Von der Friedensdemo bis zum Klimastreik: Alles hängt mit allem zusammen…

 

Friedensdemonstration in Bern am 12. März 2022, rund 5000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Mitten in der Menge ein etwa neunjähriger Bub, mit einem selbergebastelten Pappschild, darauf gekritzelt in ungelenker Schrift KEIN KRIEG, ein Flugzeug dick und rot durchgestrichen und mittendrin das Friedenszeichen. Auch heute, einen Tag später, haben erneut viele Zehntausende europaweit für den Frieden und ein Ende des Krieges in der Ukraine demonstriert, Zehntausende wie der kleine Bub mit seinem Pappschild, winzige Tropfen, von denen jeder einzelne beinahe unsichtbar wäre, die aber alle zusammen den Beginn eines Flusses bilden könnten, der sich eines Tages nicht mehr aufhalten lassen würde. Und das ist noch längst nicht alles. Schon bald werden wir von Neuem auf die Strasse gehen, gegen Umweltzerstörung, Klimawandel und die sinnlose Verschwendung all jener Ressourcen, ohne die ein Weiterleben auf diesem Planeten früher oder später in Frage gestellt wird. Und ganz bestimmt wird es auch wieder Demonstrationen geben gegen den Rassismus, für die Gleichberechtigung der Frauen, gegen die politische Verfolgung Andersdenkender, für eine gerechte Verteilung der Nahrungsmittel, gegen Hunger, Armut, unmenschliche Arbeitsbedingungen und Kinderarbeit. Noch scheinen diese verschiedenen Bewegungen und ihre Aktionen nichts miteinander zu tun zu haben, tatsächlich aber hängt alles mit allem zusammen. Der zentrale Begriff, auf den sich alles zurückführen lässt, ist die Liebe. Die Liebe als Urform zwischen allem Lebendigen, die Liebe, die Tag für Tag millionenfach verletzt wird, egal, ob es sich dabei um den Kriegstreiber handelt, der seine Soldatinnen und Soldaten aufs Schlachtfeld schickt und zahllose Kinder, Frauen und Männer unvorstellbaren Ängsten, Schmerzen und Leiden preisgibt. Oder ob es sich um Profiteure und Spekulanten von Rohstoff- und Nahrungsmittelkonzernen handelt, welche verantwortlich sind für den täglichen Tod Zehntausender Hungerleidender in den ärmsten Ländern der Erde. Oder ob es sich um Politiker und Politikerinnen handelt, die unbeirrt am jetzigen Wirtschaftssystem festhalten, obwohl längst erwiesen ist, dass unbegrenztes Wachstum auf einer Erde begrenzter Ressourcen schlicht und einfach keine Zukunft hat. Ich wage zu behaupten, dass der Augenblick, in dem sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass dies alles mit allem zusammenhängt, der Anfang einer Revolution sein könnte. Einer Revolution freilich, die ganz anders wäre als alle Revolutionen der Vergangenheit, in denen stets neue Gewalt an die Stelle der vorangegangenen getreten ist. Einer Revolution der Liebe, denn nur sie vermag die so lange und leidvolle Geschichte von Gewalt und Gegengewalt dauerhaft auf den Kopf zu stellen. Skeptiker und Skeptikerinnen mögen einwenden, solche Visionen wären naiv, blauäugig und hätten mit der harten Wirklichkeit und dem angeborenen Egoismus der Menschen nichts zu tun. Dem wäre zu entgegnen, dass die so genannte „Wirklichkeit“ nicht einfach etwas Gottgegebenes ist, sondern etwas, was wir von Tag zu Tag mit unseren Händen und unserem Herzen immer wieder neu gestalten können. „Der Mensch ist gut und will das Gute“, sagte schon vor 250 Jahren der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi, „und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“ Auch im bekannten Lied „Schrei nach Liebe“ der deutschen Band „Die Ärzte“ heisst es, an die Adresse rechtsextremer Gewalt: „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe.“ Was für eine Hoffnung! In allem noch so „Bösen“ steckt immer ein Kern von Liebe, den es zu entdecken und zu sich selber befreien gilt. Aber selbst wenn das alles nicht so wäre: Wer und was soll uns denn davon abhalten, es nicht wenigstens versucht zu haben? Das Einzige, was an den herrschenden Verhältnissen definitiv nichts zu ändern vermag, sind Untätigkeit und Resignation. Tun wir alle doch wenigstens das kleine Bisschen, was in unserer Macht steht. Und sei es bloss dem neunjährigen Bub mit seinem selbergebastelten Pappschild an der Friedensdemo vom 12. März in Bern zuliebe…

Ukraine: Vision einer Welt ohne Waffen, Armeen und Kriege dringender und aktueller denn je

 

