Deutsche Bevölkerung kritisch gegenüber dem Kapitalismus: Zeichen einer neuen Zeit…

 

Eine vom deutschen „Spiegel“ durchgeführte Umfrage hat ergeben, dass 40 Prozent der 16- bis 29Jährigen, 39 Prozent der Männer und sogar 45 Prozent der Frauen der Meinung sind, dass der Kapitalismus nicht das bestmögliche Wirtschaftssystem für Deutschland sei. Auffallend vor allem das Ergebnis bei den Frauen: Nur 39 Prozent bejahen die Frage, ob der Kapitalismus das bestmögliche System sei, 16 Prozent können sich weder für ein Ja noch ein Nein entscheiden. Das Umfrageergebnis ist umso erstaunlicher, als gegenwärtig ja keine Alternative zum Kapitalismus in Sicht ist, kein Land, in dem ein anderes, nichtkapitalistisches Wirtschaftssystem installiert wäre und erfolgreich funktionieren würde. Das heisst: Dieses neue, nichtkapitalistische Wirtschaftssystem muss erst noch erfunden werden. Und daran führt kein Weg vorbei. Denn wenn sich sogar nahezu die Hälfte der deutschen Bevölkerung, eines Landes, das trotz vieler Widerwärtigkeiten im Vergleich mit den meisten anderen Ländern doch immer noch auf der Sonnenseite steht, ein anderes Wirtschaftssystem wünscht, wie wäre dann wohl das Ergebnis, wenn man die gleiche Frage den Menschen in Ghana, Burkina Faso oder Ecuador stellen würde? Doch schauen wir uns die Argumente der Verfechter und Verfechterinnen des Kapitalismus bzw. der sogenannten „Freien Marktwirtschaft“ etwas genauer an. Sie begehen mindestens drei Denkfehler. Erstens idealisieren sie den Kapitalismus, indem sie ihn als „Freie Marktwirtschaft“ bezeichnen. Sie verschleiern damit, dass dies bloss ein anderes, etwas wohlklingenderes Wort für den Kapitalismus ist. Und sie blenden aus, dass „frei“ nichts anderes bedeutet als die Freiheit der Reichen und Mächtigen, die Menschen und die Natur nach den Interessen von Profitsteigerung und Gewinnmaximierung möglichst optimal auszubeuten. Auch „Markt“ ist nichts anderes als ein Synonym für die Tatsache, dass ein Markt, der dem Wohl der Menschen tatsächlich dienen würde, zur Voraussetzung hätte, dass alle daran Beteiligten die gleich langen Spiesse hätten, nicht so wie in der Welt des Kapitalismus, wo die Güter nicht dorthin fliessen, wo die Menschen sie brauchen, sondern dorthin, wo genug Geld ist, um sie kaufen zu können. Der zweite Denkfehler der Verfechterinnen und Verfechter des Kapitalismus besteht darin, die globalen Zusammenhänge der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse auszublenden. Wenn tropische Früchte, Schokolade oder Kaffee in unseren Supermärkten für die meisten Menschen immer noch erschwinglich sind und die Nahrungsmittelkonzerne mit diesen Produkten dennoch Millionengewinne erwirtschaften, dann ist das nur möglich, weil die Menschen, welche auf den Plantagen, in den Lebensmittelfabriken und auf den Transportschiffen arbeiten, so wenig verdienen, dass sie davon kaum leben können. Alles hängt mit allem zusammen. Globalisierter Kapitalismus ist nichts anderes als globalisierte Ausbeutung. Reichtum und Armut sind keine Zufälligkeiten, Reichtum und Armut hängen aufs Engste zusammen, bedingen sich gegenseitig, sind die beiden untrennbaren Kehrseiten der gleichen Münze. Wer immer die Vorzüge der „Freien Marktwirtschaft“ bzw. des Kapitalismus lobt, muss sich die Frage gefallen lassen, ob es ihm wirklich genüge, selber ein gutes Leben zu haben, oder ob er nicht auch an all jene Menschen denken müsste, denen er sein gutes Leben verdankt und die dennoch ein schlechteres Leben haben als er selbst. Der dritte Denkfehler der Verfechter und Verfechterinnen des kapitalistischen Wirtschaftssystems besteht in der Behauptung, es gäbe gar keine Alternative zum Kapitalismus bzw. jede wäre schlechter und überhaupt hätten alle nichtkapitalistischen Gesellschaftsmodelle in der Vergangenheit ausschliesslich versagt. Diese Sichtweise ist besonders fatal. Sie würde nämlich bedeuten, dass der Kapitalismus die einzig mögliche, letzte, endgültige und beste Form sei, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten zu verwirklichen sei. Immer mehr Menschen erkennen, dass wahrscheinlich viel eher das Gegenteil der Fall ist, nämlich, dass der Kapitalismus ein Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ist, das mit seinen Dogmen unbegrenzter Profitmaximierung und unbegrenzten Wirtschaftswachstums geradezu in den Abgrund führt. Zurück zum Ergebnis der „Spiegel“-Umfrage: Es stimmt optimistisch. Immer mehr Menschen scheinen von der Illusion, der Kapitalismus werde schon früher oder später alles zum Guten zu wenden, Abschied zu nehmen. Der nächste Schritt muss sein, dass an allen Ecken und Enden, weltweit, die Menschen beginnen, über die Vision und den Traum von einer neuen Welt jenseits des Kapitalismus nachzudenken  und dies Schritt für Schritt in die Wirklichkeit umzusetzen. Das ist keine Illusion. Es ist die einzige mögliche Realität in einer ausser Rand und Band geratenen Welt. Denn was Menschen irgendwann im Laufe der Geschichte nach ganz bestimmten Interessen aufgebaut haben, das können Menschen im Laufe der Geschichte aufgrund von neuen Erkenntnissen jederzeit auch wieder abbauen, umbauen und durch etwas von Grund auf Neues ersetzen..

Die Digitalisierung – eine Entwicklung, die nicht aufzuhalten ist?

