Was der Klimawandel und die stetige Zunahme von arbeitsbedingten Burnouts miteinander zu tun haben…

 

Laut dem Job-Stress-Index der Schweiz von 2020 ist ein Drittel der Arbeitnehmenden am Arbeitsplatz einer Belastung ausgesetzt, die ihre Ressourcen übersteigt. Die Folge: eine immer höhere Anzahl von Burnouts. „Im Vergleich zu 2019“, so Michael Pfaff, Leiter einer Burnoutklinik, in der „Sonntagszeitung“ vom 16. Mai 2022, „haben sich die Klinikeinweisungen aufgrund von Burnout seit 2019 um 40 Prozent erhöht. Nur ein Teil davon ist auf die Auswirkungen der Coronapandemie zurückzuführen: Bereits im Jahre 2018, so eine Untersuchung der „Gesundheitsförderung Schweiz“, litten fast 30 Prozent der Schweizer Erwerbsbevölkerung unter emotionaler Erschöpfung. „Burnout“, so Michal Pfaff, „ist ein Lebensstil, bei dem ich auf Dauer mehr Energie abgebe, als ich wieder zu mir führe.“ Seltsam. Denn eigentlich müsste es ja umgekehrt sein: Im Laufe vieler Jahrzehnte sind Infrastrukturen – Fabriken, Wohnhäuser, Strassen, Verkehrssysteme – aufgebaut worden, von denen wir heute alle profitieren. Dazu kommt eine Riesenerfahrung in allen Produktions-, Dienstleistungs- und Arbeitsbereichen, die dazu dienen könnten, Arbeit in Zukunft so zu gestalten, dass mit einem kleineren Aufwand dennoch eine genug grosse Leistung erzielt werden könnte. Schliesslich die Digitalisierung, Automatisierung und Technisierung, dank der heute viele Tätigkeiten, die früher in mühsamer eigenhändiger Kleinarbeit bewältigt werden mussten, an Maschinen delegiert werden können. Eigentlich spräche alles dafür, dass wir es uns endlich etwas gemütlicher machen und uns endlich auf den Lorbeeren vergangener Zeiten ein wenig ausruhen könnten. Doch absurderweise ist genau das Gegenteil der Fall: Das herrschende kapitalistische Wirtschaftssystem, das darauf ausgerichtet ist, aus jedem Rohstoff, jeder Ware, jeder Dienstleistung, jeder Handreichung den stets grösstmöglichen Profit herauszuquetschen, lässt dies nicht zu. Und so kommen die, welches dieses System antreiben und gleichzeitig von ihm angetrieben werden, auf immer verrücktere Ideen, wie die Arbeitsabläufe und das Wachstum der Warenwelt in immer noch weitere Höhen hinaufgetrieben werden können. In blinder Profitgier hat dieses Wirtschaftswachstum das heilige Prinzip, wonach Geben und Nehmen stets in gegenseitigem Gleichgewicht stehen sollten, auf fahrlässigste Weise ausgehebelt. Wenn der Leiter einer Burnoutklinik davon spricht, Burnout sei ein „Lebensstil, bei dem ich auf Dauer mehr Energie abgebe, als ich wieder zu mir führe“, dann ist das exakt der gleiche Vorgang von Ausbeutung, den wir im grossen Stil in der Weise erleben, dass die Schweiz insgesamt pro Jahr drei Mal so viele Ressourcen verbraucht, als die Erde in diesem Zeitraum wieder nachwachsen lässt. Es ist das gleiche Grundmuster: So wie Menschen an ihrem Arbeitsplatz Belastungen ausgesetzt sind, welche ihre natürlichen Ressourcen masslos überfordern, genau so geht es der Erde, dem Wasser, der Luft, den Pflanzen und den Tieren in einer Welt, deren offensichtlich höchstes Ziel es ist, noch den letzten Flecken Erde in Gold zu verwandeln. Egal, von welcher Seite wir herkommen, egal, wo wir beginnen: beim Klimawandel, dem Hunger, den gesundheitlichen Belastungen durch menschenfeindliche Arbeitsverhältnisse, dem Sterben von Tieren und Pflanzen – alles ist eine Folge des Wirtschaftssystems, in dem wir gefangen sind. Stecken wir die stressgeplagten Menschen in Burnoutkliniken, so ist das nichts mehr als reine Symptombekämpfung – der Mensch wird dem System angepasst statt das System den Menschen. Echter Fortschritt kann nicht darin bestehen, möglichst viele Burnoutkliniken zu bauen und möglichst viele Therapeutinnen und Therapeuten auszubilden. Echter Fortschritt müsste darin bestehen, ein Wirtschaftssystem aufzubauen, in dem Menschen nicht mehr gezwungen sind, ständig über ihre Erschöpfungsgrenze hinaus zu arbeiten, und in dem die Schätze der Natur nur so weit genutzt werden, wie auf natürliche Weise wieder nachwachsen kann – alles im Gleichgewicht. Und so sind die wachsende Anzahl von Burnouts und das wachsende Leiden der Natur nicht nur besorgniserregende Belastungen, zugleich sind sie auch, richtig verstanden, Mahnzeichen dafür, dass sich grundsätzlich, und nicht nur an der Oberfläche, etwas ändern muss. Irgendwo nämlich treffen sich die vielen einzelnen „Kipppunkte“, die vielen einzelnen Warnzeichen, die vielen einzelnen roten Signale zu einem einzigen grossen Wendepunkt. Das ist nicht nur Anlass zu Sorge. Es ist, wie die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer so überzeugend formulierte, vor allem auch ein riesiges Zeichen von Hoffnung:
„Wir
malen sie uns aus und wir wissen, dass wir sie erleben werden: Die Zukunft,
von der wir träumen. Das ist die Magie gesellschaftlicher Kipppunkte – wir
wissen nicht genau, wann wir sie erreichen, aber wir wissen, dass sie
kommen.“

Seenotretterinnen und Seenotretter auf der Anklagebank: Wenn Unrecht zu Recht wird…

 