„Wenn die linke Wunschwelt mit der Realität des Kriegs kollidiert“ – so der Titel eines Kommentars von Thomas Isler in der „NZZ am Sonntag“ vom 13. März 2022. Und weiter: „Die Linke neigt stets dazu, das Reale zu unterschätzen. Leitlinie ihrer Politik ist nicht der skeptische Pragmatismus, sondern stets die kühne Utopie, ungeachtet jeder Machbarkeit.“ Die SP Schweiz wird von Isler mit ihrer deutschen Schwesterpartei SPD konfrontiert, welche viel vernünftiger sei, die Zeichen der Zeit erkannt, in Waffenlieferungen an die Ukraine eingewilligt und eine 100-Milliarden-Investition in die Bundeswehr angekündigt habe. Immer wieder dieser Vorwurf der Blauäugigkeit, Naivität und Weltfremde. Doch wer ist hier eigentlich blauäugig, naiv und weltfremd? Ist es die Idee einer Welt ohne Waffen, Armeen und Kriege? Oder ist es nicht viel eher die Idee, man könne mit Waffengewalt etwas Gutes und Sinnvolles bewirken für die nachfolgenden Generationen? Ist es nicht so, dass Kriege keine Sieger kennen, sondern stets nur Verlierer? Und ist es nicht so, dass Stimmen gegen Aufrüstung und Krieg angesichts eines drohenden Einsatzes von Atomwaffen, die sehr wohl das Ende menschlicher Zivilisation auf diesem Planeten zur Folge haben könnten, aktueller und dringender sind denn je? Kriegslogik und Kriegstreiberei scheinen indessen immer mehr um sich zu greifen, Andersdenkende drohen an den Rand gedrängt zu werden. „Es ist, als hätte sich die Erde und mit ihr der Mensch innert weniger Stunden um 180 Grad gedreht“, schreibt Peer Teuwsen in der gleichen Ausgabe der „NZZ am Sonntag“, und weiter: „Wir verwandeln uns blitzschnell die Logik des Krieges an, in Wort, Handlung und Denken. Wenn ich ehrlich bin, fehlen mir die richtigen Worte für das, was sich gerade an Ungeheuerlichem in unsere Köpfe frisst.“ Da ist die Grundhaltung einer pazifistisch ausgerichteten Linken dringender nötig denn je. Wenn SP-Copräsidentin Mattea Meyer sagt, in einem Parteiprogramm zeichne man nicht in erster Linie die Realität, sondern eine Wunschwelt, dann ist das nicht ein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen von Stärke. Ins allgemeine Kriegsgeheul einzustimmen, ist einfach und bequem. Die Stimme gegen all das Unfassbare zu erheben, erfordert dagegen viel Mut und Standfestigkeit und ist wichtiger und notwendiger denn ja, denn, wie der frühere US-Präsident John F. Kennedy sagte: „Entweder setzt die Menschheit dem Krieg ein Ende, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.“

Sanktionen wirken wie Naturkatastrophen, sie treffen vor allem die Benachteiligten

 

Werden die vom Westen gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen schon bald ihre Wirkung zeigen und in naher Zukunft zu einem Ende des Kriegs in der Ukraine führen? Vermutlich ist viel eher das Gegenteil zu erwarten. „Autoritäre Staatschefs, deren Länder mit Sanktionen belegt werden“, so die US-Wissenschaftlerin Amanda Licht im deutschen „Handelsblatt“ vom 21. September 2011, „herrschen eher länger als kürzer – die Sanktionen wirken also oft sogar stabilisierend.“ Auch der Politikwissenschaftler Johannes Varwick sieht – gemäss einem Bericht des deutschen „Redaktionsnetzwerks“ vom 7. März 2022 – in den Sanktionen kein geeignetes Mittel, um den Krieg in der Ukraine zu beenden: „Putin wird seine Ziele mit jedem Mittel erreichen und wird sich durch keine Sanktion der Welt davon abbringen lassen.“ Gleicher Meinung ist der „Tagesanzeiger“ vom 12. März 2022: „Wie die historischen Erfahrungen mit den Sanktionen zeigen, verstärken sie in der Regel die Repression im betroffenen Land, zu einem Nachgeben oder einem Regimewechsel kommt es selten.“ Dass dies so ist, lässt sich einfach erklären: Druck erzeugt stets Gegendruck, Gewalt erzeugt Gegengewalt, Aufrüstung auf der einen Seite erzeugt Gegenaufrüstung auf der anderen – weshalb sollen Wirtschaftskriege anderen Mustern folgen als die Kriege auf dem Schlachtfeld? Ein weiterer wichtiger Grund für die Zwecklosigkeit von Wirtschaftssanktionen liegt darin, dass diese nie die Reichen und Mächtigen treffen, sondern stets nur die Armen und Benachteiligten. „Sanktionen“, so der „Tagesanzeiger“ vom 22. Februar 2022, „wirken ähnlich wie gewaltsame Konflikte oder Naturkatastrophen. Sie treffen vor allem die Benachteiligten.“ Das müssten wir eigentlich spätestens seit den von den USA gegen das irakische Regime zwischen 1991 und 1995 verhängten Wirtschaftssanktionen schon längstens wissen: Diesen Wirtschaftssanktionen fielen infolge fehlender Nahrung und medizinischer Versorgung eine halbe Million Kinder zum Opfer, mehr als der Atombombenabwurf von Hiroshima gefordert hatte. Und dies, während der irakische Machthaber Saddam Hussein und seine Entourage gefahrlos überlebten und mit allen Gütern und Luxusartikeln bestens versorgt waren. Und genau gleich ist es auch heute bei den gegen Russland ausgesprochenen Sanktionen: Reiche Russinnen und Russen – so berichtet „20minuten“ am 11. März 2022 – versuchen, einen Teil ihres Reichtums von Europa nach Dubai zu verlagern, um ihr Vermögen vor der Verschärfung der westlichen Sanktionen zu schützen, während gleichzeitig die Menschen in Moskau und anderen russischen Städten im Supermarkt vor beinahe gänzlich leergefegten Regalen stehen. Davon auszugehen, dies würde die Bevölkerung zur Wut gegen Putin anstacheln und zu einem Regierungsumsturz führen, ist naiv. Viel wahrscheinlicher ist das Gegenteil, nämlich, dass sich die Wut der Bevölkerung gegen die westlichen Länder wenden wird, welche die Sanktionen verhängt haben. Fatal ist, dass sich auch die Schweiz den Sanktionen der EU gegen Russland angeschlossen hat, ausgerechnet die Schweiz, die doch stets so vehement auf ihre Eigenständigkeit und Neutralität pocht. Diese „Neutralität“ erweist sich nun endgültig als reine Farce, wäre es doch der Schweiz, im Gegensatz zu den nun ergriffenen Sanktionen gegen Russland, nicht im Traum in den Sinn gekommen, im Jahre 2003 Sanktionen gegen die USA zu ergreifen, welche gegen den Irak ohne Grund und mithilfe von Lügen und falschen Behauptungen einen völkerrechtswidrigen Krieg vom Zaun gerissen hatte, der in der Folge über einer halben Million Zivilpersonen das Leben kosten sollte. Mit den Sanktionen gegen Russland hat die Schweiz die einmalige Chance verpasst, gegenüber der Ukraine und Russland als neutrale Vermittlerin aufzutreten. Nun muss die Schweiz mit ansehen, wie mit der Türkei und Israel zwei Länder in diese Bresche springen, welche bezüglich Menschenrechte alles andere als eine lupenreine Weste tragen. Rolf Weder, Professor für Aussenwirtschaft und Europäische Integration an der Universität Basel, nahm in der Sendung „10vor10“ des Schweizer Fernsehens am 11. März 2022 zu den Sanktionen gegen Russland wie folgt Stellung: „Russland wird damit um Jahrzehnte zurückgeworfen.“ Wieder einmal, wie so oft: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Doch kann dies allen Ernstes unser Ziel sein? Ist das ein Russland, das wir uns wünschen? Geht von einem Russland, das „um Jahrzehnte zurückgeworfen“ wird, nicht eine viel grössere Kriegsgefahr aus als von einem Russland, das dem Westen auf Augenhöhe begegnen kann? Putin hat den Krieg angefangen, zweifellos. Aber wir führen ihn weiter. Durch Wirtschaftssanktionen. Durch den Ausschluss russischer Sportlerinnen und Sportler von internationalen Wettkämpfen. Durch die Absage von Auftritten russischer Künstlerinnen und Künstler auf westlichen Theater- und Konzertbühnen. Dadurch, dass es bereits Restaurants gibt, in denen Russinnen und Russen nicht mehr bedient werden, Spitäler, in denen Russinnen und Russen nicht mehr behandelt werden, und Schulen, in denen Kinder mit russischen Namen ausgelacht und beschimpft werden. Ob der Hass damit kleiner wird? Wohl kaum. Höchste Zeit, die Spirale sich gegenseitig verstärkender Gewalt zu durchbrechen und der Kriegslogik eine Friedenslogik entgegenzusetzen. Denn, wie schon Mahatma Gandhi sagte: Wenn wir uns vom Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ verführen lassen, dann wird alles nur immer noch schlimmer – und am Ende sind wir alle blind.