 

„Wir stecken in einem digitalen Strukturwandel“, so kommentiert SVP-Nationalrat Gregor Rutz im „Tages-Anzeiger“ vom 14. Februar 2022 das Abstimmungsergebnis zum schweizerischen Mediengesetz, „und diesen digitalen Strukturwandel können wir nicht einfach aufhalten.“ Eine Aussage, die von unterschiedlichster Seite immer wieder zu hören ist, wenn von der „Digitalisierung“ und dem „digitalen Fortschritt“ die Rede ist. Dementsprechend sind dann auch alle finanziellen Mittel Recht, wenn es um die Förderung der Digitalisierung geht, insbesondere auch weil die Schweiz in diesem Bereich gegenüber vielen anderen Ländern im Rückstand sei. Wohlgemerkt: Auch ich möchte nicht auf meinen Computer verzichten, ebenso wenig wie auf mein Smartphone. Auch ich schätze die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten des Internets, schreibe häufig E-Mails und recherchiere immer wieder in der grossen weiten Welt des Wissens. Und doch stosse ich mich an der Aussage, der digitale Strukturwandel sei „nicht einfach aufzuhalten“. Zahnbürsten, Staubsauger und Kühlschränke, die nur noch mithilfe einer App funktionieren, Hotelangestellte in der Gestalt von Robotern, automatische Gesichtserkennung, Schrittzähler und Gesundheitsüberwachungssysteme, selbstfahrende Autos, ferngesteuerte chirurgische Eingriffe, Onlineshopping und das damit verbundene Ladensterben, Hackerangriffe, die landesweite Kommunikationssysteme lahmlegen, lebensgefährliche technische Pannen in Notrufzentralen – die digitale Büchse der Pandora ist schon weit, weit geöffnet und man wagt sich kaum vorzustellen, was diese Entwicklung, welche in wenigen Jahrzehnten die Welt auf den Kopf gestellt hat, in den folgenden zehn oder zwanzig Jahren noch alles mit sich bringen mag. Die Aussage, dies alles sei „nicht aufzuhalten“, ist fatal und erinnert mich an mittelalterliche Glaubensbekenntnisse. Ja, die Digitalisierung ist so etwas wie eine neue Religion. Fährt man an einem Bürohochhaus beim Zürcher Hauptbahnhof vorbei und sieht dort übereinander und untereinander geschachtelt hunderte Köpfe, die alle auf einen Bildschirm starren, oder befindet man sich in einem Zugsabteil, wo bald jeder, der nicht auf sein Handy fixiert ist, schon als Exot erscheint – dann ist es, als wäre dies alles eine endlose Suche nach dem Glück, irgendwo stets am anderen Ende der digitalen Fäden, die alles auf unsichtbare Weise über Satelliten fernab der Erdoberfläche miteinander verbinden. Noch einmal: Ich wehre mich nicht grundsätzlich gegen die Digitalisierung. Nur gegen diesen Fatalismus, dass alles so komme, wie es kommen müsse, ganz unabhängig davon, ob wir das wollen oder nicht. Warum machen wir uns so klein? Warum sind wir, die alles und alle um uns herum bei jeder Gelegenheit kritisieren, ausgerechnet gegenüber der Digitalisierung so unkritisch? Weshalb gibt es so wenig Widerstand gegen den Glaubenssatz, wonach alles, was technisch möglich sei, früher oder später auch verwirklicht werde, ganz unabhängig vom Nutzen, den es den Menschen tatsächlich bringt? Weshalb spricht niemand davon, dass die Digitalisierung einer der grössten Stromfresser ist und damit eine wesentliche Mitursache des Klimawandels? Zu einer einseitig auf Digitalisierung ausgerichteten technischen Entwicklung braucht es dringend so etwas wie einen gesellschaftspolitischen Gegenpol. Die Digitalisierung darf nicht das Alleinseligmachende sein, dem sich alles andere unterzuordnen hat, sondern nur eines von unterschiedlichen Instrumenten zur Bewältigung von Arbeit und Alltag. Stellt man die Digitalisierung zu einseitig in den Vordergrund, dann besteht die Gefahr, dass andere Entwicklungsbereiche  zurückgedrängt, an ihrer Entfaltung gehindert oder schon gar nicht mehr wahrgenommen werden. Vier Beispiele: Als ich kürzlich zum Geburtstag meiner Tochter einen Schirm kaufen wollte, suchte ich ein kleines Fachgeschäft auf. Die Verkäuferin zeigte mir stolz ihre Auswahl, zudem informierte sie mich fachkundig über den Herkunftsort und die Produktionsbedingungen der verschiedenen Schirme. Ihre etwa zehnjährige Tochter war mit dabei und half beim Einpacken des von mir ausgewählten Schirms, was ihr sichtlich Spass machte. Menschliche Begegnung, fröhliche Gesichter, ein herzliches Lachen – ein Einkaufserlebnis, das mir gänzlich entgangen wäre, hätte ich den Schirm im Internet gekauft. Zweites Beispiel: Auch in den Schulen, wen wunderts, hat die Digitalisierung einen enormen Stellenwert. Millionenbeträge werden dafür lockergemacht. Dabei wären für eine ganzheitliche Entwicklung der Kinder andere Lernbereiche wie zum Beispiel das Musische, das Soziale, manuelles, handwerkliches und körperliches Tun sowie die Hauswirtschaft mindestens so wichtig. Doch statt diese Bereiche ebenso stark zu fördern, werden nicht selten ausgerechnet in diesen Fächern sogar Schulstunden gestrichen und „eingespart“. Drittes Beispiel: Es gibt immer mehr Menschen, die keine Theateranlässe, keine Konzerte und keine Kinoveranstaltungen mehr besuchen, weil sie das alles ja auch, und erst noch billiger, im Internet haben können. Damit entgeht ihnen aber das einzigartige Liveerlebnis, die prickelnde Atmosphäre in einem Kino- oder Theatersaal, die Begegnung und der Austausch mit anderen Menschen. Würde man nur einen Bruchteil der finanziellen Mittel, die für Digitalisierungsprojekte aufgeworfen werden, zur Förderung der Kulturszene verwenden sowie zur Verbilligung von Tickets für Menschen, die sich einen Theater- oder Konzertbesuch gar nicht leisten können, wäre dies ein äusserst wertvoller Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlergehen, zur Zufriedenheit und zur Gesundheit der Menschen. Viertes Beispiel: Als Alternative zur Meinungsäusserung in den „sozialen“ Medien, gibt es, glücklicherweise, immer noch die Lokalzeitung, ein beliebtes und hervorragendes Gefäss für Leserbriefe, überaus gut geeignet zur Meinungsbildung und zum gegenseitigen Austausch von Ideen, bewegt man sich als Verfasserin oder Verfasser eines Leserbriefs doch in einem Umfeld, wo sich viele Menschen gegenseitig kennen und daher auch der zwischenmenschliche Respekt ungleich viel grösser ist als in der Anonymität der „sozialen“ Medien. Vier Beispiele, stellvertretend für unzählige andere, die zeigen, dass die analoge Welt genau so ihre Vorteile und Stärken hat wie die digitale. Wir können, um auf die anfängliche zitierte Aussage von Gregor Rutz zurückzukommen, die Digitalisierung sehr wohl aufhalten. Nicht indem wir etwas verbieten, sondern indem wir der analogen Welt, in der wir zum grössten Teil glücklicherweise immer noch leben, den gleichen Stellenwert, das gleiche Gewicht, gleich viel Energie und Geld verleihen wie der digitalen Welt. Nur ein Gleichgewicht zwischen den beiden Welten kann uns davor bewahren, dem einen oder anderen Extrem zu verfallen. Die Digitalisierung darf nicht zur Religion werden. Sie ist nicht mehr und nicht weniger als eines von vielen unterschiedlichen Instrumenten zur Bewältigung der Zukunft.

