Klimastreik Zürich: Das alles nütze sowieso nichts? Je mehr mitmachen, umso mehr nützt es!

 

Klimastreik am 23. März 2022 in Zürich. Viele hätten sie am liebsten schon totgesagt, haben alles ins Lächerliche gezogen, haben von „Träumerinnen“ und „Phantasten“ gesprochen, doch jetzt ist sie wieder da, die Klimabewegung, jetzt, wo der Winter vorüber ist und ein wunderbarer Frühlingstag alles überstrahlt. Ja, sie ist wieder da, die Klimabewegung, stärker denn je, vielleicht nicht was die Zahl der Teilnehmenden betrifft, aber was ihre Energie betrifft, ihre Argumente, ihre Überzeugungskraft, ihre Dringlichkeit. Die vielen bunten Transparente, die mitreissende Musik, tanzende und singende junge Menschen voller Lebenslust, das Auf- und Niederschwellen tausendstimmiger Parolen, dazwischen ein älterer Herr, der in seinem dunklen Anzug ein pensionierter Banker sein könnte, und eine weit über achtzigjährige Frau am Rollator, in eine Klimafahne gehüllt: Ein Herzschlag der Liebe zieht sich an diesem Freitag durch die Strassen Zürichs. Und es lässt auch die Menschen am Rande der Strassen nicht unberührt: Aus einer Bar sind ein paar Angestellte herausgekommen, mischen sich tanzend in den Demonstrationszug und verteilen Gratisgetränke. Die Menschen, die in den Cafés an der Sonne sitzen, verfolgen das Geschehen gebannt, schiessen Fotos und viele von ihnen haben ein wunderbares Lächeln im Gesicht, so etwas wie Sehnsucht, als wollten sie am liebsten alles stehen und liegen lassen und sich in den Demonstrationszug einreihen. Nur wenige scheinen gänzlich unberührt zu sein: Viele der Autofahrer und Autofahrerinnen, die mit grimmigem Gesicht in der Kolonne stehen, weil die Strassen für den Verkehr gesperrt sind, Geschäftsleute mit stechendem Schritt und grossen Aktenkoffern, Menschen auf der Shoppingtour, die zwischen dem einen und dem nächsten Geschäft, wo sie einkaufen, nur für ihre Handys Blicke übrig haben. Sie und wir – als wären es zwei gänzlich gegensätzliche Welten, die nichts miteinander zu tun haben. Doch was ist „normal“? Was ist „verrückt“? Wird vielleicht eine Zeit kommen, da sich alles ins Gegenteil verkehrt und das „Verrückte“ normal sein wird und umgekehrt? In der Ferne kurven Polizeiautos nutzlos herum. Hier gibt es keine Gewalt, keine Auseinandersetzungen, nicht einmal irgendein böses Wort. Ich bin sicher: Käme es auch nur zur geringsten Tätlichkeit im Rahmen dieser Demonstration, so würden sich die bereitstehenden Kameraleute wie hungrige Wölfe darauf stürzen und es würde garantiert in der abendlichen Tagesschau, in den Tageszeitungen und auf den sozialen Medien darüber berichtet. So aber ist weder in der Tagesschau noch in den Tageszeitungen am nächsten Morgen auch nur ein einziges Wort über die Klimademonstration in Zürich zu erfahren, und erst Recht nicht über die an diesem gleichen Tag an 800 Orten weltweit durchgeführten Klimastreiks mit Hunderttausenden von Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Inzwischen ist der Zug entlang der Limmat unterwegs. Auf der erhöhten Terrasse eines Kirchenplatzes stehen wiederum dicht gedrängt viele Schaulustige, gestikulieren und fotografieren. Die letzten Sonnenstrahlen und lautes Glockengeläute, fast ein „heiliger“ Moment, an dem die Welt für einen Moment stillzustehen scheint. Viele sagen, dies alles nütze sowieso nichts, der Klimawandel lasse sich nicht mehr aufhalten. Wer das sagt, soll mitmachen. Je mehr mitmachen, umso mehr nützt es. Wenn 2000 Menschen auf der Strasse sind, kann man leicht darüber hinweggehen. Wenn es 200’000 sind, wird es schon schwieriger. Wie ein Felsblock, der im Weg liegt. Wenn zwanzig Menschen daran ruckeln, bewegt er sich keinen Millimeter. Wenn fünfzig dazu kommen, wird er ein ganz klein wenig nachgeben. Wenn es hundert sind, kommt er ins Wanken. Und wenn es tausend sind, scheint er plötzlich federleicht zu sein und kann aus dem Weg geschafft werden und der Weg in jene neue Zeit des Friedens und der Liebe, von der wir alle träumen, wird frei. Zuhause angekommen, lese ich vom britischen Historiker Eric Hobsbawn folgende Worte: „Entweder hören wir mit der Ideologie des grenzenlosen Wachstums auf, oder es passiert eine schreckliche Katastrophe. Heute geht es um das Überleben der Menschheit.“ Gut, war ich dabei…

Madeleine Albright, die goldenen Sockel und das kurze Gedächtnis jener, die es eigentlich wissen müssten

 