Ukraine: Das erste Opfer des Krieges ist immer die Wahrheit

 

„Das erste Opfer des Krieges ist immer die Wahrheit“ – diese Aussage des US-Senators Hiran Johnson im Jahre 1914 bewahrheitet sich einmal mehr in der Art und Weise, wie über den seit nunmehr mehr als zwei Wochen wütenden Krieg in der Ukraine berichtet und wie dieser in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Keine Frage: Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist in aller Schärfe, Deutlichkeit und Unmissverständlichkeit zu verurteilen, für Kriege gibt es nie und unter keinen Umständen eine Rechtfertigung. Aber mit der – verständlichen – Wut auf die russische Regierung und insbesondere Wladimir Putin sind wir offensichtlich auf dem anderen Auge völlig blind geworden, es gibt nur noch Schwarz oder Weiss, Gut oder Böse, Freund oder Feind. So „böse“ Wladimir Putin – und in seinem Gefolge schon bald das gesamte russische Volk – wahrgenommen wird, in umso hellerem Licht erstrahlt die Ukraine, als wäre dieses Land ein unbestreitbarer Hort von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten. Tatsache ist, dass – gemäss „Wikipedia“ – seit 1991 das Ukrainische die einzige zugelassene Amtssprache des Landes wie auch die Pflichtsprache in den Schulen ist, obwohl grosse Teile der Bevölkerung immer wieder gefordert haben, Russisch als zweite Amtssprache einzuführen. Neuerdings müssen sogar auch sämtliche Zeitungen des Landes ausschliesslich in Ukrainisch erscheinen – wenn ein Verlag dennoch eine russische Ausgabe veröffentlichen will, muss sie parallel dazu eine ukrainische Auflage publizieren, was in aller Regel nur schon aus finanziellen Gründen gar nicht möglich ist. Und das soll eine vorbildliche Demokratie sein? Kein besseres Licht wirft der Europäische Rechnungshof in einem Bericht vom 23. September 2021 auf die Ukraine: „Grosskorruption und eine Vereinnahmung des Staates durch private Interessen sind in der Ukraine immer noch weit verbreitet.“ So ist es nicht verwunderlich, wenn die Ukraine – gemäss „de.statistica.com“ – in der „Korruptionsweltrangliste“ den Platz 122 von 180 untersuchten Staaten belegt – Platz 1 ist der am wenigsten, Platz 180 der am meisten korrupte Staat. Immer wieder ins Reich der Lügen wird auch der Vorwurf Russlands verbannt, wonach rechtsextreme, nationalsozialistische Kräfte in der ukrainischen Armee eine wichtige Rolle spielten. Tatsache ist, dass – wie der „Spiegel“ berichtet – zahlreiche „Neonazis“ auf der Seite der ukrainischen Streitkräfte kämpfen. Gemeint ist vor allem das rechtsextreme Asow-Regiment der ukrainischen Nationalgarde. Rechtsextreme wie das Asow-Regiment, so die „Weltwoche“, „hoffen, endlich ihren Hass auf russische Untermenschen austoben zu können.“ Eine besonders berüchtigte und wegen ihrer brutalen Foltermethoden gefürchtete Kampftruppe ist – so „watson.ch“ – die tschetschenische Paramiliz „Kadyrowzy“. Einseitige Schuldzuweisungen ranken sich auch um den Donbass und das Minsker Abkommen, in dem sich, durch Deutschland und Frankreich 2014 und 2015 vermittelt, die Konfliktparteien in der Ostukraine zu einer Friedenslösung verpflichteten. Entgegen der Behauptung, nur die Separatisten hätten sich nicht an die Vereinbarungen gehalten, berichtete der „Deutschlandfunk“ am 13. Juli 2016: „Sowohl die Ukraine wie auch die Separatisten halten ihre Zusagen nicht ein und verletzten das Minsker Abkommen wiederholt.“ Dass das erste Opfer des Krieges die Wahrheit ist, hat vor allem auch damit zu tun, dass nebst der Schlacht zwischen Panzern, Flugzeugen, Bodentruppen und Einzelkämpfern eine zweite, ebenso heftige Schlacht tobt, die Propagandaschlacht im Fernsehen und in den sozialen Medien. Eine Schlacht, die in Bezug auf die Meinungsbildung über das Kriegsgeschehen eine eminent wichtige Rolle spielt. Wie sehr dabei mit manipulierten Informationen operiert wird, zeigte ein Beitrag der „Rundschau“ am Schweizer Fernsehen vom 9. März: Angeblichen Kriegsopfern wird künstliches Blut ins Gesicht gestrichen, ein Mann wühlt eine angebliche Landmine aus dem Boden, die tatsächlich eine Kunststoffattrappe ist, und es werden angeblich abgeschossene feindliche Flugzeuge gezeigt, die tatsächlich aus einem Videogame herausgeschnitten wurden. In dieser Sparte, so berichtet die „Rundschau“, habe sogar die ukrainische gegenüber der russischen Propaganda die Oberhand, sei sie doch im Vergleich mit der simplen und hölzernen russischen Propaganda viel professioneller und raffinierter. Unwillkürlich fragt man sich dann sogar, ob das russische Bombardement einer Kinderklinik in Mariupol am 9. März tatsächlich mehrere Kinder und Mitarbeitende getötet hat oder ob, wie der russische Aussenminister Serge Lawrow behauptet, das Spital gar nicht mehr in Betrieb gewesen, sondern vom Bataillon Asow besetzt worden sei, welches zuvor sämtliche schwangere Frauen, Ärzte und Krankenschwestern vertrieben hätte. Aussage gegen Aussage, wem soll man glauben? Normalerweise glauben wir den „guten“ Ukrainern, nicht den „bösen“ Russen. Aber wer garantiert, welche Seite Recht hat und welche nicht? Braucht es nicht gerade in so kriegerischen Zeiten umso mehr eine Abkehr von allzu einseitigem Schwarzweiss- und Freundfeindbilddenken? Das Bemühen, die eigene Sichtweise immer wieder zu hinterfragen? Eine kritische Distanz zu allzu starren Positionen, die nur blind machen für alles, was nicht ins gemachte Bild hineinpasst? Nicht um irgendetwas zu verharmlosen, zu beschönigen oder zu rechtfertigen. Sondern nur, um wieder erste Fäden zu spinnen zwischen dem, was auseinandergerissen worden ist, im Grunde aber zusammengehört. Selbst wenn Wladimir Putin und ein paar Dutzend Oligarchen und selbstherrliche Kriegstreiber in Moskau für diese Fäden unerreichbar sind, so gibt es doch noch viele Millionen Russinnen und Russen, die unter diesem Krieg genauso leiden wie Millionen von Menschen in der Ukraine und all jenen Ländern, die von den Wirtschaftssanktionen existenziell betroffen sind. Das Dümmste, was uns einfallen kann, ist, diese Millionen von Menschen aufzuspalten in „Gute“, für die alle anderen die „Bösen“ sind, und in „Böse“, die von allen „Guten“ verhöhnt, verlacht und verfolgt werden. Selbst in den Zeiten des Krieges, und dann erst Recht, dürfen wir uns niemals zu Feinden unserer selbst machen lassen. Nicht dem „Feind“ dürfen wir keine Chance lassen, sondern dem Hass, der Gewalt und dem Krieg. „Entweder“, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „überleben wir gemeinsam als Brüder und Schwestern, oder wir gehen als Narren miteinander unter.“

Ukrainekonflikt: Auge um Auge, Zahn um Zahn – bis am Ende alle blind sind

 

