Ukraine: Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte…

 

Die von Wladimir Putin anlässlich des 67. Jahrestags des Sieges über den Nationalsozialismus gehaltene Rede stösst im Westen, wie könnte es anders sein, auf pures Unverständnis und sei nur ein weiterer Beweis für die „Irrlehren“ , die von Putin verbreitet würden. Doch schauen wir uns etwas genauer an, was Putin tatsächlich sagte: Er beschuldigte den Westen, Russland vernichten zu wollen. Und er verweist auf einen von der russischen Regierung dem Westen im Dezember 2021 vorgelegten, unterschriftsreifen Vertrag, wonach keine weiteren Länder in die NATO aufgenommen werden sollten, ein Vertrag, der von der NATO und der USA mit der Begründung zurückgewiesen worden sei, über dieses Thema werde der Westen mit Russland keine Verhandlungen führen. Solche und ähnliche Anschuldigungen werden in den westlichen Medien als blanker Unsinn abgetan. Tatsächlich aber sind sie alles andere als aus der Luft gegriffen. Man denke nur an die Brandreden nationalsozialistischer Wortführer auf dem Maidan in Kiew anfangs 2014, welche zur Vernichtung des russischen Volkes aufriefen. Man denke auch an die Gräueltaten und Kriegsverbrechen, welche vom ebenfalls nationalsozialistisch ausgerichteten Asow-Regiments zwischen 2014 und 2022 gegen die Zivilbevölkerung im Donbass verübt wurden. Und man denke an den bereits 1997 zwischen der Ukraine und der NATO abgeschlossenen Kooperationsvertrag, der eine enge Zusammenarbeit bei der militärischen Ausbildung, der Einführung gemeinsamer technischer Standards und der Lieferung von Waffen zur Folge hatte – und dies, obwohl der US-Historiker George F. Kennan im selben Jahr mit folgenden Worten eindringlich vor einer NATO-Osterweiterung gewarnt hatte: „Die Entscheidung, die NATO bis zu den
Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die
russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden
missfallen wird.“ Man stelle sich einen Augenblick lang vor, Kanada oder Mexiko hätten einen ähnlichen Vertrag mit Russland abgeschlossen, die USA hätten das wohl zweifellos auch nicht widerstandslos akzeptiert. Putins Zuspitzung, der Westen wolle Russland vernichten, mag masslos übertrieben klingen. Aber es gibt zu viele Hinweise darauf, dass dies alles nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. Man erinnere sich nur an die jüngste Aussage des amerikanischen Verteidigungsminister Austin, der als Ziel der westlichen Militärpolitik eine dermassen umfassende „Schwächung Russlands“ in den Raum stellte, dass eine Invasion wie jene in die Ukraine „nie mehr möglich“ sein solle. Es braucht schon eine gehörige Portion Naivität, um jegliche Mitschuld des Westens am Ukrainekonflikt zu verneinen. Dabei gäbe es auch ausserhalb Russlands und der „Irrlehren“ Putins genügend kritische Stimmen, man müsste sie bloss zur Kenntnis nehmen. So zum Beispiel bestätigt Klaus Dohnanyi, ehemaliger Berater der deutschen Bundeskanzlers Helmut, die Existenz des von Putin angesprochenen Verhandlungsangebots im Dezember 2021. Dohnanyi bedauert zutiefst die ablehnende, ja geradezu arrogante Haltung des Westens und ist überzeugt, dass dies die letzte Chance gewesen wäre, den Krieg zu verhindern. Catherine Belton, Korrespondentin der „Financial Times“, erklärte in einem Interview mit der „Sonntagszeitung“ vom 20. März 2022, Putin hätte sich, zu Recht oder zu Unrecht, durch den Einfluss des Westens und vor allem der USA auf die Ukraine bedroht gefühlt. Und weiter: „Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion herrschte im Westen Euphorie. Man glaubte, dass den Russen gar nichts anderes übrig blieb, als sich anzupassen und sich in eine vom Westen geführte Welt zu integrieren.“ Fritz Pleitgen, langjähriger ARD-Korrespondent, schreibt in seinem Buch „Krieg oder Frieden“, dass in Bezug auf die Ukraine der Westen, nicht „von erheblicher Mitschuld“ freigesprochen werden könne. Und Papst Franziskus sagte in einem Interview mit dem Corriere delle sera am 3. Mai 2022: „Vielleicht war es die NATO, die Putin dazu veranlasste, die Invasion der Ukraine zu entfesseln.“ Bezeichnenderweise finden solche kritische Stimmen selten Eingang in die Mainstreammedien des Westens, würden sie das in unseren Köpfen festgezimmerte Bild von den „Bösen“ und den „Guten“ doch auf gefährliche Weise in Frage stellen und uns den Blick dafür öffnen, dass auch in den absurdesten „Irrlehren“ unseres „Feindes“ immer noch ein Körnchen Wahrheit stecken könnte. Zum Dialog und zu möglichen Friedensverhandlungen kann es nur dann kommen, wenn beide Seiten ihre Scheuklappen ablegen, sich von der Fixierung auf das jeweilige Feindbild lösen und bereit sind, alle von der „Gegenseite“ erhobenen Anschuldigen selbstkritisch und offen auf den Tisch legen und ernst zu nehmen. „Ein
Gespräch“, sagte der Philosoph Hans-Georg Adamer, „setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.“ Ein hohes Ziel, gerade in kriegerischen Zeiten wie diesen. Aber was in einfacheren Zeiten seine Gültigkeit hat, hat es in schwierigeren erst recht. Vor allem, wenn man sich die Alternative dazu vor Augen führt: sinnloses gegenseitiges Blutvergiessen bis um bitteren Ende, Zerstörungen, Hass und Gewalt auf Jahrzehnte hinaus…

 

Der Krieg ist nur die extremste Form der Klassengesellschaft…

 

