunehmender Druck am Arbeitsplatz, psychische Belastungen durch Überforderung auf der einen und wachsender Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite, Verkehrsprobleme, Umweltzerstörung und Klimakrise, negative Folgen von Migration. Kurz: Ein System, das, wie immer mehr Menschen bewusst wird, aufgrund seiner inneren Widersprüche früher oder später kollabieren muss.

Leider, und das ist das Verhängnisvolle, existiert auf der linken Seite kaum mehr die glaubwürdige Vision einer Alternative zum Kapitalismus. Umso höher auf der anderen Seite des politischen Spektrums die Gunst der Stunde, von der laufend wachsenden Unzufriedenheit der Menschen zu profitieren. Diese Entwicklung lässt sich nicht aufhalten, indem man die Parteien am rechten Rand zu bekämpfen versucht, sie werden dadurch höchstens noch stärker. Was es dringendst braucht, ist eine glaubwürdige Alternative auf der linken Seite. Wahrscheinlich wird man schon bald erkennen, dass die Grundidee des Sozialismus doch nicht ganz so schlecht war. Man müsste sie wahrscheinlich nur noch einmal von Grund auf sorgfältig durchdenken und mit dem Ideal von Freiheit und Selbstbestimmung in Einklang bringen. Das dürfte nicht einmal so schwierig sein, denn Freiheit im Kapitalismus ist schon längst keine echte Freiheit mehr, es sind je länger je mehr nur noch Privilegien der einen auf Kosten der anderen.

Wenn die Demokratie zum Büchsenschiessen verkommt und was wir von Afrika lernen können…

Weisst du, sagte mir ein Freund, der seit zwei Jahren Mitglied unseres Gemeinderates ist, manchmal komme ich mir vor wie eine dieser Büchsen in einem Jahrmarktsstand, auf die pausenlos jemand mit Bällen schiesst, um in möglichst kurzer Zeit möglichst viele von uns abzuknallen und dann als Belohnung ein möglichst grosses Stofftier zu bekommen. Und ja, denke ich, das kann nicht schön sein. Kein Wunder, gibt es immer weniger Leute, die sich für öffentliche Ämter zur Verfügung stellen. Und oft sind es dann ausgerechnet solche mit einer besonders dicken Haut, die sich durch Angriffe von aussen nicht allzu sehr aus dem Konzept bringen lassen, oder solche, die dann mit ebenso grobem Geschütz oder sogar noch gröberem zurückschiessen. Aber ob das dann besser ist?

Aber es sind nicht nur die öffentlichen Ämter. Manchmal kommt es mir vor wie eine allgemeine Treibjagd, in der Politik, in den Medien, im Internet, in öffentlichen Diskussionen, selbst bei persönlichen Begegnungen auf der Strasse oder bei Familienfesten. Immer ist sogleich jemand zur Stelle, der dies oder das gehört oder gelesen, sich über dies oder das schon ganz gehörig ereifert oder genervt hat und jede Gelegenheit beim Schopf packt, nun seinem ganzen Unmut möglichst freien Lauf zu lassen, als wären wir in unserem Innersten immer noch eine Art Jäger, die stets sehnlichst auf den Tag warten, an dem der Beginn der Jagd offiziell verkündet wird, um dann sogleich mit der Flinte in der Hand loszurennen und in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Tiere zur Strecke zu bringen.

Oft ist es nur ein kleines „falsches“ Wort am „falschen“ Ort zur „falschen“ Zeit, und schon geht die Empörungswelle los, Tausende von Kommentaren im Internet, in den sozialen Medien, in Bruchteilen von Sekunden, Schlag auf Schlag, Ball um Ball und Büchse um Büchse, und wer da noch auf die verrückte Idee käme, alles ein bisschen entschleunigen und dem Nachdenken über ein bisschen tiefer gehende Hintergründe oder Zusammenhänge mehr Zeit und Raum geben zu wollen, kommt sich schon fast vor wie ein Relikt aus der Zeit der Dinosaurier. Als Held seiner Zeit gilt der, welcher möglichst rasch eine möglichst klare, keinen Widerspruch duldende Position einnimmt, diese möglichst rasch möglichst weit verbreitet und dem es gelingt, andere, dieser möglicherweise widersprechende Positionen möglichst erfolgreich zur Seite zu schieben.

Das tut der Demokratie nicht gut. Man könnte es vielleicht sogar als gewaltigen gesellschaftlichen Rückschritt sehen. Denn es gäbe schon noch ein paar bedenkenswerte Gepflogenheiten aus früheren Zeiten, die man sich vielleicht mal gelegentlich in Erinnerung rufen müsste, auch wenn sie fast aus der Zeit der Dinosaurier stammen.

Zum Beispiel die Dreistufigkeit einer guten Meinungsbildung. Die erste Stufe ist das Ereignis als solches, das Betroffenheit, Zustimmung oder Widerspruch auslöst. Als zweite Stufe müsste jetzt eigentlich zunächst die eigene, innere Auseinandersetzung kommen, sodann jene im näheren persönlichen Umfeld und früher oder später jene im öffentlichen Raum. So kann die eigene Meinung reifen, die impulsive Reaktion des ersten Moments wird sich dabei möglicherweise relativieren, entschärfen, versachlichen, erweitern oder gar auf den Kopf stellen. Zuletzt die dritte Stufe einer reif gewordenen, durchdachten eigenen Meinung zum betreffenden Thema. Was in den meisten Meinungsbildungsprozessen unserer schnelllebigen Zeit fast gänzlich abhanden gekommen ist, ist die zweite Stufe, meist wird unvermittelt von der ersten zur dritten Stufe gesprungen, schneller geschrieben als gedacht und dabei unbewusst das neue Ereignis, die neue Botschaft in das eigene, bereits bestehende Denkgebäude eingefügt, ohne es näher zu hinterfragen und in seiner möglichen Vieldeutigkeit zu analysieren. Dabei wäre doch die zweite Stufe, die Stufe der Reflexion und der inneren und äusseren Auseinandersetzung, mit Abstand die interessanteste, spannendste und fruchtbarste. In dieser Phase erfahre ich, was sich andere Menschen zum gleichen Thema für Gedanken gemacht haben, ich kann von ihnen etwas lernen, meine Kenntnisse erweitern und meine eigene Meinung kritisch überprüfen. Für diese Phase eignet sich das Internet nicht. Es braucht öffentliche Debattierclubs, Quartiertreffpunkte, Stammtische, wo sich Menschen unterschiedlicher Meinungen und Denkrichtungen treffen und sich miteinander austauschen können – ganz im Gegensatz zu all den „Blasen“ in der digitalen Welt, wohin sich Menschen auf der Suche nach möglichst vielen Gleichgesinnten zurückziehen und sich die eigenen Zweifel und Unsicherheiten leicht verdrängen lassen, indem man Teil einer Gemeinschaft wird, in der so wohltuend harmonisch alle fast genau gleich denken, und zwar natürlich das „Richtige“, denn selber ist man ja immer gescheiter als alle anderen, selber ist man ja immer etwas „Besseres“ als der Rest der Welt.