Während schon vom dritten Weltkrieg die Rede ist, schreibt Anatol Lieven, Russlandforscher bei der US-Denkfabrik Quincy Institute for Responsible Statecraft, im „Guardian“, dass eine diplomatische Lösung des Ukrainekonflikts nach wie vor möglich sei und es durchaus dafür noch Spielraum gäbe. „Der Westen“, so Lieven, „würde moralisch falsch liegen, wenn er sich gegen einen angemessenen Deal wehren würde, mit dem die Invasion und das Leid der ukrainischen Bevölkerung beendet werden könnte.“ In der Tat. So sehr man in aller Deutlichkeit und Schärfe die Invasion Russlands in die Ukraine verurteilen muss, so entschieden müsste man für eine friedliche Verständigung und einen Kompromiss zwischen den beiden Konfliktparteien eintreten. Dass die Maximalforderungen sowohl von der einen wie auch von der anderen Seite – NATO-Beitritt der Ukraine versus Einverleibung der Ukraine in die Russische Föderation – zum Vornherein unvereinbar sind und, solange beide Seiten stur daran festhalten, zu nichts anderem führen als zu einer weiteren, immer gefährlicheren Eskalation des Konflikts, ist sonnenklar. Es gibt keine einzige denkbare Alternative zu einer Friedenslösung, die nur zustande kommen kann, wenn beide Seiten zu einem Kompromiss bereit sind. Denn, so ein Bericht amerikanischer Geheimdienste in der „New York Times“: Wird Putin durch die heftige Reaktion des Westens weiter in die Enge getrieben, könnte er zu bislang undenkbaren Mitteln greifen, um sich aus seiner misslichen Lage zu befreien. Dass Nachgeben ein Zeichen von Schwäche sei, ist ein Irrtum, der über Jahrtausende unermessliches Leiden über die Menschheit gebracht hat. Es ist der uralte alttestamentliche Glaubenssatz, wonach jeder Form von Gewalt mit noch grösserer Gewalt begegnet werden müsse: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ein Glaubenssatz, mit dem schon Jesus gründlich Schluss machte, indem er die Feindesliebe ins Zentrum seiner Lehre stellte. Und auch Mahatma Gandhi verfolgte die Philosophie der Gewaltlosigkeit, indem er das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ad absurdum führte und davor warnte, dass, wenn man ihm folgte, am Ende alle blind seien, sowohl die vermeintlichen „Sieger“ wie auch die vermeintlichen „Gewinner“. Auch der römische Schriftsteller und Philosoph Cicero hatte schon vor über 2000 Jahren gesagt: „Der ungerechteste Frieden ist immer noch besser als der gerechteste Krieg.“ Und der chinesische Philosoph Laotse sagte im 6. Jahrhundert: „Der Weise ist auf Entscheidung aus, aber er entscheidet fern der Gewalt.“ Weshalb sind diese Stimmen im Laufe der Geschichte immer und immer wieder untergegangen? Weshalb hat die Gewalt immer und immer wieder über die Gewaltlosigkeit und radikale Feindesliebe obsiegt? Ein tiefgreifender Paradigmenwechsel ist heute dringender nötig denn je, haben die Worte des früheren US-Präsidenten John F. Kennedy, wonach entweder die Menschheit dem Krieg ein Ende setzen wird, oder aber der Krieg der Menschheit ein Ende setzen wird, in einer Zeit, da sogar ein Atomkrieg nicht mehr gänzlich auszuschliessen ist, eine nie dagewesene Aktualität erlangt. Wenn ein Ehepaar zerstritten ist, wird eine Mediatorin beigezogen. Für Arbeitskonflikte gibt es Gewerkschaften. Für Diebstähle, Gewalttaten und andere Delikte gibt es Gerichte. Aber wenn sich zwei bis an die Zähne bewaffnete Grossmächte bedrohlich gegenüberstehen, dann ist da weit und breit niemand in Sicht, der schlichtend eingreift und nicht schon zum Vornherein die Position der einen oder der anderen Seite einnimmt. Bräuchte es vielleicht so etwas wie einen „Rat der Weisen“, in dem nicht nur Politiker und Politikerinnen alter Schule Einsitz haben, sondern Künstlerinnen und Philosophen, Psychologinnen und Friedensforscher, Väter und Mütter, Kinder und Jugendliche mit ihren Visionen von einer Welt voller Liebe, Frieden, Gerechtigkeit und einem guten Leben für alle? Das Schreckliche an der heutigen Zeit ist: Dass wir angesichts immer grösserer Bedrohungen von der Armut und dem Hunger in weiten Teilen der Welt über einen drohenden Weltkrieg bis hin zur Klimakatastrophe fast schon jegliche Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft verloren haben. Das Gute an der heutigen Zeit ist: Dass uns alle diese Bedrohungen dazu zwingen, ob wir wollen oder