Der amerikanische Verteidigungsminister Austin fordert die Schwächung Russlands so umfassend, dass es nie mehr zu einer solchen Invasion wie derjenigen gegen die Ukraine in der Lage sein solle. US-Präsident Biden spricht von einer „Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie“. Der ukrainische Präsident Selenski rührt unablässig die Kriegstrommel und treibt zaudernde westliche Politiker im Kampf gegen das „Böse“ mit allen Mitteln medialer Inszenierung vor sich her. Der deutsche Bundeskanzler Scholz spricht davon, dass jene, welche sich gegen die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine wehren, „aus der Zeit gefallen“ seien. Der russische Aussenminister Lawrow droht mit dem Einsatz von Atomwaffen. Und der russische Präsident Putin denkt an eine Generalmobilmachung der russischen Armee und auch er, mit den gleichen Worten wie Selenski, spricht vom Kampf gegen das „Böse“. Aber keiner von ihnen, weder Austin, Biden, Scholz noch Selenski, weder Lawrow noch Putin, werden jemals selber in diesen Krieg ziehen. Alle ihre Sieges- und Durchhalteparolen verkünden sie aus der Sicherheit und dem Schutz ihrer Bunker, ihrer Regierungsgebäude und ihrer Paläste. Ja. Was wir erleben, ist nicht wirklich ein Krieg des „Guten“ gegen das „Böse“ oder einen Feldzug zwischen Russland und der Ukraine. Es ist, vor allem, ein Krieg der Reichen gegen die Armen, der Mächtigen gegen die Ohnmächtigen. Kein Zufall, dass sie alle, welche die Fäden der Macht und der Gewalt in ihren Händen halten, in ihren jeweiligen Ländern zu den Reichsten gehören, zur totalen Oberschicht, zu jener „Elite“, die sich selbst dann noch die erlesensten Speisen auf dem Silbertablett servieren lassen, während um sie herum alles in Asche versinkt. „Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg“, schrieb der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque zur Zeit des Ersten Weltkriegs, „bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“ Immer wieder, seit Jahrhunderten, das Gleiche: Auch in den Heeren der Könige, Kaiser und Fürsten des 17. und 18. Jahrhunderts kämpfte selten ein Angehöriger der Oberschicht an vorderster Front gegen den „Feind“, dort gaben nur die Ärmsten, für welche der Kriegsdienst den einzigen Ausweg aus bitterem Elend bildete, ihr Leben hin. Im Vietnamkrieg war es nicht anders: Den Hauptharst der US-Truppen bildeten Männer und Frauen aus der Unterschicht, angelockt durch einen Verdienst, der ihren kargen Arbeitslohn weit übertraf oder sie vom Schicksal der Arbeitslosigkeit befreite – während die Abkömmlinge der Reichen und Reichsten und damit auch der allermeisten Politikerinnen und Politiker jedes Mittel nutzten, um sich vom verhassten Kriegsdienst zu befreien. Wie eine Schachpartie: Die Könige verstecken sich hinter einer Mauer aus Türmen, Läufern und Springern – draussen auf dem Schlachtfeld werden die kleinen Bauern geopfert, damit die Sicherheit des Königs nicht bedroht ist. Wir wundern uns über die Bilder längst vergangener Schlachten, wir wähnen uns in einer anderen, besseren Zeit, doch wiederholt sich noch immer alles nach den gleichen Regeln sinnloser gegenseitiger Vernichtung, bloss dass heute alles ein bisschen „moderner“ aussieht als vor 200 oder 300 Jahren. Doch Krieg kann es nur so lange geben, als es ein „Oben“ und ein „Unten“ gibt: Reiche und Mächtige, die sich gewohnt sind, die Welt beherrschen und nach ihrem Gutdünken ordnen zu können – Arme und Machtlose, die sich gewohnt sind, Befehle entgegenzunehmen und auszuführen, selbst wenn sie dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen müssen. Der Krieg ist nur die extremste Form der Klassengesellschaft, aber alles andere ist die Vorbereitung dazu. Es braucht die Erziehung, die Abrichtung, das Auslöschen der natürlichen Gefühle, die Fremdbestimmung, die Propaganda, das Aufhetzen, den Aufbau von Feindbildern. Kein Kind würde von sich aus in den Krieg ziehen. Zuerst muss es tausendmal umgebogen werden, bis es „reif“ ist für das Schlachtfeld und für den Wahnsinn, sein Leben aufs Spiel zu setzen für seine Führer, die sich gleichzeitig hinter ihren immer dickeren Mauern vor ihnen verstecken. „Wenn alle Menschen“, sagte der russische Schriftsteller Leo Tolstoi, „nur aus Überzeugung in den Krieg zögen, dann würde es keinen Krieg geben.“ Und Albert Einstein sagte: „Ein kluger Kopf passt unter keinen Stahlhelm.“ Ja, es gibt ein Mittel gegen den Krieg: die Vernunft, die angeborene Intelligenz des Menschen, den angeborenen Widerstand gegen alles, was mit Gewalt und Ungerechtigkeit zu tun hat. Jedem Kind bricht es das Herz, wenn es aus Unachtsamkeit ein Marienkäferchen zertrampelt oder sich an der Fensterscheibe ein Schmetterling den Flügel bricht. Der Mensch ist gut. Aber zugleich ist er sehr, sehr zerbrechlich. Noch ist das Zeitalter der Marienkäferchen und der Schmetterlinge nicht angebrochen, noch dröhnen uns die Raketen und die Panzer um die Ohren, noch kann ein deutscher Bundeskanzler dem Pazifismus vorwerfen, er sei „aus der Zeit gefallen“. Aber sind nicht vielmehr all jene aus der Zeit gefallen, welche mitten im 21. Jahrhundert immer noch die Schlachten früherer Jahrhunderte schlagen, als wäre in der Zwischenzeit nichts geschehen? „Jede Kanone, die gebaut wird“, sagte US-Präsident Dwigth D. Eisenhower, „jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“ Ja, die Hoffnung unserer Kinder. Sie ist der grösste Schatz, den wir besitzen. „An den Frieden denken“, sagte Michail Gorbatschow, der letzte Generalsekretär der Sowjetunion, „heisst, an die Kinder denken.“ Und Olof Palme, früherer Ministerpräsident Schwedens und überzeugter Pazifist, formulierte es so: „Weil unsere Kinder unsere einzige reale Verbindung zur Zukunft sind, und weil sie die Schwächsten sind, gehören sie an die erste Stelle der Gesellschaft.“ In einer so schweren Zeit wie der unseren sollten wir doch etwas nicht vergessen: Die Welt hat sich in den letzten hundert Jahren nicht nur zum Schlechten verändert. Gegen die Kräfte der Ausbeutung, Gewalt und Fremdbestimmung gibt es eine faszinierende und hoffnungsvolle Gegenbewegung, die Bewegung von Emanzipation, Gleichberechtigung und Menschenwürde. Das geht nicht so schnell, Fesseln, die über Jahrhunderte festgezurrt wurden, lassen sich nicht vom einem Tag auf den andern abschütteln. Aber es geht voran. Und das ist das Tröstliche: Je mehr diese Bewegung um sich greift, umso absurder werden sich Dinge wie Krieg in Zukunft immer mehr in ihrer Absurdität entlarven. Und deshalb wird zweifellos der Krieg als Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte eines Tages für immer Vergangenheit sein. Niemand hat diese Hoffnung so schön ausgesprochen wie die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer: „Wir malen sie aus und wir wissen, dass wir sie erleben werden: Die Zukunft, von der wir träumen. Das ist die Magie gesellschaftlicher Kipppunkte – wir wissen nicht genau, wann wir sie erreichen, aber wir wissen, dass sie kommen.“

Dieser Krieg hat nicht erst am 24. Februar 2022 begonnen…

 

Liest man heute eine Zeitung oder schaut man sich am Fernsehen Nachrichten oder Debatten zum Ukrainekrieg an, dann bekommt man den Eindruck, als hätte das Unheil mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 schlagartig von einem Tag auf den andern begonnen und wäre die ganze Welt zuvor in Ordnung gewesen. Tatsächlich aber gibt es eine Vorgeschichte und man kann die Gegenwart nur verstehen, wenn man auch diese Vorgeschichte kennt…

Diese beginnt spätestens mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991. Damals signalisierten mehrere westliche Politiker, darunter François Mitterand und George Bush, es bestünde seitens des Westens nicht die Absicht, die NATO infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion nach Osten auszudehnen. Ein weiterer dieser Politiker war der deutsche Aussenminister Genscher. Er sagte im Februar 1990: „Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Vertragsbündnis nach Osten auszudehnen. Das gilt nicht nur in Bezug auf die DDR, sondern ganz generell.“ Wer an diese Worte erinnert, dem wird stets entgegengehalten, es hätte sich da bloss um mündliche Zusicherungen gehandelt und es hätte nie schriftliche Verträge gegeben. Doch sollte das Wort eines ehrenhaften Staatsmannes nicht auch dann seine Gültigkeit haben, wenn es „nur“ mündlich abgegeben wird? Gilt in der zivilen Rechtssprechung nicht auch der Grundsatz, dass mündliche und schriftliche Abmachungen die gleiche Verbindlichkeit haben? Nun, wir wissen alle, was folgte: die schrittweise Erweiterung der NATO, die bis 2020 Land um Land voranschritt, bis hin an die Grenzen Russlands und ohne je auf die Bedenken und Einwände der russischen Seite auch nur ansatzweise einzugehen. Dabei hätte es selbst innerhalb der USA genug warnende Stimmen gegeben, so etwa eine entsprechende Deklaration von über 40 ranghohen Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Militär gegen eine NATO-Osterweiterung oder die Erklärung des Historikers George F. Kennan, der 1997 Folgendes verlautbaren liess: „Die Entscheidung, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.“ 