Madeleine Albright, frühere US-Aussenministerin und am 23. März 2022 im Alter von 84 Jahren verstorben, sei, so berichtet der „Tagesanzeiger“ am 24. März 2022, stets eine glühende Verfechterin der europäisch-amerikanischen Zusammenarbeit gewesen, unter Führung der USA als „Schutzmacht von Demokratie und Freiheit in aller Welt“. Auch die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock äussert sich auf Twitter geradezu überschwänglich über die verstorbene ehemalige US-Aussenministerin: „Mit Haltung, Klarheit und Mut stand Madeleine Albright als erste US-Aussenministerin ein für Freiheit und die Stärke von Demokratien. Mit ihr verlieren wir eine streitbare Kämpferin, Vorreiterin und wahre Transatlantikerin. Auch ich stehe auf ihren Schultern.“ Sowohl der „Tagesanzeiger“ wie auch die deutsche Aussenministerin scheinen ein wahrhaft kurzes Gedächtnis zu haben. Bei Annalena Baerbock erstaunt dies umso mehr, als sie ja gerne bei jeder Gelegenheit betont, „Völkerrecht“ studiert zu haben. Ist ihr gänzlich entgangen, dass Albright eine knallharte, um nicht zu sagen herzlose Politikerin gewesen ist, die unter anderem für die völkerrechtswidrige Bombardierung Belgrads 1999 wesentlich mitverantwortlich war und sich auch in den frühen Neunzigerjahren für schärfste Sanktionen gegen den Irak eingesetzt hatte, welche infolge Nahrungs- und Medikamentenmangels den Tod einer halben Million Kinder zur Folge hatten? Doch damit nicht genug. Als Albright 1996 in einem Fernsehinterview gefragt wurde, ob die Sanktionen gegen den Irak angesichts des Todes von einer halben Million Kinder diesen Preis wert gewesen seien, antwortete sie wie folgt: „Ja, es war diesen Preis wert.“ Der Tod scheint noch die zwielichtigsten historischen Figuren reinzuwaschen, auf einen goldenen Sockel zu heben und alles Vergangene aus der Erinnerung der Menschen zu löschen. Auch beim zwischen 1981 und 1989 amtierenden US-Präsidenten Ronald Reagan war es nicht anders, als er am 5. Juni 2004 mit grossem Pomp zu Grabe getragen wurde. Auch damals war die ganze westliche Welt einhellig des Lobes voll. Und alles war vergessen: Dass Reagan in seinem fanatischen Kampf gegen die Sowjetunion, das „Reich des Bösen“, jedes Mittel Recht war, auch die konsequente Unterstützung mehrerer antikommunistischer Militärdiktaturen. Dass er der rechtsgerichteten Militärregierung von El Salvador, welche Anfang der 1980er Jahre etwa 40’000 Oppositionelle ermorden liess, jegliche militärische und finanzielle Hilfe zukommen liess. Dass er zwischen 1981 und 1990 einen verdeckten Krieg gegen die sandinistische Regierung Nicaraguas führte, welche die gesamte Wirtschaft des Landes zum Erliegen brachte und dem 20’000 bis 60’000 Menschen zum Opfer fielen. Und dass er einen nie dagewesenen Rüstungswettlauf einleitete, dem die Sowjetunion aus wirtschaftlichen Gründen schliesslich nicht mehr gewachsen war, ein Ungleichgewicht, das mit einem zwölf Mal höheren Militärbudget der USA im Vergleich zu Russland bis heute andauert und möglicherweise eine der zahlreichen Wurzeln des aktuellen Ukrainekonflikts bildet. Aber nicht nur der Tod legt einen Deckel über die Vergangenheit. Auch zu Lebzeiten kommt es einzig und allein drauf an, auf welcher Seite der gelobte oder der geschmähte Staatsführer, die gepriesene oder die verachtete Regierungschefin steht, ob auf der Seite der „Guten“ oder auf der Seite der „Bösen“: Trotz seiner Zentralamerikapolitik, für die man ihn eigentlich als „Kriegsverbrecher“ bezeichnen müsste, wurde Ronald Reagan am 9. November 1992 zum Ehrenbürger von Berlin ernannt. Auch George W. Bush geniesst über alle politischen Parteien hinweg nach wie vor grösstes Ansehen, obwohl er mit seinem 2003 völkerrechtswidrig vom Zaun gerissenen Krieg gegen den Irak über eine halbe Millionen Zivilpersonen in den Tod gerissen hat. Und Barack Obama, US-Präsident von 2009 bis 2017, wurde sogar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, obwohl er die Zahl der Drohnenangriffe gegen mutmassliche Terroristen in Pakistan und Afghanistan gegenüber seinem Vorgänger George W. Bush massiv steigerte, buchstäblich Luftschläge aus heiterem Himmel, welche die Menschen in ständige Angst und Schrecken versetzten und den Tod tausender Zivilpersonen, darunter auch vieler Kinder, zur Folge hatten. Während also die Führer der „freien Welt“, egal wie viele Menschenleben sie auf dem Gewissen haben, gebauchpinselt, gehätschelt und auf goldene Sockel gestellt werden, sieht es für die anderen, die auf der „falschen“ Seite stehen, ganz anders aus: Sowohl der libysche Führer Muammar al-Gaddafi als auch der irakische Präsident Saddam Hussein und der Hauptverdächtige der Terroranschläge vom 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center, Bin Laden, wurden alle wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verfolgt und unter teilweise bis heute ungeklärten Umständen durch mehr oder weniger „offizielle“ Todeskommandos umgebracht. Auch der serbische Präsident Slobodan Milošević war einer der „Bösen“. Er wurde ans Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeliefert, wo er 2006 kurz vor dem Abschluss seines Verfahrens verstarb. Doch nicht nur, dass dies alles so unbeschreiblich ungerecht ist, muss uns zu denken geben. Und nicht nur, dass „Gerechtigkeit“ offensichtlich bloss ein schöneres Wort für das Recht des Stärkeren ist. Nein, zu denken geben muss uns auch, wie klein der Widerstand gegen die Macht der Mächtigen ist, wie kurz das Gedächtnis an Ereignisse, die nur wenige Jahre zurückliegen, wie stromlinienförmig und käuflich die meisten Medien, die sich nur selten an das Hinterfragen der herrschenden Heiligenbilder heranwagen, wie verlogen all die Blumen auf den Gräbern der schlimmsten Übeltäter, statt dass man dort die Namen aller durch ihre Hand zu Tode Gekommener aufschreiben würde…

Ukraine: Die Rückkehr der kalten Krieger und das baldige Ende ihrer Zeit

 