nicht, die bisherigen Denkmuster räuberischer Macht- und Profitgier, kriegerischen und gewalttätigen Grossmachtdenkens und verantwortungsloser Blindheit gegenüber den Bedürfnissen der Natur und zukünftiger Generationen aufzugeben und radikal neue Wege zu beschreiten. Diese Lektion ist es, an der wir nicht vorbeikommen, wenn wir wollen, dass auch unsere Kinder und Kindeskinder in 50 oder 100 Jahren auf diesem Planeten noch ein lebenswertes Zuhause haben. Es ist eben genau so, wie der britische Philosoph Bertrand Russell vor über 50 Jahren zu bedenken gab: „Die zentrale Frage der heutigen Zeit ist, wie man die Menschheit überreden kann, in ihr eigenes Überleben einzuwilligen.“

 

Erst wenn das Patriarchat überwunden ist, wird auch der Krieg überwunden sein…

 

„Fünf Männer“, so berichtet der „Tagesanzeiger“ vom 3. März 2022, „haben diesen Krieg zusammen beschlossen“: Präsident Wladimir Putin, Verteidigungsminister Sergei Schoigu, ein alter Freund Putins, mit dem er gerne zusammen in seine sibirische Heimat zum Jagen und Pilzesammeln fährt, Alexander Bortnikow, Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB, einer der reichsten Männer Russlands und ebenfalls seit Jahrzehnten mit Putin freundschaftlich verbunden, mit dem auch er, wie Schoigu, häufig in Sibirien auf die Jagd geht, Nikolai Patruschew, Chef des Sicherheitsrats, ebenfalls seit Jahrzehnten mit Putin befreundet, und schliesslich Sergei Naryschkin, Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR, stramm antiwestlich ausgerichtet und potenzieller Nachfolger von Wladimir Putin. Dicke Männerfreundschaften, Naturburschen, hochgedient im sowjetischen und später russischen Staatsapparat und jetzt auf dem Gipfel der Macht. Schossen sie früher auf Bären und Enten, schiessen sie jetzt auf Menschen. Männer unter sich. Und weit und breit keine Frau. Ist es da aus der Luft gegriffen, von patriarchaler Machtpolitik und patriarchaler Kriegstreiberei zu sprechen? Denn Leidtragende dieser äussersten Perversion, des Kriegs, sind nicht nur die Kriegsopfer in der Ukraine, sondern auch all die Millionen von russischen Frauen und Müttern, die sich jeden Tag von früh bis spät, viele von ihnen alleinerziehend, abrackern, um sich und ihre Kinder über die Runden zu bringen, und sich zusätzlich um ihre betagten Eltern und Verwandten sowie pflegebedürftigen Nachbarn kümmern und denen genau jenes Geld so schmerzlich fehlt, das jetzt im Krieg millionenfach verschleudert wird, und dies mitten in einer Zeit, da es den ärmeren Bevölkerungsschichten in Russland von Jahr zu Jahr immer schlechter geht, während sich gleichzeitig unter den 50 reichsten Oligarchen des Landes keine einzige Frau befindet. Aber auch der im Jahre 2003 von den USA völkerrechtswidrig angezettelte Krieg gegen den Irak war mit Präsident George W. Bush, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, Vizepräsident Dick Cheney und Aussenminister Colin Powell ein reines Männerprojekt, dem über eine halbe Million unschuldiger irakischer Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen. Dass Frauen und Mädchen unter kriegerischen Auseinandersetzungen in besonders hohem Masse leiden, ist hinlänglich bekannt. „Ob in Bosnien, im Zweiten Weltkrieg oder im Irak“, so ein Bericht der Organisation „Medica mondiale“, „Kriege und Konflikte werden seit jeher auf dem Rücken von Frauen und Mädchen ausgetragen, unzählige werden vergewaltigt, gefoltert, verschleppt und versklavt. Meist endet die Gewalt nicht einmal, wenn die Waffen schweigen, sondern setzt sich auch nach Kriegsende fort.“ Doch inmitten allen Leidens und aller Zerstörung gibt es doch wenigstens diese leise Hoffnung: Ich denke an die Emanzipation der Frauen, die unaufhaltsam voranschreitet, auch wenn sie noch längst nicht am Ziel angelangt ist. Aber irgendwann wird die Zeit eines weltfremden bärenschiessenden Männerclubs, der über das Leben hunderttausender Menschen eigenmächtig sein Urteil fällt, ebenso vorüber sein wie die industriell-wirtschaftlich-militärischen Machtzirkel des sogenannten demokratischen Westens, der kein bisschen weniger Blut an seinen Händen hat. Irgendwann werden dort, wo die Männer sassen, die Frauen sitzen. Erst dann ist das Ziel erreicht. Denn erst wenn das Patriarchat überwunden ist, wird auch der Krieg überwunden sein.