Doch die NATO, allen voran die USA, dachten nicht daran, von ihrer Strategie abzurücken. Im Gegenteil: Anfangs 1999 gab sich die NATO eine neue Doktrin. Künftig sollte man nicht nur zur Verteidigung des eigentlichen Bündnisgebiets agieren können, sondern auch um „andernorts Konflikte zu verhüten oder Krisen zu bewältigen“, was Militäreinsätze ausserhalb des Bündnisgebiets einschliessen würde. Was dies bedeuten sollte, bekam Russland unverzüglich zu spüren: Im März 1999 griff die NATO in den Kosovokrieg ein und begann mit Luftangriffen gegen Belgrad. Dies alles ohne UN-Mandat, dessen Erteilung Russland im UNO-Sicherheitsrat verhindert hatte. Dieser kriegerische Akt der NATO wurde auch von zahlreichen westlichen Politikern als völkerrechtswidrig betrachtet. Weitere NATO-Operationen aufgrund ihrer neuen Doktrin erfolgten dann 2001 bis 2021 in Afghanistan und 2011 in Libyen. 

Trotz allem sandte Wladimir Putin, 2000 zum russischen Präsidenten gewählt, versöhnliche Zeichen nach dem Westen. 2001, bei einem Staatsbesuch in Deutschland, brachte er eine Freihandelszone von Wladiwostock bis Lissabon ins Gespräch und signalisierte sogar die Bereitschaft, über einen russischen NATO-Beitritt zu sprechen. Noch 2008 schlug Russland eine gemeinsame „paneuropäische Sicherheitsarchitektur“ vor und 2010 erneuerte Putin seinen Vorschlag einer engen Wirtschaftskooperation zwischen Russland und der EU. Alle diese Vorstösse wurden indessen vom Westen in den Wind geschlagen und stattdessen wurde mit der NATO-Osterweiterung eifrig vorwärtsgemacht. Selbst die Ukraine wurde schon früh ins Visier genommen, ein 1997 abgeschlossener Kooperationsvertrag ermöglichte die Übernahme von US-Standards durch die ukrainische Armee, gemeinsame Trainings und Waffenlieferungen. Doch auch hier gab es warnende Stimmen. So etwa sah der frühere US-Aussenminister Henry Kissinger die gefährliche Lage der Ukraine an der Schnittstelle zwischen Ost und West voraus und schlug daher 2014 vor, die Ukraine nicht zum Zankapfel der Grossmächte werden zu lassen, sondern zu einer „Brücke zwischen beiden Seiten“. Doch auch diese Warnung wurde nicht ernst genommen. 

Wer nun, nach allem, immer noch behauptet, Russland hätte sich durch die NATO-Osterweiterung nicht bedroht und in die Enge getrieben gefühlt müssen, sollte sich mal vorstellen, Mexiko und Kanada würden mit Russland ein Militärbündnis abschliessen – was wäre wohl die Reaktion der USA? Nicht ausser Acht lassen sollte man auch, dass die NATO über ein 20 Mal höheres Militärbudget verfügt als Russland – wer soll da vor wem Angst haben? Dass die NATO-Osterweiterung tatsächlich von Russland als Bedrohung empfunden wird, sieht auch Roland Popp von der Militärakademie der ETH Zürich so: „Die NATO-Osterweiterung hat für einige Staaten mehr Sicherheit geschaffen – und für andere die Sicherheit zerstört.“ Und selbst Papst Franziskus sagte in einem Interview mit dem Corriere della sera am 3. Mai 2022: „Vielleicht war es die NATO, die Putin dazu veranlasste, die Invasion der Ukraine zu entfesseln. Ich kann nicht sagen, ob seine Wut provoziert wurde, aber ich vermute, dass die Haltung des Westens sehr viel dazu beigetragen hat.“ 

Selbst im Dezember 2021 war die Tür noch einen Spalt breit offen, um einen Krieg zu verhindern. Zu diesem Zeitpunkt nämlich schrieb Putin, wie Klaus Dohnanyi, ehemaliger Berater von Bundeskanzler Kohl, in einem Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk berichtete, einen Brief an die US-Regierung mit dem Ziel einer Beilegung des Ukrainekonflikts. Die Antwort der US-Regierung lautete, dass sie nicht im Sinn hätte, mit Putin über dieses Thema zu verhandeln. Dennoch sollen vorliegende Ausführungen den Krieg Russlands gegen die Ukraine auf keinen Fall rechtfertigen. Krieg ist nie, unter keinen Umständen und mit keinen Begründungen zu entschuldigen, zu verharmlosen oder zu rechtfertigen. Die – berechtigte – Verurteilung Russlands darf aber nicht dazu führen, die gesamte Vorgeschichte auszublenden und den Westen von jeglicher Mitverantwortung und Mitschuld freizusprechen. Hätte man auf all die warnenden Stimmen während so langer Zeit besser hingehört, hätte vielleicht dieser Krieg, der nicht erst am 24. Februar 2022 begonnen hat, verhindert werden können.  

Friedensverhandlungen als einziger gangbarer Weg aus der Sackgasse gegenseitiger Zerstörung

 