Im sizilianischen Trapani sind, wie die „Wochenzeitung“ vom 19. Mai 2022 berichtet, 21 Seenotretterinnen und Seenotretter angeklagt, es drohen ihnen bis zu zwanzig Jahren Haft. Ihr „Vergehen“: Sie hatten Zehntausende Geflüchtete im Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet. Die Staatanwalt behauptet, dass sie in „krimineller Absicht Ausländer zum Zweck der unerlaubten Einreise“ transportiert hätten. Die Angeklagten betonen, sie seien nur die prominentesten Beispiele für eine umfassende Kriminalisierung. In den Gefängnissen von Italien und Griechenland würden Tausende von Geflüchteten sitzen, die in Europa Schutz gesucht hätten und denen nun Schlepperei vorgeworfen werde. „Richtigerweise aber“, so der deutsche Rettungssanitäter Sascha Girke, „würden nicht wir auf der Anklagebank sitzen, sondern die Verantwortlichen der rassistischen europäischen Grenzabwehr wie der abgetretene Frontex-Direktor Fabrice Leggeri.“ So wird schleichend das Normale zum Verrückten und das Verrückte zum Normalen. Wer Leben rettet, wird kriminalisiert, wer durch Untätigkeit oder aktives Zutun Menschen in den Tod treibt, geniesst den Schutz und das Ansehen der „Legalität“. Mit anderen Worten: Wenn genügend viele Menschen mitmachen und nicht dagegen aufbegehren, wird das Unrecht zu Recht und das Recht zu Unrecht – ein aktuell gerade herrschender Zustand, dem schon der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht unvergesslich die Forderung entgegenstellte: „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Nur dass es gegenwärtig noch viel, viel zu wenige sind, welche bereit sind, diesen Widerstand zu leisten. Doch das Ganze, so denke ich, geht noch viel weiter: Es sind nämlich nicht nur die Verantwortlichen der Frontexagentur, die auf die Anklagebank gehören. Es sind auch die Herren der globalen Banken und Finanzinstitute, die Börsenspekulanten, die Rohstoffhändler, die Besitzer und Manager der weltweiten Nahrungsmittel-, Technologie- Textil- und Rüstungskonzerne, die auf der Anklagebank sitzen müssten, kurz: alle, die am globalen kapitalistischen Riesengeschäft der Ausbeutung der Armen durch die Reichen, der Arbeitenden durch die Besitzenden, des Südens durch den Norden massgeblich beteiligt sind. Denn die Menschen aus dem Süden drängen nicht deshalb in den Norden, weil sie eine Fahrt im Schlauchboot über das Mittelmeer so romantisch fänden, sondern weil ihre Länder während Jahrhunderten durch die reichen Nationen des Nordens ausgebeutet wurden und bis zum heutigen Tag weiterhin ausgebeutet werden. Wenn die Schweiz aus dem Handel mit „Entwicklungsländern“ fast 50 Mal mehr Profit erwirtschaftet, als sie diesen Ländern in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückgibt, wenn US-Rüstungsunternehmen astronomische Gewinne dadurch erzielen, dass sich die Menschen in Syrien, Libyen oder der Ukraine gegenseitig die Köpfe einschlagen, wenn trotz immer dringenderer Warnungen vor einem Klimakollaps blindlings am Dogma eines grenzenlosen Wirtschaftswachstums festgehalten wird – dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die Zahl der Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben ihre Heimat verlassen müssen, immer grösser wird und wohl bald schon alles bisher Vorstellbare weit übertreffen wird. Und ja, dann werden eines Tages auch nicht nur die Banker, Rohstoffspekulanten und Waffenhändler auf der Anklagebank sitzen, sondern wir alle. Denn ein so weltumspannendes Macht- und Ausbeutungssystem wie der Kapitalismus kann nur so lange sein Unwesen treiben, als sich eine genügende Anzahl von Menschen aktiv daran beteiligen und die Maschine am Laufen halten, als Arbeitende, als Konsumierende, als Mitprofitierende, als genüsslich Abseitsstehende, die behaupten, sie hätten mit alledem nichts zu tun. Eines Tages wird es so sein, wie Brecht es gefordert hatte, nämlich, dass Widerstand zur Pflicht geworden sein wird. Und dass man, eines Tages, nicht mehr daran gemessen wird, wie viele Schnäppchen aus einer immer grösseren Glitzerwelt von unnötigem Luxus man sich ergattern konnte. Sondern daran, ob wir alles nur Erdenkliche und in unserer Macht Stehende getan haben, um uns für eine Welt zu engagieren, in der niemand mehr gezwungen ist, seine Heimat auf der Suche nach dem verlorenen Glück zu verlassen und es nicht mehr bloss eine schöne Vision ist, sondern die ganz selbstverständliche Lebenswirklichkeit, dass zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort über alle Grenzen hinweg für alle Menschen ein gutes Leben möglich geworden ist.

Markus Lanz: Viele Wortgefechte, ein Krieg im Kleinen – aber wenig Erkenntnisgewinn…

 

Nein, es ist nicht einfach, als Einzige in einer Gesprächsrunde Meinungen zu vertreten, die von allen anderen abgelehnt werden. Dies hat einmal mehr Sahra Wagenknecht, viel geschmähte „Putinversteherin“, in der TV-Talkshow „Markus Lanz“ vom 19. Mai 2022 erfahren müssen, in der Diskussion mit dem FDP-Bundestagsabgeordneten Johannes Vogel, der Europa-Expertin Daniela Schwarzer und dem Journalisten Paul Ronzheimer. Nur schon der Vorwurf, Wagenknecht betreibe „Putin-Propaganda“ – Vogel stellt ihn einfach so in den Raum, ist aber nicht bereit, Wagenknecht ernsthaft zuzuhören, wenn sie im Folgenden darlegt, dass es bei ihrer Haltung ganz und gar nicht um „Putin-Propaganda“ gehe, sie diesen Krieg genauso verurteile, sich aber dagegen wehre, alles auf ein fixes Bild vom „bösen“ Russland und dem „guten“ Westen festzumachen. Doch leise, differenzierte Töne haben in einem solchen Sendegefäss offensichtlich wenig Platz. Eine wie Sahra Wagenknecht, die das gängige gemeinsame und nicht mehr länger hinterfragte Bild stören könnte, wird nicht mehr als Chance wahrgenommen, Neues zu erfahren, eigene Standpunkte zu hinterfragen, möglicherweise sogar zu einem neuen Gesamtbild zu gelangen – sie dient bloss dazu, in Widersprüche verwickelt, von allen Seiten gleichzeitig angegriffen, missverstanden und ins Lächerliche gezogen zu werden. Was bleibt der so Angegriffenen dann anderes übrig, als ebenfalls zurückzuschiessen, ebenfalls anderen ins Wort zu fallen und ebenfalls plakative Aussagen in den Raum zu stellen, auf die sich dann die anderen wiederum wie auf eine fette Beute stürzen können. Denn für vertiefende und differenzierte Zusammenhänge und historische Hintergründe ist unter solchen Vorzeichen sowieso schon längst kein Platz mehr. Sonst wäre es nämlich früher oder später an der Zeit, zum Beispiel an die Aussage des US-Historikers George F. Kennan aus dem Jahre 1997 zu erinnern, wonach die NATO-Osterweiterung einer der „verhängnisvollsten Irrtümer“ sei und früher oder später Auswirkungen zeigen würde, die dem Westen „nicht gefallen“ würden. Oder an die Aussage des ehemaligen US-Aussenministers Henry Kissinger aus dem Jahre 2014, wonach die Ukraine vorteilhaft nicht Bestandteil des West- oder des Ostblocks sein sollte, sondern eine „Brücke zwischen beiden Seiten“. So aber bleibt alles notgedrungen an der Oberfläche und das Ganze gleicht eher einem Tennismatch, bei dem man sich gegenseitig die Bälle um die Ohren schlägt, als einer ernsthaften Debattierrunde erwachsener Menschen, an deren Ende beide Seiten gescheiter geworden sein sollten, als sie es vorher gewesen waren. Dazu passt, dass der Gesprächsleiter im Laufe der Debatte immer mehr in die Rolle eines Meinungsträgers schlüpft, zusätzlich Öl ins Feuer giesst und nicht einmal davor zurückschreckt, in einem Nebensatz gleich noch rasch den Pazifismus mit dem Faschismus gleichzusetzen. Ja, es wird über den Krieg in der Ukraine diskutiert. Aber zugleich ist das, was hier geschieht, gar nicht viel anderes als ein Krieg im Kleinen. Statt neue Einsichten zu gewinnen, schlägt man sich im Sekundentakt gegenseitig Wortfetzen an den Kopf, aber alles ist stets nur eine Wiederholung des ewig Gleichen und der Erkenntnisgewinn liegt, auch für die Zuschauerinnen und Zuschauer der Sendung, praktisch bei Null. Weshalb werden nicht neue Formate entwickelt, in denen man diesem ewig gleichen Hickhack nicht mehr so viel Raum gewähren würde? Wäre das der Einschaltquote zu sehr abträglich? Wäre es nicht dennoch einen Versucht wert? Man könnte zum Beispiel eine öffentliche Gesprächsrunde unter das Motto stellen: Wie kann der Frieden gewonnen werden? Alle Teilnehmenden wären dazu aufgerufen, nicht mehr rechthaberisch ihre Wahrheit zu verkünden, sondern ihre kreativsten Ideen für eine friedliche Lösung des Konflikts zu entfalten. Niemand würde mehr niemandem ins Wort fallen, weil alle erfahren und herausfinden möchten, was die anderen denken und über was für ein neues, noch nicht erschlossenes Wissen sie verfügen. Man würde sich die Bälle nicht mehr um die Köpfe schlagen, sondern aus ihnen gemeinsam ein neues Haus aufbauen. „Jedes gute Gespräch“, sagte der Philosoph Hans-Georg Gadamer, „setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.“ Eine solche „Talkshow“ wäre dann nicht mehr bloss ein Abbild des Kriegs, sondern Zeichen eines echten Neubeginns, von dem alle, die auf der „guten“ wie auch die auf der „bösen“ Seite, gleichermassen profitieren könnten…

