Altersvorsorge: Auf der Suche nach der verlorenen sozialen Gerechtigkeit

 

„Steht die Pensionierung vor der Tür“, schreibt das „Tagblatt“ vom 4. April 2022, „ist das in der Regel ein Grund zur Freude. Doch diese wird gerade bei Frauen allzu oft getrübt: Bei rund einem Drittel fällt die zweite Säule ganz weg, es bleibt nur die erste Säule, die AHV. Betroffen sind vor allem Frauen, die im Tieflohnbereich arbeiten, sowie Frauen, die gleichzeitig mehrere Arbeitgeber haben, wie zum Beispiel Haushaltshilfen, welche nicht obligatorisch versichert sind. Ständerat und Nationalrat tüfteln gegenwärtig an neuen Modellen, um diesen Benachteiligungen der Frauen wenigstens ein Stück weit entgegenzuwirken. Doch bei alledem bleibt die Systemlogik der eigentliche Pferdefuss: Aus einem kleinen Lohn lässt sich keine grosse Rente zaubern, solange jeder für sich alleine sparen muss.“ Was hier als „Systemlogik“ bezeichnet wird, ist in Tat und Wahrheit eine himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit. Die in für Frauen typischen Tieflohnbereichen geleistete Arbeit trägt nämlich zur Gesamtbilanz der gesamten Volkswirtschaft genau so viel bei wie die Arbeit, die zum Beispiel eine Lehrerin, ein Bankangestellter oder ein IT-Spezialist leistet. Demzufolge müssten die betroffenen Frauen entsprechend ihrer gesellschaftlichen Leistung auch am erzielten Gesamtprofit einen fairen Anteil haben. Dass in vielen gesellschaftlich essenziellen, so genannten „systemrelevanten“ Berufen so wenig verdient wird, wäre schon genug ungerecht. Dass aber die davon Betroffenen auch noch im Alter durch viel zu niedrige, kaum existenzsichernde Renten noch einmal „bestraft“ werden, widerspricht erst recht jeglichem Anspruch auf eine minimale gesellschaftliche Teilhabe. Der Blick darauf, wie Reichtum zustande kommt, offenbart diese Ungerechtigkeit in ihrem vollen Ausmass: Wenn die reichsten 300 Schweizerinnen und Schweizer über ein Vermögen von 812 Milliarden Franken verfügen – was weit mehr ist als das gesamte Bruttosozialprodukt der Schweiz innerhalb eines Jahres -, dann ist nur der kleinste Teil dieser unvorstellbar riesigen Summe aus eigener Kraft verdient. Der weitaus grössere Teil entsteht aus mehr oder weniger transparenten Umlagen aller Art und vor allem dadurch, dass Millionen von Menschen weniger verdienen, als ihre Arbeit eigentlich Wert wäre – dieser „Mehrwert“ wandert unaufhörlich aus den Taschen der Armen in die Taschen der Reichen. Einfach gesagt: Den Reichtum der Reichen finanzieren die Armen mit ihrer Arbeit. Die vielgelobte schweizerische „Solidarität“ ist eine Einbahnstrasse: Sie funktioniert nicht von oben nach unten, sondern ausschliesslich von unten nach oben. Es ist daher nicht übertrieben, zu sagen, dass es sich beim Reichtum der Reichen also sozusagen um „gestohlenes “ Geld handelt. Wenn schon – was ein genug grosser Skandal ist – viele Menschen aufgrund ihrer Arbeitssituation benachteiligt sind, dann sollten sie doch wenigstens im „Ruhestand“ nicht noch einmal zusätzlich benachteiligt werden. Die einzige wirklich gerechte Lösung wäre eine Art Volkspension, in welche alle Erwerbstätigen ihrem Einkommen entsprechend einzahlen und aus der alle, ob „Reich“ oder „Arm“, die gleich hohe Rente beziehen würden. Eine zweite und eine dritte Säule wären damit hinfällig und die bittere Bilanz der heutigen Situation, wonach sich, solange jeder für sich alleine sparen muss, aus kleinen Löhnen keine grossen Renten zaubern lassen, würde damit endgültig der Vergangenheit angehören.

Die Ereignisse in Butscha: Darstellung und Gegendarstellung

 

„Massaker in Butscha: Selenski wirft russischen Truppen Völkermord vor“ – dies die Hauptschlagzeile auf der Frontseite des „Tagesanzeigers“ vom 4. April 2022. Und auf Seite 2 dann: „Putins blutige Spur in Butscha.“ Es geht um ein mutmassliches Massaker, welches die russischen Truppen in Butscha, einer Stadt 37 Kilometer nordwestlich von Kiew, an russischen Zivilpersonen Ende März verübt haben sollen. Als Reporter am 31. März nach dem Abzug der russischen Truppen nach Butscha gekommen waren, hätten sie zahlreiche Leichen auf den Strassen liegen sehen, die meisten mit zusammengebundenen Händen und durch Kopfschuss getötet. Aus offenen Gräbern bei einer Kirche seien Hände seien Hände und Füsse mehrerer Leichname herausgeragt. Insgesamt seien im Grossraum Kiew die Leichen von 410 Zivilisten gefunden worden. Entsprechend scharf sind die Reaktionen: Selenski fordert mehr Waffenlieferungen, die deutsche Aussenministerin kündigt eine Verschärfung von Sanktionen gegen Russland an, das schweizerische Aussendepartement EDA schreibt, die Berichte aus Butscha liessen schwere Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht befürchten, und Carla Del Ponte, ehemalige Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs, fordert sogar einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin. Dieser westlichen Darstellung der Ereignisse von Butscha allerdings widerspricht laut „Russia Today“ das russische Aussenministerium: Die Vorwürfe seien eine Inszenierung Kiews und westlicher Medien. Zu dem Zeitpunkt, als die russischen Streitkräfte in Butscha stationiert gewesen seien, sei kein einziger Anwohner Opfer von Gewalttaten geworden. Nach dem Abzug der russischen Truppen hätte Bürgermeister Anatoli Fjodoruk eine Videoansprache gehalten und mit keinem Wort erschossene Einheimische mit gefesselten Händen auf dem Rücken erwähnt. Die sogenannten „Beweise“ für das Massaker seien erst am 4. Tag nach dem Abzug der russischen Truppen aufgetaucht, als Beamte des ukrainischen Sicherheitsdienstes und Vertreter des ukrainischen Fernsehens in der Stadt eingetroffen seien. Das Massaker hätten die Ukrainer selber angerichtet. Und zwar hätten sie nach dem Rückzug der russischen Truppen unter den Ukrainern Kollaborateure gesucht, eine Hexenjagd gestartet und dann diese Leute hingerichtet und anschliessend so getan, als ob das die russischen Streitkräfte gewesen wären. Westliche Darstellung und russische Gegendarstellung. Wer hat Recht? Wer lügt und wer sagt die Wahrheit? Schwer zu sagen, da noch keine unabhängige Untersuchung der Ereignisse stattgefunden hat. Doch wie dem auch sei: Die Ereignisse von Butscha zeigen uns in aller Eindringlichkeit, dass dieser Krieg auf keinen Fall mehr weiter in die Länge gezogen werden darf und schnellstmöglich eine Friedenslösung gefunden werden muss, bei der beide Seiten aufeinander zugehen und einen Kompromiss finden müssen, mit dem beide leben können. Denn, wie schon der römische Philosoph Cicero lehrte: „Selbst der ungerechteste Frieden ist immer noch besser als der gerechteste Krieg.“ 