Eine der hartnäckigsten Lügen, die von den westlichen Mainstreammedien verbreitet und von den westlichen Kriegstreibern eifrig nachgebetet wird, ist die, dass ja der Westen noch so gerne zu Friedensverhandlungen bereit wäre, diese aber durch die russische Seite permanent blockiert würden. Einer Meldung der Nachrichtenagentur Keystone vom 30. April 2022 zufolge scheint aber eher das Gegenteil der Fall zu sein: Die russische Seite, so Aussenminister Lawrow in einem Interview mit der chinesischen Agentur Xinhua, befürworte eine Fortsetzung des Verhandlungsprozesses, dieser würde aber durch die „militante Rhetorik und hetzerische Aktionen der westlichen Unterstützer der Ukraine behindert“. Wer der russischen Seite grundsätzlich misstraut und alles, was aus dem Munde eines russischen Politikers kommt, als reine Propaganda abtut, wird sich freilich von diesen Äusserungen Lawrows nicht sonderlich beeindruckt zeigen. Aber weshalb wird eine solche Nachricht nicht wenigstens kommentarlos in westlichen Medien veröffentlicht? Es kann sich dann ja jede und jeder immer noch frei seine eigene Meinung bilden und selber entscheiden, wem er oder sie glauben will und wem nicht. Ein zweiter Hinweis zu diesem Thema stammt von Klaus Dohnanyi, dem ehemaligen Berater des deutschen Bundeskanzlers Kohl. In einem Interview mit dem NDR sagt Dohnanyi, Wladimir Putin hätte Ende Dezember 2021 an die US-Regierung einen Brief geschrieben mit dem Anliegen, in Bezug auf die Ukraine eine einvernehmliche Lösung hinzukriegen. Die Antwort der US-Regierung habe gelautet: „Über diese Frage werden wir mit Ihnen nicht verhandeln.“ Dohnanyi bedauert in seinem Interview diese Haltung zutiefst, wäre doch dies eine grosse Chance gewesen, den späteren Krieg zu verhindern. Der amerikanische Präsident, so Dohnanyi, hätte nur sagen müssen: „Präsident Putin, wir sehen jetzt, dass Sie es ernst meinen, und wir werden jetzt über die Zukunft der Ukraine mit Ihnen reden.“ War die westliche Seite gar nie ernsthaft an einer friedlichen Lösung interessiert? Fast scheint dies der Fall zu sein. Das sieht auch Thania Paffenholz, Friedensforscherin und Direktorin einer Genfer Friedensorganisation, in einem Interview mit dem „Tagblatt“ vom 2. Mai 2022 nicht viel anders: „Die Strategie des Westens“, sagt sie, „ist aktuell die Eskalation und es wird wenig darüber nachgedacht, wie eine Friedenslösung möglichst aufgegleist werden könnte. Es gibt langfristig keine Alternative zum Dialog. Letztlich braucht es eine Deeskalation, diese sehe ich beim Westen aktuell nicht.“ Paffenholz hat auch Verständnis für die Sicherheitsinteressen Russlands, welche aber mit der Osterweiterung der NATO nicht ernst genommen worden seien. Auch sieht Paffenholz wesentliche Ursachen des Konflikts in wirtschaftlichen Interessen, denn „die Konfliktlinien verlaufen entlang der Rohstoffvorkommen in der Ukraine“ – eine Tatsache, über welche in den westlichen Mainstreammedien kaum je berichtet wird. Aus allen diesen Gründen, so Paffenholz, sei Frieden in der Ukraine nicht möglich, „ohne dass die europäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur neu gestaltet und mit Russland verhandelt wird.“ – eine Forderung übrigens, die Putin bereits 2001, kurz nach seinem Amtsantritt, dem Westen gegenüber erhoben hatte. Für jeden zwischenstaatlichen Konflikt, und sei er noch so kompliziert, gibt es immer auch eine mögliche friedliche, diplomatische Lösung, die, auch wenn sie noch so bruchstückhaft ist, immer noch besser ist als der Krieg. Ermöglicht werden kann eine solche Lösung einzig und allein dadurch, dass die beteiligten Parteien von der Ideologie eines „Alles oder nichts“ abrücken. Und dadurch, dass im gegenseitigen Verständnis nicht Misstrauen, Verdrehungen und Lügen verbreitet, sondern gegenseitiges Vertrauen aufgebaut wird und die Bereitschaft, sich gegenseitig zuzuhören und die jeweils unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse der anderen Seite ernst zu nehmen. Oder, wie der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmid einmal sagte: „Lieber hundert Stunden lang ergebnislos verhandeln, als eine Minute lang schiessen.“

Die russischen Medien seien gleichgeschaltet – aber wie ist es denn mit den westlichen Medien?

 

„Einmaleins der Kriegstreiberei“ titelt die „NZZ am Sonntag“ vom 1. Mai 2022. Der ganzseitige Artikel führt aus, wie es Wladimir Putin gelungen sei, „sein Volk gegen die Ukraine einzuschwören“. Erstens, indem er das ukrainische Volk zum Feind gemacht und entmenschlicht habe. Zweitens, indem er die Medien gleichgeschaltet und die Bürgerinnen und Bürger entmündigt habe. Drittens, indem der Bevölkerung ein Opferkult eingetrichtert worden sei. Viertens, indem die Kirche zum Sprachrohr der staatlichen Propaganda gemacht worden sei. Und fünftens, indem die Geschichte zu einem grossen Freiheitskampf des russischen Volks umgeschrieben worden sei. Die Ausführungen sind in ihrer Einseitigkeit nicht zu überbieten. Mit keinem Wort wird erwähnt, dass westliche Macht- und Expansionspolitik ebenfalls wesentlich zum Ausbruch des Ukrainekonflikts beigetragen haben. Kein Wort über die Zusicherung des Westens, die NATO nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht weiter nach Osten auszudehnen – eine Zusicherung, die dann nach und nach gebrochen wurde, indem die NATO schliesslich bis an die Grenzen Russlands ausgedehnt wurde. Kein Wort darüber, dass die USA mit der Ukraine bereits 1997 einen Kooperationsvertrag abschlossen, in dessen Gefolge gemeinsame Militärmanöver durchgeführt, ukrainisches Militär durch US-Spezialisten trainiert und Waffen aus den USA in die Ukraine geliefert wurden. Kein Wort darüber, dass Wladimir Putin nach seinem Amtsantritt 2001 trotz der westlichen Macht- und Expansionspolitik des Westens die Hand ausstreckte und eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur vorschlug, die vom Westen in Bausch und Bogen verworfen wurde. Kein Wort darüber, dass der frühere US-Aussenminister Henry Kissinger im Wissen um die immense geostrategische Bedeutung der Ukraine vorschlug, das Land sollte einen „neutralen Status“ annehmen und als „Brücke“ zwischen Ost und West dienen. Kein Wort über die Rolle der CIA beim Sturz der russlandfreundlichen ukrainischen Regierung anfangs 2014. Kein Wort über die Brandreden ukrainischer Faschisten auf dem Maidan und ihre Forderungen nach einer „Auslöschung“ des russischen Volks. Kein Wort darüber, dass der im Minsker Abkommen vereinbarte Waffenstillstand für den Donbass nicht nur von russischen Separatisten, sondern auch von ukrainischen Einheiten immer wieder verletzt wurde. Kein Wort über die unvorstellbaren Gräueltaten und Kriegsverbrechen des nationalsozialistischen Asow-Regiments in der Ostukraine zwischen 2014 und 2021. Wenn die „NZZ am Sonntag“ über die „Gleichschaltung der russischen Medien“ spricht, dann müsste sie sich wohl ehrlicherweise diesen Vorwurf auch in umgekehrter Richtung gefallen lassen. Wenn man in einem ganzseitigen Zeitungsartikel bloss akribisch sämtliche Fehler und Untaten der einen Seite auflistet, ohne auch nur den geringsten Hinweis auf Fehler und Untaten der anderen Seite, dann ist auch das reine Propaganda und hat mit differenziertem, objektivem, ausgewogenem und aufgeklärtem Journalismus nur noch wenig zu tun. Im Gegenteil: Eine solche „Berichterstattung“ giesst nur unnötig Öl ins Feuer all jener, die sowieso schon immer lauter nach „Rache“ und „Vergeltung“ rufen oder gar schon nach dem endgültigen Sieg, einer endgültigen Niederlage und Vernichtung des vermeintlich „Bösen“. Der durchschnittliche Zeitungsleser, die durchschnittliche Fernsehzuschauerin, sie haben meistens nicht genug Zeit, sich mit sämtlichen komplexen Hintergründen des Geschehens auseinanderzusetzen, konträre Standpunkte kennenzulernen oder gar einschlägige Bücher zu lesen. Eine umso wichtigere Aufgabe kommt daher den Journalistinnen und Journalisten zu, ihre Aufgabe ist es, Hintergründe und Zusammenhänge aufzudecken, ohne sich zum Sprachrohr der einen oder der anderen Seite zu machen. „Ein Dialog setzt voraus, dass der andere recht haben könnte“, sagte der Philosoph Hans-Georg Gadamer. Was für den Dialog gilt, das gilt auch für die mediale Berichterstattung. Diese Weisheit scheint in diesen turbulenten und kriegslüsternen Zeiten immer mehr verlorenzugehen. Zugegeben, es ist nicht einfach. Aber gerade deshalb umso wichtiger. Wer sagt denn, dass alles, was der ukrainische Präsident Selenski oder der amerikanische Verteidigungsminister Austin sagen, stets die reine Wahrheit ist, und alles, was der russische Präsident Putin oder sein Aussenminister Lawrow sagen, stets nur gelogen ist? Ich bin gespannt. Vielleicht folgt ja in der nächsten „NZZ am Sonntag“ der zweite Teil, die Gegenseite, die andere Seite der Geschichte. Den Titel, „Einmaleins der Kriegstreiberei“, könnte man ruhig noch einmal verwenden…