Die Menschen sind nicht für den Krieg gemacht, sondern für den Frieden…

 

Die Schweiz schliesst sich den EU-Sanktionen gegen Russland vollumfänglich an. Deutschland liefert 1000 Panzerabwehrwaffen und 500 Boden-Luft-Raketen an die Ukraine. Freiwillige Kämpfer aus Estland schliessen sich den ukrainischen Truppen an. Mehrere europäische Länder erhöhen ihre Militärbudgets massiv. Russische Sportlerinnen und Sportler werden von internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen. Und 53 Prozent der Finninnen und Finnen sprechen sich für einen NATO-Beitritt aus, 25 Prozent mehr als noch vor zwei Monaten. Sicher, es ist verständlich, dass Westeuropa und die USA nicht tatenlos zuschauen und mittels Wirtschaftssanktionen ihren Teil zur Unterstützung der Ukraine beitragen wollen. Ebenso verständlich ist, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Land nicht einem von aussen eingedrungenen Aggressor kampflos überlassen wollen. Ebenso nachvollziehbar ist die Tatsache, dass die Schweiz nicht als einziges Land dastehen möchte, das die Wirtschaftssanktionen der übrigen Länder nicht mitträgt. Und doch habe ich bei alledem ein zutiefst ungutes Gefühl. Über alle Grenzen hinweg scheint sich immer mehr eine Kriegslogik auszubreiten, bei der man entweder voll und ganz mitmachen oder sich voll und ganz ins Abseits manövrieren kann – nichts dazwischen. Die uralte Geschichte von Schwarz und Weiss, Gut und Böse: Wenn du nicht mein Freund bist, dann bist du mein Feind. Wer sich zwischen die Fronten zu stellen versucht, erntet bestenfalls höhnisches Gelächter. Wer die andere Seite auch nur ein ganz klein wenig zu verstehen versucht, wird als Verräter abgestempelt. Wir sind wieder dort, wo wir vor Jahrzehnten schon einmal waren. Ein Restaurant in Stuttgart verweigert russischen Gästen den Zutritt, das Opernhaus Zürich gedenkt ein Gastspiel mit der russischen Sopranistin Anna Netrebko abzusagen – nicht zuletzt auf starken Druck aus der Bevölkerung. Und dann lese ich, dass 3,6 Milliarden Menschen schon heute durch den Klimawandel existenziell bedroht sind und dass die Auswirkungen des Klimawandels, wenn keine wirksamen Gegenmassnahmen ergriffen werden, die gesamte Erde früher oder später unbewohnbar machen werden. Was für ein Wahnsinn: Da wissen wir nichts Gescheiteres, als uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, statt all unsere Kraft, Energie und Phantasie über alle Grenzen hinweg für die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen einzusetzen, damit die Erde auch noch für unsere Kinder und Kindeskinder ein lebenswertes Zuhause sein wird. „Eine Welt unter Waffen“, sagte US-General Dwight D. Eisenhower, „verpulvert nicht nur das Geld allein. Sie verpulvert auch die Zukunft unserer Kinder.“ Doch trotz alledem habe ich meine Hoffnung nicht verloren. Die Gier nach Macht und Herrschaft über andere, Despoten, Feindbilddenken, Kriegstreiberei – das alles wird immer und immer wieder von einzelnen Menschen aufgrund ureigener egoistischer Interessen aufgebaut. Mit anderen Worten: Auch das Gegenteil von alledem – die Menschlichkeit, die Toleranz, die Gerechtigkeit, die „Feindesliebe“ – kann ebenso wieder von Menschen verbreitet, aufgebaut und in die Tat umgesetzt werden. Vielleicht erleben wir ja heute eine Zeit, in der sich sozusagen zwei Epochen der Menschheitsgeschichte gegenseitig überlappen: Die alte Epoche, die Epoche von Machtgier, zerstörerischem Nationalismus und Kriegstreiberei, neigt sich allmählich ihrem Ende entgegen. Die neue Epoche, die Epoche des Friedens, der Gerechtigkeit und des guten Lebens für alle, hat eben erst begonnen. Eine Zwischenzeit, in der sich das Alte noch einmal verzweifelt aufbäumt im Wissen, dass seine Zeit schon bald abgelaufen sein wird. Denn eines ist sicher: Die Menschen sind nicht für den Krieg gemacht, sondern für den Frieden. Eigentlich haben wir ja gar keine andere Wahl, denn, wie US-Präsident John F. Kennedy so treffend sagte: „Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.“