Die Ukraine im Spannungsfeld zwischen den Grossmächten und die Notwendigkeit einer neuen Friedensordnung

 

In seinem 1997 erschienenen Buch „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ schreibt Zbignew Brzezinski, US-Politberater 1977-1981: „Ohne die Ukraine ist Russland keine Grossmacht. Um Amerikas Vormachtstellung in Europa zu sichern, braucht es die NATO-Osterweiterung.“ Brzezinski spricht in seinem Buch im Zusammenhang mit dem europäisch-asiatischen Raum von einem „Schachbrett“, einem Spielfeld sozusagen, auf dem sich der entscheidende Machtkampf zwischen den Grossmächten abspielen werde. Dies erklärt viel vom Bestreben des Westens, die Ukraine der EU und der NATO einzugliedern, aber auch von den Bestrebungen Russlands, dies unter allen Umständen zu verhindern. Einmal mehr wird ein einzelnes Land zwischen den Interessen der Grossmächte zerrieben, wie das im Laufe der Geschichte so oft geschehen ist, denken wir nur an Vietnam, an den Irak, an Afghanistan oder an Syrien. Wie oft haben im Laufe der Vergangenheit einzelne Staaten den Anspruch auf die „Weltherrschaft“ erhoben – und sind zuletzt kläglich daran gescheitert: das Römische Reich, das British Empire, das „Dritte Reich“ des Nationalsozialismus. Heute stehen sich als verbleibende Grossmächte die USA, Russland und China gegenüber. Doch der Anspruch, eine Gross- oder gar Weltmacht sein zu wollen, ist nur schon von der Idee her eine völlige Absurdität. Denn dieses Ziel lässt sich ja nur, wie bei einem Wettlauf oder einem Boxkampf, nur erreichen, wenn alle andere Konkurrenten dieses Ziel nicht erreichen. Weltmachtstreben ist somit per se auf Kampf, Niederlagen und Zerstörung ausgerichtet, egal ob mit „friedlichen“ oder mit kriegerischen Mitteln – genau das, was die Ukraine in diesen Tagen und Wochen so schmerzlich erfährt und was im Vietnamkrieg zwischen 1955 und 1975 zum Tod von rund einer halben Million Menschen, unermesslicher Zerstörung und Verwüstung geführt hat. Und schauen wir in die Zukunft, sieht es nicht weniger bedrohlich aus: Bereits zeichnet sich ein neues Machtspiel zwischen den Grossmächten ab, diesmal im Pazifischen Raum, wo China den territorialen Anspruch auf Taiwan erhebt, welchem seinerseits im Falle eines Konflikts die militärische Unterstützung durch die USA zugesichert worden ist. Sind wir, was technischen Fortschritt betrifft, schon längst im 21. Jahrhundert angelangt, so bewegt sich die internationale Politik auf dem „Schlachtfeld“ gegenseitig konkurrierender Grossmächte noch immer in den Fussstapfen des 19. Jahrhunderts. Als hätte es nicht genug Gelegenheiten gegeben, aus der Geschichte zu lernen. Die Absurdität wurde nie grundsätzlich in Frage gestellt. Die Absurdität nämlich, dass es Staaten wie die USA, Russland und China geben soll, die sozusagen einen von Grund auf anderen Status haben sollen als alle übrigen Länder der Welt, eben den Status einer Gross- bzw. Weltmacht. Was gibt denn einem Staat eine grössere Bedeutung als den anderen? Bloss seine militärische und wirtschaftliche Stärke, die Grösse seines Territoriums, die Anzahl seiner militärischen Stützpunkte, ein Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Völkern oder Ethnien? Gibt es für all das auch nur im Entferntesten so etwas wie eine demokratische Legitimation? Was haben Amerikaner in Vietnam, im Irak oder in Afghanistan zu suchen? Was haben Russen in Libyen oder in Syrien verloren? Wer hat die Chinesen nach Kenia, Äthiopien und Mosambik gerufen? Die Forderung nach einer Welt gleichberechtigter Staaten, in der nicht „Grosse“ über „Kleinere“ bestimmen und diese an ihren Rändern im gegenseitigen Machtkampf zerreiben, ist eine zutiefst demokratische. Das Beispiel mag hinken, dennoch könnte es exemplarische Wirkung haben: Die Schweiz bestand noch bis ins 18. Jahrhundert aus „Freien Orten“ einerseits, Untertanengebieten andererseits. Genossen die Menschen in den „Freien Orten“ viele demokratische Rechte, waren die Menschen in den Untertanengebieten hingegen unfrei und mussten an ihre Herren hohe Abgaben entrichten – Kolonialismus pur. Heute ist es selbstverständlich, dass die Bewohnerinnen und Bewohner aller Orte – die man heute „Kantone“ nennt – die gleichen Rechte haben und niemand von anderen bevormundet wird. Deshalb genügt es nicht, zwischen der Ukraine und Russland einen Friedensvertrag auszuhandeln. Das kann nur ein erster Schritt sein. Der nächste Schritt wäre eine neue Weltordnung, in der kein Staat mehr das Rechte hätte, mächtiger zu sein als andere und sein Territorium auf Kosten anderer auszudehnen. Wenn wir es nicht schaffen, eine solche neue, egalitäre Weltordnung aufzubauen, stehen wir nämlich schon bald vor dem nächsten höchst gefährlichen Konflikt im Spannungsfeld zwischen den Grossmächten, der sich schnell zum dritten Weltkrieg ausweiten könnte. Henry Kissinger, US-Aussenminister 1973-1977, sagte schon im Jahre 2014 ein weises Wort: „Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorpfosten der einen Seite gegenüber der anderen sein – sie sollte eine Brücke zwischen beiden Seiten sein.“ Und eigentlich müsste dies für alle Länder der Welt Gültigkeit bekommen. Zwischen ihnen allen sollten nicht Mauern, Panzer und Atombomben stehen, sondern Brücken gegenseitiger Verständigung, Brücken des Friedens und der Liebe…