Drohende Klimakatastrophe: „Wir können jetzt gerade damit beginnen, die Welt schrittweise zu verändern.“

 

„Fleisch aus konventioneller Produktion wird für unsere Enkelkinder dereinst das sein, was für uns heute die Audiokassette ist: ein aus der Zeit gefallenes Relikt.“ Das sagte nicht etwa eine Klimaaktivistin oder ein Klimaaktivist, sondern das renommierte Gottlieb-Duttweiler-Institut (GDI) aus Rüschlikon bei Zürich, eine weitgehend von der Migros finanzierte Denkfabrik. Unseren heutigen Fleischkonsum, so das GDI, könnten wir uns nicht mehr leisten, wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollten, deshalb sollte die Schweiz, so die Folgerung des GDI, bis 2050 fleischfrei sein. Dabei geht es aber, was das GDI nicht erwähnt, nicht nur um die Klimaziele. Es geht vor allem auch um die globale Versorgung mit Nahrungsmitteln. Schon vor 50 Jahren arbeiteten Schweizer Entwicklungsorganisationen mit dem Slogan „Das Vieh der Reichen frisst das Brot der Armen“. Daran hat sich bis heute nichts geändert, im Gegenteil: Würde man sämtliche Flächen, wo heute Futtermittel für Nutztiere angebaut werden, für die Produktion pflanzlicher Nahrungsmittel verwenden, so stünde weltweit genügend Nahrung zur Verfügung, um alle Menschen ausreichend zu versorgen. Dank neuester Forschung dürfte es zwar bald schon möglich sein, natürliches durch künstliches, industriell erzeugtes Fleisch zu ersetzen, doch bleiben noch mehr als genug liebgewonnene Gewohnheiten, auf die wir – oder mindestens all jene, die es sich leisten können – ganz und gar nicht verzichten möchten, vom neuesten Elektromobil, ausgestattet mit jeglichem Komfort, einem Zweit- oder gar Drittauto, einem oder mehreren E-Bikes über Arsenale von Elektronik- und Unterhaltungsgeräten bis zum Ferienflug nach Teneriffa oder auf die Malediven. Der von Jahr zu Jahr wachsende Energieverbrauch, eine sich immer aggressiver gebärdende Werbeindustrie und der offensichtlich schon gerade „heilige“ Glaube an ein unbegrenztes Wirtschaftswachstum sind Zeichen und die Folge davon, dass wir nie wirklich genug bekommen können. Und dies, obwohl die Alarmglocken an allen Ecken und Enden immer lauter klingeln. Sage und schreibe drei Mal so viel Energie und drei Mal so viele Ressourcen, wie die Erde wieder nachwachsen lässt, verbraucht die Schweizer Bevölkerung Jahr für Jahr. Es gibt nur zwei Antworten darauf: entweder Augen zu und unten durch und nach uns die Sintflut. Oder aber etwas, was man als echte „Zeitenwende“ bezeichnen könnte. „Entweder“, sagte der britische Historiker Eric Hobsbawn, „hören wir mit der Ideologie des grenzenlosen Wachstums auf, oder es passiert eine schreckliche Katastrophe. Heute geht es um das Überleben der Menschheit.“ Die Zeitenwende: Erkennen, dass wir uns nicht mehr, wie kleine Kinder mit vollem Wunschzettel, all das leisten können, was wir so gerne hätten. Bescheidener werden. Verzichten lernen. Mehr Teilen als Besitzen. Liebgewonnene Gewohnheiten hinterfragen. Noch schlägt all jenen, die mehr „Konsumverzicht“ fordern, ein rauer Wind entgegen – von all denen, die sich nicht von ihrem hart erarbeiteten Wohlstand verabschieden wollen und die sich, vor allem, durch nichts und niemanden und schon gar nicht von Grünen oder Klimajugendlichen vorschreiben lassen wollen, wie sie zu leben haben. Sie alle berufen sich dabei auf „Freiheit“ und „Demokratie“ und malen das Zerrbild einer zukünftigen „Ökodiktatur“ an die Wand. Dabei ist es ja gerade umgekehrt: Wer heute den Konsumverzicht und ein bewusstes Umgehen mit den natürlichen Ressourcen fordert, garantiert damit gerade dafür, dass Freiheit und Demokratie auch weiterhin möglich sind, und zwar nicht nur für ein paar wenige Privilegierte, sondern für die Menschheit als Ganzes. Wer auf immer weiter wachsenden Wohlstand nicht verzichten möchte, verwechselt Privilegien und Freiheiten. Privilegien sind das, was sich Einzelne auf Kosten anderer leisten können, die Reichen auf Kosten der Armen, die Länder des Nordens auf Kosten der Länder des Südens, die heute lebenden Menschen auf Kosten all jener, die nach uns leben werden. Echte Freiheit dagegen ist untrennbar verbunden mit sozialer Gerechtigkeit. Echte Freiheit ist die Freiheit aller. Frei bin ich stets nur in dem Masse, wie auch alle anderen Menschen frei sind und ein gutes Leben haben. „Die Welt“, sagte Mahatma Gandhi, „hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“ Also doch die Ökodiktatur? Zuteilung und Rationierung knapp gewordener Güter und Ressourcen wie zur Zeit des Zweiten Weltkriegs? Ein Szenario, das sich wohl niemand wünscht. Ungleich viel verlockender ist die Vision eines Wertewandels, der aus Einsicht, Vernunft und auf freiwilliger Basis erfolgen würde und gleichzeitig von einer Wirtschaft, die vom Wachstumsdogma Abschied nehmen müsste, und von einer Gesellschaft, die den Unterschied übertriebener Gier und echten Bedürfnissen erlernen würde, getragen wäre. „Die Frage ist“, sagte der britische Philosoph Bertrand Russell, „wie man die Menschheit davon überzeugen kann, in ihr eigenes Überleben einzuwilligen.“ Die wohl eindrücklichste und ergreifendste Antwort auf diese Frage hat Anne Frank gegeben, die im Alter von 16 Jahren im Konzentrationslager Bergen-Belsen starb und am 25. März 1944 Folgendes in ihr Tagebuch geschrieben hatte: „Wunderbar, dass niemand warten muss. Wir können jetzt gerade damit beginnen, die Welt schrittweise zu verändern.“

Die USA – fragwürdige Schutzmacht für „Freiheit“ und „Demokratie“

 