Eine volle Frontseite des „St. Galler Tagblatts“ vom 19. März 2022 nimmt der Leitartikel des Verlegers Peter Wanner zum Ukrainekonflikt ein. Schon der Titel des Artikels sagt alles: „Der Westen muss seine Feigheit überwinden und Putin endlich in die Schranken weisen.“ Der Westen, so Wanner, hätte viel zu lange gezögert und trete zu wenig entschlossen auf. So etwa hätte es viel zu lange gedauert, bis sich Deutschland, dem Wanner eine „naive Ostpolitik“ vorwirft, dazu entschlossen habe, Waffen in die Ukraine zu liefern. Und Joe Biden hätte schon längstens Kampfflugzeuge liefern und eine Flugverbotszone einrichten sollen. Man hätte eine klare rote Linie ziehen sollen und Russland im Falle eines Angriffs auf Kiew mit einem Luftschlag der NATO drohen sollen. Auf die Drohung Putins, Atomwaffen einzusetzen, hätte der Westen mit einer Gegendrohung antworten müssen. Denn wer Angst vor einer atomaren Drohung habe, der habe schon verloren. Schliesslich hätte man die in Polen stationierten MiG-29-Kampfjets ohne Aufhebens „still und heimlich“ in die Ukraine liefern sollen. Noch schlimmer sei die zu wenig konsequente Haltung beim wirtschaftlichen Embargo. Alles müsse unternommen werden, um die russische Wirtschaft „in den Abgrund zu ziehen“. Die kalten Krieger von früher und heute werden sich über Wanners Ausführungen freuen. Da ist endlich einer, der Klartext spricht. Der sich über Empfindlichkeiten, Rücksichtnahme und Ängste entschlossen hinwegsetzt und am liebsten allen Pazifisten, Träumerinnen und Naivlingen ganz gehörig die Leviten lesen würde. Doch gottseidank ist Wanner nur ein Schreiberling. Würde man nämlich seine Ideen in die Tat umsetzen, wären wir zweifellos schon mitten im dritten Weltkrieg. Dass die NATO und die westlichen Führer genau das nicht getan haben, was Wanner fordert, das hat uns bisher vom Allerschlimmsten bewahrt. Die tatsächlichen Naivlinge sind nämlich nicht die, welche immer noch an eine friedliche Lösung dieses Konflikts glauben, sondern Leute wie Wanner, die trotz aller gegenteiliger historischer Erfahrungen immer noch glauben, Krieg sei durch Krieg, Gewalt durch Gewalt zu überwinden. Realistisch gesehen gibt es nämlich nur vier Szenarien. Das erste: Russland „gewinnt“ diesen Krieg. Eine verheerende Aussicht, könnte dies doch bedeuten, dass Russland weitere „Beutezüge“ wie etwa die Eroberung der baltischen Staaten in Erwägung ziehen könnte. Das zweite Szenario: Die Ukraine „gewinnt“ diesen Krieg. Der Preis, der dafür an Opfern und an Zerstörungen bezahlt werden müsste, wäre gigantisch. Und wie würde Russland auf eine solche Schmach reagieren? Wäre das der Moment, in dem in letzter Verzweiflung die Atombombe zum Einsatz käme? Das dritte Szenario: Weder Russland noch die Ukraine „gewinnen“ den Krieg, verkeilen sich gegenseitig in sinnlosem Blutvergiessen und sinnloser Zerstörung und was dereinst ein blühendes Land war, wäre nur noch ein apokalyptischer, beinahe menschenleerer Trümmerhaufen. Das vierte Szenario: Russland und die Ukraine einigen sich auf einen Friedensvertrag und beenden diesen Krieg so schnell wie möglich. Gemeinsam bauen sie in gegenseitigem Einvernehmen eine europäische Sicherheitsarchitektur, die ein friedliches Miteinander der europäischen Völker und Staaten garantiert. Das „Friedensszenario“ ist das einzige vernünftige. Statt des Rückfalls in den kalten Krieg und in eine weltweit immer mehr um sich greifende Kriegsrhetorik müssten hier und heute weltweit Millionen und Abermillionen von Menschen ihre Stimmen erheben und nicht nur ein Ende des Ukrainekonflikts fordern, sondern ein Ende aller Waffen, Armeen und Kriege. Wir waren noch nie so nahe daran, uns und das ganze Leben auf diesem Planeten auszulöschen. Aber vielleicht waren wir, angesichts dieser Bedrohung, auch noch nie so nahe daran, in ein neues Zeitalter aufzubrechen, in ein Zeitalter des Friedens und der Liebe über alle Grenzen hinweg. „Entweder“, sagte der frühere US-Präsident John F. Kennedy, „setzt die Menschheit dem Krieg ein Ende, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.“

„Dass der Westen in Bezug auf die Ukrainekrise nicht von erheblicher Mitschuld freigesprochen werden kann“

 