Auch die Grundhaltung, dass der andere möglicherweise Recht haben und man selber möglicherweise auch falsch liegen könnte, wäre eine wesentliche Voraussetzung für eine fruchtbare Meinungsbildung. „Intellektuell sein“, so Stefan Zweig, „heisst gerecht sein, heisst Verständnis aufbringen für sein Gegenüber, für die Oppositionellen, für die Gegner.“ Paul Watzlawick, Philosoph und Kommunikationswissenschaftler, sagt: „Der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit, ist die gefährlichste Selbsttäuschung.“ Und Kurt Tucholsky formulierte es so: „Streitende sollten wissen, dass nie einer ganz Recht hat und der andere ganz Unrecht.“ Das wussten die Menschen in Afrika schon vor Jahrhunderten. Was bei uns Gemeinderatssitzungen sind, waren in den afrikanischen Dörfern die „Palaver“: Im Rat der Weisen wurde über ein Thema so lange diskutiert, bis man eine gemeinsame Meinung gefunden hatte, egal, ob es ein paar Stunden oder ein paar Tage dauerte. Und zwar diskutierte man nicht so lange, bis man Zweifler oder Andersdenkende „überredet“ und in eine Minderheit versetzt hatte, sondern, ganz im Gegenteil, so lange, bis die Ideen dieser Zweifler und Andersdenkender in die gemeinsame Beschlussfassung in ausreichendem Mass Eingang gefunden hatten, so dass sich diese mit dem Resultat einverstanden erklären konnten – eine Form von Demokratie, die unserer heutigen Zeit damals schon um Jahrhunderte voraus war, ist doch in der heutigen „demokratischen“ Schweiz in jedem Entscheid über eine Volksinitiative, auch wenn sie nur mit 50,4 Prozent Neinstimmen abgelehnt wird, kein Quentchen von dem enthalten, was sich diese anderen 49,6 Prozent gewünscht hätten. So wird gesellschaftlicher Fortschritt durch die „Siegermentalität“ der „Erfolgreichen“ nicht ermöglicht, sondern immer und immer wieder aufs Neue abgewürgt. Kein Wunder, wird Politik auf diese Weise weitgehend als Stillstand und permanente Zementierung des Bestehenden wahrgenommen und wenden sich immer mehr Menschen enttäuscht davon ab.

Ein anderes wichtiges Instrument, das dazu dienen könnte, gesellschaftlichen Fortschritt zu beflügeln, ist die Theorie des von 1770 bis 1831 lebenden deutschen Philosophen Georg Friedrich Hegel, wonach sich zu jeder Idee bzw. These eine Gegenidee bzw. Antithese formulieren lässt, aus deren Verschmelzung eine neue Idee bzw. Synthese entstehen kann. Eine Methode, von der die heutigen Menschen in unseren modernen „Demokratien“ offensichtlich kaum mehr etwas zu wissen scheinen, obwohl sie ganz einfach und zudem äusserst erfolgreich sein könnte. Sie beruht im Wesentlichen darauf, dass sich bestehende Verhältnisse am wirkungsvollsten dadurch verändern lassen, indem man sich zunächst mal ihr Gegenteil vorstellt. Konkret: In einer Welt voller Armeen und von Jahr zu Jahr steigender Rüstungsausgaben stellt man sich vor, dass es keine einzige Armee mehr gäbe, und weiter, was man mit dem damit eingesparten Geld alles finanzieren könnte. Als Gegenidee zu einem Gesundheitssystem mit 55 privaten Krankenkassen, einem Dschungel an Hin- und Herfinanzierungen, einem zerstörerischen Renditezwang und der für viele Menschen schon längst nicht mehr tragbaren Belastung, für die Gesundheitskosten weitgehend privat aufkommen zu müssen, stellt man sich ein staatliches, ausschliesslich über Steuern finanziertes Gesundheitssystem vor. Als Gegenidee zu einem Lohnsystem, wo in einzelnen Firmen wie etwa dem Pharmakonzern Roche die höchsten Löhne die geringsten um das 307fache übersteigen, stellt man sich einen Einheitslohn mit dem gleichen Stundenansatz für alle Berufe, von der Putzfrau bis zum Topmanager. Als Gegenidee zu einem vom privaten Automobil dominierten Verkehrssystem, das immer mehr an seine Grenzen gelangt, stellt man sich ein dermassen weit ausgebautes und von der Allgemeinheit getragenes öffentlichen Verkehrssystem vor, dass das private Automobil früher oder später überflüssig geworden sein wird. Als Gegenidee zu einem Schulsystem, das sich an Jahrgangsklassen und künstlich geschaffenen, ausschliesslich von Erwachsenen geschriebenen Lehrplänen orientiert, stellt man sich eine offene, unstrukturierte Lernwelt vor, in der sich Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu jeder Zeit ihres Lebens und stets aufgrund ihrer jeweiligen echten Lern- und Lebensbedürfnisse frei und selbstbestimmt bewegen können. Damit soll nicht postuliert werden, dass so utopische Ideen von heute auf morgen verwirklicht und alles Bisherige innert ganz kurzer Zeit über Bord geworfen werden kann. Aber nur wenn das Gegenteil des Bestehenden zunächst einmal frei und mutig gedacht wird und man es sich konkret vorzustellen versucht, wenn also zu den bestehenden „Thesen“ ihr Gegenteil in Form von „Antithesen“ in den Raum gestellt wird, können sich daraus neue, kreative Lösungen als „Synthesen“ verwirklichen lassen, die man sich, obwohl sie meistens ganz logisch und simpel wären, zuvor noch gar nicht vorzustellen vermochte. Dass Politik ohne Phantasie, Kreativität und Visionen reine Zeitverschwendung ist, müssten wir ja eigentlich längst schon erkannt haben, wenn man bedenkt, wie seit Jahren alle grossen Herausforderungen vom Gesundheitssystem über das Verkehrssystem, das Bildungssystem, die Altersvorsorge, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, den Fachkräftemangel, die Missstände bei der IV, die Strukturprobleme in der Landwirtschaft, die steigenden Lebenskosten, den fehlenden Wohnraum bis hin zum Verhältnis zur EU, der Frage der Neutralität, der Rolle der Schweiz in der Welt und nicht zuletzt der Klimakrise wie heisse Kartoffeln ungelöst vor sich hingeschoben werden und dabei die Probleme immer nur noch grösser und grösser werden. Dazu kommt jetzt zu allem Überdruss noch die sogenannte Künstliche Intelligenz, die natürlich ausschliesslich im bereits Bekannten, also im Bereich der Thesen, verharrt und diesen sogar noch zusätzlich einen technologischen „Heiligenschein“ verleiht. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass aus dieser Ecke die wirklich kreativen und das herkömmliche Denken sprengenden Antithesen kommen, die wir so dringend brauchen. Hierfür bedarf es schon echter Intelligenz.