1. August 1964. Im Golf von Tonkin kommt es zu einem, wie sich später herausstellen wird, fingierten Angriff nordvietnamesischer Schnellboote gegen ein US-Kriegsschiff – die nun folgenden „Vergeltungsschläge“ der USA sind seit Monaten vorbereitet worden. Es folgt die massive Bombardierung Nordvietnams durch die US Air Force, Napalm und Splitterbomben töten Abertausende von Soldaten wie auch Zivilpersonen; Infrastruktur, Militäreinrichtungen und die Energieversorgung Nordvietnams werden weitgehend zerstört. Was nicht die Bomben zerstören, das zerstören Agent Orange, Agent Blue, Agent Purple und Agent White, hochgiftige Herbizide, die vor allem in den Grenzgebieten zu Laos und Kambodscha systematisch versprüht werden, um Strassen, Wasserwege, Grenzgebiete und Nachschubwege zwischen dem Norden und dem Süden freizulegen und Ernten zu vernichten. Am 16. März 1968 – und das ist nur eines von zahllosen ähnlichen Vorkommnissen – durchsuchen US-Soldaten das Dorf My Lai nach Kämpfern des Vietcong. Die Soldaten vergewaltigen Frauen und ermorden fast alle der 520 Bewohnerinnen und Bewohnern des Dorfes, auch Frauen und Kinder, selbst die Tiere. Ab Februar 1969 werden in 14 Monaten rund 100’000 Tonnen Bomben auf die Rückzugsgebiete der kommunistischen Kämpfer in Kambodscha und Laos abgeworfen. Anschliessend durchsuchen US-Spezialtrupps die betroffenen Gebiete, um Überlebende zu töten, es sterben eine unbekannte Zahl an Zivilpersonen. Zwischen 1969 und 1972 erfolgen weitere schwere Luftangriffe der USA auf Kambodscha und Laos. Gemäss Schätzungen der kambodschanischen Regierung wird ein Fünftel der Güter des Landes zerstört, zwei von sieben Millionen Einwohnerinnen und Einwohner werden aus den ländlichen Gebieten in die Städte vertrieben. Am 8. Mai 1972 kündigt US-Präsident Nixon erneute Flächenbombardierungen Nordvietnams an, insgesamt werden 112’000 Tonnen Bomben abgeworfen, 125’000 Kämpfer Nordvietnams kommen ums Leben. Dennoch erleiden die US-Truppen in immer grösserem Umfang Rückschläge, es beginnt der schrittweise Rückzug, bis der letzte US-Soldat am 26. März 1975 das Land verlässt. Insgesamt sind – in Vietnam, Laos und Kambodscha – diesem Krieg rund vier Millionen Menschen zum Opfer gefallen. Etwa drei Mal so viele Bomben wie im gesamten Zweiten Weltkrieg sind von der US Air Force über Vietnam, Laos und Kambodscha zwischen 1964 und 1975 abgeworfen worden, zurück geblieben sind 21 Millionen Bombenkrater in Gegenden, die so aussehen wie Mondlandschaften. 200’000 Behinderte hat der Krieg zurückgelassen, weite Teile ehemals fruchtbaren Landes sind dauerhaft geschädigt und noch Jahre später werden Hunderttausende von Menschen unter Krebserkrankungen als Folge der versprühten Herbizide leiden. Und dabei ist der Vietnamkrieg nur einer von insgesamt 44 US-Militärinterventionen seit 1945, von Liberia bis Bangladesch, von Zaire bis Grenada, von Bolivien bis Bosnien, von Ungarn bis Kurdistan, von Uganda bis Serbien, von Afghanistan bis zum Irak. Auf 20 bis 30 Millionen Tote und 200 – 300 Millionen Verletzte werden die Opfer der US-Militärinterventionen seit 1945 geschätzt, das sind doppelt so viele wie die Opfer des gesamten Ersten Weltkriegs. Man soll Putins Feldzug gegen die Ukraine in aller Schärfe verurteilen, keine Frage. Aber wenn man mit dem einen Auge, zu Recht, so kritisch schaut, dann dürfte man das andere Auge deswegen noch lange nicht einfach verschliessen. Jeder Krieg und jede Militärintervention, die von den USA angezettelt wurden, sind kein bisschen weniger verbrecherisch als all jene Kriege und Militärinterventionen, die von der Sowjetunion bzw. von Russland angezettelt wurden. All jene, die heute so entschieden und widerspruchlos auf der einen Seite das „böse“ Russland und auf der anderen Seite die „guten“ USA sehen, sollten sich wenigstens eine Stunde Zeit nehmen, um all jene Kriegsverbrechen nachzulesen, die von den US-Präsidenten von Richard Nixon bis George W. Bush begangen worden sind, ohne dass jemals einer von ihnen vor ein Kriegsverbrechertribunal gestellt worden wäre. Vielleicht würden sie ihre Meinung, die sie heute so klar und lautstark vertreten, wenigstens ein klein wenig in Frage stellen…  Kann man angesichts solcher Weltherrschaftspolitik und solcher alle Vorstellungskraft übersteigender, bis heute nicht gesühnter Kriegsverbrechen tatsächlich guten Glaubens davon ausgehen, den USA ginge es bei ihrer jetzigen Parteinahme für die Ukraine einzig und allein um den selbstlosen Einsatz für „Freiheit“ und „Demokratie“? Oder könnten hier vielleicht nicht eher noch ganz handfeste Grossmachtinteressen dahinterstecken? Dies würde jedenfalls sehr gut in jenes Bild passen, das wir über die 44 Militärinventionen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hinweg erkennen. Der frühere amerikanische Sicherheitsberater Zbignew Brzezinski sagte schon 1997, die Ukraine stehe an der Schnittstelle zwischen den Grossmachtinteressen im europäisch-asiatischen Raum. Dass es nicht nur um das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine geht, sondern auch handfeste Machtinteressen der USA im Spiel sind, zeigt sich auch darin, dass bereits 1997 ein Kooperationsvertrag zwischen der Ukraine und der Nato abgeschlossen wurde und das US-Militär in der Ausbildung und Bewaffnung ukrainischer Streitkräfte seit Längerem aktiv ist. So entschieden die USA die Ukraine in ihrem Machtbereich sehen wollen, so entschieden will  Russland das verhindern – genau das, was Brzezinski vorausgesehen hatte. Deshalb gibt es eigentlich nur eine einzige wirklich dauerhafte Lösung des Konflikts. Es ist jene, die der frühere US-Aussenminister Henry Kissinger 2014 vorgeschlagen hat: „Die Ukraine“, sagte er, „darf nicht der Vorpfosten der einen oder anderen Seite sein, sondern eine Brücke zwischen beiden Seiten.“ Hierzu müssten freilich beide Konfliktparteien von ihren Maximalforderungen abweichen und zu einer Lösung finden, zu der beide Seiten ja sagen könnten. Alles andere ist ein Irrweg mit so vielen Gefahren, dass nur alles Erdenkliche getan werden muss, um ihn zu vermeiden…

„Jene, die den Frieden lieben, müssen sich ebenso wirkungsvoll organisieren wie jene, die den Krieg lieben.“

 