 

Lohngefälle von 300:1 – ein gigantischer Systemfehler

 

M.K., so berichtet das „Tagblatt“ vom 19. Mai 2022, ist gelernter Maurer. Er liebt sein Handwerk über alles. Aber die fehlenden Lohnerhöhungen und der steigende Zeitdruck machen ihm immer mehr zu schaffen. Morgens um 7 Uhr beginnt er sein Tageswerk, die Regel sei ein 9-Stunden-Tag, im Sommer könnten es gut auch 11 Stunden sein. Während der einstündigen Mittagspause schlafe er drei Viertel der Zeit, weil er „so kaputt“ sei. Für Hobbys bleibe keine Zeit und kaum Geld. M.K. verdient 5700 Franken im Monat. Er habe keine Ahnung, wie Familienväter mit so wenig Geld über die Runden kämen. Solange er die Baumeister mit „grossen Karren“ herumfahren sehe, die Auftragsbücher übervoll seien und alles immer teurer werde, solange würde M.K. weiterhin für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn kämpfen. Mit wenig Aussicht auf Erfolg: Obwohl das Jahr 2022 puncto Lohn das schlechteste seit 40 Jahren ist und die Reallöhne bei einer Teuerung von 2,5 Prozent um ein Prozent gesunken sind, werden Forderungen nach Lohnerhöhungen seitens der Arbeitgeber stets mit dem Argument abgeblockt, gestiegene Kosten könnten nicht in Form von höheren Preisen an die Konsumentinnen und Konsumenten weitergegeben werden. Ein weiteres Argument, das gegen Lohnerhöhungen ins Feld geführt wird, ist, diese würden die Inflation anheizen, was unbedingt zu vermeiden sei. Was für eine stossende Ungerechtigkeit: Wer ein Produkt verkauft, bestimmt den Preis – der Kundin bleibt nur die Wahl, es zu kaufen oder nicht. Wer hingegen seine Arbeitskraft – und damit sozusagen sich selber – verkauft, muss sich damit abfinden, dass andere über den Wert dieser Arbeitskraft entscheiden und nicht der oder die, welche sie zur Verfügung stellt. Dieses Missverhältnis zeigt sich auch in den Begriffen des „Arbeitgebers“ und der „Arbeitnehmerin“: Als würde die Firma in Form des Lohns etwas „geben“ und die Angestellte etwas „nehmen“, wofür sie ja eigentlich dankbar sein müsse und daher auch bereit, die von oben diktierten Bedingungen zu akzeptieren. Tatsächlich aber ist es ja so, dass es die Angestellte ist, die etwas gibt, nämlich ihre Arbeitskraft, ihre Zeit, ihre Kraft, ihr Geschick, ihr Talent, ihre Gesundheit – und es auf der anderen Seite der „Arbeitgeber“ ist, der in Form dieser Arbeitskraft all das für sich in Anspruch nimmt, was es braucht, um seine Firma erfolgreich führen zu können und dabei erst noch einen Gewinn herauszuschlagen für andere, die an der Firma finanziell beteiligt sind, selber aber keine eigene Arbeitsleistung dafür erbringen. Zwar wird immer wieder behauptet, der Markt regle dies alles: Wo ein grosser Arbeitskräftemangel herrsche, würden die Löhne automatisch in die Höhe klettern. Nun, das mag zum Beispiel für die IT-Branche zutreffen, wo die Jagd nach Fachkräften wie Cybersecurity-Ingenieurinnen und Daten- und Cloud-Spezialisten die Löhne tatsächlich ins Unermessliche treibt. In den meisten anderen Branchen aber führt ein Arbeitskräftemangel, wenn überhaupt, nur zu äusserst moderaten Lohnzuwächsen. Das Ganze ist ein gigantischer Systemfehler: Löhne sind stets das Produkt der jeweiligen Kosten-Nutzen-Rechnung des betreffenden Betriebs. So können Banken und Versicherungsanstalten, die florieren, ihren Mitarbeitenden einen unvergleichlich viel höheren Lohn bezahlen als ein Hotel oder ein Restaurant, das, einem ständigen knallharten Konkurrenzkampf ausgeliefert, um jeden Rappen kämpfen muss. Dieses betriebswirtschaftliche Denken verschleiert aber den Blick darauf, dass in einer Volkswirtschaft alles mit allem verbunden ist und voneinander abhängt. Wenn sich der CEO einer Bank mit seinen Geschäftspartnern in einem Restaurant zu einem Arbeitsessen trifft, dann hängt der Erfolg des Geschäfts nicht zuletzt von der Dienstleistung dieses Restaurants ab, von der Qualität des Essens und der Getränke, von der Freundlichkeit der Bedienung und von der gebotenen Atmosphäre. Auch das Auto des Bank-CEOs musste von jemandem hergestellt worden sein und muss von jemandem geputzt, gewartet und repariert werden, der für seine Arbeit einen weit geringeren Lohn als jenen des CEO bekommen wird. Und so weiter. Da alle zum wirtschaftlichen Erfolg aller einen Beitrag leisten, müssten daher logischerweise auch alle einen gleichen Anteil am gesamten wirtschaftlichen Erfolg zugesprochen bekommen. In letzter Konsequenz wäre das ein Einheitslohn. Auf welchen Wegen – mit den entsprechenden Steuern und Abgaben – ein solcher zu verwirklichen wäre, das wäre ein anderes Kapitel. Durchführbar wäre es allemal, sofern der Wille dafür vorhanden wäre. Keine Frage, dass ein Einheitslohn einen enormen Motivationsschub bei all jenen Menschen auslösen würde, die heute so viel mehr und härter arbeiten und dennoch weit weniger verdienen als andere. Er wäre der beste und wirkungsvollste Ausdruck davon, dass in einer so komplexen Arbeitswelt wie der unseren eben jegliche berufliche Tätigkeit gleichermassen wichtig und wertvoll ist wie alle anderen und man auf keinen von ihnen verzichten kann, wenn das Ganze funktionieren soll. Die Idee mag heute noch utopisch klingen. Doch was ist schon normal und was ist schon verrückt in einem Land, wo die höchsten Löhne die niedrigsten um das Dreihundertfache übertreffen? Wie sagte schon Arthur Schopenhauer: „Ein
neuer Gedanke wird zuerst verlacht, dann bekämpft, bis er nach längerer Zeit
als selbstverständlich gilt.“ Noch sind wir in der Phase des Verlachens. Es kann also noch eine Weile dauern. Ausser M.K. und seine Millionen Leidensgenossinnen und Leidensgenossen machen eines Tages einfach nicht mehr mit…

Ukraine: Der Weg in die Hölle ist immer mit guten Vorsätzen gepflastert

 