Man müsste vielleicht die Demokratie neu erfinden, um das alles in den Griff zu bekommen. Oder, ganz einfach, wieder zu ihren Wurzeln zurückkehren. Das Büchsenschiessen jedenfalls bringt uns gewiss nicht weiter. Es braucht wieder menschliche Begegnungen, stundenlange Palaver, mutige Ideen und Visionen, die Bereitschaft einander zuzuhören und gemeinsam Lösungen zu suchen, nicht gegeneinander, denn, wie schon Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ Niemand besitzt die Wahrheit als Ganzes, jeder und jede besitzt nur einen Teil davon, je ein einzelnes Puzzlestück, und nur wenn wir sämtliche Stücke einfügen, kann das ganze Bild entstehen.

Und das kann nur geschehen, wenn wir uns dafür die nötige Zeit und Ruhe nehmen. Aus Zeitdruck und permanenter Hektik, aus Stress und ständiger Überforderung kann nichts Gutes entstehen. Warum nehmen wir uns nicht zum Beispiel den Freitag als regelmässigen Wochentag der „Besinnung“, der politischen Arbeit und der menschlichen Begegnungen? Einen Tag pro Woche nicht am Computer sitzen, uns in Gespräche vertiefen, immer Zeit haben, nie sagen: „Tut mir leid, ich muss gleich weiter, ich habe noch einen Termin, ich muss noch dies und ich muss noch das…“ Bereits Max Frisch, und das ist nun schon eine Weile her, sagte: „Einst hatten wir Zeit. Ich weiss nicht, wer sie uns genommen hat. Ich weiss nicht, wessen Sklaven wir sind. Wir sind ja schon fast so wie die Ameisen.“ Was er wohl sagen würde, wenn er heute noch leben würde?

Wir brauchen nicht fremde Diktatoren, um uns die Demokratie zerstören zu lassen. Das können wir, wenn wir so weitermachen, ganz gut auch selber schaffen. Ebenso aber liegt es auch in unserer Hand, wieder zu den Grundwerten echter Demokratie zurückzukehren. Demokratie ist zwar, wie Winston Churchill einst sagte, die schlechteste aller Regierungsformen, aber wenigstens doch immer noch besser als alle anderen…

Von Solingen bis New Orleans: Auf den Mücken herumtrampeln, damit die Elefanten möglichst lange unsichtbar bleiben…

„In New Orleans“, so ist in den Mittagsnachrichten des Schweizer Radios SRF1 am 1. Januar 2025 zu hören, „ist ein Autofahrer mit seinem Fahrzeug in eine Menschenmenge gerast, mitten auf der beliebten Ausgehmeile Burban Street. Die Behörden melden zehn Tote und 30 Verletzte. Der Mann sei wild entschlossen gewesen, so viel Schaden wie möglich anzurichten, sagt die Polizeichefin. Er habe nach seiner Fahrt aus dem Auto heraus auf die Polizei geschossen. Präsident Joe Biden hat den Verletzten und den Hinterbliebenen sein Mitgefühl ausgedrückt. Es gäbe, so Biden, keine Rechtfertigung für jegliche Art von Gewalt. Und weiter: Die Bundespolizei stufe das Ereignis als terroristischen Akt ein und werde die nötigen Untersuchungen einleiten.“

Gleichentags hat ein Amokläufer im montenegrinischen Cetinje sechs Menschen erschossen, darunter zwei Kinder. Und es ist erst zwölf Tage her, da raste an einem Weihnachtsmarkt in der Magdeburger Innenstadt ein Autofahrer in eine Menschenmenge, fünf Menschen – vier Frauen und ein neunjähriges Kind – starben, weitere 200 wurden verletzt, 41 von ihnen schwer. Der Täter, ein 50jähriger Saudi-Arabier, der 2006 nach Deutschland kam und im Jahre 2016 als politisch Verfolgter das Asylrecht erhielt, habe, so Bundesinnenministerin Nancy Faser, „unfassbar grausam und brutal gehandelt“. Der Anschlag löste in Deutschland eine immense politische Debatte mit dermassen massiven gegenseitigen Schuldzuweisungen aus, dass ein paar Tage später nicht nur die AfD, sondern auch die CDU massive Verschärfungen des geltenden Asylrechts forderte, so etwa den Entzug des Aufenthaltsstatus für straffällige Flüchtlinge. Auch solle das Sicherheitspaket, das bereits nach dem Anschlag in Solingen vom 23. August 2024, bei dem ein syrischer Asylbewerber auf einem Volksfest drei Menschen niedergestochen hatte, verabschiedet worden war und unter anderem eine biometrische Gesichtserkennung und die Speicherung von IP-Adressen vorsieht, nun endlich rigoros umgesetzt werden. Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder forderte sogar eine „Zeitenwende für die innere Sicherheit“.