Es gehe, sagte Thorsten Frei, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU im Zusammenhang mit der Lieferung deutscher Panzer an die Ukraine, darum, ob man auf der „richtigen Seite der Geschichte“ stehe. Andere sprechen im Zusammenhang mit Waffenlieferungen von einem „Wertewandel“ oder gar einer „Zeitenwende“. Und alle meinen das Gleiche: Wer die Zeichen der Zeit immer noch nicht erkannt habe und sich immer noch an der Vision einer Welt ohne Waffen und Kriege festklammere, habe endgültig den Anschluss an die heutige Zeit verloren. Friedensmärsche, so lese ich in einem Twitterkommentar, seien doch längst nicht mehr zeitgemäss. Und der deutsche FDP-Politiker Graf Lambsdorff versteigt sich gar zur Behauptung, Friedensmärsche wären nichts anderes als eine „5. Kolonne Wladimir Putins“. Nichts wünschte ich mir sehnlicher, als das Rad der Geschichte zurückdrehen zu können. Ins Jahr 1971 zum Beispiel, als der damalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises sagte: „Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen.“ Oder ins Jahr 1980, als der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte: „Lieber hundert Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schiessen.“ Seitdem sind sie wie Dominosteine einer nach dem andern umgefallen, zuerst Politikerinnen und Politiker jeglicher Couleur, auch die Grünen, die ihre so radikale pazifistische Tradition sang- und klanglos über den Haufen geworfen haben, als wäre da nie etwas gewesen, und jetzt auch noch die SPD. Sie alle argumentieren, die Zeiten hätten sich eben geändert. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sähe die Welt von Grund auf anders aus. Der Pazifismus sei grundsätzlich schon richtig, aber nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Man müsse ihn jetzt sozusagen ins Gefrierfach legen, um ihn dann, wenn bessere Zeiten gekommen sind, wieder hervorzuholen. Doch man kann den Pazifismus nicht aufs Eis legen. Im Gegenteil, er ist heute aktueller und dringender denn je. „Wir haben uns auf Putins Kriegslogik eingelassen, auf das Prinzip von Gewalt und Gegengewalt“, schreibt die russische Schriftstellerin Natascha Wodin, „ich glaube nicht, dass wir der Ukraine damit helfen können. Es muss alles getan werden, um die Lage zu deeskalieren, zu entschärfen, kein Öl mehr ins Feuer zu giessen.“ Ja, Putin erobert nicht nur ukrainische Städte. Er ist auch daran, unser Denken zu erobern, indem wir es der gleichen zerstörerischen Logik unterwerfen, Gewalt sei mit Gewalt zu bezwingen und es gäbe dazu keine Alternative. Aber auch das ist noch nicht alles. Erobert wird auch immer stärker die Oberhand über die öffentliche Meinung inmitten von Ländern, die eben noch auf ihre demokratische Meinungs- und Gedankenfreiheit so stolz gewesen sind. Immer mehr formt sich ein Einheitsdenken heraus, immer stärker geraten Einzelne, die anders denken, unter die Räder, werden als „Ewiggestrige“, als „Naivlinge“, „Träumerinnen“ oder „Putinversteher“ abgestempelt oder sogar lächerlich gemacht und es wird ihnen vorgeworfen, sie stünden auf der „falschen Seite der Geschichte“. Ist erst einmal eine Mehrheit für das „Richtige“ gewonnen, so haben es jene, die das „Falsche“ vertreten, immer schwerer, überhaupt noch zu Wort zu kommen. Selbst die besten Argumente verhallen im Leeren, wenn jene, die sich in der Mehrheit sonnen, nicht mehr bereit sind zuzuhören. „Je weiter sich eine Gesellschaft von der Wahrheit entfernt“, sagte der englische Schriftsteller George Orwell, „desto mehr wird sie jene hassen, die sie aussprechen.“ Auch Albert Einstein sagte: „Wir sollten uns viel öfter die Frage stellen, ob es richtig ist, nur weil wir es alle tun.“ Und der russische Schriftsteller Leo Tolstoi formulierte es ganz ähnlich: „Falsch hört nicht auf, falsch zu sein, nur weil die Mehrheit daran beteiligt ist.“ Und doch bleibt Hoffnung. Es gibt nämlich nicht nur die Kriegstreiber, die Scharfmacher, die Machtpolitiker, die Rüstungsindustrie und die abtrünnig gewordenen Pazifisten und Pazifistinnen, die uns auf beiden Seiten der ideologischen Gräben ins Unheil zu stürzen versuchen. Es gibt eine ganz überwiegend grosse Mehrheit von Menschen hüben und drüben aller Grenzen, die sich nichts sehnlicher wünschen als ein Ende aller Gewalt, aller Zerstörung, aller Kriege und die Geburt einer neuen Zeit weltweiten Friedens. Nur solange sie schweigen und nicht selber aktiv werden, kann das Böse sein Spiel weitertreiben. Denn „alles, was das Böse braucht, um zu triumphieren“, sagte der ehemalige UNO-Generalsekretär Kofi Annan, „ist das Schweigen der Mehrheit.“ Und auch der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King rief dazu, aus Gleichgültigkeit und Passivität herauszutreten und aktiv zu werden: „Jene, die den Frieden lieben“, sagte er, „müssen sich ebenso wirkungsvoll organisieren wie jene, die den Krieg lieben.“ Was für eine Vision: Der Ukrainekrieg als der erste Krieg, der nicht durch Gegenkrieg, sondern durch Pazifismus besiegt worden wäre. Dann, erst dann, könnten wir davon sprechen, auf der „richtigen Seite der Geschichte“ gestanden zu haben. Dann, erst dann, könnten wir tatsächlich von einem „Wertewandel“ oder gar von einer „Zeitenwende“ sprechen. Und dann, erst dann, wäre die Sehnsucht tief in uns allen, die mit jedem Kind, das in die Welt kommt, immer wieder aufs Neue geboren wird, dann. erst dann, wäre diese Sehnsucht nach einer Welt voller Liebe, Frieden und Gerechtigkeit Wirklichkeit geworden.

Ukraine: Es gibt keine vernünftige Alternative zu einem umfassenden Friedensvertrag

 

US-Aussenminister Antony Blinken und US-Verteidigungsminister Lloyd Aston haben am 24. April 2022 den ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenski in Kiew getroffen und bei dieser Gelegenheit bekräftigt, die Ukraine weiterhin mit schweren Waffen zu beliefern. „Wir wollen“, sagte Aston, „Russland derart geschwächt sehen, dass es nicht zu Dingen wie der Invasion der Ukraine in der Lage ist.“  Psychologie scheint Aston ein Fremdwort zu sein. Sonst wüsste er nämlich, dass der Widersacher, den man mit aller Gewalt klein zu machen versucht, nur umso aggressiver und gewalttätiger wird. So gesehen ist der Angriff Russlands auf die Ukraine nur das letzte Glied einer langen Kette von Demütigungen: Es begann mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und ging weiter mit der schrittweisen Erweiterung der NATO bis an die Grenze Russlands, und dies, obwohl Putin 2001, kurz nach seinem Amtsantritt, seine Hand nach dem Westen ausgestreckt und eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur vorgeschlagen hatte. Auch die Ukraine, mit der die NATO bereits 1997 einen militärischen Partnerschaftsvertrag abgeschlossen hatte, sollte nach dem Willen der westlichen Machthaber vollwertiges NATO-Mitglied werden. Man stelle sich einmal vor, wie die USA reagieren würden, wenn Mexiko und Kanada ein Militärbündnis mit Russland eingehen würden! Dass ein Beitritt der Ukraine zur NATO weitgehende und gefährliche Folgen haben könnte, sah schon der ehemalige US-Aussenminister Henry Kissinger voraus und er forderte deshalb, dass die Ukraine weder zum „Vorpfosten“ der einen, noch der anderen Seite werden, sondern eine „Brücke zwischen beiden Seiten“ sein sollte. Zur Geschichte der Demütigung Russlands gehört auch der 1999 von den USA angeführte Krieg gegen Serbien, in klarem Widerspruch zum internationalen Völkerrecht und entgegen dem heftigen Widerstand Russlands, dem schliesslich nichts anderes übrig blieb, als diesen Gewaltakt des Westens zähneknirschend hinzunehmen. Man sei, so Catherine Belton, Korrespondentin der „Financial Times“, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion so euphorisch gewesen, dass man geglaubt habe, den Russen bliebe gar nichts anderes übrig, als sich anzupassen und in die vom Westen angeführte Welt zu integrieren. Wenn nun westliche Politiker eine umfassende Schwächung Russlands oder gar, wie das auch schon vorgekommen ist, einen „wirtschaftlichen Zusammenbruch Russlands“ zu fordern, dann giessen sie Öl in jenes Feuer, das sie angeblich löschen wollen. Denn immer mehr Demütigungen führen zu immer mehr Zorn und Gewalt. Das müssten wir eigentlich spätestens seit dem Aufkommen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs zur Genüge wissen, waren es doch die mannigfachen politischen und wirtschaftlichen Demütigungen, die einseitige Schuldzuweisung am Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die exorbitanten Reparationszahlungen, die Deutschland an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs zu zahlen hatte, welche den Aufstieg Hitlers und den späteren Krieg überhaupt erst möglich machten. Besonders brisant ist übrigens, dass mit Lloyd Aston ausgerechnet ein Politiker die Zerschlagung der russischen Militärmacht fordert, dessen eigene Regierung 2003 einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak vom Zaun riss, der über einer halben Million Zivilpersonen das Leben kostete. Da hätte man wohl auch allen Grund gehabt, die Zerschlagung der US-Armee zu fordern, damit sich solches Unheil nie mehr wiederholen sollte. Heisst das alles nun, dass man Putin gewähren lassen und ihm die ganze Ukraine kampflos überlassen sollte? Mitnichten. Aber auch das Gegenteil, Russland eine vernichtende militärische Niederlage zuzufügen, wäre keine gute Lösung, da sie die Demütigungen nur noch weiter verschärfen und der verwundete Bär dann an einem anderen Ort umso heftiger zuschlagen würde. Es gibt tatsächlich keine vernünftige Alternative zu einer Friedenslösung, zu der beide Seiten ja sagen könnten, die Ukraine als „Brücke“ zwischen Ost und West – was für eine bestechende Idee, ein Schritt in eine neue Zeit, ohne Schmach, ohne Demütigung, ohne leidvolle Spuren über Generationen hinweg. „Deeskalieren, vermitteln“, schreibt Gabriele Krone-Schmalz in ihrem Buch „Eiszeit“, „sich in die Lage anderer versetzen, um deren Handeln besser begreifen und die Folgen des eigenen Handelns besser einschätzen zu können – das hat nichts mit Schwäche zu tun, sondern mit politischer Weitsicht, mit menschlicher Grösse und mit genau den christlichen Werten, die so viele im Munde führen.“ 