Es mag – angesichts des verheerenden, verbrecherischen russischen Feldzugs in der Ukraine – vermessen klingen: Aber versuchen wir uns doch trotz allem für einen Moment in die Sichtweise Russlands bzw. Wladimir Putins zu versetzen. Nicht um irgendetwas zu beschönigen oder zu rechtfertigen, sondern einzig und allein darum, um aus der Geschichte zu lernen und gemachte Fehler nicht stets wieder von Neuem zu wiederholen. Ich zitiere im Folgenden zwei unverfängliche Quellen, einen Autor und eine Autorin, die Putin gegenüber gewiss kritisch eingestellt und nicht einfach blindlings „russlandfreundlich“ ausgerichtet sind. Der eine ist der langjährige ARD-Korrespondent Fritz Pleitgen. In seinem Buch „Frieden oder Krieg“ schreibt er, dass in Bezug auf die Ukrainekrise der Westen nicht von erheblicher Mitschuld freigesprochen werden könne: „Historiker künftiger Generationen werden, so fürchte ich, mit wissenschaftlicher Kühle feststellen, dass Europas schwerste Ost-West-Krise seit dem Zweiten Weltkrieg durch die Entscheidung der Europäischen Union ausgelöst wurde, die Ukraine mit einem Assoziierungsabkommen auf die Seite des Westens zu ziehen.“ Diese Assoziierung hätte mit elementaren Interessen von Russland kollidiert, das mit der Ukraine sowohl aufgrund historischer Wurzeln wie auch wirtschaftlich aufs Engste verbunden sei: „Über 50 Prozent des Exports ukrainischer Güter ging nach Russland. Hunderte Unternehmen arbeiteten für beide Seiten. Millionen russisch-ukrainischer Mischehen vertieften die Beziehungen zwischen beiden Ländern.“ Um einen solchen Organismus zu zerlegen, so Pleitgen, hätte es eines ausserordentlichen politischen Fingerspitzengefühls bedurft. Dieses Fingerspitzengefühl aber habe der Westen nicht aufgebracht: „Russland wurde behandelt wie ein missgünstiger Störefried. Brüssel scherte sich weder um die russisch-ukrainische Geschichte noch um die die wirtschaftlichen und familiären Verflechtungen der Gegenwart. Die EU-Bindung der Ukraine hätte in ein europäisches Abkommen eingebettet werden müssen, das Russland in eine Sicherheits- und Wirtschaftspartnerschaft mit der Europäischen Union eingebunden hätte.“ Die andere Stimme ist jene von Catherine Belton, Journalistin und Moskauer Korrespondentin der „Financial Times“ von 2006 bis 2013. In einem Interview mit der „Sonntagszeitung“ vom 20. März 2022 sagt Belton, Putin hätte sich, ob zu Recht oder nicht, durch den Einfluss des Westens und vor allem der USA auf die Ukraine bedroht gefühlt. Obwohl der NATO-Beitritt der Ukraine noch nicht spruchreif gewesen sei, hätte das westliche Verteidigungsbündnis bereits die ukrainische Armee vor Ort trainiert. Westliche Waffen wären ins Land geströmt und die ukrainische Armee sei auf NATO-Standards umgestellt worden. Rückblickend auf das Ende des Kalten Kriegs und des Zusammenbruchs der Sowjetunion sagt Belton: „Jetzt herrschte im Westen Euphorie. Man glaubte, dass den Russen gar nichts anderes mehr übrig blieb als sich anzupassen und sich in eine vom Westen geführte Welt zu integrieren.“ Belton erinnert daran, dass Putin nach seinem Amtsantritt im Jahre 2000 dem Westen die Hand ausgestreckt und eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur vorgeschlagen hatte. Sie sagt: „Vielleicht wären die Dinge anders verlaufen, wenn der Westen auf Putins Annäherungsversuche eingestiegen wäre.“ Belton erwähnt zudem, dass Putin nach 9/11 den USA angeboten hatte, Zentralasien für Operationen in Afghanistan zu nutzen: „Und was bekam er im Gegenzug? Die USA zogen sich 2001 einseitig aus dem Vertrag über ballistische Raketen zurück. Das machte es dem Westen möglich, Raketenabwehrschilde an den Grenzen Russlands zu errichten. Und die NATO hat gleichzeitig ihre Expansion nach Osten unbeirrt fortgesetzt.“ Putin hätte, zu Recht oder zu Unrecht, geglaubt, dass die USA dies alles absichtlich getan hätten, um sein Land einzukreisen und zu schwächen.. „Man behandelte Putin“, so Belton, „als hätte er nie eine Bedeutung gehabt.“ Wer hier und heute die Bilder aus zerbombten ukrainischen Städten und der millionenfach fliehenden Frauen und Kinder sieht, hat begreiflicherweise für die Seite Russlands wenig Verständnis. Wenn aber namhafte westliche Journalisten und Publizistinnen zum Schluss kommen, dass der Westen nicht von erheblicher Mitschuld freigesprochen werden könne und die Dinge möglicherweise anders verlaufen wären, wenn der Westen die Sicherheitsinteressen Russlands Ernst genommen und die entgegengestreckte Hand Putins ergriffen hätte, dann muss das doch sehr zu denken geben. Freilich eine höchst unbequeme Tatsache, wenn wir uns eingestehen müssten, dass die westliche Politik nach dem Ende des Kalten Kriegs mitschuldig wäre an all dem, was heute der Ukraine widerfährt. Und doch können wir vor all dem nicht einfach die Augen verschliessen und so tun, als hätten wir mit alledem nichts zu tun. „In der Menschheitsgeschichte“, so der bekannte US-Historiker George Kennan, „führt ein Ding zum anderen. Jeder Fehler ist das Produkt vorheriger Fehler.“ Wir können nur hoffen, dass wir nicht immer und immer wieder die gleichen Fehler machen, sondern endlich den Weg finden aus dem Teufelskreis von Gewalt und Krieg, hin zu Gewaltlosigkeit, Völkerverständigung und Frieden über alle Grenzen hinweg.

Ukraine: Höchste Zeit, dem sinnlosen Blutvergiessen ein Ende zu bereiten

 

Es ist noch nicht lange her, da hiess es, Frieden in der Ukraine sei nur mit Russland, nicht aber gegen Russland möglich. Ebenfalls ist es nicht lange her, da wurde auch in der Schweiz über die Frage, ob man die Neutralität aufgeben und sich den EU-Sanktionen gegen Russland anschliessen wolle, noch durchaus kontrovers diskutiert – selbst Bundesrat Guy Parmelin sprach sich gegen die Ergreifung solcher Sanktionen aus. Und jetzt das: Mehrere tausend Menschen haben sich zu einer Kundgebung auf dem Berner Bundesplatz eingefunden, überall wehen ukrainische Fahnen, per Videoübertragung ist der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski zugeschaltet und ruft zum „Kampf gegen das Böse“ auf. Schliesslich tritt sogar Bundespräsident Ignazio Cassis ans Rednerpult und lobt den „Kampfeswillen“ Selenskis und des ukrainischen Volks. Die allgemeine Euphorie scheint selbst auf den Tagesschausprecher überzuschwappen: Die von Cassis an Selenski in Englisch übermittelte Unterstützungsbotschaft wird vom Tagesschausprecher in der „Du-Form“ übersetzt, ganz so, als handle es sich bei Selenski und Cassis um alte Kumpanen, die sich schon lange kennen würden. Gewiss, die Empörung und die Wut über den so zerstörerischen, verheerenden und durch nichts zu rechtfertigenden Krieg gegen die Ukraine ist nur allzu verständlich. Jetzt aber ausschliesslich mehr militärische Unterstützung und noch schärfere Wirtschaftssanktionen zu fordern, um den Gegner besiegen zu können, erscheint mir doch definitiv der falsche Weg zu sein. Kriege kennen keine Sieger, nur Verlierer. Jeder Tag, an dem weitergekämpft wird und weitere Menschen sterben, egal ob es sich dabei um ukrainische Kinder oder russische Soldaten handelt, ist ein Tag zu viel. Nichts führt an einer Friedenslösung vorbei, so schnell wie möglich. Und eine solche kann es nur geben, wenn beide Seiten von ihren Extrempositionen abrücken. Mit dem unlängst von Russland vorgelegten 15-Punkte-Plan, dessen wichtigste Elemente der neutrale Status der Ukraine ohne NATO-Beitritt und der Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine sind, liegt ein solcher Kompromissvorschlag auf dem Tisch. Ebenfalls vor wenigen Tagen haben ukrainische und russische Ärztinnen und Ärzte gemeinsam einen dringenden Appell für eine umfassende Friedenslösung ausgerufen. Was hält die ukrainische Führung davon ab, sich auf solche Ansätze zur Beendigung des Krieges ernsthaft einzulassen? „Selbst der ungerechteste Frieden“, sagte der römische Philosoph Cicero vor über 2000 Jahren, „ist immer noch besser als der gerechteste Krieg.“ Hoffen wir, dass die militärischen und politischen Führer auf beiden Seiten rechtzeitig zur Vernunft kommen, denn alles andere bedeutet nichts anderes als eine endlose Verlängerung unermesslichen Leids, sinnlosen Blutvergiessens und blindwütiger Zerstörung.