18. Mai 2022. Russland und die Ukraine haben weitere Verhandlungen im Ukraine-Konflikt ausgesetzt. Wie das ZDF berichtet, sei der Grund dafür vor allem die Haltung der Ukraine, keine Friedenslösung ohne den Abzug russischer Truppen aus der Ostukraine zu akzeptieren. Eine Haltung, die auf den ersten Blick durchaus nachvollziehbar scheint: Russland hat fremdes Territorium überfallen und sollte kein Anrecht darauf haben, dieses dauerhaft zu besetzen. Doch auf den zweiten Blick stellt sich die Frage, was denn die Alternative dazu ist. Russland wird nicht kampflos seine Truppen aus der Ostukraine zurückziehen, ein weiterer monatelanger Krieg ist vorprogrammiert und wird ausgerechnet all jene Gebiete, welche sowohl die Ukraine wie auch Russland angeblich „befreien“ wollen, auf Jahre hinaus zerstören und all die Menschen, die man „befreien“ möchte, entweder töten oder ihnen körperliche und seelische Wunden zufügen, unter denen sie lebenslang leiden werden. Zudem wächst mit jedem Meter, den ukrainische Truppen vorrücken, die Gefahr eines dritten Weltkriegs als Verzweiflungstat Putins, der im schlimmsten Fall zum Einsatz von Atomwaffen greifen könnte. „Wenn wir den dritten Weltkrieg verhindern wollen“, sagt Erich Vad, früherer deutscher Brigadegeneral und militärpolitischer Berater von Angela Merkel, „müssen wir früher oder später aus dieser militärischen Eskalationslogik raus und Verhandlungen aufnehmen. Im Moment herrscht zu viel Kriegsrhetorik. Aber der Weg in die Hölle ist bekanntlich immer mit guten Vorsätzen gepflastert. Wir müssen den laufenden Krieg zwischen Russland und der Ukraine vom Ende her denken.“ Ja, was wäre denn so schlimm daran, wenn man die Menschen in der Ostukraine über ihre eigene politische Zugehörigkeit selber bestimmen lassen würde? Weshalb nicht eine Volksabstimmung, in der sich die betroffenen Gebiete demokratisch für eine Zugehörigkeit zur Ukraine, zu Russland oder zur Bildung einer unabhängigen, eigenständigen Republik aussprechen könnten? Beide Seiten würden das Risiko eingehen, beherrschtes oder erobertes Gebiet zu „verlieren“ – dieser Verlust aber wäre gleichzeitig ein Gewinn für die betroffenen Menschen, denen damit das höchste Gut – der Frieden – geschenkt wäre. Schon der römische Philosoph Cicero sagte: „Jeder noch so brüchige Frieden ist doch immer noch besser als der gerechteste Krieg.“ Doch noch sind die territorialen Grenzen offensichtlich heilig. Noch empfinden es Staaten als unerträgliche Schmach, „eigene“ Territorien an andere Staaten abtreten zu müssen. Aber was war denn 1991? Damals, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, mutete man ja der ehemaligen Sowjetunion auch zu, 15 ehemalige Teilrepubliken und damit fast einen Viertel des früheren Territoriums auf einen Schlag zu verlieren. Ist es denn für einen Menschen das Wichtigste, in welchem Staat er lebt, welches seine Hauptstadt, seines Landesflagge und seine Nationalhymne sind? Oder ist es nicht viel wichtiger, dass er ein gutes Leben hat, genug zu essen, eine anständige Unterkunft, eine berufliche Beschäftigung, von der er leben kann, gesundheitliche Versorgung, Bildung und Kultur? Dies alles, so versuchen uns die ukrainischen Wortführer eines „unbegrenzten“ Krieges weiszumachen, wäre eben in einer von Russland beherrschte Ostukraine gar nicht möglich. Folgt man ihren Argumenten, dann wäre eine solche von Russland beherrschte Ostukraine nichts anderes als die reinste „Hölle“, eine riesige „Folterkammer“, ein allumfassendes „Gefängnis“. Doch wenn dem tatsächlich so wäre, dann müsste ja heute schon ganz Russland eine „Hölle“, eine „Folterkammer“ oder ein „Gefängnis“ sein – jedes Kind weiss, dass das nicht stimmt. Die Hölle ist für die Menschen in der Ostukraine nicht Wirklichkeit geworden, wenn sie sich territorial Russland anschliessen würden – sie ist hier und jetzt schon die Hölle, solange dieser sinnlose, von keiner Seite zu gewinnende Krieg andauert. In der Parabel des „Kaukasischen Kreidekreises“ streiten sich eine reiche Gutsbesitzerin und ihre Magd um ein Kind, von dem jede der beiden Frauen behauptet, die wahre Mutter zu sein. Eines Tages erscheinen sie vor dem höchsten Richter. In der Mitte eines Kreises steht das Kind, jede der beiden Frauen hält es an einer Hand. Welcher der beiden es gelingen würde, das Kind aus dem Kreis auf ihre Seite zu ziehen, diese sollte sich als die wahre Mutter erweisen. Doch die Magd bringt es nicht übers Herz, das Kind auf ihre Seite ziehen zu wollen, würde dies doch dazu führen, das Kind in der Mitte zu zerreissen. Also lässt sie es los. Zu ihrer grossen Verwunderung wird ihr dann aber das Kind vom Richter zugesprochen – weil sie mit ihrer Tat die wahre Liebe zum Kind und damit die wahre Mutterschaft an den Tag gelegt hatte. Vielleicht täte es den Kriegstreibern und Scharfmachern von hüben und drüben gut, wenigstens für einen Tag ihre Waffen schweigen zu lassen, die Geschichte des Kaukasischen Kreidekreises zu lesen und nur wenigstens einen halben Tag lang darüber nachzudenken, was für unermessliches Leiden sie mit ihrem Starrsinn, ihrer Herrschaftsgläubigkeit und ihrer „heldenhaften“ Unnachgiebigkeit Tag um Tag anrichten…

Globalisierung bringe Fortschritt? Gewisse Behauptungen werden auch dann nicht wahrer, wenn man sie bis zum Gehtnichtmehr wiederholt…

 

Die Welt brauche nicht weniger, sondern mehr Globalisierung, denn die Globalisierung bringe Fortschritt – diese Meinung von Swissmem-Direktor Stefan Brupbacher ist nur eine von vielen Stimmen, welche der Globalisierung ausschliesslich positive Seiten abgewinnen und sich vehement gegen eine Abkehr von der Globalisierung aussprechen. Doch eine Meinung wird nicht dadurch zur Wahrheit, dass man sie bis zum Gehtnichtmehr wiederholt. Zwar trifft es zu, dass, wie Globalisierungsbefürworter ins Feld führen, zwischen 1990 und 2018 1,3 Milliarden Menschen aus extremer Armut befreit werden konnten. Aber erstens ist das nicht nur eine Folge der Globalisierung und zweitens müsste man im gleichen Atemzug erwähnen, dass eine ebenso grosse Anzahl von Menschen, nämlich rund 1,3 Milliarden, auch heute noch in bitterster Armut leben und jeden Tag rund 15’000 Kinder weltweit vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Von einem wirklich erfolgreichen Wirtschaftsmodell könnten wir erst dann sprechen, wenn tatsächlich weltweit sämtliche Armut und sämtlicher Hunger ohne Ausnahme verschwunden wären – ein Zustand, den man in Anbetracht der gesamthaft zur Verfügung stehenden Ressourcen heute schon problemlos erreichen könnte, denn die Erde, so Mahatma Gandhi, hat genug für jedermanns Bedürfnisse, nicht aber für jedermanns Gier. Auch Heiner Geissler, bekannter deutscher CDU-Politiker, sagte:

„Die
Behauptung, es gäbe kein Geld, um das Elend in der Welt zu beseitigen, ist eine
Lüge. Wir haben auf der Erde Geld wie Dreck, es haben nur die falschen Leute.“
Das zweite Argument für den Erfolg der Globalisierung liege daran, dass die westlichen Konsumentinnen und Konsumenten in nie da gewesener Weise davon profitierten. So etwa sei in der Schweiz zwischen 1990 und 2014 der Wohlstand pro Kopf jährlich um 1360 Euro gestiegen. Doch auch dies ist ein höchst zweischneidiges Schwert. Denn in aller Regel fehlt all der Reichtum, der am einen Ort aufgeschichtet wird, an anderen Orten umso mehr. Gemäss der Entwicklungsorganisation Oxfam erwirtschaftet die Schweiz im Handel mit „Entwicklungsländern“ rund 50 Mal mehr, als sie diesen Ländern in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückerstattet. Weshalb konnten Schweizerinnen und Schweizer ihren Wohlstand zwischen 1990 und 2014 so massiv steigern? Liegt es nicht vor allem auch daran, dass jene, welche die eigentliche „Knochenarbeit“ zur Herstellung zahlloser Produkte leisten, den weitaus geringsten Anteil an der Wertschöpfungskette haben und zu Hungerlöhnen und extrem anstrengenden Bedingungen arbeiten müssen? Angefangen vom kongolesischen Minenarbeiter, der dafür sorgt, dass genügend Edelmetalle zur Verfügung stehen, um einem immer grösseren Teil unserer Bevölkerung einen stolzen SUV erschwinglich zu machen, über die Textilarbeiterinnen in Bangladesch und Kambodscha, die nicht selten rund um die Uhr bis zu Erschöpfung arbeiten, damit sich das modebewusste Publikum in der Schweiz viel mehr Kleider leisten kann, als es tatsächlich braucht, bis hin zur ecuadorianischen Kaffeebäuerin, ohne welche wir unseren täglichen Muntermacher glatt vergessen könnten. Aber nicht nur von Land zu Land, sondern auch innerhalb jedes einzelnen Landes der globalisierten Welt ist Reichtum höchst ungleich verteilt. Dies aus dem einfach Grund, dass im Kapitalismus, dem Grundmotor für die Globalisierung, die Güter stets nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht würden, sondern dorthin, wo es genug Geld gibt, um sie kaufen zu können. Auch die dritte Begründung für die Globalisierung, sie fördere den Umweltschutz, hält einer näherer Überprüfung nicht Stand. Da die Globalisierung nach wie vor auf das Prinzip eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums ausgerichtet ist, werden ständig viel mehr Güter und natürliche Ressourcen verbraucht, als die Erde im gleichen Zeitraum wieder nachwachsen lässt. Ist die Globalisierung schlecht für eine sozial gerechte Verteilung von Gütern, Dienstleistungen und natürlichen Ressourcen, so ist sie es für die Zukunft der Menschheit erst recht. Globalisierung bedeutet nämlich nichts anderes, als dass wir, auf dem Weg nach immer mehr „Wohlstand“ für eine Minderheit, genau jenen Ast absägen, auf dem wir alle sitzen. Spätestens in 20 Jahren wird kein Mensch mehr behaupten können, die „Globalisierung“ bringe „Fortschritt“. Noch wäre es genug früh für eine radikale Neubesinnung. Coronapandemie, Klimawandel und der Krieg in der Ukraine haben den bisher unverrückbaren Felsen der Globalisierung ganz gehörig ins Wanken gebracht. Die Lösung kann nicht darin liegen, an der Globalisierung – im Sinne der kapitalistischen Wachstumslogik – wider alle Vernunft festzuhalten. Die Lösung muss darin liegen, eine neue, nichtkapitalistische Form von „Globalisierung“ zu erarbeiten, die auf sozialer Gerechtigkeit, einem schonenden Umgang mit den natürlichen Ressourcen und weltweitem Frieden beruht in einer Welt, in der die einzelnen Länder nicht mehr gegenseitige Räuber und Kriegstreiber sind, sondern Partner in gegenseitigem Ausgleich und gegenseitiger Unterstützung in einer Welt, in der ein gutes Leben für alle hier und heute, wie auch für zukünftige Generationen Wirklichkeit geworden ist. Noch nie war die Chance für eine radikale Neuerung so greifbar nahe wie heute. Noch nie aber war auch die Gefahr grösser, diese Chance zu verpassen und wider alle Vernunft am bisherigen Kurs der Globalisierung festzuhalten. „Der Kapitalismus“, sagte der Philosoph Lucien Sève, „wird nicht von selbst
zusammenbrechen, er hat noch die Kraft, uns alle mit in den Tod zu reissen, wie
der lebensmüde Flugzeugpilot seine Passagiere. Wir müssen das Cockpit stürmen,
um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.“ 

 

Vom ESC bis zu Wimbledon: Je stärker und mächtiger sich die einen fühlen, umso grösser ist die Verbitterung bei den anderen

 