Eine neue Welt: Man muss das Unmögliche denken, damit es möglich wird…

 

Ein Krieg, der unermessliches Leiden schafft, entstanden aus einem Konflikt, der schon längstens mit friedlichen Mitteln hätte gelöst werden können. Eine Vielzahl weiterer Kriege, mehr als je seit dem Zweiten Weltkrieg, von denen schon niemand mehr spricht. Eine Milliarde Menschen, die hungern, Tag für Tag weltweit zehntausend Kinder, die vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen und kein sauberes Trinkwasser haben. Eine Minderheit von Reichen und Superreichen über alle Kontinente hinweg, die sich in Luxushotels, auf Golfplätzen und Kreuzfahrtschiffen vergnügen, mit Edelkarossen über die Autobahnen rasen, sich im Luxusrestaurant einen tausendfränkigen Wein servieren lassen und von denen die Allerreichsten gar eine private Weltraumrakete ihr Eigen nennen. Millionen von Männern, Frauen und Kinders, denen härteste Arbeit zu geringstem Lohn aufgezwungen wird, bloss um die laufend wachsenden Luxusbedürfnisse der Reichen und Reichsten zu befriedigen. Lohnunterschiede zwischen den höchsten und tiefsten Einkommen, die grösser sind als alles, was die Geschichte je gesehen hat. Der unerbittliche Glaube an ein immerwährendes Wirtschaftswachstum, dem alle Schätze der Erde, die ganze Vielfalt der Natur, das Wasser, die Luft und selbst das Überleben der Menschheit in den nächsten 20 oder 50 Jahren rücksichtslos geopfert werden. Und wie wenn das alles nicht schon mehr als genug wäre, stehen weltweit mit einem Riesenarsenal an Atomwaffen Massenvernichtungsmittel bereit, die jederzeit die gesamte Menschheit nicht nur einmal, sondern gleich mehrfach auslöschen könnten. Wären Lebewesen eines anderen, höher entwickelten Planeten in der Lage, auf die Erde zu schauen, sie würden es nicht begreifen, würden sich ungläubig die Augen reiben und würden buchstäblich die Welt nicht mehr verstehen. Und auch der kleine Prinz in der bekannten Erzählung von Antoine de Saint-Exupéry, der schon vor vielen Jahren auf der Erde landete und damals schon ob dem Treiben der Menschen zutiefst verwundert war, würde heute wohl noch viel früher als damals die Erde fluchtartig wieder verlassen.

Eigentlich gibt es angesichts dieses Zustands der Erde und der Menschheit nur zwei Möglichkeiten: Resignation oder Hoffnung. Ich plädiere für die Hoffnung. So „naiv“ oder „realitätsfern“ dies im Moment auch erscheinen mag. Doch die Vorstellung einer Zukunft ohne Kriege, ohne soziale Ungerechtigkeit, ohne Ausbeutung von Mensch und Natur zwecks Profitmaximierung und ohne zukunftsbedrohenden Raubbau an der Natur und den Schätzen der Erde, ist so viel einfacher, klarer, logischer als diese so komplizierte und so verrückte Welt, in der wir heute leben. „Ich weigere mich“, sagte Nadine Gordima, Schriftstellerin und Anti-Apartheid-Kämpferin, „ohne Hoffnung zu leben.“ Ja, Hoffnung gibt Kraft. Und diese Kraft brauchen wir, die von so grossem Leid, so unermesslicher Zerstörung, so verstörenden Zukunftsängsten so müde und kraftlos geworden sind, dass wir höchstens noch die letzten Reste privater Glückseligkeit geniessen, uns aber nicht mehr um das grosse Ganze kümmern, weil doch schon alles verloren zu sein scheint. 

Hoffnung bedeutet: sich jene andere Welt vorzustellen, die als tiefe Sehnsucht in uns allen verborgen liegt und die mit jedem Kind, das in die Welt kommt, neu geboren wird. Man muss die vorhandene Wirklichkeit übersteigen. Man muss das Unmögliche denken, damit es möglich wird. Je schöner und farbiger die Vision einer Welt ohne Krieg, ohne soziales Unrecht, ohne Ausbeutung und ohne Raubbau an der Natur erscheint, umso hässlicher wird die Fratze der gegenwärtigen Weltordnung dastehen. Und dann, irgendwann, wird das Ganze kippen. Dann werden die, welche heute als Träumerinnen, Naivlinge und Spinner verschrien werden, als „realistisch“ und „vernünftig“ angesehen werden, und all jene, die heute noch mit dem Kriegsbeil herumrennen und nicht einmal vor der Zerstörung ihrer eigenen Lebensgrundlagen zurückschrecken, bloss noch als Relikte einer vergangenen, überwundenen Zeit.

„Mehr als die Vergangenheit“, sagte Albert Einstein, „interessiert mich die Zukunft, denn in ihr werde ich leben.“ Ja, diese Zukunft kann erst dann Wirklichkeit werden, wenn wir sie in unseren Gedanken und Visionen vorwegnehmen. Nach allen Anstrengungen, nach allem Leiden, nach allen Entbehrungen vergangener Jahrhunderte wäre das wohl die vornehmste und vordringlichste Herausforderung, die man sich nur vorstellen kann. Damit sich die Bewohnerinnen und Bewohner jenes fernen Planeten, die uns beobachten, nicht mehr voller Abscheu von uns abwenden müssten, sondern nichts lieber täten, als uns einen Besuch abzustatten. Und der kleine Prinz für immer auf der Erde bleiben würde. „Du hast die Wahl“, sagte der US-Publizist Noam Chomsky, „du kannst sagen: Ich bin Pessimist, das wird alles nichts. Oder du orientierst dich an den Hoffnungsschimmern und sagst, dass wir vielleicht eine bessere Welt errichten werden. Eigentlich hast du gar keine Wahl.“