Wir stehen heute nicht am Scheideweg zwischen einem Sieg der Ukraine oder einem Sieg Russlands – wir stehen am Scheideweg zwischen Krieg oder Frieden

 

Mehr als 7000 russische Soldaten, so die „New York Times“, könnten im Ukrainekrieg bereits gefallen sein. Ukrainische Quellen sprechen sogar von 13’500 Toten. In knapp drei Wochen hätte Russland somit mehr Soldaten verloren als die USA in den 20 Jahren Irak- und Afghanistankrieg zusammen. Dazu kommen erst noch, je nach Schätzung, 14’000 bis 21’000 Verwundete. Doch sagen alle diese Zahlen rein gar nichts aus über das unermessliche Leiden, das sich dahinter verbirgt: siebzehn- und achtzehnjährige Wehrpflichtige, kaum richtig ausgebildet, in einen Krieg geschickt, von dem ihnen eingetrichtert worden war, es handle sich bloss um ein Manöver, eingequetscht in viel zu enge Panzerkabinen, tagelang ohne Nachschub an Essen und Treibstoff, quälender Kälte ausgesetzt, traumatisiert durch die allesdurchdringenden Schmerzensschreie zu Tode getroffener Leidensgenossen, in ständiger Angst vor ihren Vorgesetzten, welche schärfste Sanktionen ergreifen würden, sollte nur ja einer auf die Idee kommen, dieser Hölle durch eine Flucht über die Frontlinie zu entrinnen. Und für jeden der Gefallenen und Verwundeten eine ganze Familie irgendwo im fernen Moskau, in Wladiwostok oder Nowosibirsk, Eltern, Grosseltern, Frau und Kinder, die vor lauter Angst um den geliebten Vater nicht mehr schlafen können und sich selber infolge der Sanktionen des Westens immer öfters auch das Lebensnotwendigste nicht mehr leisten können. Nicht nur die Ukrainerinnen und Ukrainer, auch die russische Bevölkerung und ganz besonders die russischen Soldaten leiden in diesem sinnlosen, verbrecherischen Krieg unermesslich. Der Unterschied ist nur: Das Leiden der Ukrainerinnen und Ukrainer hat in der westlichen Öffentlichkeit, in den Zeitungen, am Fernsehen und in den sozialen Medien ein Gesicht. Die Russinnen und Russen dagegen leiden unsichtbar. Denn sie sind ja, aus der Sicht des Westens, die „Bösen“ – egal ob es sich um Putin, um die russischen Soldaten, um die russische Bevölkerung oder um russische Künstlerinnen und Künstler handelt, welche von westlichen Theater- und Konzerthäusern boykottiert werden. Eine gefährliche Schieflage, die – angeheizt durch den ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenski in seinen Videobotschaften an das amerikanische und das deutsche Parlament – immer mehr auf den Kampf zwischen dem „Guten“ und dem „Bösen“ hinausläuft, immer stärker von Kriegs- und Durchhalteparolen bestimmt wird und immer weniger von der Suche nach einer gemeinsamen Friedenslösung. Im Gegenteil: Wer immer noch für Verständigung und für Kompromisse eintritt, wird schon fast als ewiggestriger Träumer belächelt. Dabei ist nichts so naiv wie die Vorstellung, man könne einen Krieg gewinnen, indem man seinen Feind vernichtet, selbst auf die Gefahr hin, damit einen Weltkrieg auszulösen. Das einzig wirklich Realistische und Vernünftige ist, sich auszusöhnen und sich gegenseitig die Hände zu reichen. Drei Berichte, auf die ich – fernab vom kriegerischen medialen Mainstream – gestossen bin, geben mir trotz allem Hoffnung. Der erste: Seitens der russischen Regierung liegt mittlerweile ein 15-Punkte-Plan zu einer Friedenslösung mit der Ukraine vor. Die wichtigsten Elemente: Die Ukraine gibt ihre Ambitionen auf, der NATO beizutreten; die Ukraine verzichtet auf ausländische Militärbasen im Land; die Ukraine soll eine eigene Armee behalten; Staaten wie die USA, Grossbritannien und die Türkei sollen zusätzlich die ukrainische Sicherheit garantieren; die russischen Truppen ziehen sich aus der Ukraine zurück. Was ist an diesem Plan so ungeheuerlich? Weshalb hetzt Selenski die NATO-Staaten gegen Russland auf, statt sich ernsthaft auf den Vorschlag Russlands einzulassen? Offenbar hat die ukrainische Regierung zu wenige überzeugende Gegenargumente, steht dem Plan aber skeptisch gegenüber, weil man den Russen „nicht trauen“ könne. Wer aber so denkt, verunmöglicht a priori jede Friedenslösung und müsste dann eigentlich konsequenterweise schon gar keine Friedensverhandlungen führen, denn jeglicher Versuch einer Verständigung ist ohne eine gegenseitige Vertrauensbasis zum Vornherein zum Scheitern verurteilt. Der zweite Bericht, ebenfalls fernab von medialem Scheinwerferlicht: Am 17. März 2022 erliessen ukrainische und russische Ärztinnen und Ärzte einen gemeinsamen Friedensappell. Er lautet wie folgt: „Wir rufen die Verantwortlichen der Konfliktparteien und der USA dazu auf, alles daran zu setzen, konstruktive und effektive Verhandlungen zur Wiederherstellung des Friedens in der Ukraine zu beschleunigen, um die Menschenleben in der Ukraine und Russland zu retten.“ Der dritte Bericht betrifft die 28jährige russische Cellistin Anastasia Kobekina. Sie war von der Kartause Ittigen im schweizerischen Thurgau aus politischen Gründen ausgeladen worden, obwohl sie sich dezidiert gegen den Einmarsch Russlands in die Ukraine ausgesprochen hatte. Die Entrüstung über die Absage des Konzerts war aber in der Kulturszene so gross, dass gleich zwei Veranstalter in die Bresche springen wollten, um dennoch ein Konzert mit Anastasia Kobekina zu ermöglichen. In wenigen Tagen wird das Konzert nun stattfinden und als Zeichen der Aussöhnung wird Kobekina zusammen mit einem Geiger aus der Ukraine auftreten und nebst anderen auch ukrainische Werke interpretieren. Wir stehen heute nicht am Scheideweg zwischen einem Sieg der Ukraine oder einem Sieg Russlands. Wir stehen am Scheideweg zwischen Krieg oder Frieden. Wie dieser ausgehen wird, dazu können wir alle etwas beitragen, sowohl die Politiker und Politikerinnen, wie auch die Medien und wie auch jede Einzelne und jeder Einzelne von uns. 