Anna Netrebko und das Opernhaus Zürich: Es braucht auch Menschen zwischen den Fronten

 

Anna Netrebko, die als weltbeste Sopranistin gilt, verurteilt den Krieg ihres Heimatlandes gegen die Ukraine aufs Schärfste: „Ich bin gegen diesen Krieg“, liess sie gemäss „Tagesanzeiger vom 28. Februar 2022 verlauten, „ich will, dass dieser Krieg aufhört und alle in Frieden leben können.“ Mit dieser Stellungnahme läuft Netrebko Gefahr, nicht mehr nach Russland reisen zu können. Trotzdem erwägt das Opernhaus Zürich, ihr auf den 26. und 29. März geplantes Gastspiel als Lady Macbeth zu streichen, dies nicht zuletzt auf Druck aus verschiedenen Medien. Der Grund: Im Jahre 2014 hätte sie sich mit der grossrussischen Flagge fotografieren lassen und ihren 50. Geburtstag hätte sie im Kreml gefeiert, wo Putin eine spezielle Grussbotschaft für sie verlesen hätte. So verbrecherisch und durch nichts zu rechtfertigen der Krieg Russlands gegen die Ukraine zweifellos ist, sollte man bei alledem doch nicht jegliches Augenmass gänzlich verlieren. Oder wäre es dem Opernhaus Zürich nach dem völkerrechtswidrigen Krieg der USA gegen den Irak im Jahre 2003 mit mehr als einer halben Million ziviler Opfer auch nur im Entfernesten in den Sinn gekommen, einem amerikanischen Opernsänger oder einer amerikanischen Opernsängerin nur deshalb einen Auftritt zu verweigern, weil sie irgendwo irgendwann mit einer amerikanischen Flagge fotografiert wurden oder an einer Geburtstagsfeier von George W. Bush aufgetreten waren? In einer Zeit zunehmender Polarisierung und der Tendenz, jeden, der nicht mein Freund ist, zu meinem Feind zu erklären, braucht es auch Menschen, die zwischen den Fronten stehen. Menschen wie Anna Netrebko, die sich dazu bekennt, „keine Politikerin, sondern eine Künstlerin“ zu sein: „Mein Ziel ist es, Menschen über politische Grenzen hinweg zu vereinen.“ Kann es ein schöneres, wichtigeres Ziel geben? Man möchte ihr, nicht nur am Opernhaus Zürich, sondern auch an möglichst vielen weiteren Orten, möglichst viele glanzvolle Auftritte gönnen. Eine Absage ihres Gastspiels am Opernhaus Zürich wäre ein trauriger Kniefall vor dem zunehmenden Geist der Spaltung und einer Feindbildmentalität, die schon mehr als genug Schaden angerichtet haben.

Ukraine: Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin…

 