 

Als ob mit mehr Waffen mehr Frieden zu schaffen wäre…

 

„Arena“ am Schweizer Fernsehen vom 1. April 2022. Es geht um den Ukrainekrieg und seine Auswirkungen auf die Schweiz. Es geht um die Frage , ob und zu welchem Preis neue Kampfflugzeuge beschafft werden sollen. Es geht darum, ob das Militärbudget der Schweiz angesichts zukünftiger Bedrohungen von 5 auf 7 Milliarden Franken jährlich aufgestockt werden soll. Diskutiert wird auch die Grundsatzfrage, ob Waffen die Welt sicherer machen können. Es diskutieren auf der einen Seite als eher „militärfreundlich“ Andrea Gmür-Schönenberger von der Mitte-Partei und Josef Dittli von der FDP, auf der Gegenseite als eher „militärkritisch“ Marionna Schlatter von den Grünen und Sarah Wyss von der SP. Während das Hauptpodium durchaus ausgewogen besetzt ist, fällt bei den übrigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Sendung doch eine recht eklatante Einseitigkeit auf: Da ist zunächst der „Experte“, Marcel Breni, Strategieexperte der Militärakademie der ETH Zürich. Auf die Frage, ob Waffen die Welt sicherer machen, fällt ihm nichts anderes ein als die Aussage, dass sich die Fachleute in Bezug auf diese Frage weltweit nicht einig seien. Unwillkürlich frage ich mich, weshalb man nebst dem Vertreter der Militärakademie nicht als zweite Expertin zum Beispiel eine Pazifistin eingeladen hat. Gerade auch um zu zeigen, dass Pazifismus nicht einfach eine Haltung der Faulheit oder Bequemlichkeit ist, sondern eine jahrhundertelange, von zahlreichen bedeutenden Persönlichkeiten wie Bertha von Suttner, Bertrand Russell oder Albert Einstein getragene und stets immer wieder neu erkämpfte Bewegung für eine andere, bessere Welt. Dann die „Stimmen aus dem Volk“: Weshalb nur zwei ältere Herren, weshalb keine Frauen, weshalb keine Jugendlichen, weshalb keine Kinder? Schliesslich das „Publikum“: Schülerinnen und Schüler eines Gymnasiums. Zum Schweigen verurteilt sitzen sie da, werden nicht in die Diskussion einbezogen. Hätten sie nichts zu sagen? Wäre es nicht doppelt und dreifach so wichtig, ihre Stimmen wahrzunehmen, die Stimmen einer Generation, die von all dem, was hier diskutiert wird, stärker betroffen sein wird und auch dann noch leben wird, wenn alle anderen, die hier so eifrig über Krieg und Frieden debattieren, schon längst gestorben sein werden? Zurück zum Hauptpodium: Interessant ist, dass sich nebst allen Unterschieden die drei Kontrahentinnen und der Kontrahent doch in einem zentralen Punkt einig sind. „Ich hätte auch lieber eine Welt ohne Waffen“, sagt Andrea Gmür-Schönenberger und Josef Dittli pflichtet ihr bei. Doch dann kommt das grosse Aber: Dies jedoch, sagen die beiden, sei nicht realistisch und würde, wenn nur die Schweiz ihre Armee abschaffen würde, weltweit rein gar nichts nützen. Was für ein Widerspruch. Wenn man schon eine „Welt ohne Waffen“ als das höchste und beste Ziel betrachtet, dann müssten doch genau diese Menschen, dies sich ja so gerne als „Sicherheitspolitiker“ und „Sicherheitspolitikerinnen“ bezeichnen, auf die Barrikaden steigen und alles daran setzen, um dieser Idee und diesem Ziel weltweit zum Durchbruch zu verhelfen, gerade um jene Sicherheit zu schaffen, die durch Waffen und Armeen permanent bedroht und in Frage gestellt wird. Denn alle Armeen werden einzig und allein durch das Recht auf „Selbstverteidigung“ legitimiert, durch die gegenseitige Angst. So auch der gegenwärtige Krieg in der Ukraine: Russland hat Angst vor der NATO und die NATO hat Angst vor Russland. Und das Gleiche bei China und den USA: Die USA haben Angst vor China und China hat Angst vor den USA. Alle reden daher auch stets nur von „Verteidigung“, was sich auch darin zeigt, dass weltweit kein einziges Land einen „Kriegsminister“ hat, wie das zu früheren Zeiten der Fall war, sondern alle haben nur „Verteidigungsminister“. Wenn es gelänge, diese gegenseitigen Ängste abzubauen, würden sämtliche Armeen, nutzlos geworden, augenblicklich von der Bildfläche verschwinden. Die Schweiz könnte ein leuchtendes Beispiel, ein einzigartiger Wegbereiter für eine solche „Zeitenwende“ sein. Nicht nur, indem wir die eigene Armee abschaffen würden, sondern indem wir eine Plattform bieten würden für eine globale Sicherheits- und Friedenskonferenz, die weit über konventionelle Konferenzen solcher Art hinausgehen würde und nicht nur Politikerinnen und Politiker, sondern die gesamte Zivilgesellschaft bis hin zu den Jugendlichen und den Kindern.
„Jede
Kanone, die gebaut wird“, sagte US-Präsident Dwight D. Eisenhower,
„jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete
bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren
und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld
allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer
Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“

Reichste versenken Bidens Reichtumssteuer – ist das noch eine echte Demokratie?