Doch während sich halb Europa über drei Attentate mit insgesamt 21 Toten und 230 Verletzten ereifert, beläuft sich die Zahl der Todesopfer im Gazastreifen durch die israelischen Bombardierungen seit dem 7. Oktober 2023 sowie der dadurch verursachten Zerstörungen mittlerweile auf bald Hunderttausend, weitere über Hunderttausend leiden unter zum Teil schweren Verletzungen, ohne auch nur annähernd ausreichende ärztliche Versorgung zu bekommen. Mit der von der israelischen Armeeführung verfügten Schliessung des Kamal-Adwan-Spitals am 29. Dezember 2024 ist nun auch noch das letzte Spital in Nordgaza ausser Betrieb. Rund eine Million palästinensische Männer, Frauen und Kinder harren in notdürftig zusammengebauten Zelten aus, Tausende werden, abgeschnitten von Hilfslieferungen und medizinischer Versorgung, voraussichtlich den Winter nicht überleben. Bereits sind, in den letzten Tagen des abgelaufenen Jahrs, sechs Kleinkinder an Unterkühlung gestorben.

Im Sudan tobt weiterhin, nahezu unbeachtet von der Weltöffentlichkeit, der derzeit weltweit wohl grausamste und verheerendste Krieg, ausgelöst durch den Machtkampf zweier Generäle, von denen jeder das ganze Land unter seine Gewalt bringen will und nicht zum kleinsten Kompromiss bereit ist. Opfer des Kriegs sind, wie immer, vor allem Frauen und Kinder. „Ein Junge“, so der „Tagesanzeiger“ am 20. November 2024, „hat soeben eine Heuschrecke gefangen. Er hält sie fest wie einen Schatz. Er wird sie sogleich essen. Doch es ist zu wenig, um lange durchzuhalten. Viel zu wenig. Ein paar hundert Meter entfernt kauert eine junge Mutter vor ihrem selbst gebauten Unterschlupf aus Ästen, Zweigen und Stroh. Der Blechtopf zu ihren Füssen ist leer. Im Moment hat sie nicht einmal eine Heuschrecke, die sie ihren Kindern anbieten kann… US-Schätzungen zufolge hat der Krieg im Sudan innerhalb von nunmehr 19 Monaten bis zu 150’000 Todesopfer gefordert. Mehr als elf Millionen Menschen sind auf der Flucht. Es droht eine Katastrophe, wie die Welt sie seit der grossen Hungersnot in Äthiopien 1985 nicht mehr gesehen hat: 25 Millionen Menschen haben zu wenig zu essen, 755’000 sind akut vom Hungertod bedroht. Und ein Ende der Gefechte ist nicht in Sicht… Was macht das mit der jungen Frau, wenn sie nichts tun kann, ausser zuzusehen, wie sich die kleinen Körper, Schritt um Schritt, selbst aufzehren?… Halma, eine Frau Mitte zwanzig, erinnert sich nicht genau, was sie und ihre vier Kinder in den vergangenen Wochen noch zu sich genommen haben. Eine volle Mahlzeit bekamen sie seit ihrer Flucht Ende April jedenfalls nie mehr… Als die Kämpfe ausgebrochen seien, sei Hakima, eine andere junge Mutter, mit ihren Kindern einfach losgerannt. Zehn Tage waren sie unterwegs. Zu Fuss, ohne Essen, ohne Hilfe. Die Mutter erinnert sich noch an ihre erste Begegnung mit Kämpfern der Miliz. Sie packten die Kinder und begannen sie zu verhören. Die Kinder sagten: Unsere Väter haben keine Waffen. Es hagelte Schläge, weil ihnen die Milizen keinen Glauben schenkten. Sie erzählt, wie die Milizen die Männer zu ihren Frauen schleppten und sie dann, vor deren Augen, erschossen. Eine andere Frau sagt: „Sie schlugen mich, bis ich nicht mehr stehen konnte.“ Und: „Sie machen mit dir, was sie wollen. Sie vergewaltigen die Frauen und die Mädchen.“… Bald bricht die Nacht herein. Hakima könnte noch losziehen. Geld hat sie keines, aber vielleicht findet sie jemanden, der mit ihr einen Becher Hirse teilt. Falls nicht, muss sie heute wohl noch auf einen Lalob-Baum klettern. Wenn die Menschen nichts mehr haben, pflücken sie die Blätter dieses Baumes, um sie zu zerkauen… Nach wie vor wird rund um die Nuba-Berge herum erbittert gekämpft, beide Generäle, Hemeti und Burhan, setzen auf Sieg, obwohl alle Experten sagen, dass sich die beiden längst in ein militärisches Patt manövriert haben und es weder für den einen noch für den anderen einen Sieg geben wird.“

Nicht nur im Sudan. Weltweit leidet jedes vierte Kind unter fünf Jahren unter schwerer Ernährungsarmut und jeden Tag sterben rund 10’000 Kinder unter fünf Jahren, weil sie nicht genug zu essen haben. Und wie die Kinder, so gehören auch die Frauen zu den Hauptleidtragenden von Machtkämpfen und Gewalt, nicht nur in jenen rund 60 Ländern, wo zurzeit Kriege wüten, sondern auch in den „friedlichsten“ und „demokratischsten“ Ländern der Welt: Alle zehn Minuten wird, gemäss einem Bericht der UNDOC und der UN-Women, eine Frau oder ein Mädchen getötet, weit mehr als die Hälfte von ihnen durch die Hand ihres Ehemanns oder eines nahen Angehörigen. Vollkommen unschätzbar und von keiner Statistik erfasst dagegen ist die Zahl jener der weltweit insgesamt 49 Millionen Flüchtlinge – die höchste Zahl aller Zeiten -, die auf der Fahrt mit einem der winzigen, schiffbrüchigen, von Schleppern für teures Geld erstandenen Fischerboote das Mittelmeer oder den Ärmelkanal zu überwinden versuchen und dabei den Tod finden, oder aber mit verbundenen Augen von tunesischen Soldaten mit Jeeps in die libysche Wüste transportiert, dort ausgeladen werden und innert weniger Tage elendiglich verdursten.