Beim wohl politischsten Eurovision Song Contest aller Zeiten, der heute Abend vor 200 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern über die Bühne gehen wird, steht der Sieger für einmal schon vor der Präsentation der Songs im Finale fest. Es ist, wie könnte es anders sein, die Ukraine. Musikexpertinnen und Musikexperten räumen ein, dass dies nichts mit der musikalischen Qualität des ukrainischen Beitrags zu tun habe, es handle sich letztlich um nichts anderes als eine politische Frage. In dieser geteilten Welt, in der wir mittlerweile leben, geht es schon längst nicht mehr darum, künstlerische, wirtschaftliche oder sportliche Leistungen differenziert und objektiv wahrzunehmen. Es geht nur noch darum, wer es ist, der die jeweilige Leistung erbringt, ob es die „guten“ Menschen aus dem Westen sind oder die „bösen“ aus dem Osten. Scheibe um Scheibe ist Russland durch eine immer rigorosere Sanktionspolitik des Westens das Wasser abgegraben worden. Da sind politische Sanktionen wie etwa der von der UNO-Vollversammlung beschlossene Ausschluss Russlands aus dem internationalen Menschenrechtsrat. Dann aber auch zahlreiche wirtschaftliche Sanktionen, mit denen die russische Wirtschaft in die Knie gezwungen werden und Oligarchengeld eingefroren werden soll. Ein besonders massviver Schlag wäre der ebenfalls geplante und teilweise schon umgesetzte Ausschluss Russlands aus dem internationalen Bankennetzwerk SWIFT, den Eckhard Cordes, Vertreter Deutschlands im SWIFT-Leitungsausschuss, mit den Worten kommentierte, das würde einen „Rückfall in die Steinzeit“ bedeuten. Ja, es ist ein umfassender Keulenschlag in alle Richtungen und er trifft auch all jene, denen man am Ukrainekrieg nicht die geringste Schuld anlasten kann: Opernsängerinnen, Schauspieler, Autorinnen und Zirkusartisten, denen einzig und allein wegen ihrer russischen Nationalität ein Auftritt im Westens untersagst wird. Schier endlos ist auch Liste russischer Sportverbände, die von einer Teilnahme an internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen worden sind: Ausschluss der russischen Fussballnationalmannschaft von der WM in Katar durch die Fifa, Ausschluss russischer Fahrer von einzelnen Formel-1-Rennen, Ausschluss der russischen Premierliga durch die Vereinigung der europäischen Profiligen, Ausschluss Russlands und Weissrundlands von den Paralympics, Ausschluss Weissrundlands und Russlands von der Eishockey-WM, Absage der geplanten U-20-WM in Nowosibirsk, Übernahme sämtlicher Sanktionen  anderer Sportverbände durch die den Leichtathletik-Weltverband World Athletics, Ausschluss sämtlicher weissrussischen und russischen Sportlerinnen und Sportlern aus den Wettkämpfen im alpinen Skisport durch die FIS, Absage sämtlicher Pferdesportturniere in Russland. Dass selbst zaghafte Versuche, diesem Irrsinn ein wenig Menschlichkeit entgegen zu setzen, niedergetreten werden, zeigt folgendes Beispiel: Als bekannt wurde, dass russische und weissrussische Sportlerinnen und Sportler, die am Wimbledonturnier im Juli 2022 hätten teilnehmen wollen, von der Teilnahme hätten ausgeschlossen werden sollen, schlug der Russe Andrej Rublew vor, dass die betroffenen Spielerinnen und Spieler eine Erklärung unterschreiben könnten, wonach sie sich öffentlich gegen den Krieg stellten. Das gewonnene Preisgeld wolle man dann spenden und für die notleidende Bevölkerung der Ukraine zur Verfügung stellen. Zahlreiche Landsleute wollten diese Initiative unterstützen. Aber nicht einmal davon liessen sich die Verantwortlichen erweichen und hielten an ihrem Entscheid fest. Noch zwei Gedanken. Erstens: Überprüfen all jene, welche solche Massnahmen von den Wirtschaftsboykotten bis hin zum Ausschluss russischer Sportlerinnen und Sportler aus internationalen Wettkämpfen verhängen, wohl gelegentlich auch die Wirksamkeit der von ihnen getroffenen Massnahmen? Was haben die Massnahmen bis jetzt tatsächlich bewirkt? Hat die Kriegspolitik Putins eine andere Richtung genommen, wenn die Massnahmen nicht getroffen worden wären? Oder ist es nicht vielmehr so, wie es der „Tagesanzeiger“ jüngst kurz und klar auf dem Punkt brachte: „Sanktionen sind wie eine Naturkatastrophe. Sie treffen vor allem die Benachteiligten.“ Und der zweite Gedanke: Versetzen wir uns ins Jahr 2003. Die USA überfallen in eklatanter Missachtung des internationalen Völkerrechts den Irak. Es beginnt ein Krieg, der bis zuletzt über eine halbe Million Todesopfer fordern sollte – eine Zahl, welche die aktuellen Opferzahlen in der Ukraine um ein Vielfaches übertrifft. Dachte man damals auch darin, die USA mit Wirtschaftssanktionen zu belegen, amerikanische Popstars und Sportlerinnen und Sportler von internationalen Auftritten, Anlässen und Wettkämpfen auszuschliessen? Oder wäre gar jemand auf die Idee gekommen, Präsident George W. Bush müsste vor ein internationales Kriegsverbrechertribunal gestellt werden? Je stärker wir – der Westen – uns fühlen, je selbstverständlicher wir diese verzerrte Welt, deren unauflöslicher Teil wir schon längst geworden sind, wahrnehmen, umso grösser wird die Verbitterung auf der anderen Seite sein. Ich denke nicht in erster Linie an Putin. Ich denke an die russische Sängerin, die heute liebend gerne am ESC aufgetreten wäre. Ich denke an den Tennisspieler Rublew, der mit seiner intelligenten und mutigen Tat die Teilnahme seines Teams am Wimbledonturnier zu retten versuchte. Und ich denke an die Abermillionen von Russinnen und Russen, die kein bisschen „bösere“ Menschen sind als wir hier im Westen und die doch unendlich darunter leiden, dass mit so tiefen Gräben diese Welt so gespalten ist. Wenn wir – der Westen – dem russischen Kriegszug etwas Wirkungsvolles entgegensetzen wollen, dann darf dieses Wirkungsvolle nicht einzig und allein darin liegen, dem Krieg mit Krieg, der Gewalt mit Gewalt zu begegnen. Wir verstehen uns doch als Hüter der Freiheit, der Demokratie, der Gerechtigkeit, der Menschenwürde. Alle diese Werte geraten aber unter die Räder, wenn wir alles auf die einzige Karte der brachialen Gewalt setzen. Wir dürfen Putin nicht kopieren. Wir müssen ihm etwas Besseres entgegenstellen, die Idee der Völkerverständigung, der friedlichen und gewaltlosen Konfliktlösung, des Aufbaus von Vertrauen anstelle von Misstrauen. Verharren wir im reinen „Kriegsmodus“, rückt eine friedliche Lösung in immer weitere Ferne.

„Bitte vergesst nicht, dass
Russland nicht Putin ist“, diese Worte einer jungen Übersetzerin aus Moskau kommen mir immer und immer wieder in den Sinn, „viele junge Menschen wollen nichts mit ihm und seinem
Krieg zu tun haben. Wir dürfen nicht in die Rhetorik des Hasses verfallen. Wenn
wir den Hass wählen, haben die Bastarde dieser Welt gewonnen. Macht Russland
nicht zu eurem Feind.“ So einfache und zugleich klare Worte einer jungen Übersetzerin auf der anderen Seite jenes Grabens, den wir geschaufelt haben und der immer  noch tiefer zu werden scheint. Was könnten die Grossen dieser Welt von diesen wenigen Worten lernen!

Wie soll die Demokratie auf dem Schlachtfeld verteidigt werden, wenn sie nicht einmal gegenüber der eigenen Bevölkerung gepflegt wird?

 

Die deutsche Aussenministerin Baerbock besucht Kiew und zeigt sich beeindruckt vom Mut der Ukrainerinnen und Ukrainer im Kampf gegen die russische Aggression. Deutschland stellt der Ukraine die Lieferung von Panzern in Aussicht. Finnland möchte unverzüglich in die NATO aufgenommen werden. In ihrer Verurteilung der russischen Aggression, die es mit allen Mitteln zu stoppen gälte, sind sich alle NATO-Staaten einig, sämtliche historische Hintergründe – die NATO-Osterweiterung bis an die Grenze Russlands, die jahrzehntelange Diskriminierung der russischen Bevölkerung in der Ukraine, die mögliche Beteiligung der CIA beim Regierungssturz anfangs 2014 in Kiew, das gewalttätige Vorgehen des ukrainischen Asow-Regiments gegen die Zivilbevölkerung in der Ostukraine -, alles wie weggeblasen. Doch die scheinbare Einigkeit, das Zusammenrücken der Regierungen scheint sich je länger je mehr von der Stimmung in der jeweiligen Bevölkerung zu entfernen. So sprachen sich gemäss des Meinungsforschungsinstituts Infratest im Auftrag des TV-Senders ARD am 28. April nur noch 45 Prozent der Deutschen dafür aus, der Ukraine Panzer zu liefern – anfangs April waren es noch 55 Prozent gewesen. Oben eine eingeschossene „Regierungsbande“ mit gegenseitiger Lobhudelei – man denke nur an die schon fast skurril erscheinenden Stelldicheins westlicher Politiker und Politikerinnen bei Selenski in Kiew und Butscha, die mit strahlenden Gesichtern, sich gegenseitig auf die Schultern klopfend durch das Trümmerfeld zerbombter Stadtteile marschieren. Unten die Bürgerinnen und Bürger ihrer Länder, die sich auch so ihre Gedanken machen, die denen „oben“ ganz und gar nicht passen würden. Und die Medien durchbrechen diese geteilte Welt, wenn überhaupt, nur selten und zaghaft. So sind neuerdings in de Talkhows auf deutschen Kanälen zwar immer wieder Vertreterinnen und Vertreter der Friedensbewegung zu sehen, aber pro Sendung immer nur einer, obwohl sie ja, gemäss Umfrage, die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren würden. Auch die von Papst Franziskus am 3. Mai abgegebene Erklärung, wonach die NATO eine wesentliche Mitschuld am Ukrainekrieg trage, wurde weder von einer grossen Tageszeitung noch von einem TV-Nachrichtenmagazin verbreitet, ebenso wenig wie die Nachricht, für einen vom Dalai Lama lancierten Friedensappell seien mittlerweile schon über eine Million Unterschriften zusammengekommen. Unerwähnt bleibt meist auch, dass sie die meisten Länder der Welt nicht an den Sanktionen gegen Russland beteiligen. So zum Beispiel Mexiko, dessen Präsident Andrés Manuel Lopez sagte: „Das Beste ist, den Dialog zu fördern, um Frieden zu erreichen.“ Oder Argentinien, dessen Aussenminister Santiago Cafiero, zu bedenken gab: „Sanktionen sind kein Mechanismus, um Frieden und Harmonie zu schaffen.“ Oder die Stimme von Yanis Varoufakis, des ehemaligen griechischen Finanzministers: „Niemand kann diesen Krieg gewinnen. Der einzige Ausweg liegt in einem Friedensschluss, der von Russland, der USA und der EU gestützt wird.“ Es täte den Regierungen wohl gut, immer wieder aus ihrer „Blase“ auszusteigen und all jenen Menschen ernsthaft zuzuhören, die von all den Geschehnissen und Folgekosten rund um die Ukrainekonflikt mindestens so stark betroffen sein werden wie sie selber. Heisst es nicht immer so schön, in der Ukraine ginge es nicht nur um einen Kampf zwischen zwei Ländern, sondern um einen Kampf zwischen Demokratie und Autokratie? Doch wie soll die Demokratie auf dem Schlachtfeld verteidigt werde, wenn sie nicht einmal im Umgang mit der eigenen Bevölkerung gepflegt wird? 