 

„Wir sollten stolz darauf sein, dass unser Land soviel Reichtum produzieren kann“ – mit diesen Worten, so berichtet der „Tagesanzeiger“ vom 1. April 2022, kämpft John Manchin, demokratischer Senator aus West Virgina, gegen Joe Bidens Plan einer Reichtumssteuer, von der nicht das jeweilige Vermögen als solches, sondern das Wachstum von Vermögen betroffen wäre. Wenn zum Beispiel der Wert des Facebook-Aktienpakets von 30 auf 60 Milliarden Dollar zunähme, dann würde man diese 30 Milliarden als Einkommen deklarieren und entsprechend versteuern. Bekämpft wird die Idee einer solchen Reichtumssteuer auch mit Argument, dass jeder und jede eines Tages reich werden könne und dafür nicht schon zum Vornherein „bestraft“ werden sollte. Auch Kongresspräsidentin Nancy Pelosi, selber eine der reichsten Abgeordneten, lehnt Bidens Vorschlag ab. Man merkt schon, dass auch in den amerikanischen Schulen nur das ABC der Buchstaben und das Einmaleins gelehrt wird, nicht aber das ABC des Kapitalismus. Sonst wüssten nämlich Manchin, Pelosi und alle anderen, die sich gegen die Einführung einer Reichtumssteuer einsetzen, wie Reichtum tatsächlich zustandekommt. Nämlich dadurch, dass Millionen von Menschen für ihre Arbeit weniger verdienen, als diese Arbeit eigentlich Wert wäre, und sich dieses Geld dann in den Reichtum der Reichen verwandelt. Die Reichen sind nur deshalb reich, weil die Armen arm sind – Reichtum und Armut sind die beiden Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze. Mit jedem Kilo Brot, das gekauft wird, mit jeder Arbeitsstunde am Fliessband, mit jedem Haus, jeder Strasse und jeder Brücke, die gebaut werden, mit jeder Versicherung, die abgeschlossen wird, mit jeder Tonne Stahl, die in ein Auto, ein Schiff oder einen Panzer verwandelt wird, fliesst unaufhörlich Geld aus den Taschen der Armen in die Taschen der Reichen und demzufolge werden auch die Unterschiede zwischen ihnen immer grösser. Geld fällt nicht vom Himmel, es wächst auch nicht auf irgendwelchen exotischen Bäumen oder in irgendwelchen geheimnisvollen Muscheln auf dem Meeresgrund. Es entsteht einzig und allein aus den Tränen, dem Schweiss und dem Blut all jener, die täglichste Schwerstarbeit verrichten und dennoch von den Früchten ihrer Arbeit ausgeschlossen bleiben. Wenn irgendwer auf irgendetwas zu Recht stolz sein müsste, dann gewiss nicht die Reichen auf ihren Reichtum, sondern all die Millionen Tag für Tag hart arbeitenden Frauen und Männer auf das, was sie unermüdlich leisten, die Bauarbeiter und die Krankenpflegerinnen, die Verkäuferinnen und die Fabrikarbeiter, die Putzfrauen und die Lastwagenfahrer, die Gärtner und die Friseusen, die Bäcker und die Kinderbetreuerinnen, ohne deren unermüdlichem Einsatz von früh bis spät die ganze Wirtschaft und Gesellschaft augenblicklich zusammenbrechen und selbst der ganze Reichtum der Reichen im Nichts verschwinden würde. Wenn Abgeordnete, von denen selber die meisten über weit überdurchschnittliche Vermögen verfügen, sich gegen die Einführung einer Reichtumssteuer wehren, die nur ein klein wenig mehr Gerechtigkeit mit sich bringen würde, dann kann man wohl kaum mehr von einer echten Demokratie sprechen, dies umso weniger, als gemäss Umfragen eine grosse Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung Bidens Vorschlag einer Reichtumssteuer unterstützen würde. Müsste man das nicht eher als „Plutokratie“ bezeichnen, als Diktatur des Reichtums und des Geldes? An dem Tag, an dem eine echte Demokratie an die Stelle der kapitalistischen Plutokratie getreten sein wird, wird man nicht mehr stolz darauf sein, „möglichst viel Reichtum zu produzieren“, sondern darauf, den vorhandenen Reichtum möglichst gleichmässig und gerecht unter alle Menschen verteilt zu haben.

Der Krieg in der Ukraine: Und doch bleibt Hoffnung…

 

Dass die aktuellen Diskussionen um den Ukrainekrieg immer weniger Grautöne zulassen und immer mehr von einem Schwarzweiss- und „Gut-Böse“-Diskurs geprägt sind, hat meines Erachtens vor allem drei Gründe. Erstens: die Macht der Bilder. Die meisten Menschen informieren sich aufgrund von Bildern, sei es im Fernsehen oder in den sozialen Medien, das Lesen langer Zeitungslektüre oder gar von Büchern liegt nur schon aus zeitlichen und oft auch aus finanziellen Gründen gar nicht drin. Diese Bilder aber zeigen uns pausenlos zerbombte Städte, alte, gebrechliche Menschen und Kinder, die über notdürftig zusammengezimmerte Brücken Sicherheit suchen, Menschen, die dicht aneinandergedrängt in U-Bahnstationen Zuflucht vor drohenden Luftangriffen finden. Mit jedem dieser Bilder wächst der Hass auf jene, die an alledem Schuld sind, immer mehr, was durchaus verständlich ist. Doch zeigen freilich alle diese Bilder nur die eine Seite. Würde man die Bilder jener Frau zeigen, die im Mai 2014 in Saporischja von Angehörigen des Regiments Asow entführt, mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen aufgehängt und fünf Stunden lang heftigst verprügelt wurde, oder das Bild jenes Mannes, der, ebenfalls von Angehörigen des Regiments Asow, im August 2014 in Monohopillia gefangen und an einem um den Hals gebundenen Seil solange über ein Feld geschleift wurde, bis er bewusstlos liegenblieb – dann würde die Stimmung möglicherweise sehr schnell ins Gegenteil kippen. Die zweite Komponente: das Sündenbocksyndrom. Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, sich selber, sein Land, seine Nationalität, seine ethnische Herkunft „gut“ zu finden und jene von „Andersartigen“, „Fremden“, möglichst „schlecht“. Mit einem Wort: Rassismus. Das zeigt sich in der gegenwärtigen Situation und vor dem Ukrainekonflikt besonders krass und geradezu erschreckend. Der frühere US-Präsident Ronald Reagan nannte die damalige Sowjetunion selbstherrlich das „Reich des Bösen“. Dieses Bild hat sich dann nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf Russland übertragen und prägt, bewusst oder unbewusst, unser Denken bis heute. Anders ist nicht zu erklären, weshalb sich heute in den verschiedensten europäischen Ländern zahlreiche Russinnen und Russen selbst dann, wenn sie sich mutig und öffentlich gegen den Krieg Russlands gegen die Ukraine aussprechen, verschiedenen Formen von Diskriminierung, Beleidigungen und Ausgrenzungen ausgesetzt sehen. Das Sündenbocksyndrom macht blind: Es erkennt im anderen nur noch das Böse, den Feind – und rechtfertigt damit sogar noch etwas so Verbrecherisches wie den Krieg, bloss um dieses „Böse“ zu vernichten. Die dritte Komponente ist der fehlende historische Hintergrund: Obwohl wir rund um die Uhr mit Informationen aller Art pausenlos bombardiert werden, fehlt den meisten Menschen ein differenzierter historischer Hintergrund. Dieser Fokus auf den aktuellen Augenblick hindert uns daran, aus der Geschichte zu lernen. Und er führt dazu, dass wir immer und immer wieder in die selben Fallen hineintappen. Hätten wir aus allen bisherigen Kriegen der Weltgeschichte etwas gelernt, dann müssten heute weltweit alle Menschen nur noch Pazifistinnen und Pazifisten sein und es dürfte keine Armeen mehr geben, weil alle Menschen wüssten, dass Kriege noch nie irgendwem etwas genützt haben, weder den sogenannten „Siegern“ noch den sogenannten „Verlierern“. Weshalb ist es möglich, dass ein ukrainischer Botschafter, der mit andersdenkenden Politikern und Politikerinnen höchst unzimperlich umgeht, sie bei jeder Gelegenheit blossstellt und nicht einmal vor einem dritten Weltkrieg zurückschrecken würde, von einem ehemaligen deutschen Bundespräsidenten umarmt wird, während von der Friedensinitiative des Dalai Lama und 15 weiterer Friedensnobelpreisträgerinnen und Friedensnobelpreisträger, die bereits von 950’000 Menschen unterzeichnet worden ist, weit und breit nichts zu hören ist? Und doch bleibt Hoffnung. Hass, Feindbilder, Rassismus und Kriege brauchen nicht ewig Bestand zu haben. Denn, wie Nelson Mandela so wunderbar sagte: „Niemand wird geboren, um einen anderen wegen seiner Hautfarbe, seines Hintergrunds oder seiner Religion zu hassen. Den Menschen wird Hass beigebracht, und wenn Hass gelehrt werden kann, kann das auch die Liebe.“ 