Asha Rada, der siebte Sinn und der Beginn eines neuen Zeitalters…

 

Als ich etwa zehn Jahre alt war, las ich in einer Illustrierten, die meine Eltern abonniert hatten, von einem achtjährigen Mädchen, das in einem indischen Zirkus als Akrobatin arbeiten musste. Jedes Mal, wenn sie ihre Darbietung verpatzte, wurde sie nach der Vorstellung von ihrem Vater ausgepeitscht. Mich wühlte diese Nachricht dermassen auf und mein Mitleid mit diesem Mädchen war so gross, dass ich in der Folge buchstäblich des Abends nicht mehr einschlafen konnte. Es war mir, als fühlte ich ihre Schmerzen, als hörte ich ihre Schreie, als verspürte ich ihre Angst  jeden Abend vor dem nächsten Auftritt. Ich weiss sogar heute immer noch, wie das Mädchen hiess: Asha Rada. Weil ich nämlich ihren Namen jeden Abend unzählige Male wiederholte, in der Hoffnung ihr damit zu helfen, so lange, bis mich der Schlaf übermannte. Lieber wollte ich sterben, als zu leben und zu wissen, dass dieses Mädchen im fernen Indien jeden Tag mit der Angst vor einer so grausamen Bestrafung durch ihren eigenen Vater leben musste. Eines Tages schrieb ich sogar einen Brief an die Redaktion der Illustrierten mit der Frage, ob es betreffend Asha Rada neue Informationen gäbe – ohne dass ich freilich eine Antwort bekommen hätte. Heute, über 60 Jahre später, frage ich mich: Wie kann ich denn jetzt, in dieser Zeit, ruhig schlafen, wenn ich doch weiss, dass jeden Tag rund zehntausend Kinder weltweit mit viel grösseren Schmerzen, als Asha Rada sie jemals erleiden musste, vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben müssen, nur weil sie nicht genug zu essen haben? Wie kann ich ruhig schlafen, wenn ich doch weiss, dass Millionen von Menschen weltweit auf der Flucht sind, krank und frierend, mit keiner anderen Habseligkeit als den paar Kleidern, die sie tragen? Wie kann ich ruhig schlafen, wenn ich doch weiss, dass sämtliche Prognosen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern darauf hindeuten, dass meine Enkelkinder , wenn sie erwachsen sein werden, in einer Welt leben werden, in der unerträgliche Hitze, verheerende Unwetter, die Überflutung immer grösserer Wohngebiete, Wasser- und Nahrungsmangel grösser und grösser werdende Ausmasse annehmen werden? Was uns Menschen fehlt, ist so etwas wie ein siebter Sinn. Wir sehen all das, was sich täglich vor unseren Augen abspielt. Wir hören die Stimmen unserer Mitmenschen, Motorgeräusche, das Singen der Vögel. Wir riechen den Duft von Blumen und das Parfüm auf unserer Haut. Wir nehmen den Geschmack von Früchten, Gewürzen und Kaffee auf unserer Zunge wahr. Wir spüren mit unserem Gesicht und mit unseren Händen Regen, Hitze und Kälte. Aber wir spüren nicht das bittere Elend , dem weltweit Milliarden von Menschen schutzlos ausgeliefert sind. Ja, wir spüren nicht einmal das Elend, von dem Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung betroffen sind. Wir können in einer Wohnung leben und es uns gut gehen lassen, ohne wahrzunehmen, dass im gleichen Haus, getrennt durch eine dicke Mauer, nur Zentimeter von uns entfernt, ein Kind schon zum dritten oder vierten Mal hintereinander hungrig zu Bett gegangen ist, weil sein Vater unlängst seinen Job verloren hat und das vorhandene Held hinten und vorne nicht für ein einigermassen anständiges Leben ausreicht. Ja, der siebte Sinn. Er würde uns durch die scheinbar undurchlässigen Mauern hindurchschauen und das Elend auf der anderen Seite spüren lassen. Er würde uns die Augen dafür öffnen, dass Armut und Reichtum nur die beiden Kehrseiten der gleichen Münze sind und jedes überflüssige Geldstück in der Tasche des Reichen das Geldstück ist, welches in der Tasche des Armen fehlt. Er würde uns die Schmerzen jener zehntausend Kinder, die weltweit jeden Tag vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs an Hunger sterben, spüren lassen und uns den Schlaf so lange rauben, bis alle Menschen auf dieser Erde genug zu essen hätten. Er würde uns mit jeder Waffe, die hergestellt wird, und mit jeder Armee, mit dem ein Land ein anderes bedroht, einen so schmerzenden Stich mitten durch unser Herz jagen, dass nur ein kompromissloser weltweiter Frieden uns wieder zur Ruhe bringen könnte. Er würde bei jedem Kind, das geboren wird, in uns ein Feuer entfachen, alles, aber auch alles Erdenkliche zu tun, damit die Erde auch in 50 oder 100 Jahren noch ein Ort sein wird, wo alle Menschen ein gutes Leben haben können. In der Tat: Die entscheidende Frage ist, ob wir uns primär als Einzelwesen definieren oder als Teile eines Gemeinwesens, ob sich der Egoismus dem Gemeinwohl unterordnen soll oder umgekehrt. Es könnte die entscheidende Frage sein, ob es auf diesem Planeten ein Weiterleben der Menschheit geben kann oder nicht. „Entweder“, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „werden wir als Brüder und Schwestern überleben oder als Narren miteinander untergehen.“ Dass ich als zehnjähriger Junge wegen Asha Rada nicht schlafen konnte, zeigt, dass der „siebte“ Sinn offensichtlich ein geradezu heiliges Geschenk ist, das wir alle schon mit unserer Geburt mitbekommen haben. Leider geht dieses Geschenk bei den meisten Menschen im Laufe ihres Lebens verloren. Doch eigentlich stimmt das nicht: Es ist nicht verloren, sondern nur überdeckt, überwachsen, verdrängt. Es wieder ans Licht zu bringen, all die vergessenen Asha Radas in unserer Lebensgeschichte und all die Schmerzen, die damit verbunden waren, wieder aufzuspüren und lebendig werden zu lassen: Es wäre der Anfang einer neuen Zeit…

Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz und die Überwindung des Kapitalismus

 

Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz hat am 5. Februar 2022 ihren digitalen Parteitag abgehalten. Themenschwerpunkte: Stromversorgungssicherheit, Klimafonds, AHV-Reform, Arbeitsbedingungen der Kitaangestellten. Vergeblich suche ich in der Themenliste das Ziel einer Überwindung des Kapitalismus, obwohl diese Forderung explizit im Parteiprogramm der SP festgehalten und angesichts der aktuellen Weltlage, der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich und des drohenden Klimawandels vordringlicher wäre denn je. Ein kurzer Blick in die jüngste Geschichte Europas zeigt, dass sich auch in jenen Ländern, wo Sozialdemokratinnen und Sozialisten über kürzere oder längere Zeit die Regierung bildeten – so etwa in Frankreich, Grossbritannien, Deutschland, Österreich, Spanien oder Schweden -, an den grundlegenden ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, der sozialen Ungleichheit, der systematischen Umverteilung von der Arbeit zum Kapital, an der Ausbeutung von Mensch und Natur mit dem Ziel grösstmöglicher Profitmaximierung, am unbeirrbaren Glauben an ein permanentes Wirtschaftswachstum und an den Grundstrukturen der kapitalistischen Klassengesellschaft nicht wirklich tiefgreifend etwas verändert hat. Böse gesagt, dient eine solche pragmatische „Linke“, unabhängig davon, ob sie an der Macht oder in der Opposition steht, bestenfalls als „Feigenblatt“ des kapitalistischen Machtsystems, das noch viel brutaler wäre, wenn es diese „Linke“ nicht gäbe, die wenigstens die schlimmsten Auswüchse abzufedern versucht. Wenn die Linke aber mehr sein will als ein kapitalistisches Feigenblatt, dann muss sie aus dem Schatten des Kapitalismus heraustreten und Visionen einer von Grund auf neuen Welt der sozialen Gerechtigkeit, des respektvollen Einklangs zwischen Mensch und Natur und des guten Lebens für weltweit alle Menschen entwickeln. Die Frage ist nur: Auf welchem Weg kann eine so umfassende, alles Bisherige weit übertreffende Herausforderung in die Tat umgesetzt werden? Hierzu bedarf es einer Art „Doppelstrategie“: Auf der einen Seite muss die Linke ihre Realpolitik der geduldigen, beharrlichen kleinen Schritte zum Wohle von Mensch und Natur weiterverfolgen. Ebenso hartnäckig aber muss, auf der zweiten Ebene, auch die Überwindung des Kapitalismus vorangetrieben werden, damit, wenn das kapitalistische System eines Tages an seinen inneren Widersprüchen endgültig zerbrechen wird, eine brauchbare Alternative zur Verfügung steht. Die politische Arbeit auf dieser zweiten Ebene muss aber, im Gegensatz zur ersten Ebene, länderübergreifend erfolgen – der globalisierten Macht des Kapitals muss die globalisierte Macht der sozialen Gerechtigkeit und des guten Lebens für alle entgegenstellt werden. Wie das aussehen könnte, zeigt uns die Klimabewegung, wo sich junge Menschen über alle Grenzen hinweg gemeinsam für eine lebenswerte Zukunft engagieren. Ebenso müssten auch all jene Politikerinnen und Politiker der Linken, die ihre Wurzeln in der Bewegung der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten haben, zu diesen Wurzeln zurückkehren und sie nicht länger als pubertäre Schwärmerei abtun, die man möglichst schnell hinter sich lassen möchte. „Im Jugendidealismus“, sagte Albert Schweitzer, „erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt austauschen sollte.“ Und das Gleiche, mit anderen Worten, sagte auch der amerikanische Schriftsteller Mark Twain: „Trenne dich nie von deinen Illusionen und Träumen. Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren, aber aufgehört haben zu leben.“ Und so träume auch ich voller Hoffnung weiter: Davon, dass jeder zweite Parteitag der SP der Überwindung des Kapitalismus gewidmet ist. Davon, dass über die Ursprünge, Zusammenhänge und Folgen des Kapitalismus an möglichst vielen Orten öffentlich und vorurteilslos debattiert wird und die irrige Meinung aus der Welt geschafft wird, der Kapitalismus sei das beste, einzig mögliche und endgültige Modell für das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten. Davon, dass auch meine Enkelkinder und alle anderen Kinder der Welt eine lebenswerte Zukunft haben, ein gutes Leben für alle Menschen Wirklichkeit geworden ist und der Kapitalismus nur noch als vergangenes Zeitalter in Museen und an anderen Denkstätten seiner schlimmsten Auswüchse in Erinnerung bleibt. 

 

Die Diskussionen rund um das Mediengesetz: Verkehrte Welt

 

Es ist schon seltsam. Die Gegnerinnen und Gegner des Medienpakets warnen vor einer drohenden Bevormundung der Medien durch den Staat, falls noch mehr finanzielle Mittel vom Staat an die Medien fliessen würden. Diese würden dadurch, so wird argumentiert, zu eigentlichen „Staatsmedien“, welche keine freie und kritische Meinungsbildung mehr zuliessen. Was für eine unglaubliche Verdrehung der tatsächlichen Machtverhältnisse! Das Schreckgespenst „Staatsmedien“ lenkt doch bloss davon ab, dass die tatsächliche Beeinflussung der Meinungsbildung nicht vor allem durch den Staat erfolgt, sondern durch das herrschende kapitalistische Wirtschaftssystem und alle mit ihm verbundenen Werte und Denkvorstellungen. Diese Vereinnahmung der öffentlichen Meinungsbildung durch die Leitideen und Dogmen des „Freien Marktes“ erfolgt schon seit Jahrzehnten schleichend und systematisch. Vor vielen Jahren gab es noch eine Vielzahl „linker“, kapitalismuskritischer Volksblätter als wichtige alternative Stimmen und als Beitrag zu kritischer Meinungsbildung – alle diese Stimmen sind ausnahmslos von der Bildfläche verschwunden. Selbst die in der Öffentlichkeit als „links“ wahrgenommene „Wochenzeitung“ bewegt sich weitgehend in den Denkbahnen des „Freien Marktes“. Nicht der Staat bedroht die Meinungsvielfalt, sondern die alles durchdringende Ausbreitung der kapitalistischen Denkweise, so dass wir vor lauter Bäumen den Wald schon gar nicht mehr sehen und uns einbilden, in der besten aller möglichen Welten zu leben, zu der es keine Alternative gibt. Wenn ich meine Tageszeitung lese, dann wird mir immer wieder über Fehlentscheide von Politikerinnen und Politiker berichtet, über Kandidatinnen und Kandidaten für politische Ämter und deren Stärken und Schwächen, über zur Abstimmung gelangende Gesetze und ihre Vor- und Nachteile, über Meinungsumfragen zu aktuellen Themen. Aber höchst selten lese ich einen Artikel über das Versagen und die Widersprüche des kapitalistischen Wirtschaftssystems und seine gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Auswirkungen in einer Welt zunehmender sozialer Ungleichheit und einer nie dagewesenen Bedrohung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen als Folge eines ungebrochenen Glaubens an endloses Wirtschaftswachstum und endlose Profitmaximierung. Und erst recht lese ich nie einen Artikel darüber, wie ein alternatives, nichtkapitalistisches Wirtschaftssystem, das ein gutes Leben für weltweit alle Menschen verwirklichen würde, aussehen könnte. Wenn wir daher am 13. Februar 2022 zum Mediengesetz Ja sagen, dann ist noch lange nicht die heile Welt Wirklichkeit geworden, von der ich träume. Aber wir würden wenigstens das kleinere Übel wählen. Denn es geht nicht bloss darum, wie Bundesrätin Simonetta Sommaruga sagt, „dem Staat auf die Finger zu schauen“. Es geht in weit grösserem Masse darum, einem Wirtschaftssystem „auf die Finger zu schauen“, das uns weit stärker in seinen Klauen hält, als ein demokratischer Staat jemals dazu in der Lage wäre.