Ukraine: Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte…

 

Die von Wladimir Putin anlässlich des 67. Jahrestags des Sieges über den Nationalsozialismus gehaltene Rede stösst im Westen, wie könnte es anders sein, auf pures Unverständnis und sei nur ein weiterer Beweis für die „Irrlehren“ , die von Putin verbreitet würden. Doch schauen wir uns etwas genauer an, was Putin tatsächlich sagte: Er beschuldigte den Westen, Russland vernichten zu wollen. Und er verweist auf einen von der russischen Regierung dem Westen im Dezember 2021 vorgelegten, unterschriftsreifen Vertrag, wonach keine weiteren Länder in die NATO aufgenommen werden sollten, ein Vertrag, der von der NATO und der USA mit der Begründung zurückgewiesen worden sei, über dieses Thema werde der Westen mit Russland keine Verhandlungen führen. Solche und ähnliche Anschuldigungen werden in den westlichen Medien als blanker Unsinn abgetan. Tatsächlich aber sind sie alles andere als aus der Luft gegriffen. Man denke nur an die Brandreden nationalsozialistischer Wortführer auf dem Maidan in Kiew anfangs 2014, welche zur Vernichtung des russischen Volkes aufriefen. Man denke auch an die Gräueltaten und Kriegsverbrechen, welche vom ebenfalls nationalsozialistisch ausgerichteten Asow-Regiments zwischen 2014 und 2022 gegen die Zivilbevölkerung im Donbass verübt wurden. Und man denke an den bereits 1997 zwischen der Ukraine und der NATO abgeschlossenen Kooperationsvertrag, der eine enge Zusammenarbeit bei der militärischen Ausbildung, der Einführung gemeinsamer technischer Standards und der Lieferung von Waffen zur Folge hatte – und dies, obwohl der US-Historiker George F. Kennan im selben Jahr mit folgenden Worten eindringlich vor einer NATO-Osterweiterung gewarnt hatte: „Die Entscheidung, die NATO bis zu den
Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die
russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden
missfallen wird.“ Man stelle sich einen Augenblick lang vor, Kanada oder Mexiko hätten einen ähnlichen Vertrag mit Russland abgeschlossen, die USA hätten das wohl zweifellos auch nicht widerstandslos akzeptiert. Putins Zuspitzung, der Westen wolle Russland vernichten, mag masslos übertrieben klingen. Aber es gibt zu viele Hinweise darauf, dass dies alles nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. Man erinnere sich nur an die jüngste Aussage des amerikanischen Verteidigungsminister Austin, der als Ziel der westlichen Militärpolitik eine dermassen umfassende „Schwächung Russlands“ in den Raum stellte, dass eine Invasion wie jene in die Ukraine „nie mehr möglich“ sein solle. Es braucht schon eine gehörige Portion Naivität, um jegliche Mitschuld des Westens am Ukrainekonflikt zu verneinen. Dabei gäbe es auch ausserhalb Russlands und der „Irrlehren“ Putins genügend kritische Stimmen, man müsste sie bloss zur Kenntnis nehmen. So zum Beispiel bestätigt Klaus Dohnanyi, ehemaliger Berater der deutschen Bundeskanzlers Helmut, die Existenz des von Putin angesprochenen Verhandlungsangebots im Dezember 2021. Dohnanyi bedauert zutiefst die ablehnende, ja geradezu arrogante Haltung des Westens und ist überzeugt, dass dies die letzte Chance gewesen wäre, den Krieg zu verhindern. Catherine Belton, Korrespondentin der „Financial Times“, erklärte in einem Interview mit der „Sonntagszeitung“ vom 20. März 2022, Putin hätte sich, zu Recht oder zu Unrecht, durch den Einfluss des Westens und vor allem der USA auf die Ukraine bedroht gefühlt. Und weiter: „Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion herrschte im Westen Euphorie. Man glaubte, dass den Russen gar nichts anderes übrig blieb, als sich anzupassen und sich in eine vom Westen geführte Welt zu integrieren.“ Fritz Pleitgen, langjähriger ARD-Korrespondent, schreibt in seinem Buch „Krieg oder Frieden“, dass in Bezug auf die Ukraine der Westen, nicht „von erheblicher Mitschuld“ freigesprochen werden könne. Und Papst Franziskus sagte in einem Interview mit dem Corriere delle sera am 3. Mai 2022: „Vielleicht war es die NATO, die Putin dazu veranlasste, die Invasion der Ukraine zu entfesseln.“ Bezeichnenderweise finden solche kritische Stimmen selten Eingang in die Mainstreammedien des Westens, würden sie das in unseren Köpfen festgezimmerte Bild von den „Bösen“ und den „Guten“ doch auf gefährliche Weise in Frage stellen und uns den Blick dafür öffnen, dass auch in den absurdesten „Irrlehren“ unseres „Feindes“ immer noch ein Körnchen Wahrheit stecken könnte. Zum Dialog und zu möglichen Friedensverhandlungen kann es nur dann kommen, wenn beide Seiten ihre Scheuklappen ablegen, sich von der Fixierung auf das jeweilige Feindbild lösen und bereit sind, alle von der „Gegenseite“ erhobenen Anschuldigen selbstkritisch und offen auf den Tisch legen und ernst zu nehmen. „Ein
Gespräch“, sagte der Philosoph Hans-Georg Adamer, „setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.“ Ein hohes Ziel, gerade in kriegerischen Zeiten wie diesen. Aber was in einfacheren Zeiten seine Gültigkeit hat, hat es in schwierigeren erst recht. Vor allem, wenn man sich die Alternative dazu vor Augen führt: sinnloses gegenseitiges Blutvergiessen bis um bitteren Ende, Zerstörungen, Hass und Gewalt auf Jahrzehnte hinaus…

 

Der Krieg ist nur die extremste Form der Klassengesellschaft…

 