Ohne Aufklärung und Selbstkritik gibt es keine nachhaltige, dauerhafte Friedenslösung

 

„Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion“, so der deutsche Historiker und Osteuropaexperte Karl Schlögel im „Tagesanzeiger“ vom 17. März 2022, „gab es eine Zeit der Offenheit. Verhängnisvollerweise hat das Regime Putin diese Suchbewegung abgebrochen und blockiert. Putin verkörpert eine Politik, die nicht fähig ist, einen Ausweg aus dem Grossmachtstreben zu finden. Putin stemmt sich gegen den Lauf der Geschichte.“ Von einem Historiker und Osteuropaexperten hätte ich eigentlich eine etwas differenziertere Betrachtungsweise erwartet. Schlögel scheint die Rede Putins vor dem deutschen Reichstag im September 2001, kurz nach seinem Amtsantritt, völlig entgangen zu sein. „In dieser Rede“, so der langjährige ARD-Publizist Fritz Pleitgen, „gab Putin alles, um die Europäische Union für eine faire Partnerschaft mit Russland zu gewinnen. Er erklärte einen stabilen Frieden auf dem europäischen Kontinent zum Hauptziel Russlands und forderte eine Abkehr von den Stereotypen und Klischees des Kalten Kriegs. Und er betonte, ohne eine standfeste Sicherheitsarchitektur sei auf diesem Kontinent kein Klima des Vertrauens und kein einheitliches Grosseuropa zu schaffen.“ Ebenfalls unterschlägt Schlögel die Tatsache, dass trotz dieser russischen Friedensangebote die NATO-Osterweiterung unter Federführung der USA aktiv und gezielt vorangetrieben wurde und dies, obwohl die Administration George Bush sen. dem damaligen Sowjetführer Gorbatschow im Februar 1990 versprochen hatte, die NATO werde „keinen Inch“ nach Osten vorrücken, und der US-Historiker George Kennan 1997 mit folgenden Worten vor einer NATO-Osterweiterung warnte: „Die ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung lenken, die uns nicht gefallen wird.“ Schliesslich erwähnt Schlögel auch mit keinem Wort, dass die jährlichen Militärausgaben der USA zwölf Mal höher sind als jene Russlands. Meine Anmerkungen sollen auf keinen Fall als Rechtfertigung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine dienen. Krieg ist nie und unter keinen Umständen zu rechtfertigen. Trotzdem sollte man sich aber weiterhin, und in einer so angespannten Zeit wie der unseren erst Recht, um die historische Wahrheit bemühen. Von einem glaubwürdigen Historiker erwarte ich Aufklärung, nicht polemische und einseitige Zuspitzungen und Schuldzuweisungen. Aufklärung aber beinhaltet immer auch Selbstkritik. Erst wenn wir erkennen, dass der Westen an der heutigen weltpolitischen Entwicklung nicht gänzlich unschuldig ist, werden wir in der Lage sein, eine Friedensordnung aufzubauen, die nachhaltig und dauerhaft Bestand haben wird.

Schweizerische Flüchtlingspolitik: Der Rassismus in unseren Köpfen

 