Die Olympischen Spiele und das Konkurrenzprinzip, das immer mehr an seine Grenzen stösst

 

In wenigen Tagen werden Millionen von Menschen ihren Blick nach Peking richten. Die Eröffnungsfeier der Olympischen Winterspiele wird zweifellos ebenso gigantisch sein wie all die Gebäude und Anlagen, die alles Bisherige in den Schatten stellen, bis hinauf zu den Gebirgsketten, wo mit riesigem Aufwand Skipisten erstellt wurden, die nur mit künstlichem Schnee betrieben werden können – als gäbe es keine Klimaerwärmung, kein schmelzendes Polareis, keine Überflutung bedrohter Küstengebiete und keine Länder, wo infolge von Hitze und Dürre kaum noch etwas wächst. Der Sport scheint ganz offensichtlich jener Zweck zu sein, der auch die schlimmsten Mittel heiligt. Doch nicht nur die gigantischen Bauten für die 15 olympischen Disziplinen, die nach Gebrauch wieder nutzlos in der Landschaft herumstehen werden, sind Ausdruck jenes globalen Wetteiferns im Konkurrenzkampf aller gegen alle, die sportlichen Wettkämpfe sind es genau so: Zu Beginn zieht jedes Team mit erhobener Flagge in die Halle, wo die Eröffnungsfeier stattfindet. Zwei Wochen später zählt jedes Land die gewonnenen Medaillen, die „Sieger“ stehen im Scheinwerferlicht, die „Verlierer“ verschwinden im Dunklen. Wir haben uns das Konkurrenzprinzip, das auch in der Wirtschaft und in der Arbeitswelt alles dominiert, selbst den Kindern in der Schule schon von klein auf eingebläut wird und im Spitzensport wohl seine extremste Form findet, so sehr gewöhnt, dass wir uns etwas anderes schon gar nicht mehr vorstellen können. Aber versuchen wir doch mal, uns die Absurdität des Konkurrenzprinzips am Beispiel des Spitzensports vor Augen zu führen. Ob Eiskunstlauf, Langlauf, Skispringen, Bob oder Ski alpin, es ist immer das gleiche Prinzip: Wenn 50 Fahrer die Abfahrtspiste hinunterrasen, liegt es in der Natur der Sache, dass sie unterschiedlich viel Zeit brauchen, um ins Ziel zu gelangen. Zwar sind das die 50 verrücktesten, wildesten, verwegensten, mutigsten und schnellsten Männer der Welt, die da eine Leistung vollbringen, von der alle übrigen Skifahrer der Welt nicht einmal zu träumen wagen. Eigentlich müsste man alle diese 50 Fahrer aufs Podest stellen und ihnen alle eine Medaille verleihen, da ja der „Langsamste“ unter ihnen vielleicht bloss drei oder vier Sekunden länger gebraucht hat als der Schnellste. Und schliesslich haben ja alle diese 50 Fahrer viele Jahre ihres Lebens dem Training geopfert, zahlreiche Unannehmlichkeiten, Stürze, Verletzungen und Rückschläge in Kauf genommen. Doch, wie wir alle wissen: Am Ende werden nur drei von ihnen auf dem Podest stehen, von den weiteren sieben ist im besten Falle noch da und dort ein wenig die Rede, alle anderen verschwinden im Niemandsland. Aber es ist noch viel absurder: Die besten Drei sind ja nur deshalb die Besten, weil alle anderen „schlechter“ waren. Gäbe es keine Verlierer, dann gäbe es auch keine Sieger. Wäre nur ein einziger Fahrer hinuntergesaust, er hätte so schnell oder so langsam fahren können, wie er wollte, er hätte weder verloren noch gewonnen, er wäre zugleich der Beste und der Schlechteste gewesen. Eigentlich müsste der Sieger allen anderen dankbar sein: Nur weil sie mitgemacht haben und schlechter waren, wurde er zum Sieger. So wird der olympische Kampf um Gold, Silber und Bronze zum Zerrbild jenes Konkurrenzkampfs, der unseren gesamten Alltag prägt, wo die Menschen in der kapitalistischen Arbeitswelt gegeneinander um Aufstiegschancen, Lohnerhöhungen und den Lebensstandard kämpfen, den man sich je nach dem materiellen Bedingungen leisten kann oder nicht. Wie beim Skirennfahrer, der nur deshalb so gut ist, weil die anderen schlechter sind, kann sich auch der Abteilungsleiter eines Einkaufszentrums nur deshalb einen so guten Lohn leisten, weil sich alle seine Untergebenen, auch wenn sie noch so hart arbeiten, mit einem niedrigeren Gehalt zufrieden geben müssen. Dass das Konkurrenzprinzip letztlich ein zerstörerisches Prinzip ist, zeigen uns die zahlreichen Verletzungen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen, von denen Spitzensportlerinnen und Spitzensportler immer häufiger betroffen sind – sei es im Skirennlauf, im Kunstturnen, im Tennis oder im Eiskunstlauf. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass man früher oder später Alternativen zum traditionellen Spitzensport mit all seinen schädlichen Auswirkungen suchen, politisches Wettrüsten auf Kosten von Athletinnen und Athleten in allen seinen Formen überdenken und der immer absurdere Gigantismus sportlicher Grossanlässe wie den Olympischen Spielen einer ökologisch und gesellschaftlich verträglichen Alternative Platz machen müsste. 