Der Unterschied ist: Während westliche Medien jedes Mal laut aufheulen und in aller Ausführlichkeit darüber berichten, wenn Amokläufer oder andere Fanatiker in Schulen, auf Weihnachtsmärkten oder in Einkaufsmeilen drei oder zwanzig Menschen töten, und dann wochenlang in der breiten politischen Öffentlichkeit über ganz und gar nichts anderes mehr debattiert wird, bleibt das tägliche Leiden und der tägliche Tod von Millionen Menschen fast gänzlich unsichtbar, als hätte man sich bereits so sehr daran gewöhnt, dass es gar keiner Schlagzeile mehr wert ist. Man kommt wohl kaum umhin, nicht nur das dermassen einseitige und willkürliche Medieninteresse als überaus zynisch und menschenverachtend zu bezeichnen, sondern auch die gesamte damit verbundene Rhetorik. Der gleiche Joe Biden, der gegenüber den Verletzten und Überlebenden des Attentats in New Orleans beteuert, es gäbe „keine Rechtfertigung für irgendeine Form von Gewalt“, hat nicht die Grösse, die gleichen Worte gegenüber dem Präsidenten eines befreundeten Staates aufzubringen, der mittlerweile rund hunderttausend Tote und eine noch höhere Zahl an Verletzten auf dem Gewissen hat. Worte wie jene der deutschen Innenministerin, wonach der Autofahrer, der in Magdeburg fünf Menschen tödlich verletzte, „unfassbar grausam und brutal gehandelt“ hätte, habe ich in dieser Deutlichkeit bisher noch von keinem europäischen Politiker gehört, wenn es darum ging, die Kriegspolitik Netanyahus zu beschreiben. Und der Begriff „Terrorist“ scheint nur einzelnen Amokläufern und durchgebrannten Autorasern vorbehalten zu sein, während man tunlichst vermeidet, diesen Begriff ebenso auf Staatsmänner anzuwenden, die, wie Ronald Reagan, George W. Bush oder Benjamin Netanyahu, insgesamt Millionen von Menschen auf dem Gewissen haben, oder etwa auf Männer, die ihre eigenen Frauen über Jahre hinweg quälen, prügeln, würgen und zu Tode foltern.

Als wäre es ein gewaltiges, global inszeniertes Ablenkungsmanöver. Denn so lange die „bösen“ Autoraser, Messerstecher und Amokläufer im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen und die Aufmerksamkeit eines von Sensation zu Sensation hastenden Weltpublikums von in Sekundenschnelle sich gegenseitig jagenden Schreckensbildern Tag und Nacht absorbiert wird, kommt schon gar niemand dazu, sich darüber Gedanken zu machen, wer und weshalb überhaupt ein Interesse daran haben könnte, dass auf diesem Planeten, wo das Leben so schön sein könnte, immer noch über 60 Kriege wüten, mehr denn je seit über 70 Jahren. Niemand kommt dazu, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie weit 500 Jahre koloniale Ausbeutung des Südens und damit verbundene künstliche Grenzziehungen wesentliche Ursachen sind für heutige Kriege wie jene im Sudan und in anderen Ländern des globalen Südens. Niemand kommt dazu, ernsthaft darüber nachzudenken, wie und weshalb und im Interesse wessen die UNO im Laufe von Jahrzehnten dermassen geschwächt wurde, dass sie bei allen diesen Konflikten, zu deren friedlicher Lösung sie doch einst geschaffen wurde, nur noch hilf- und machtlos zuschauen kann. Keine tiefschürfende Analyse des kapitalistischen Wirtschaftssystems wird in Angriff genommen, um endlich jenen Wahnsinn zu entlarven, dass in einer Welt, wo insgesamt für die Ernährung der gesamten Menschheit mehr als genügend Nahrungsmittel zur Verfügung stehen würden, dennoch eine Milliarde Menschen hungern und 49 Millionen Menschen – mehr denn je zuvor – ihre Heimat verlassen mussten und unter permanenter Lebensgefahr eine neue Heimat suchen, weil die Lebensbedingungen zwischen den Ländern, wo sich Reichtum in immer grösserem Umfang anhäuft, und den Ländern, die als Quelle dieses Reichtums missbraucht und bis aufs Letzte ausgeblutet wurden, immer weiter auseinanderklafft. Auch die tägliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen wird nur in Form einzelner Schreckensmeldungen wahrgenommen und nicht als Spitze eines gewaltigen Eisbergs in Form einer patriarchalen Weltherrschaft, die sich durch jede noch so kleine Facette des täglichen Lebens gnadenlos hindurchzieht. Und nicht einmal die Klimakrise findet jene Beachtung, die sie doch eigentlich haben müsste, wenn man bedenkt, dass es dabei doch früher oder später um nichts anderes geht als um das Überleben der gesamten Menschheit. Auf geradezu absurde Weise geniessen die in ihrer Auswirkung geringsten Ereignisse den grössten Platz in der medialen Berichterstattung, in nichts damit vergleichbare Katastrophen wie der Krieg im Sudan kommen nur ganz am Rande vor und die existenziell weitaus gefährlichsten Bedrohungen wie der Klimawandel sind fast gänzlich aus dem Scheinwerferlicht der Medien verschwunden.

Individualgewalt und Systemgewalt. Mücken und Elefanten. Man muss nur genug beharrlich auf den Taten einzelner individueller „Bösewichte“ herumhacken und die Illusion am Leben erhalten, dass die ganze Welt gut und friedlich wäre, hätte man diese Übeltäter endlich unschädlich gemacht – um so den Blick zu versperren auf die wahren Übeltäter und Bösewichte in Form der herrschenden kapitalistischen und patriarchalen Machtsysteme, die man in ihrem ganzen historischen Ausmass von der Auslöschung der amerikanischen Urbevölkerung über den Sklavenhandel und alle im Namen von Kolonialismus und Imperialismus begangenen Verbrechen bis hin zur systematischen Zerstörung sämtlicher Lebensgrundlagen ehrlicherweise als das tatsächlich verheerendste und zerstörerischste terroristische Netzwerk aller Zeiten bezeichnen müsste, das in seiner Profitgier und dem verrückten Glauben an ein immerwährendes Wirtschaftswachstum auf Kosten der natürlichen Ressourcen nicht einmal davor zurückschreckt, selbst das Leben jener Generationen auszulöschen, die noch nicht einmal geboren wurden.