Der Maidan: Friedliche Studentenbewegung oder rechtsextremistischer Regierungsumsturz?

 

Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts gehört ganz wesentlich der „Euromaidan“, die sogenannte „Revolution der Würde“, zwischen November 2013 und Februar 2014. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch, dessen Vision eine blockfreie Ukraine als Bindeglied zwischen der EU und Russland war und der einen Beitritt der Ukraine zur NATO klar ablehnte, bereits seit drei Jahren im Amt. Auslöser der Maidanproteste bildete die überraschende Erklärung Janukowytschs Ende 2013, ein bereits geplantes Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union vermutlich auf Druck von Russland vorerst nicht unterzeichnen zu wollen. Sogleich kam es Massenprotesten, welche am 1. Dezember 2013 ihren Höhepunkt erreichten, nachdem einen Tag zuvor friedliche Studentenproteste durch Spezialeinheiten der ukrainischen Polizei mit Gewalt auseinandergetrieben worden waren. Die Demonstrantinnen und Demonstranten forderten die Amtsenthebung von Präsident Janukowytsch, vorzeitige Präsidentschaftswahlen, ein Ende der Korruption sowie die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU. Im Februar 2014 wurde eine Einigung erzielt, welche die Rückkehr zur bis September 2010 gültigen Verfassung vorsah und die faktische Absetzung Wiktor Janukowytschs beinhaltete, dieser tauchte ab und flüchtete nach Russland. Soweit die offizielle, „westliche“ Lesart der Ereignisse rund um den Maidan. Ihr gegenüber steht die von Russland verfochtene Behauptung, es habe sich beim „Maidan“ nicht um eine friedliche Protestbewegung gehandelt, sondern um einen von den USA unterstützten „Putsch“ gegen die rechtmässige Regierung Janukowytsch. Dass diese Behauptung wohl nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, zeigt ein Bericht der ARD vom 6. März 2014: Gemäss ARD hätten von Anfang an auf dem Maidan auch rechtsextreme Kräfte eine wichtige Rolle gespielt, zum Beispiel die ultranationalistische Partei Swoboda, neben Wladimir Klitschkos Udar und Julija Timoschenkos Vaterlandspartei. Zudem seien Klitschko und die Vaterlandspartei ein offizielles Bündnis mit Swoboda eingegangen, welche gute Beziehungen zur deutschen NDP gepflegt hätten. Auch seien neben Swoboda auf dem Maidan noch radikalere Kräfte aktiv gewesen, so zum Beispiel die „zu allem entschlossenen“ paramilitärisch organisierten Gruppen des „Rechten Sektors“. Diese hätten sich im November 2013 um den Neonazi Dmitrij Jarosch formiert. Auf ihrer Webseite hätten Mitglieder des „Rechten Sektors“ mit ihren angeblichen oder tatsächlichen Kampferfahrungen in Tschetschenien und im Kosovo geprahlt. „Für die Vertreibung des alten Regimes Ende Februar 2014“, so die ARD, „waren die auf den Barrikaden meist an vorderster Front kämpfenden Truppen des „Rechten Sektors“ mit entscheidend.“ Demzufolge hätte der „Rechte Sektor“ in seiner eigenen Propaganda diese Ereignisse auch als ihre „nationale Revolution“ bezeichnet. Die Mitglieder hätten auch die Rolle als „Selbstschutz des Maidan“ und als Sicherheits- und Ordnungskraft an Stelle der nicht mehr präsenten Polizei übernommen. Auch der Osteuropaexperte Alexander Ruhr sieht im „Rechten Sektor“ einen der wichtigsten Akteure des Maidan: „Der Rechte Sektor war aus meiner Sicht entscheidend für den Umsturz, weil er auch bereit war, in Kampfhandlungen mit der Polizei und den Sicherheitskräften einzutreten. Sie waren gut organisiert, sie hatten auch immer wieder einen Plan, wie sie angreifen und sich verteidigen konnten, so dass sie einen grossen Anteil am Erfolg des Maidan gehabt haben.“ Eine Gegendarstellung zur Theorie des Maidan als ein von rechtsextremen Gruppen und Organisationen angeführten Putschs liefert die „NZZ“ am 21. Februar 2019: Sie spricht im Zusammenhang mit dem Maidan von einer „immer autoritäreren Staatsmacht“ auf der einen Seite, einem „unerwarteten Aufbegehren der Jugend“ auf der anderen. Ab Januar 2014 hätten die „Selbstverteidigungskräfte“ begonnen, sich mit Waffen auszurüsten. Immerhin räumt die „NZZ“ ein, dass der Maidan „Nationalisten und andere Anhänger der rechtsgerichteten Partei Swoboda angezogen hätte, diese Kräfte aber in der Minderzahl gewesen seien, dennoch zu den „tragenden Elementen dieses Putschs hochstilisiert“ worden seien. Hier knüpfe die „russische Propaganda“ vom „faschistischen Putsch“ an, welche die Rolle der Tituschki, der Schlägertrupps auf der Seite von Janukowytsch, unerwähnt lasse. Am 18. Februar seien erstmals Demonstranten von Scharfschützen getroffen worden, welche auf hohen Gebäuden Stellung bezogen hätten. Es sei zu über hundert Toten gekommen, wobei die Täterschaft noch nicht aufgeklärt worden sei. Fest stehe nur, dass die Schüsse auch aus Gebäuden abgegeben worden seien, welche in der Hand der Aufständischen gewesen seien. Der Bericht der ARD vom 6. März 2014 und der Bericht der „NZZ“ vom 21. Februar 2019 zeigen, wie unterschiedlich das gleiche Ereignis gesehen und interpretiert werden kann. Würden wir russische Quellen heranziehen, sähe alles noch einmal ganz anders aus. War es also tatsächlich nur eine friedliche Studentenbewegung? Oder vielleicht doch ein von rechtsextremen Kräften angetriebener Regierungsputsch und damit ein weiterer möglicher Grund für von Russland vom Zaun gebrochenen Krieg gegen die Ukraine? Oder gar beides zugleich oder weder das eine noch das andere? Es sei jedem Leser und jeder Leserin überlassen, sich ihre eigene Meinung zu bilden…