Jeder sei seines Glückes Schmied – eine der gröberen kapitalistischen Lügen

 

Leistung mache sich stets früher oder später bezahlt, meinte F. Wer viel leiste, werde dafür mit beruflichem und gesellschaftlichem Erfolg belohnt. Ganz so, wie es schon das alte Sprichwort sage, wonach jeder seines Glückes Schmied sei. Dies ist wohl eine der gröberen kapitalistischen Lügen…

Das Zimmermädchen, das im Zehnminutentakt Zimmer um Zimmer des Hotels reinigen und in Ordnung bringen muss, der Bauarbeiter, der im heissesten Sommer und im kältesten Winter schwerste körperliche Arbeit verrichtet, bis ihm buchstäblich der Rücken zerbricht, die Krankenpflegerin, die unter permanentem Zeitdruck von Patient zu Patientin eilt und sich dabei nicht den allerkleinsten Fehler erlauben darf, der Arbeiter in der Fleischfabrik, der pausenlos die geschlachteten Tiere zerlegt, bis ihm fast die Arme abfallen, und die alleinerziehende Mutter, die zwischen der Kinderbetreuung, ihren beiden Teilzeitjobs und den Haushaltsarbeiten kaum zum Schnaufen kommt – mehr als sie alle und noch viele, viele mehr kann man nun wirklich nicht mehr leisten. 

Und dennoch wird keine und keiner von ihnen oder allerhöchstens ein paar ganz wenige jenen beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg schaffen, von dem das Sprichwort vom Schmied und seinem Glück faselt. Und dies nicht etwa, weil die Betroffenen zu „faul“ wären, nein, ganz im Gegenteil: Sie sind arbeitsamer und fleissiger, selbstloser und beharrlicher als so manche und so mancher, die sich auf den höheren Rängen der kapitalistischen Machtpyramide in ihrem Glück sonnen und sich eines um ein Mehrfaches höheren Lohns erfreuen. Dass die meisten Tieflohnarbeiterinnen und Tieflohnarbeiter trotz grösster Anstrengung den beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg nicht schaffen, hat nicht mit fehlender Leistungsbereitschaft zu tun, sondern einzig und allein damit, dass sie schlechtere Startbedingungen hatten: Entweder verfügten ihre Eltern nicht über das nötige Geld, um ihnen eine gewünschte Ausbildung zu ermöglichen, oder sie sahen sich in der Schule schon von Anfang an gegenüber Kindern aus sogenannt „höhergebildeten“ Akademikerfamilien benachteiligt oder sie stammen aus einem anderen Land und verfügen daher nicht über die notwendigen Bildungspapiere und nur über spärliche Sprachkenntnisse. 

Die Lüge, wonach jeder seines Glückes Schmied sei, dient einzig und allein dazu, all jene, die sich auf den höheren Rängen der kapitalistischen Arbeitswelt tummeln, von ihrem schlechten Gewissen zu befreien, gegenüber anderen privilegiert zu sein, können sie sich doch jederzeit darauf berufen, dass all jene, denen es schlechter geht, an ihrem Schicksal selber Schuld seien: Sie hätten ja bloss ein bisschen härter arbeiten müssen und dann wären sie ebenfalls schon längstens auf der Sonnenseite. 

Diese Lüge trägt aber gleichzeitig ebenso dazu bei, dass auch die Benachteiligten und Unterprivilegierten am unteren Rand der Arbeitswelt das Bild vom Schmied und seinem Glück verinnerlicht haben: Dass es ihnen so mies geht, daran seien sie selber Schuld, sie hätten halt in der Schule besser aufpassen, sie hätten halt ein bisschen ehrgeiziger und fleissiger sein müssen. So wird die herrschende soziale Ungerechtigkeit zwischen denen auf der Sonnenseite und denen auf der Schattenseite sozusagen privatisiert, individualisiert, einfach gesagt: Wem es schlecht geht, ist selber Schuld. Und so kommt ganz bestimmt niemand auf die Idee, das ganze System, die ganze Brutalität einer Arbeitswelt, in der ausgerechnet jene Berufstätigen, welche zu schlechtesten Bedingungen die härteste Arbeit mit dem geringsten Lohn bewältigen, in Frage zu stellen und sich auf politischer Ebene für eine andere, gerechtere Wirtschaftsordnung einzusetzen, in der all jene Lügen und falschen Versprechungen, mit denen sich das kapitalistische System heute noch über Wasser hält, endgültig der Vergangenheit angehören würden.

30 Jahre und noch immer ist der Kapitalismus nicht überwunden

 