Damit diese systematischen täglichen Ablenkungsmanöver weiterhin wirkungsvoll bleiben, hoffen zweifellos all jene, die kein Interesse an der Aufdeckung der wahren Machtverhältnisse und einem daraus folgenden Verlust ihrer Privilegien haben, wohl stets sehnlichst darauf, dass möglichst bald wieder irgendein Verrückter austickt und alle mit dem Finger auf ihn zeigen können. Damit man weiterhin auf den Mücken herumtrampeln kann und die Elefanten möglichst lange unsichtbar bleiben…

Voraussichtliche Ablehnung der Umweltverantwortungsinitiative: Die Kunst des Verdrängens

Die Umweltverantwortungsinitiative, über welche am 9. Februar abgestimmt wird, verlangt, dass die Schweiz als Ganzes ihren Ressourcenverbrauch so stark reduziert, dass die planetaren Grenzen eingehalten werden und nicht eine höhere Menge an Schadstoffen produziert wird, als die Erde aushalten kann. Ich kann mir kein einziges vernünftig begründbares Argument gegen diese Initiative vorstellen. Denn niemand kann allen Ernstes wollen, dass wir in der Gegenwart so viele Ressourcen verbrauchen, dass für zukünftige Generationen nichts mehr übrig bleibt, und so viele Schadstoffe produzieren, dass infolge einer immer stärkeren Klimaerwärmung immer grössere Teile der Erde unbewohnbar werden. Wer das bewusst in Kauf nehmen will, müsste ehrlicherweise zugeben, dass er zukünftigen Generationen sowie Menschen in anderen Teilen der Welt nichts weniger abspricht als das Recht auf Leben, während er es für sich selber in geradezu überbordendem Ausmass in Anspruch nimmt.

Trotzdem sprechen sich laut Umfragen nur 35 Prozent der Bevölkerung für eine Annahme der Initiative aus. Dies lässt sich wohl nur damit erklären, dass die Mehrheit der Menschen offensichtlich keine Kunst so gut beherrscht wie die Kunst des Verdrängens. Man wüsste es zwar, aber man will es nicht wahrhaben. tag

Am absurdesten ist das Argument, es bräuchte, um diese Ziele zu erreichen, keine Gesetze, sondern jeder und jede könne ja aus freien Stücken sein eigenes Verhalten entsprechend verändern. Die tägliche Realität zeigt uns jedoch, dass dies offensichtlich nicht funktioniert, ganz im Gegenteil: Sämtliche zur Verfügung stehende Daten bewegen sich in die genau entgegengesetzte Richtung. Es wäre ja schön, wenn wir nicht immer eine grössere Zahl von Gesetzen bräuchten. Aber das würde nur funktionieren, wenn wir begännen, uns endlich wieder unseres ureigenen gesunden Menschenverstands zu bedienen, statt uns an der Illusion eines immerwährenden Wirtschaftswachstums und am Erwerben von immer mehr materiellen Gütern als Inbegriff von Lebensqualität festzuklammern.

Auch das Argument, die Schweiz könne alleine eh nichts bewirken, entbehrt jeglicher Logik. Die einzige logische Schlussfolgerung dieser Behauptung wäre eine ganz andere: Nämlich, dass die Schweiz mit ihren finanziellen, diplomatischen, wissenschaftlichen und technologischen Ressourcen alles daran setzen müsste, gemeinsam mit allen anderen Ländern neue Konzepte einer nachhaltigen globalen Wirtschaftsordnung auszuarbeiten und Schritt um Schritt umzusetzen, damit allen Menschen auf diesem Planeten auch noch in 100 oder 200 Jahren die notwendigen Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein zur Verfügung stehen. Denn, wie Friedrich Dürrenmatt einmal sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Eine Weihnachtsgeschichte im Jahre 2024 aus einem der reichsten Länder der Welt…

Eigentlich war es die Idee von Jalil. Jalil ist der neunjährige Sohn von Esma und Malek, die vor zehn Jahren wegen des Bürgerkriegs aus Syrien fliehen mussten und seither in der Schweiz leben. Meistens etwa anfangs Dezember, wenn die Tage immer kürzer werden und der erste Schnee fällt, erzählen Esma und Malek ihrem Sohn, dass damals, bevor der Krieg ausbrach, sowohl die islamischen, wie auch die jüdischen und christlichen Feste immer gemeinsam gefeiert wurden, zusammen mit allen Nachbarn im Quartier, wo Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Sprache, unterschiedlicher Kultur und unterschiedlicher Religionen Seite an Seite friedlich zusammenlebten.

Das wäre doch etwas, sagte Jalil eines Morgens, als er zum ersten Mal in diesem Winter, so Ende November, an einem der Nachbarhäuser die erste Lichterkette sah. Könnten wir nicht auch hier, in der Schweiz, miteinander Weihnachten feiern, Christen und Moslems und vielleicht auch andere Religionen und vielleicht auch solche, die an überhaupt keinen Gott glauben? Esma und Malek waren zwar zunächst etwas skeptisch, denn bisher hatten sie hier in der Schweiz die meisten ihrer Nachbarn als ziemlich verschlossen erlebt, nur selten begegnete ihnen ein freundliches Lächeln, selten ein Gruss, viel öfter abwehrende Blicke, vor allem wegen des Kopftuchs von Esma, das die meisten sehr zu stören schien.

Doch Esma und Malek wollten ihrem Sohn nicht gleich zum Vornherein die ganze Freude verderben. Und ja, Jalil hatte auch schon ziemlich genaue Vorstellungen, wie man die Idee umsetzen könnte. Es lebten nämlich in dem Mehrfamilienhaus, wo sie wohnten, fünf Menschen ganz alleine in ihren Wohnungen, und weitere drei im Nachbarshaus. Man könnte doch, so stellte er sich das vor, diese acht Menschen einladen und mit ihnen gemeinsam Weihnachten feiern. Alle anderen hatten ja ihre Familien und ihre Verwandten, aber diese acht müssten dann an diesem Abend nicht, während andere fröhlich zusammen sein könnten, alleine und traurig in ihren Wohnungen sitzen. Nach und nach fanden auch Esma und Malek immer mehr Gefallen an der Idee. Es könnte ja auch, so dachten sie, eine Chance sein, sich besser kennenzulernen, mindestens diese acht einsamen Menschen, und nächstes Jahr vielleicht sogar alle anderen auch und in zwei oder drei Jahren vielleicht das ganze Dorf, wie damals in ihrer Heimatstadt.