 

 

Melnik: Von der „Nervensäge“ uim „Medienstar“

 

Andri Melnik, der ukrainische Botschafter in Deutschland, ist eine umstrittene Figur. Eben noch galt er, wie der „Tagesanzeiger“ am 30. März 2022 berichtet, als „Nervensäge“. Der sozialdemokratische Staatssekretär Sören Bartol bezeichnete ihn auf Twitter sogar als „unerträglich“ und setzte das Wort „Botschafter“ in Anführungszeichen. Im Auswärtigen Amt und im Kanzleramt ist er bis heute mit einer Art Hausverbot belegt. Doch nun ist er, sozusagen über Nacht, von einem „exotischen Querulanten“ zu einem Medienstar geworden, dem „alle Sympathien zufliegen“. Als Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar im Bundestag eine Rede hielt, sass Melnik auf der Tribüne. Die Angeordneten erhoben sich zu seinen Ehren von den Sitzen und applaudierten, Alt-Bundespräsident Joachim Gauck umarmte ihn – die Bilder gingen um die Welt. Wie ist ein solcher Sinneswandel innert kürzester Zeit zu erklären? Wohl nur damit, dass es dort, wo es noch bis vor Kurzem Grautöne aller Art gab, nur noch Schwarz und Weiss gibt. Entweder bist du ein „Guter“ oder du bist ein „Böser“, entweder bist du mein Freund oder du bist mein Feind. Und da genügt es dann eben, auf der „richtigen“ Seite zu stehen, damit einem die Herzen und die Sympathien zufliegen, selbst wenn man, wie Melnik, so verrückte Dinge fordert wie eine Flugverbotszone über der Ukraine, welche wohl zweifellos gleichbedeutend wäre mit dem Beginn des dritten Weltkriegs. Wenn man erst einmal dieser „Medienstar“ ist, dem „alle Sympathien zufliegen“, dann hat man offensichtlich augenblicklich all das vergessen, was vorher gewesen ist. Man hat vergessen, dass dieser Liebling Melnik unlängst noch seine Sympathien für das Regiment Asow öffentlich kundtat, welches Seite an Seite mit den ukrainischen Truppen kämpft und sich schon seit 2014 schwerster Menschenrechtsverletzungen und Gräueltaten an Zivilpersonen – Folterungen, Waterboarding, Vergewaltigungen, Scheinhinrichtungen, Überfälle auf Medienleute, Plünderungen, Entführungen, alles dokumentiert durch das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte – schuldig gemacht hat. Vergessen ist auch, dass faschistische Kräfte beim Sturz des früheren ukrainischen Präsidenten Janukowitch eine wichtige Rolle spielten. Vergessen ist auch die Rede von Wladimir Putin 2001 vor dem deutschen Bundestag, in welcher er dem Westen eine auf Frieden und Versöhnung ausgerichtete europäische Sicherheitsordnung vorgeschlagen hatte. Vergessen ist ebenfalls, dass trotz gegenteiliger Versprechungen die NATO nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schrittweise bis an die Grenze Russlands ausgedehnt wurde. Vergessen sind auch die zahlreichen ukrainischen Gesetze und Dekrete, mit denen der russischsprachige Teil der Bevölkerung benachteiligt wurde. Doch wenn Meinungen so schnell vom einen Extrem ins andere kippen können und über Nacht aus einer „Nervensäge“ ein „Medienstar“ werden kann, muss es noch andere Gründe geben. Ich sehe eine Mischung aus drei Komponenten. Erstens: die Macht der Bilder. Die meisten Menschen informieren sich aufgrund von Bildern, sei es im Fernsehen oder in den sozialen Medien, das Lesen langer Zeitungslektüre oder gar von Büchern liegt nur schon aus zeitlichen und oft auch aus finanziellen Gründen gar nicht drin. Diese Bilder aber zeigen uns pausenlos zerbombte Städte, alte, gebrechliche Menschen und Kinder, die über notdürftig zusammengezimmerte Brücken Sicherheit suchen, Menschen, die dicht aneinandergedrängt in U-Bahnstationen Zuflucht vor drohenden Luftangriffen finden. Mit jedem dieser Bilder wächst der Hass auf jene, die an alledem Schuld sind, immer mehr, was durchaus verständlich ist. Doch zeigen freilich alle diese Bilder nur die eine Seite. Würde man die Bilder jener Frau zeigen, die im Mai 2014 in Saporischja von Angehörigen des Regiments Asow entführt, mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen aufgehängt und fünf Stunden lang heftigst verprügelt wurde, oder das Bild jenes Mannes, der, ebenfalls von Angehörigen des Regiments Asow, im August 2014 in Monohopillia gefangen und an einem um den Hals gebundenen Seil solange über ein Feld geschleift wurde, bis er bewusstlos liegenblieb – dann würde die Stimmung möglicherweise sehr schnell ins Gegenteil kippen. Die zweite Komponente: das Sündenbocksyndrom. Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, sich selber, sein Land, seine Nationalität, seine ethnische Herkunft „gut“ zu finden und jene von „Andersartigen“, „Fremden“, möglichst „schlecht“. Mit einem Wort: Rassismus. Das zeigt sich in der gegenwärtigen Situation und vor dem Ukrainekonflikt besonders krass und geradezu erschreckend. Der frühere US-Präsident Ronald Reagan nannte die damalige Sowjetunion selbstherrlich das „Reich des Bösen“. Dieses Bild hat sich dann nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf Russland übertragen und prägt, bewusst oder unbewusst, unser Denken bis heute. Anders ist nicht zu erklären, weshalb sich heute in den verschiedensten europäischen Ländern zahlreiche Russinnen und Russen selbst dann, wenn sie sich mutig und öffentlich gegen den Krieg Russlands gegen die Ukraine aussprechen, verschiedenen Formen von Diskriminierung, Beleidigungen und Ausgrenzungen ausgesetzt sehen. Das Sündenbocksyndrom macht blind: Es erkennt im anderen nur noch das Böse, den Feind – und rechtfertigt damit sogar noch etwas so Verbrecherisches wie den Krieg, bloss um dieses „Böse“ zu vernichten. Die dritte Komponente ist der fehlende historische Hintergrund: Obwohl wir rund um die Uhr mit Informationen aller Art pausenlos bombardiert werden, fehlt den meisten Menschen ein differenzierter historischer Hintergrund. Dieser Fokus auf den aktuellen Augenblick hindert uns daran, aus der Geschichte zu lernen. Und er führt dazu, dass wir immer und immer wieder in die selben Fallen hineintappen. Hätten wir aus allen bisherigen Kriegen der Weltgeschichte etwas gelernt, dann müssten heute weltweit alle Menschen nur noch Pazifistinnen und Pazifisten sein und es dürfte keine Armeen mehr geben, weil alle Menschen wüssten, dass Kriege noch nie irgendwem etwas genützt haben, weder den sogenannten „Siegern“ noch den sogenannten „Verlierern“. Weshalb ist es möglich, dass ein ukrainischer Botschafter, der mit andersdenkenden Politikern und Politikerinnen höchst unzimperlich umgeht, sie bei jeder Gelegenheit blossstellt und nicht einmal vor einem dritten Weltkrieg zurückschrecken würde, von einem ehemaligen deutschen Bundespräsidenten umarmt wird, während von der Friedensinitiative des Dalai Lama und 15 weiterer Friedensnobelpreisträgerinnen und Friedensnobelpreisträger, die bereits von 950’000 Menschen unterzeichnet worden ist, weit und breit nichts zu hören ist? Und doch bleibt Hoffnung. Hass, Feindbilder, Rassismus und Kriege brauchen nicht ewig Bestand zu haben. Denn, wie Nelson Mandela so wunderbar sagte: „Niemand wird geboren, um einen anderen wegen seiner Hautfarbe, seines Hintergrunds oder seiner Religion zu hassen. Den Menschen wird Hass beigebracht, und wenn Hass gelehrt werden kann, kann das auch die Liebe.“ 