Eine linksgrüne Mehrheit dominiert den Zürcher Stadtrat seit über 30 Jahren. Auch die Stadtratswahlen vom 13. Februar 2022 werden daran aller Voraussicht nach nichts ändern. „Das rot-grüne Gesellschaftsprojekt“, schreibt die „NZZ am Sonntag“ vom 23. Januar 2022, „ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.. Zwar läuft die Kapitalismuskritik nur noch als Hintergrundmusik und alles Anarchische wurde aussortiert. Man begnügt sich damit, das eigene Milieu mit Genossenschaftswohnungen, einem breiten Kulturangebot, Velowegen und genderkonformen Toiletten zufriedenzustellen.“ Ja. Seit 30 Jahren ist Links-Grün in Zürich an der Macht. Und trotzdem ist Zürich nach wie vor und mehr denn je eine durch und durch kapitalistische Stadt: Während der Zürcher Finanzplatz Milliardengewinne scheffelt und seinen Topmanagern Löhne in zweistelliger Millionenhöhe auszahlt, müssen Zehntausende von Zürcherinnen und Zürchern auf fast alles verzichten, was auch nur ein wenig über die elementarsten Lebensbedürfnisse hinausgeht: kein Theater- und Kinobesuch, kein Essen im Restaurant, keine Spielzeuge für die Kinder, keine Ausflüge und Ferienreisen, einfach nichts. Vergleicht man die höchsten Löhne in der Stadt Zürich mit den niedrigsten, dann beträgt das Verhältnis nicht weniger als 300:1. Die Umlagerung von unten nach oben läuft ungebrochen wie eine gut geölte Maschine: Während Aktionärinnen und Aktionäre von Grossfirmen in Form von Dividenden jährlich fette Gewinne einstreichen, ohne dafür auch nur einen Finger krumm machen zu müssen, schuften sich die Arbeiterinnen und Arbeiter an den untersten Rändern der kapitalistischen Arbeitswelt fast zu Tode und erhalten bloss einen Bruchteil dessen, was ihre Arbeit eigentlich Wert wäre – um so jenes Geld zu erwirtschaften, das den Kapitalbesitzerinnen und Kapitalbesitzern unaufhörlich in den Schoss fällt. Das Gleiche bei den Immobilien, wo sich die hart erarbeiteten und oft kaum bezahlbaren Mieten unentwegt in jenes Gold verwandeln, das sich bei Immobilienbesitzerinnen, Spekulanten und Baukonzernen ansammelt. Noch immer sind der Wettbewerb und der gegenseitige Konkurrenzkampf aller gegen alle die obersten Prinzipien und noch immer hält sich die Lüge, wonach jeder reich werden könne, wenn er sich nur genug anstrenge, aller gegenteiligen Einsicht hartnäckigst am Leben. Dass die 30jährige „Herrschaft“ einer linksgrünen Zürcher Regierung an alledem nichts Grundsätzliches zu ändern vermochte und sich die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern in dieser Zeit sogar noch vergrössert hat, zeigt die wahren Machtverhältnisse: Nur scheinbar leben wir in einer Demokratie. Tatsächlich aber ist es der Kapitalismus, der das Sagen hat. Deshalb waren die „anarchistischen“ Ideen aus der Frühzeit einer jungen, unverbrauchten, unangepassten linksgrünen Bewegung genau richtig und haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Man hätte dem Kapitalismus keinen grösseren Dienst erweisen können, als solche radikale, kapitalismuskritische Stimmen über Bord zu werfen und den Weg realpolitischer „Vernunft“, „Kompromissbereitschaft“ und „Pragmatismus“ einzuschlagen. Nun haben wir den Salat: Die „Linken“ und „Grünen“ sind zwar an der Macht, doch das kapitalistische Karussell der Ausbeutung von Mensch und Natur, der Umverteilung von der Arbeit zum Kapital und dem selbstzerstörerischen Wahn, alles müsse unaufhörlich wachsen, dreht sich auch in Zürich schneller denn je. Klar, es wäre eine Illusion, anzunehmen, Zürich könnte sich als einzige Stadt weit und breit einfach so aus dem Kapitalismus verabschieden. Zu sehr ist alles mit allem verbunden. Aber es braucht eine Rückbesinnung linker und grüner Politik auf die Ideale der Anfangszeit. „Im Jugendidealismus“, sagte der Urwalddoktor Albert Schweitzer“, „erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt austauschen sollte.“ Vielleicht könnte eine solche Reaktivierung des „Jugendidealismus“ dazu führen, dass linksgrüne Politik sozusagen auf zwei Ebenen agieren würde: die eine wäre die konkrete, pragmatische, welche Wohnbaugenossenschaften gründet, Bäume pflanzt und Velowege realisiert. Die zweite Ebene, die „idealistische“, wäre die Vision von jener Welt, in der wir in zehn oder 20 Jahren leben wollen, einer Welt, in der aller Reichtum auf alle Menschen gerecht und gleichmässig verteilt ist, eine Welt im Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur und zwischen den heute lebenden und den zukünftigen Generationen, einer Welt ohne Hunger und ohne Kriege, einer Welt, in der ein gutes Leben für alle Wirklichkeit geworden ist. Dieser „idealistische“ Teil der politischen Arbeit müsste allerdings länderübergreifend stattfinden, denn so wie der Kapitalismus global vernetzt ist, so müssten sich auch die politischen Kräfte, welche sich seine Überwindung zum Ziel gesetzt haben, global vernetzen und organisieren. Eine Idee, deren Realisierung heute noch in weiter Ferne zu liegen scheint. Und doch ist sie elementar. Denn analog zur Aussage einer Klimaaktivistin, wonach man die Welt auch demokratisch an die Wand fahren könne, liesse sich sagen, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem früher oder später zu einem globalen gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Kollaps führen wird, auch wenn wir dannzumal über noch so viele Wohnbaugenossenschaften, Velowege und gendergerechte Toiletten verfügen werden.

 

Warum wir dem Staat in diesen schweren Zeiten umso mehr Sorge tragen sollten

 

E. ist davon überzeugt, dass der Staat auch nach dem Ende der Coronapandemie die während dieser Zeit etablierten Macht- und Kontrollinstrumente nicht so schnell wieder aus der Hand geben und die Bürgerinnen und Bürger weiterhin bevormunden und ihrer persönlichen Freiheiten berauben werde. Dieser Gefährdung der Demokratie gälte es in aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Ein paar Tage später, Bürgerversammlung in B.: Das vom Stadtrat vorgelegte Budget fürs kommende Jahr wird in Bausch und Bogen verworfen. Der Stadtpräsident sieht sich bei seinen Ausführungen mit höhnischem Gelächter aus der Bürgerschaft konfrontiert. Ein Versammlungsteilnehmer meint im Anschluss an die Veranstaltung, es wäre bei alledem wohl gar nicht so sehr um das Budget gegangen, als vielmehr darum, den Stadtbehörden endlich mal eins „auszuwischen“. Und wieder ein paar Tage später geht die Neinkampagne gegen das am 13. Februar 2022 zur Abstimmung gelangende „Medienpaket“, das eine Erhöhung der staatlichen Beiträge für Print- und Onlinemedien vorsieht, ihrem Höhepunkt entgegen. Das Hauptargument der Gegnerschaft des Medienpakets: Durch die staatliche Unterstützung gerieten die Medien in die Abhängigkeit des Staates, der auf diese Weise seine „Macht“ ausbauen und die Meinungsvielfalt und Demokratie bedrohen würde, es ist auch warnend von „Staatsmedien“ die Rede. Nun, was haben die Ängste von E., die Bürgerversammlung in B. und die Neinkampagne gegen das Mediengesetz miteinander zu tun? Sehr viel: Durchwegs wird der Staat als etwas Gefährliches, Bedrohliches, Übermächtiges oder sogar Demokratiefeindliches gesehen, das es zu bekämpfen und in seine Schranken zu weisen gälte, als wäre dieser Staat ein Monster, das, wenn man es nicht rechtzeitig bändigt, mit der Zeit alles auffressen würde. Wer so argumentiert, lässt gänzlich ausser Acht, dass dieser vielgeschmähte Staat, dieses „Monster“, doch – zumindest hierzulande und ebenso in allen anderen echten Demokratien – doch nichts anderes ist als die Gesamtheit seiner Bürgerinnen und Bürger, nicht dazu da, diese zu bevormunden und ihre persönlichen Freiheiten einzuschränken, sondern, im Gegenteil: soziale Sicherheit zu gewährleisten, lebenswichtige Infrastrukturen bereitzustellen, Meinungsfreiheit und Mitspracherecht zu garantieren. In einer Zeit zunehmender „Staatsfeindlichkeit“, die ihren bisherigen Höhepunkt im US-amerikanischen „Trumpismus“ und dem Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021 gefunden hat, ist der Staat schon längst nicht mehr das Bedrohliche, sondern viel mehr das Bedrohte, dem wir, statt es an allen Fronten zu bekämpfen, viel mehr grösste Sorge tragen müssen, um die Demokratie nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Vielmehr müsste der Blick geschärft werden für das, was uns tatsächlich bedroht: die globalen Wirtschaftsmächte mit ihrem unersättlichen Drang, alles dem Zwecke des Profits und der Gewinnmaximierung zu unterwerfen, ein Wirtschafts- und Finanzsystem, das auf einer permanenten Umverteilung von der Arbeit zum Kapital beruht und die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden lässt, der ungebrochene Wachstumswahn in einer Welt begrenzter Ressourcen und das gefährliche Spiel mit unserer Zukunft und dem Weiterleben der Menschen auf diesem Planeten. Wenn uns etwas bedroht, dann nicht staatliche Strukturen, Gesetze und Behörden, sondern ein ausser Rand und Band geratenes Wirtschaftssystem, das mit persönlicher Freiheit, Sicherheit und Demokratie auch nicht das Geringste zu tun hat. „Abwesenheit des Staates“, sagte der frühere deutsche SPD-Politiker Erhard Eppler, „macht die Menschen nicht frei, sondern zum Freiwild der Reichen und Mächtigen.“