Wieder rollen die Panzer. Wieder marschieren die Soldaten. Wieder dröhnen Flugzeuge mit tödlicher Fracht durch den Himmel. Wieder heulen die Sirenen. Wieder suchen die Menschen in Bunkern und U-Bahn-Stationen Schutz. Wieder ist Krieg. Das Verrückteste, das Absurdeste, das Widersinnigste, was man sich nur vorstellen kann. Denn ich bin sicher: 99 Prozent aller Menschen, ob in Russland oder der Ukraine, ob in Schweden oder Indien, ob in Chile oder Neuseeland, wollen nur eines: in Frieden leben, genug zu essen, warme Kleider und ein Dach über dem Kopf haben, über ausreichende medizinische Versorgung, Bildung und eine fair bezahlte Arbeitsstelle verfügen. Krieg ist nichts, was mit den Grundbedürfnissen der Menschen zu tun hat. Nichts, was in der „Natur“ des Menschen liegt – obwohl dies immer und immer wieder behauptet wird. Nein, Krieg muss herbeigeredet, inszeniert, gemacht, erzwungen werden – gegen den Willen der Menschen. Wenn gestern Morgen der Krieg Russlands gegen die Ukraine begonnen hat, dann ist es nicht das russische Volk, das diesen Krieg gewollt hat. Es ist vielmehr die staatliche Propaganda und das Zerrbild einer angeblich „faschistischen“ und russlandfeindlichen ukrainischen Regierung, das so lange, gezielt und systematisch über die staatlichen Medien Russlands verbreitet wurde, bis es schliesslich auch die Menschen im fernen Sibirien geglaubt haben. Kriege sind nur möglich, wenn Feindbilder aufgebaut werden, Angst geschürt wird und der angekündigte Krieg als gute, ehrenwerte oder notwendige Angelegenheit verkauft werden kann. Dass sich die jeweiligen Kriegstreiber dabei auch gerne der Lüge bedienen, hat uns das Beispiel des von den USA im Jahre 2003 angezettelten Kriegs gegen den Irak – mit über einer halben Million ziviler Opfer! – nur allzu deutlich gezeigt: Das amerikanische Volk hätte diesen Krieg nicht gewollt. So musste mit einer besonders krassen Lüge nachgeholfen werden: Wider besseres Wisse behauptete die US-Regierung, der Irak sei im Besitz von international geächteten Massenvernichtungswaffen. So waren die drei Voraussetzungen, um einen Krieg entfesseln zu können, erfüllt: erstens das Feindbild eines „bösen“ Staates, zweitens die Angst vor einer möglichen Bedrohung durch eben diese angeblichen „Massenvernichtungswaffen“ und drittens das ehrenwerte Motiv, im Dienste des Friedens sowohl die Bereitstellung wie auch die mögliche Weiterentwicklung dieser angeblichen „Massenvernichtungswaffen“ zu unterbinden. Ist es heute ein undurchsichtiger, allesbeherrschender, weitverzweigter Machtzirkel rund um Wladimir Putin, so war es 2003 in den USA ein ebenso undurchsichtiger politisch-industriell-militärischer Machtzirkel rund um den Präsidenten George W. Bush. Es wäre ein Leichtes, Dutzende weiterer Beispiele aufzuzählen. Ihnen allen ist gemeinsam: Kriege sind nicht Kriege zwischen Völkern. Kriege sind Kriege der Reichen und Mächtigen gegen die ganz „gewöhnlichen“ Männer, Frauen und Kinder ihrer Völker. Kriege sind die extremste und zerstörerischste Form von Klassengesellschaften. Das „Böse“, das sie antreibt und überhaupt erst möglich macht, kommt von „oben“, von den Herrschenden, nicht von „unten“, von den Menschen, die frühmorgens aufstehen, um auf den Feldern, in den Fabriken und Krankenhäusern zu arbeiten, und am Abend müde und erschöpft zu Bett gehen. Aber es ist sogar noch viel schlimmer: Nicht nur, dass die Reichen und Mächtigen die Kriege inszenieren, nein, von ihren zerstörerischen Folgen sind sie selber zugleich am wenigsten betroffen. George W. Bush befand sich keinen Moment lang in Lebensgefahr, während der von ihm inszenierte Krieg über einer halben Million Menschen im fernen Irak das Leben kostete. Auch Wladimir Putin sehen wir in jeder Fernsehübertragung stets in prunkvollen Sitzungszimmern und Konferenzsälen, während seine Soldaten, die jetzt in der Ukraine im Einsatz stehen, neben ihrem Panzer bei Minustemperaturen in knietiefem Morast nächtigen. Und vollends absurd wird das Ganze, wenn wir uns die Kosten vor Augen führen, welche die Aufrüstungen und Kriegsführungen verschlingen und die gerade im Falle des Kriegs gegen die Ukraine besonders zynisch sind, geht es den Menschen in Russland doch von Jahr zu Jahr schlechter und wissen eine immer grössere Zahl von ihnen kaum mehr, wie sie ihre Auslagen für Lebensmittel, Kleidung und Heizkosten bestreiten sollen. „Jede Kanone“, sagte US-General Dwight D. Eisenhower, „die gebaut wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“ Doch warum machen wir das alles immer und immer wieder mit? Warum sind jetzt Zehntausende von russischen Soldatinnen und Soldaten in der Ukraine, obwohl sie doch alle viel lieber friedlich zuhause wären, ihrer täglichen Arbeit nachgingen, mit ihren Kindern spielen und Partys feiern würden? Weshalb lassen sich 99 Prozent der Menschen von einem einzigen Prozent dermassen an der Nase herumführen? „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ – diese Botschaft des amerikanischen Schriftstellers Carl Sandburg ist heute aktueller denn je. Stellen wir uns vor: Putin hätte seinen Einsatzbefehl erteilt und alle russischen Soldatinnen und Soldaten wären einfach in ihren Panzern, Flugzeugen und Lastwagen sitzen geblieben. So wie der 24. Februar 2022 in die Geschichte einzugehen droht als der Tag, an dem in Europa wieder einmal ein grosser Krieg begann, so wäre dieser gleiche Tag in die Geschichte eingegangen als der Tag, an dem der Aufruf Carl Sandburgs endlich in die Tat umgesetzt worden wäre. Als der Irakkrieg 2003 drohte, gab es in ganz Europa riesige Friedensdemonstrationen. Jahrelang erfreuten sich auch europaweit die Friedensmärsche zu Ostern grossen Zulaufs. Und heute? Obwohl der Einsatz gegen Krieg und für Frieden und Abrüstung dringender nötig wäre denn je, ist alles unheimlich still. Aber vielleicht, das ist die Hoffnung, wird der Krieg, der in diesen Tagen begonnen hat, zum Weckruf an die so riesige überragende Mehrheit der Menschheit, sich nicht mehr länger von einer kleinen, machtgierigen und herrschsüchtigen Minderheit vor den Karren spannen zu lassen. Denn es ist eben schon so, wie US-Präsident John F. Kennedy sagte: „Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.“

Der Ukrainekonflikt: Historische Chance verpasst

 

Im „Tagesanzeiger“-Artikel „Putin beginnt einen neuen Kalten Krieg“ vom 23. Februar 2022 wird der US-Historiker George F. Kennan zitiert, der in den späten 1940er-Jahren der sowjetischen Aussenpolitik „Geheimniskrämerei, Mangel an Offenheit, Doppelzüngigkeit und grundsätzlich unfreundliche Absichten“ vorgeworfen hatte. Objektiverweise müsste man aber hinzufügen, dass der gleiche George F. Kennan viele Jahre später, nämlich 1997, auch noch Folgendes gesagt hatte: „Die Entscheidung, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.“ Während längerer Zeit lehnte auch der US-amerikanische Präsident Bill Clinton eine NATO-Mitgliedschaft osteuropäischer Staaten ab. Am 26. Juni 1997 äusserten mehr als 40 ehemalige Senatoren, Regierungsmitglieder, Botschafter, Abrüstungs- und Militärexperten in einem offenen Brief ihre Bedenken gegenüber einer Osterweiterung der NATO. Ähnlich äusserte sich auch der frühere Verteidigungsminister der USA Robert Gates. Und Frankreichs Präsident François Mitterrand erklärte: „Ich persönlich würde es begrüssen, sowohl den Warschauer Pakt wie auch die NATO schrittweise aufzulösen.“ Europa stünde wohl heute nicht an der Schwelle eines grösseren Kriegs mit unabsehbaren Folgen, wenn man auf diese warnenden Stimmen von damals gehört hätte…