Und dann ging es los. Jalil zeichnete schöne, bunte Einladungskarten mit Sternchen und dem Jesuskind, mit Kamelen, einer Moschee und dem arabischen Halbmond, alles zusammen im gleichen Bild. Esma schrieb den Text für die Einladung. Und Malek warf die Karten zwei Wochen vor Weihnachten in die acht Briefkästen in ihrem und dem Nachbarhaus. Ein kleiner Weihnachtsbaum aus Plastik wurde gekauft, mehr lag nicht drin, doch Jalil faltete aus verschiedenfarbigem Papier so viele bunte Vögel und hängte diese an den Baum, dass man ihn selber vor lauter Papiervögeln am Ende fast nicht mehr sehen konnte. Fürs Essen aber wurde an nichts gespart. Ihre eigenen Mahlzeiten hatten Esma und Malek eine Woche lang auf das absolute Minimum beschränkt, am Weihnachtsabend aber durfte es an nichts fehlen, die Gäste sollten mit einem wahren Festmahl beglückt werden wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

Jetzt ist es sieben Uhr. Der Zeitpunkt, den Esma auf die Einladungskarten geschrieben hatte. Alles ist bereit. Das Essen füllt den Tisch bis an den Rand. Ein paar brennende Kerzen verleihen dem winzigen Essraum, in den sich bald schon elf Leute hineinquetschen werden, eine feierliche Atmosphäre. Alle warten gespannt…

Sieben Uhr dreissig. Ausser mir ist noch niemand gekommen. Malek und Esma haben das Essen noch einmal in den Ofen geschoben, damit es nicht kalt wird. Ihre Gesichter und das von Jalil werden länger und länger. Als um acht Uhr immer noch keiner der anderen sieben Eingeladenen da ist, ruft Esma ihre beste Freundin an, ebenfalls eine Flüchtlingsfrau aus Syrien, die mit ihrem Mann und zwei Töchtern am anderen Ende des Dorfes wohnt. Und während eine Viertelstunde später die vier Erwachsenen aus Syrien, ihre drei Kinder und ich rund um den Tisch sitzen, auf dem jetzt alle Köstlichen wieder bereit stehen, fehlt von allen anderen Eingeladenen immer noch jede Spur…

In diesem Augenblick fährt vor dem Haus auf der gegenüberliegenden Seite der Strasse ein grosses weisses Auto vor, lachende Menschen steigen aus, tragen stapelweise aufeinander geschichtete Geschenkpakete, riesige Schüsseln mit Salaten und Schokoladencrème die Treppe hoch und verschwinden nach und nach in dem mittlerweile hell erleuchteten Haus, von dem man munkelt, dass hier die reichste Familie des Dorfes wohnt.

Den dort mit der schwarzen Kappe, platzt es in diesem Augenblick aus Malek heraus, den kenne ich doch, das ist doch der, welcher…

Und jetzt brechen alle diese Geschichten, wie wenn ein Damm geborsten wäre, aus Esma, Malek und ihren Freunden heraus, Geschichten, die sie entweder selber erlebt haben oder die ihnen von anderen syrischen Flüchtlingen erzählt worden sind, die inzwischen schon längst in eine andere Gemeinde umgezogen sind, weil sie den ständigen Druck, die allumfassenden Kontrollen, permanente Bevormundung, Fremdbestimmung und das Gefühl, als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden, einfach nicht mehr ausgehalten hatten. Weggezogen in irgendeine andere Gemeinde, wo es vielleicht ein bisschen weniger schlimm ist. So hatten sie zum zweiten Mal die Flucht ergriffen. Dieses Mal nicht vor Panzern und Raketen, sondern vor Gemeindebeamten, Lehrerinnen, Gemeinderäten, Schulbehörden und den ganz gewöhnlichen Einwohnerinnen und Einwohnern einer ganz normalen, durchschnittlichen Gemeinde in einem der reichsten Länder der Welt. Sprachlos höre ich zu. Und spüre immer mehr, wie wichtig es ihnen ist, diese Geschichten einem Schweizer erzählen zu können, der ihnen einfach aufmerksam zuhört, ohne schon gleich mit Abwehr und Misstrauen zu reagieren.

Alle diese Geschichten. Die Geschichte eines syrischen Vaters, der wegen eines Streits seines Sohnes mit einem gleichaltrigen Kind auf dem Pausenplatz den Vater dieses Kindes aufsuchte, um eine weitere Eskalation des Konflikts zu vermeiden, aber gar nicht erst zu Wort kam, sondern von diesem Vater sogleich beschimpft und ihm gedroht wurde, er würde sogleich die Polizei rufen, wenn sich der Syrier noch länger auf seinem Grundstück aufhalten würde. Die Geschichte einer syrischen Frau, die ihre in Finnland lebende Schwester, die sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte, und deren Familie für eine Woche zu sich einladen wollte, was ihr aber vom Sozialamt nicht erlaubt wurde, weil dieses befand, in der kleinen Wohnung wäre nicht genug Platz für neun Menschen, auch wenn es bloss für eine Woche wäre. Die Geschichte einer anderen syrischen Frau, die zu ihrem bisher einzigen Festtagskleid ein zweites hinzukaufen wollte, was ihr aber von der zuständigen Sozialbeamtin verweigert wurde mit der Begründung, eines müsste doch genügen – wo doch diese Festlichkeiten im kargen Leben einer Flüchtlingsfamilie die seltenen, wirklich ganz überragenden Gelegenheiten für Fröhlichkeit und Lebensfreude sind und sich doch auch keine einzige Schweizerin dabei stets nur in einem einzigen, immer gleichen Kleid präsentieren möchte. Die Geschichte einer weiteren Frau aus Syrien, die mehreren Kindern in ihrer Wohnung privaten Arabischunterricht erteilte, was bei einer Lehrerin der Volksschule so heftige Anschuldigungen auslöste, dass sie das Unterfangen schliesslich wieder aufgeben musste – die Lehrerin hatte ihr Vorgehen damit begründet, dass diese Kinder dadurch nicht mehr richtig Deutsch lernen würden, obwohl allgemein bekannt ist, dass eine Fremdsprache viel besser erlernt werden kann, wenn man seine eigene Muttersprache möglichst gut beherrscht. Die Geschichte von zwei Schülern einer sechsten Klasse, der eine ein Schweizer, der andere ein Syrier: Obwohl der Syrier in seinem Schlusszeugnis bessere Noten hatte als der Schweizer, wurde er der Realschule zugewiesen, der Schweizer aber der Sekundarschule, dies, weil sich seine Eltern erfolgreich gegen die Empfehlung des Klassenlehrers gewehrt hatten, während sich Flüchtlinge nicht nur in diesem, sondern auch in allen anderen Fällen, wo sie sich ungerecht behandelt fühlen, kaum je zu wehren oder aufzumucken wagen, weil sie stets zusätzliche Repressalien befürchten und die Gefahr, dass ihnen dies bei einem möglichen späteren Einbürgerungsverfahren zur Last gelegt werden könnte. Und schliesslich die Geschichte eines weiteren syrischen Oberstufenschülers, der wegen geringfügigen „Fehlverhaltens“ wie unerledigter Hausaufgaben oder zu lauten Sprechens während des Unterrichts aus der Schule geworfen wurde und drei Monate lang zu Hause bleiben musste, worauf dessen Eltern eines Tages wie ein Blitz aus heiterem Himmel von der Schulbehörde vorgeladen und ihnen mitgeteilt wurde, man hätte beschlossen, ihren Sohn in eine psychiatrische Klinik einzuweisen – ohne dass, was in solchen Fällen unerlässlich ist, ein medizinisches Gutachten vorlag und ohne dass, was ebenfalls unabdingbar ist, den Eltern das rechtliche Gehör gewährt wurde und sie den Entscheid nicht einmal in schriftlicher Form erhielten, was ebenfalls rechtlich zwingend wäre, damit ein Rekurs gegen den Entscheid ergriffen werden könnte. Nur weil der Vater eines ehemaligen Mitschülers des betroffenen Jugendlichen, ein Schweizer, von der Sache Wind bekam, sich einmischte und das missbräuchliche Vorgehen der Behörden auffliegen liess, konnte die Einweisung in eine Klinik rechtzeitig abgewendet und der Jugendliche wieder einer regelmässigen normalen Beschulung zugewiesen werden.