55jährig und schon „altes Eisen“

 

M., 55jährig, ist seit drei Jahren arbeitslos. Ihren früheren Job in einem IT-Unternehmen, in dem die gelernte Verkäuferin als Quereinsteigerin während vieler Jahre erfolgreich tätig gewesen war, hatte sie infolge einer schweren Krankheit und privater Schicksalsschläge verloren. Und nun also ist sie seit drei Jahren wieder auf Jobsuche. Ein hartes Pflaster: In den allermeisten Fällen erhält sie, wenn auf ihr Bewerbungsschreiben überhaupt geantwortet wird, eine Absage ohne jegliche Begründung, wiederum andere Firmen begründen eine Absage damit, M. sei für die betroffene Stelle „überqualifiziert“, und nicht selten wird ihr auch mitgeteilt, man hätte eine andere Bewerberin gefunden, die „besser zum gesuchten Profil“ passe. Bei Absage Nr. 157 hat M., die sich mittlerweile immer mehr als „altes Eisen“ vorkommt, zu zählen aufgehört und inzwischen fast die letzte Hoffnung verloren, jemals wieder einen Job zu finden. Was für eine Wirtschaft, was für ein Land, das sich den Luxus leisten kann, auf das Potenzial hunderttausender tatkräftiger, motivierter, begabter, ideenreicher Arbeitskräfte ganz einfach zu verzichten! Sollte nicht jedem Menschen, der einer Erwerbsarbeit nachgehen möchte, ganz selbstverständlich die Chance dafür offenstehen? Müsste die Wirtschaft, die, um zu funktionieren, stets auf möglichst viele und kaufkräftige Konsumentinnen und Konsumenten angewiesen ist, den Kuchen der Erwerbsarbeit nicht ebenso auf möglichst viele arbeitswillige Menschen möglichst gerecht verteilen? Müsste es nicht, analog zum Recht auf fliessendes Wasser, ausreichende Ernährung oder auf eine Wohnung, auch ein Recht auf Arbeit geben? Sollten die Wirtschaft und die gesamte Arbeitswelt nicht so etwas wie ein Haus sein, in dem Platz ist für alle und in dem jeder Mensch mit seinen individuellen Fähigkeiten und Begabungen willkommen ist? Wäre es nicht in jeglicher Hinsicht vernünftiger, das gesamthaft vorhandene Arbeitsvolumen möglichst gleichmässig auf alle arbeitsfähigen Menschen aufzuteilen, statt die einen durch Höchstleistungen und Überzeiten permanent zu überfordern und die anderen infolge zerschlagener Zukunftsaussichten zu demütigen und in psychisches und soziales Elend versinken zu lassen? Müsste man da nicht schon von einer Verletzung elementarer Menschenrechte sprechen, wenn einem Menschen auch noch der letzte Rest von Selbstachtung entrissen wird, indem man ihm über Jahre, Schlag um Schlag, Ohrfeige um Ohrfeige, zu verstehen gibt, dass man ihn eigentlich gar nicht braucht und dass er in dieser Welt, die ohne ihn auch auszukommen vermag, im Grunde genommen überflüssig ist? Noch herrscht das Primat der betriebswirtschaftlichen Rentabilität: mit möglichst wenig Personal und damit mit möglichst geringen Lohnkosten das Maximum an Profit herauszuholen. Noch dienen die Menschen der Wirtschaft und nicht die Wirtschaft den Menschen. Doch dies geht nur solange, als Wirtschaft und Gesellschaft fein säuberlich voneinander getrennt sind: Die Kosten, welche die einzelne Firma durch Personalabbau und Auspressung der verbliebenen Arbeitskräfte einspart, lösen sich nicht in Luft auf, sondern fallen anderswo an: bei der Arbeitslosenkasse, bei der Invalidenversicherung, bei der Sozialhilfe, im Gesundheitswesen, bei Beratungsstellen. Dies wird sich erst dann ändern, wenn das heute noch vorherrschende Primat der Privatwirtschaft gegenüber Gesellschaft und Politik auf den Kopf gestellt wird und die Wirtschaft nicht mehr vor allem dem Ziel grösstmöglicher Profitmaximierung verpflichtet ist, sondern vor allem dem Wohl für das Ganze, nicht nur in gesellschaftlicher, sondern auch in ökologischer Hinsicht, was ja unauflöslich miteinander verbunden ist. Dann werden nicht mehr die Menschen um einen Arbeitsplatz buhlen und sich dabei gegenseitig bis aufs Messer konkurrenzieren, sondern die Firmen werden um die Arbeitskräfte buhlen. Und dann wird man auch logischerweise nicht mehr von „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“ sprechen bzw. man wird diese Begriffe umdrehen, denn Arbeit – durch das Anbieten von Fähigkeiten und Begabungen – stellen ja nicht die so genannten „Arbeitgeber“ zur Verfügung, sondern die so genannten „Arbeitnehmer“. Die wievielte Absage, die wievielte Ohrfeige, den wievielten Faustschlag hat M. in der Zwischenzeit wohl hinnehmen müssen? Wie viel Demütigung, wie viel Missachtung wunderbarer Fähigkeiten und Begabungen, die in Menschen unausgelebt schlummern, braucht es wohl noch, bis eine neue Denkweise, eine neue Sicht auf das Wohl des Ganzen Wirklichkeit werden kann?