„Lieber Ukrainer als Afghanen“ – so titelt das „Tagblatt“ am 16. März 2022. Während in der Schweiz Ukrainerinnen und Ukrainer mit offenen Armen empfangen und von der Bevölkerung bereits 55’000 Privatbetten zur Unterbringung der Flüchtlinge angeboten worden seien, hätte sich bei der Migrationswelle 2015 aus Eritrea, Afghanistan und Syrien die Gastfreundschaft der Schweiz in engsten Grenzen gehalten. Von der grosszügigen und unkomplizierten Aufnahmepraxis mit dem neuen Status „S“, von dem die ukrainischen Flüchtlinge profitierten, hätten die Flüchtlinge aus dem Süden und aus dem Osten, die an den Grenzen Osteuropas unter katastrophalen Bedingungen auf engstem Raum in Notunterkünften untergebracht seien oder die Nächte im Freien verbringen müssten, nicht einmal zu träumen gewagt. Gemäss Margrit Oswald, emeritierter Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Bern, liege der Grund für diese eklatanten Unterschiede bezüglich Gastfreundschaft und Aufnahmepraxis darin, dass man sich „kulturell und religiös den Ukrainerinnen und Ukrainern näher fühlt als Menschen aus fernen Ländern.“ Die Ukraine sei eben, so Oswald, „Teil der westlichen Wertegemeinschaft“. Auf den ersten Blick ein Argument, das ich nachvollziehen kann, auf den zweiten Blick aber löst der Begriff der „Wertegemeinschaft“ gleich eine Vielzahl von Fragen aus. Denn der Begriff der „Wertegemeinschaft“ beinhaltet doch, bewusst oder unbewusst, dass die Werte der „eigenen“ Gemeinschaft jener anderer Gemeinschaften überlegen seien. Die gleiche Vorstellung schwingt auch mit, wenn wir von mehr oder weniger „entwickelten“ Gesellschaften sprechen. Von hier aus ist es dann nur ein kurzer Weg bis zur Überzeugung, der „Wert“ eines Menschen sei abhängig von seiner nationalen oder ethnischen Herkunft. Gewiss, niemand wird das so sagen, aber die tägliche Erfahrung zeigt, dass solcher „Rassismus“ – Abwertung und Diskriminierung von Menschen oder Volksgruppen gegenüber anderen – immer noch tief in unseren Köpfen steckt. Nur so ist zu erklären, dass die von den USA gegen Afghanistan und den Irak geführten Kriege niemals die gleich hohen medialen Wellen schlugen, wie dies beim Krieg in der Ukraine der Fall ist, obwohl sowohl der Afghanistan- wie auch der Irakkrieg ebenso völkerrechtswidrig waren und gegen eine Million ziviler Opfer forderten. Aber eben, es waren halt „nur“ Irakis und Afghaninnen, die der militärischen Macht und Gewalt zum Opfer fielen. Rassismus steckt tiefer in unseren Köpfen, als uns lieb ist. Wenn wir von marokkanischen Landarbeiterinnen und Landarbeitern hören, die auf spanischen Erdbeerfeldern gnadenlos ausgebeutet werden, dann versetzt uns dies für einen kurzen Moment in Schrecken, aber meistens geht das schnell vorbei, es sind ja „nur“ Marokkanerinnen und Marokkaner – wären es Deutsche oder Schweizerinnen, würde dies einen europaweiten Schrei des Entsetzens auslösen. Auch die zehntausend Kinder, die weltweit täglich vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs infolge Nahrungsmangels sterben, sind ja „nur“ afrikanische, asiatische oder südamerikanische Kinder. Auch die Opfer der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki waren „nur“ Japanerinnen und Japaner. Und auch auf den Plantagen und in den Bergwerken Amerikas wurden über 300 Jahre lang „nur“ Afrikanerinnen und Afrikaner zu unmenschlichster, tödlicher Arbeit gezwungen. Wenn wir von „Wertegemeinschaft“ sprechen, dann müssen wir sehr genau, sehr differenziert und sehr selbstkritisch jegliches „Wertedenken“ und jegliche Form von Rassismus, der sich damit verbindet, hinterfragen. Ja, es gibt unterschiedliche Kulturen, Sprachen, Ethnien, Religionen, Nationalitäten, Denkweisen. Die Werte der Menschlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit, der Toleranz und des Friedens aber sind universell. Die einzige „Wertegemeinschaft“, die wirklich zählt, ist die Wertegemeinschaft aller Menschen über alle Grenzen hinweg. Sie ist erst dann an ihrem Ziel angelangt, wenn weltweit ein gutes Leben für alle heute und in Zukunft lebenden Menschen auf diesem Planeten Wirklichkeit geworden ist.

NATO-Osterweiterung: „Der Westen nützte die Schwäche Russlands schamlos aus.“

 

Die offizielle westliche Sicht auf die NATO-Osterweiterung besagt, dass diese, erstens, zu keinem Zeitpunkt eine Bedrohung für Russland bedeutet hat und dass es, zweitens, das Recht eines jeden souveränen Staates sei, selber zu entscheiden, welchem Militärbündnis er angehören wolle. Dieser These widerspricht der langjährige ARD-Korrespondent Fritz Pleitgen in seinem Buch „Friede oder Krieg“. „Nach dem Ende des Kalten Kriegs“, schreibt Pleitgen, „machte sich in der US-Rüstungsindustrie die Erkenntnis breit, dass mit dem Ende der Sowjetunion ein Feind abhanden gekommen war, dem die Waffenhersteller viele schöne, vor allem aber gewinnbringende Aufträge verdankten.“ Diese „böse Entdeckung“ hätte eine machtvolle Gruppe auf den Plan gerufen, einen militärisch-industriellen Komplex, der schon vom früheren US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower als „Gefahr für die Demokratie“ beschrieben worden sei. Die Vertreter dieses militärisch-industriellen Komplexes hätten in den Staaten Ost- und Mitteleuropas einen „vielversprechenden neuen Markt“ gefunden. Rasch hätten die Firmen der amerikanischen Rüstungsindustrie Kontakte zu den potenziellen NATO-Beitrittskandidaten geknüpft und in deren Hauptstädten Büros eingerichtet. Ein weiterer wichtiger Schritt seien die US-Präsidentschaftswahlen Ende 1996 gewesen: „Um die Stimmen der Einwanderer aus Mittel- und Osteuropa für sich zu gewinnen, versprach Bill Clinton in seinem Wahlkampf die Aufnahme der nunmehr unabhängigen Staaten der früheren Sowjetunion in die NATO. Als er schliesslich die NATO-Osterweiterung als Marshall-Plan für Ost- und Mitteleuropa beschrieb, gab es kein Halten mehr, die Kandidaten für den NATO-Beitritt standen Schlange.“ All dies, so Pleitgen, hätte in schärfstem Kontrast gestanden zu dem im Februar 1990 von der Administration George Bush sen. gegenüber Michael Gorbatschow abgegebenen Versprechen, wonach die NATO „keinen Inch“ in Richtung Osten erweitert werden sollte, ein Versprechen, das später auch von US-Aussenminister James Baker ausdrücklich bekräftigt worden sei. Auf erhebliches Unverständnis sei das Konzept der NATO-Osterweiterung auch beim amerikanischen Diplomaten, Historiker und Publizisten George Kennan gestossen, der in diesem Zusammenhang von einem „verhängnisvollen Fehler der amerikanischen Politik“ gesprochen und davor gewarnt habe, dass diese Entscheidung die russische Aussenpolitik in eine Richtung drängen könnte, die sich früher oder später als grossen Schaden für die amerikanische Sicherheitspolitik erweisen könnte. „In seiner wirtschaftlich desolaten Lage“, so Pleitgen, „hatte Russland gegen den Expansionskurs der NATO keine Chance. Entsprechend matt fiel der Widerstand aus. Der Westen nützte die Schwäche Russlands rigoros aus. Russische Sicherheitsinteressen fanden keine Beachtung. 1999 wurden Lettland, Litauen und Polen von der NATO aufgenommen, wenige Jahre später wechselten sieben weitere Länder des ehemaligen Sowjetimperiums in das Atlantische Bündnis.“ Auch ein Brief von 40 führenden amerikanischen Politikerinnen und Politikern an Präsident Clinton, in dem das Vorrücken des Westens bis an die Grenzen Russlands als historischer Fehler bezeichnet worden sei, hätte diese Entwicklung nicht mehr aufzuhalten vermocht. Pleitgen verweist in seinem Buch auch auf das Beispiel Finnlands, welches eine der längsten Grenzen zu Russland hat, ein neutraler Staat geblieben ist und gut nachbarliche Beziehungen sowohl zum Westen wie auch zu Russland pflegt. „Man muss sich fragen“, so Pleitgen, „warum sich die politischen Führer des Westens kein Beispiel an Finnland nehmen.“ Alle diese bedenkenswerten Ausführungen des langjährigen ARD-Korrespondenten Fritz Pleitgen dürfen selbstverständlich niemals und auch nur im Entferntesten als Rechtfertigung für den russischen Einmarsch in die Ukraine dienen. Aber sie können uns helfen, uns einen etwas differenzierteren Blick auf die Realität zu verschaffen in einer Zeit, da es nur noch Schwarz oder Weiss, nur noch Gut oder Böse zu geben scheint und rein gar nichts mehr dazwischen.