Der amerikanische Verteidigungsminister Austin fordert die Schwächung Russlands so umfassend, dass es nie mehr zu einer solchen Invasion wie derjenigen gegen die Ukraine in der Lage sein solle. US-Präsident Biden spricht von einer „Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie“. Der ukrainische Präsident Selenski rührt unablässig die Kriegstrommel und treibt zaudernde westliche Politiker im Kampf gegen das „Böse“ mit allen Mitteln medialer Inszenierung vor sich her. Der deutsche Bundeskanzler Scholz spricht davon, dass jene, welche sich gegen die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine wehren, „aus der Zeit gefallen“ seien. Der russische Aussenminister Lawrow droht mit dem Einsatz von Atomwaffen. Und der russische Präsident Putin denkt an eine Generalmobilmachung der russischen Armee und auch er, mit den gleichen Worten wie Selenski, spricht vom Kampf gegen das „Böse“. Aber keiner von ihnen, weder Austin, Biden, Scholz noch Selenski, weder Lawrow noch Putin, werden jemals selber in diesen Krieg ziehen. Alle ihre Sieges- und Durchhalteparolen verkünden sie aus der Sicherheit und dem Schutz ihrer Bunker, ihrer Regierungsgebäude und ihrer Paläste. Ja. Was wir erleben, ist nicht wirklich ein Krieg des „Guten“ gegen das „Böse“ oder einen Feldzug zwischen Russland und der Ukraine. Es ist, vor allem, ein Krieg der Reichen gegen die Armen, der Mächtigen gegen die Ohnmächtigen. Kein Zufall, dass sie alle, welche die Fäden der Macht und der Gewalt in ihren Händen halten, in ihren jeweiligen Ländern zu den Reichsten gehören, zur totalen Oberschicht, zu jener „Elite“, die sich selbst dann noch die erlesensten Speisen auf dem Silbertablett servieren lassen, während um sie herum alles in Asche versinkt. „Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg“, schrieb der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque zur Zeit des Ersten Weltkriegs, „bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“ Immer wieder, seit Jahrhunderten, das Gleiche: Auch in den Heeren der Könige, Kaiser und Fürsten des 17. und 18. Jahrhunderts kämpfte selten ein Angehöriger der Oberschicht an vorderster Front gegen den „Feind“, dort gaben nur die Ärmsten, für welche der Kriegsdienst den einzigen Ausweg aus bitterem Elend bildete, ihr Leben hin. Im Vietnamkrieg war es nicht anders: Den Hauptharst der US-Truppen bildeten Männer und Frauen aus der Unterschicht, angelockt durch einen Verdienst, der ihren kargen Arbeitslohn weit übertraf oder sie vom Schicksal der Arbeitslosigkeit befreite – während die Abkömmlinge der Reichen und Reichsten und damit auch der allermeisten Politikerinnen und Politiker jedes Mittel nutzten, um sich vom verhassten Kriegsdienst zu befreien. Wie eine Schachpartie: Die Könige verstecken sich hinter einer Mauer aus Türmen, Läufern und Springern – draussen auf dem Schlachtfeld werden die kleinen Bauern geopfert, damit die Sicherheit des Königs nicht bedroht ist. Wir wundern uns über die Bilder längst vergangener Schlachten, wir wähnen uns in einer anderen, besseren Zeit, doch wiederholt sich noch immer alles nach den gleichen Regeln sinnloser gegenseitiger Vernichtung, bloss dass heute alles ein bisschen „moderner“ aussieht als vor 200 oder 300 Jahren. Doch Krieg kann es nur so lange geben, als es ein „Oben“ und ein „Unten“ gibt: Reiche und Mächtige, die sich gewohnt sind, die Welt beherrschen und nach ihrem Gutdünken ordnen zu können – Arme und Machtlose, die sich gewohnt sind, Befehle entgegenzunehmen und auszuführen, selbst wenn sie dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen müssen. Der Krieg ist nur die extremste Form der Klassengesellschaft, aber alles andere ist die Vorbereitung dazu. Es braucht die Erziehung, die Abrichtung, das Auslöschen der natürlichen Gefühle, die Fremdbestimmung, die Propaganda, das Aufhetzen, den Aufbau von Feindbildern. Kein Kind würde von sich aus in den Krieg ziehen. Zuerst muss es tausendmal umgebogen werden, bis es „reif“ ist für das Schlachtfeld und für den Wahnsinn, sein Leben aufs Spiel zu setzen für seine Führer, die sich gleichzeitig hinter ihren immer dickeren Mauern vor ihnen verstecken. „Wenn alle Menschen“, sagte der russische Schriftsteller Leo Tolstoi, „nur aus Überzeugung in den Krieg zögen, dann würde es keinen Krieg geben.“ Und Albert Einstein sagte: „Ein kluger Kopf passt unter keinen Stahlhelm.“ Ja, es gibt ein Mittel gegen den Krieg: die Vernunft, die angeborene Intelligenz des Menschen, den angeborenen Widerstand gegen alles, was mit Gewalt und Ungerechtigkeit zu tun hat. Jedem Kind bricht es das Herz, wenn es aus Unachtsamkeit ein Marienkäferchen zertrampelt oder sich an der Fensterscheibe ein Schmetterling den Flügel bricht. Der Mensch ist gut. Aber zugleich ist er sehr, sehr zerbrechlich. Noch ist das Zeitalter der Marienkäferchen und der Schmetterlinge nicht angebrochen, noch dröhnen uns die Raketen und die Panzer um die Ohren, noch kann ein deutscher Bundeskanzler dem Pazifismus vorwerfen, er sei „aus der Zeit gefallen“. Aber sind nicht vielmehr all jene aus der Zeit gefallen, welche mitten im 21. Jahrhundert immer noch die Schlachten früherer Jahrhunderte schlagen, als wäre in der Zwischenzeit nichts geschehen? „Jede Kanone, die gebaut wird“, sagte US-Präsident Dwigth D. Eisenhower, „jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“ Ja, die Hoffnung unserer Kinder. Sie ist der grösste Schatz, den wir besitzen. „An den Frieden denken“, sagte Michail Gorbatschow, der letzte Generalsekretär der Sowjetunion, „heisst, an die Kinder denken.“ Und Olof Palme, früherer Ministerpräsident Schwedens und überzeugter Pazifist, formulierte es so: „Weil unsere Kinder unsere einzige reale Verbindung zur Zukunft sind, und weil sie die Schwächsten sind, gehören sie an die erste Stelle der Gesellschaft.“ In einer so schweren Zeit wie der unseren sollten wir doch etwas nicht vergessen: Die Welt hat sich in den letzten hundert Jahren nicht nur zum Schlechten verändert. Gegen die Kräfte der Ausbeutung, Gewalt und Fremdbestimmung gibt es eine faszinierende und hoffnungsvolle Gegenbewegung, die Bewegung von Emanzipation, Gleichberechtigung und Menschenwürde. Das geht nicht so schnell, Fesseln, die über Jahrhunderte festgezurrt wurden, lassen sich nicht vom einem Tag auf den andern abschütteln. Aber es geht voran. Und das ist das Tröstliche: Je mehr diese Bewegung um sich greift, umso absurder werden sich Dinge wie Krieg in Zukunft immer mehr in ihrer Absurdität entlarven. Und deshalb wird zweifellos der Krieg als Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte eines Tages für immer Vergangenheit sein. Niemand hat diese Hoffnung so schön ausgesprochen wie die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer: „Wir malen sie aus und wir wissen, dass wir sie erleben werden: Die Zukunft, von der wir träumen. Das ist die Magie gesellschaftlicher Kipppunkte – wir wissen nicht genau, wann wir sie erreichen, aber wir wissen, dass sie kommen.“