Multimediahändler Fnac: Wenn das Lächeln der Verkäuferin über ihren Lohn entscheidet

 

„Wenn das Lächeln über den Lohn entscheidet“ – so der Titel eines Artikels im „Tagblatt“ vom 28. März 2022 über den französischen Multimediahändler Fnac, der „mit einem Jahresumsatz von 8 Milliarden Franken die Deutschschweiz erobern und M-electronics, Orell Füssli und Co. Kundschaft abjagen“ will. Das Besondere an Fnac ist seine Vergütungsstruktur: Nach jedem Kauf wird dem Kunden oder der Kundin eine Umfrage geschickt mit einer Notenskala von 1 bis 10, mit welcher die jeweilige Angestellte vom Kunden oder der Kundin bewertet wird. Auch werden sogenannte „Mysteryshopper“ eingesetzt, um die Servicequalität vor Ort regelmässig zu überprüfen. Die verschiedenen Parameter tragen zum Gesamtbild der Mitarbeitenden bei und sind ausschlaggebend für den variablen Lohnanteil, der ca. 25 Prozent des Gesamtlohn ausmacht. Ein Lohnmodell, über welches sich wohl die meisten Leserinnen und Leser dieses Artikels nicht besonders verwundern werden, sind wir uns mittlerweile doch gewohnt, als Kundinnen und Kunden bei jeder Gelegenheit von der Hotelübernachtung über das Essen im Restaurant bis zum Einkaufen im Internet Bewertungen und Beurteilungen abzugeben. Und doch gäbe es genügend Gründe, solche Bewertungssysteme grundsätzlich in Frage zu stellen, vor allem dann, wenn sie noch zusätzlich mit variablen Lohnmodellen verknüpft werden. Typisch für solche Bewertungssysteme ist das immense Machtgefälle, das dahinter steckt: Der Kunde oder die Kundin kann sich noch so mühsam, lästig oder rechthaberisch verhalten – die Verkäuferin darf dennoch nie die Geduld verlieren, muss stets freundlich bleiben und lächeln, denn wenn sie das nicht tut, muss sie mit einer negativen Beurteilung und demzufolge mit einer Lohneinbusse rechnen. Das dahinter liegende Bild ist das Bild einer knallharten Klassengesellschaft, in welcher die Regeln von denen erfunden werden, die oben sind, und die jene ausbaden müssen, die unten sind. Das beginnt schon in der Schule, wo die Kinder und Jugendlichen rund um die Uhr von ihren Lehrerinnen und Lehrern bewertet und beurteilt werden und bei „schlechten“ Leistungen oder fehlendem Wohlverhalten mit schlechten Noten und Zeugnissen dafür bestraft werden, was sich gravierend auf ihre zukünftigen Berufs- und Lebenschancen auswirken kann. Ob der Gast im Restaurant oder Hotel, ob die Kundinnen und Kunden im Modegeschäft oder ob der Lehrer und die Lehrerin, welche Noten und Zeugnisse verteilt: Andere Menschen zu bewerten und beurteilen zu können, ist stets auch mit dem Gefühl verbunden, über Glück oder Unglück anderer ein Stück weit bestimmen zu können, sich besser und „mächtiger“ zu fühlen als andere. Dass dies etwas zutiefst Menschenfeindliches ist und dem elementaren Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen widerspricht, wird uns vielleicht dann bewusst, wenn wir uns für einen Moment einmal das Gegenteil vorzustellen versuchen: Nicht der Kunde bewertet die Verkäuferin, wie freundlich sie gelächelt hat, sondern die Verkäuferin bewertet den Kunden, wie geduldig und freundlich er sich verhalten hat. Nicht der Hotelgast bewertet das Zimmermädchen, wie gründlich sie das Zimmer geputzt hat, sondern das Zimmermädchen bewertet den Gast, wie herzlich er sich für ihre Arbeit bedankt hat. Nicht die Lehrerinnen und Lehrer bewerten die schulischen Leistungen der Kinder und Jugendlichen, sondern die Kinder und Jugendlichen bewerten die Lehrkräfte, wie interessant und verständlich sie den Schulstoff vermittelt haben, wie humorvoll sie sind und mit wie viel Liebe und Aufmerksamkeit sie sich um das einzelne Kind gekümmert haben. Doch zurück zu den Angestellten des Multimediahändlers Fnac, die nun damit leben müssen, dass ein Viertel ihres Lohns davon abhängt, wie freundlich sie lächeln und wie geduldig sie ihre Kundschaft auch dann noch bedienen, wenn sich, nach acht Stunden Arbeit, alles im Kopf dreht und sie vor lauter Schmerzen fast nicht mehr auf den Füssen stehen können. Die müssten doch froh sein, wenn sie überhaupt eine Stelle hätten, heisst es dann immer so schön. Was für eine verkehrte Welt! Was für eine Lüge, das ewige Gerede von den „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“! Tatsächlich muss doch nicht die Verkäuferin dankbar sein dafür, dass sie eine Stelle hat. Dankbar sein muss doch der Firmenchef, dass die Verkäuferin ihm ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellt und ihm hilft, dank ihrem tiefen Lohn den Konzerngewinn immer weiter in die Höhe zu treiben. Und so ist es mit allen sogenannten „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“ in der kapitalistischen Arbeitswelt voller Ausbeutung und voller Lügen, welche die tatsächlichen Machtverhältnisse beschönigen und verschweigen. Aber vielleicht kommt ja doch noch irgendwann die Zeit, wo sich das Blatt wendet und dann nicht mehr der Kunde die Verkäuferin bewertet, sondern alle „Arbeitnehmer“ und „Arbeitnehmerinnen“ weltweit das kapitalistische Wirtschaftssystem bewerten, mit einer Notenskala von 1 bis 10. Wetten, das könnte eine böse Überraschung geben? 