Schweizer Banker als Soldaten der Ukraine?

 

„Der russische Präsident Putin“, so der amerikanische Publizist und Pulitzer-Preisträger Tim Weiner im „Tagesanzeiger“ vom 14. März 2022, „setzt sehr geschickt Fehlinformationen und Täuschungen ein. Washington versucht deshalb, den Meister der Informationskriegsführung mit dessen Waffen zu schlagen. Die US-Regierung und die Geheimdienste haben dafür einen Präventivschlag geführt gegen Putins potente Propaganda. Jetzt steht Putin nackt da vor der Welt. Das ermöglicht einen wirksamen Wirtschaftskrieg. Unserer neuen, starken Koalition gehören nun sogar auch die Schweizer Banker an und werden Soldaten in diesem Wirtschaftskrieg.“ Weiter führt Weiner aus, dass die CIA im amerikanischen Bundesstaat North Carolina einen Stützpunkt habe, wo seit 2015 kleine Gruppen von Ukrainern für paramilitärische Operationen ausgebildet würden. In der Ukraine selber helfe ausserdem die National Security Agency (NSA), elektronische Abhörmassnahmen durchzuführen. Die NSA setze zu diesem Zweck ein neues, hochmodernes Spionageflugzeug ein, das alle Arten von Nachrichtendienst- und Aufklärungssensoren an Bord habe… Informationskrieg, Präventivschlag, Wirtschaftskrieg, Schweizer Banker als Soldaten der Ukraine, paramilitärische Operationen – ein Vokabular, das hellhörig macht und ein grelles Schlaglicht darauf wirft, wie eben nicht nur von russischer, sondern auch von westlicher Seite zunehmend eine Kriegslogik und eine Kriegsrhetorik die Oberhand zu gewinnen scheinen, die das allgemeine Denken immer mehr in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken droht. Dass man nur schon auf die Idee kommt, Schweizer Banker als „Soldaten der Ukraine“ zu bezeichnen, verdeutlicht, wie sehr hier schon alles einem Freund-Feind-Denken untergeordnet wird, das jegliche Gedanken an eine mögliche Friedenslösung in weite Ferne zu rücken scheint. Auch der Begriff “ Informationskrieg“ lässt nichts Gutes erahnen und erinnert unwillkürlich an die „Brutkastenlüge“, die den USA als Vorwand dienten, um den Irak 1991 militärisch anzugreifen: Irakische Soldaten hätten bei der Invasion Kuwaits im August 1990 kuwaitische Frühgeborene getötet, indem sie diese aus ihren Brutkästen gerissen und auf dem Boden hätten sterben lassen. Erst nach der US-geführten militärischen Intervention zur „Befreiung“ Kuwaits stellte sich die Geschichte als reine Erfindung der amerikanischen PR-Agentur Hill & Knowlton heraus. Die Vermutung liegt nahe, dass die CIA auch heute noch mit vergleichbaren PR-Agenturen zusammenarbeitet, geht es doch, wie Weiner explizit sagt, darum, den Gegner mit seinen eigenen Waffen – sprich Kriegspropaganda, Manipulationen und Falschinformationen – zu schlagen. Nun mag man einwenden, der eigentliche Aggressor sei unzweifelhaft Putin und alle gegen ihn ergriffenen Massnahmen, Operationen und Sanktionen seien bloss berechtigte Mittel zur Selbstverteidigung der Ukraine bzw. des Westens. Nur bedeutet dies letztlich eine Kapitulation vor jener Kriegslogik, die nur immer alles noch schlimmer macht, je mehr sie von beiden Seiten auf die Spitze getrieben wird. Egal ob auf der einen Seite russisches Machtgebaren, auf der anderen Seite die von Russland als bedrohlich empfundene NATO-Osterweiterung und dazwischen die Ukraine als Zankapfel globaler Machtpolitik: Es müssten doch all jene Mittel, all jene Energie, all jene Zeit, die für den Krieg, für Wirtschaftssanktionen und für gegenseitige Desinformationskampagnen verschleudert werden, in den Abbau gegenseitiger Ängste und Feindbilder und in den Aufbau einer gemeinsamen Friedenslösung investiert werden. „Entweder werden wir gemeinsam als Brüder und Schwestern überleben“, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „oder wir werden als Narren miteinander untergehen.“