Ich bin tief betroffen. Einen solchen Weihnachtsabend habe ich noch nie erlebt. Ich werde das alles mitnehmen, sage ich, und noch heute in der Nacht eine Geschichte schreiben, eine Weihnachtsgeschichte aus dem Jahre 2024, aus einem der reichsten Länder der Welt.

Inzwischen sind die Kerzen schon fast zur Hälfte abgebrannt. Eigentlich wäre es ja viel schöner gewesen, man hätte einen gemütlichen Abend verbringen können. Aber das wortlose Fernbleiben der eingeladenen Gäste und die plötzlich wieder aufgebrochenen Erinnerungen an so viele Demütigungen von Menschen, die unter so leidvollen Bedingungen ihre ursprüngliche Heimat aufgeben mussten und trotz allen guten Willens dennoch bis heute immer noch keine echte neue Heimat finden konnten, waren einfach viel zu übermächtig.

Und auf einmal, weil ich ja der einzige Christ in der Runde bin, fragt mich Jalil, weshalb denn eigentlich Weihnachten gefeiert werde und was genau der Sinn davon sei. Ich erzähle ihm die Geschichte von Maria und Josef, die sich infolge einer vom römischen Kaiser Augustus angeordneten Volkszählung an den Heimatort von Josef begeben mussten, nach Bethlehem. Als sie in keiner Herberge Platz fanden, weil alles voll war, suchten sie in einem Stall Unterschlupf, wo ihr Kind zur Welt kam, ein ganz aussergewöhnlicher Mensch, wie sich später zeigen sollte. Viele nennen ihn „Sohn Gottes“, für andere ist er einfach ein überaus vorbildlicher Mensch, dessen Botschaft vom Frieden und von der Nächstenliebe unzählige Menschen elektrisierte und uns bis heute, über 2000 Jahre, immer noch tief berührt und gerade in einer so sehr von Hunger, Armut und Kriegen geplagten Welt aktueller ist denn je. Ja, erkläre ich Jalil, eigentlich ist Weihnachten das Fest der Nächstenliebe. Doch im gleichen Moment, da ich das Wort sage, wird mir gleichzeitig bewusst, wie schwer es mir gefallen ist, es über die Lippen zu bringen.

Später räumen Esma und Malek die übrig gebliebenen, während so vieler Stunden gekochten und gebackenen Köstlichkeiten wieder vom Tisch. Die Kerzen sind jetzt endgültig niedergebrannt und auch die anderen Gäste sind inzwischen wieder gegangen. Aus dem Haus auf der anderen Seite der Strasse tönt immer noch fröhliches Gelächter, fast ein wenig schmerzend. Jalil hat die Papiervögel vom kleinen Plastikbaum wieder abgenommen und fein säuberlich nebeneinander auf die Kommode gelegt. Ob man das Bäumchen wohl noch ein weiteres Mal brauchen wird? Als ich mich verabschiede und für alles bedanke, sagt Esma: „Ab heute gehörst du zu unserer Familie. Du brauchst dich nicht anzumelden, nicht vorher anzurufen, du musst nicht einmal an der Türe klopfen, du kommst einfach herein, jederzeit.“

Inzwischen hat sich die Nacht wieder in ihrer vollen Schwärze über das Dorf gelegt. Über dieses Dorf, wo alles in schweizerischer Perfektion und Gründlichkeit funktioniert, millimetergenau, im Sekundentakt, fehlerfrei auf jeden Punkt und jedes Komma gebracht. Wo wirklich alles funktioniert. Alles ausser die Liebe.

Anmerkung 1: Die Rahmenhandlung dieses Textes ist erfunden, beruht aber auf tatsächlichen Begebenheiten und Erfahrungen von syrischen Flüchtlingen im Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung einer schweizerischen Kleinstadt. Sie könnte sich zweifellos genau so ereignet haben. Die im Text erwähnten Beispiele von Geschichten, welche syrische Flüchtlinge in dieser Stadt erlebt haben (inkl. Fast-Einweisung eines Jugendlichen in eine psychiatrische Klinik), sind aber alle 1:1 authentisch.

Anmerkung 2: Als Esma den Artikel gelesen hatte, schrieb sie mir, es tue ihr so leid, dass ich an diesem Tag so traurig gewesen sei. Was für wunderbare Menschen. Haben so viel Leid erfahren und bedauern dann sogar noch, dass mich das traurig macht und ich nicht so richtig unbeschwert und fröhlich Weihnachten „feiern“ konnte.