Biden, Selenski und Putin: Sind sie taub, haben sie nur Krieg im Kopf?

 

„Es geht“, verkündete US-Präsident Joe Biden anlässlich seines Staatsbesuchs in Polen am 26. März 2022, „um eine grosse Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer regelbasierten Ordnung und einer, die von brutaler Gewalt bestimmt wird. Wir müssen dabei klar sehen: Diese Schlacht wird nicht in Tagen geschlagen werden oder in Monaten. Wir müssen uns für einen langen Kampf stärken.“ Was für ein himmelschreiender Widerspruch! Biden plädiert für einen Sieg der Freiheit, gleichzeitig aber schwört er die Menschen in der Ukraine und weit darüber hinaus auf einen „langen Kampf“ ein und zerreisst damit jegliche Hoffnung auf einen baldigen Friedensschluss. Zudem, und das ist das besonders Absurde, spricht er einerseits von einem Kampf für die Freiheit, beraubt aber gleichzeitig Tausende und Abertausende von jenen Menschen, welche diesen Kampf führen oder unter ihm leiden, nicht nur ihrer Freiheit, sondern auch ihres Lebens. Freiheit für wen? Für die Väter, Mütter und Kinder der Ukraine? Oder vielleicht doch nur für all jene, welche sich diese „Freiheit“ auch tatsächlich leisten können? Ich jedenfalls vermute, dass die ukrainischen Oligarchen, und es sind nicht wenige, wohl kaum auf den Schlachtfeldern im Kampf gegen die russischen Invasoren anzutreffen sind. Und auch Selenski wird höchstwahrscheinlich seine Freiheit auch dann noch geniessen, wenn Hunderttausende seiner Landsleute gestorben sein werden. Und was eigentlich genau will Biden mit dieser „Schlacht“ verteidigen? Etwa jene kapitalistische Weltordnung, als deren Anführer er sich sieht und die dazu geführt hat, dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich noch nie so gross waren wie heute, dass eine Milliarde Menschen unter Hunger leiden und jeden Tag zehntausend Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs infolge Nahrungsmangels sterben und dass bereits 3,5 Milliarden Menschen im globalen Süden durch den Klimawandel, der nichts anderes ist als die Folge des kapitalistischen Prinzips endloser Wachstumssteigerung, existenziell bedroht sind? Und mit was für einem Wort müsste Biden, der Putin einen „Schlächter“ nannte, den früheren US-Präsidenten George W. Bush bezeichnen, der 2003 aufgrund von Lügen und Erfindungen einen Krieg gegen den Irak anzettelte, dem über eine halbe Million Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen? Biden täte gut daran, seinen eigenen Stall auszumisten, statt sich zum Weltführer von Freiheit und Menschenrechten aufzuspielen, die genug oft an anderen Orten mit Füssen getreten wurden. Und wenn er schon die Menschenrechte beschwört: Weshalb bekennt er sich dann nicht zum Einzigen, was die Menschenrechte tatsächlich verwirklichen würde, nämlich, anstelle eines „langen Kampfs“ und einer grossen „Schlacht“, ein Angebot des Friedens auszusenden, einen sofortigen Waffenstillstand zu fordern, das gemeinsame und gegenseitige Suchen nach einer Lösung des Ausgleichs und des Kompromisses anzuregen, mit dem beide Seiten leben könnten, ohne weiteres Blutvergiessen, ohne weiterhin Freiheit und Menschenrechte zu opfern. Soeben haben der Dalai Lama und 15 weitere Friedensnobelpreisträgerinnen und Friedensnobelpreisträger einen Friedensappell ausgerufen. Haben Biden, Selenski und Putin nichts davon gehört? Haben Sie nur Krieg im Kopf? Dass der Dalai Lama und seine 15 Mitunterzeichnerinnen und Mitunterzeichner den Friedensnobelpreis bekommen haben, das muss doch einen Sinn gehabt haben. Man hätte die Preise doch nicht verliehen, bloss dass die damit Ausgezeichneten sich dann in ihr stilles Kämmerchen zurückgezogen hätten, nichts mehr von sich hätten hören lassen und zu allem geschwiegen hätten. Was ist da los mit einer Welt, wenn die Worte ein paar weniger Kriegstreiber mehr Gewicht haben als 15 Persönlichkeiten, die sich mit ihrem ganzen Leben über Jahrzehnte für Aussöhnung, Frieden und Völkerverständigung eingesetzt haben? Und ganz gewiss, wenn es zu einer weltweiten Abstimmung käme, hätten sie die ganz überwiegende Mehrheit der Menschheit auf ihrer Seite. Denn für alle, die sich von den Kriegstreibern noch nicht haben einlullen lassen, ist es klar: „Entweder wird die Menschheit dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg wird der Menschheit ein Ende setzen.“ Das sagte übrigens nicht irgendein Friedensaktivist, sondern der frühere US-Präsident John F. Kennedy. Ob Joe Biden noch nie etwas davon gehört hat?