Warum wir dem Staat in diesen schweren Zeiten umso mehr Sorge tragen sollten

 

E. ist davon überzeugt, dass der Staat auch nach dem Ende der Coronapandemie die während dieser Zeit etablierten Macht- und Kontrollinstrumente nicht so schnell wieder aus der Hand geben und die Bürgerinnen und Bürger weiterhin bevormunden und ihrer persönlichen Freiheiten berauben werde. Dieser Gefährdung der Demokratie gälte es in aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Ein paar Tage später, Bürgerversammlung in B.: Das vom Stadtrat vorgelegte Budget fürs kommende Jahr wird in Bausch und Bogen verworfen. Der Stadtpräsident sieht sich bei seinen Ausführungen mit höhnischem Gelächter aus der Bürgerschaft konfrontiert. Ein Versammlungsteilnehmer meint im Anschluss an die Veranstaltung, es wäre bei alledem wohl gar nicht so sehr um das Budget gegangen, als vielmehr darum, den Stadtbehörden endlich mal eins „auszuwischen“. Und wieder ein paar Tage später geht die Neinkampagne gegen das am 13. Februar 2022 zur Abstimmung gelangende „Medienpaket“, das eine Erhöhung der staatlichen Beiträge für Print- und Onlinemedien vorsieht, ihrem Höhepunkt entgegen. Das Hauptargument der Gegnerschaft des Medienpakets: Durch die staatliche Unterstützung gerieten die Medien in die Abhängigkeit des Staates, der auf diese Weise seine „Macht“ ausbauen und die Meinungsvielfalt und Demokratie bedrohen würde, es ist auch warnend von „Staatsmedien“ die Rede. Nun, was haben die Ängste von E., die Bürgerversammlung in B. und die Neinkampagne gegen das Mediengesetz miteinander zu tun? Sehr viel: Durchwegs wird der Staat als etwas Gefährliches, Bedrohliches, Übermächtiges oder sogar Demokratiefeindliches gesehen, das es zu bekämpfen und in seine Schranken zu weisen gälte, als wäre dieser Staat ein Monster, das, wenn man es nicht rechtzeitig bändigt, mit der Zeit alles auffressen würde. Wer so argumentiert, lässt gänzlich ausser Acht, dass dieser vielgeschmähte Staat, dieses „Monster“, doch – zumindest hierzulande und ebenso in allen anderen echten Demokratien – doch nichts anderes ist als die Gesamtheit seiner Bürgerinnen und Bürger, nicht dazu da, diese zu bevormunden und ihre persönlichen Freiheiten einzuschränken, sondern, im Gegenteil: soziale Sicherheit zu gewährleisten, lebenswichtige Infrastrukturen bereitzustellen, Meinungsfreiheit und Mitspracherecht zu garantieren. In einer Zeit zunehmender „Staatsfeindlichkeit“, die ihren bisherigen Höhepunkt im US-amerikanischen „Trumpismus“ und dem Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021 gefunden hat, ist der Staat schon längst nicht mehr das Bedrohliche, sondern viel mehr das Bedrohte, dem wir, statt es an allen Fronten zu bekämpfen, viel mehr grösste Sorge tragen müssen, um die Demokratie nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Vielmehr müsste der Blick geschärft werden für das, was uns tatsächlich bedroht: die globalen Wirtschaftsmächte mit ihrem unersättlichen Drang, alles dem Zwecke des Profits und der Gewinnmaximierung zu unterwerfen, ein Wirtschafts- und Finanzsystem, das auf einer permanenten Umverteilung von der Arbeit zum Kapital beruht und die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden lässt, der ungebrochene Wachstumswahn in einer Welt begrenzter Ressourcen und das gefährliche Spiel mit unserer Zukunft und dem Weiterleben der Menschen auf diesem Planeten. Wenn uns etwas bedroht, dann nicht staatliche Strukturen, Gesetze und Behörden, sondern ein ausser Rand und Band geratenes Wirtschaftssystem, das mit persönlicher Freiheit, Sicherheit und Demokratie auch nicht das Geringste zu tun hat. „Abwesenheit des Staates“, sagte der frühere deutsche SPD-Politiker Erhard Eppler, „macht die Menschen nicht frei, sondern zum Freiwild der Reichen und Mächtigen.“

55jährig und schon „altes Eisen“

 

M., 55jährig, ist seit drei Jahren arbeitslos. Ihren früheren Job in einem IT-Unternehmen, in dem die gelernte Verkäuferin als Quereinsteigerin während vieler Jahre erfolgreich tätig gewesen war, hatte sie infolge einer schweren Krankheit und privater Schicksalsschläge verloren. Und nun also ist sie seit drei Jahren wieder auf Jobsuche. Ein hartes Pflaster: In den allermeisten Fällen erhält sie, wenn auf ihr Bewerbungsschreiben überhaupt geantwortet wird, eine Absage ohne jegliche Begründung, wiederum andere Firmen begründen eine Absage damit, M. sei für die betroffene Stelle „überqualifiziert“, und nicht selten wird ihr auch mitgeteilt, man hätte eine andere Bewerberin gefunden, die „besser zum gesuchten Profil“ passe. Bei Absage Nr. 157 hat M., die sich mittlerweile immer mehr als „altes Eisen“ vorkommt, zu zählen aufgehört und inzwischen fast die letzte Hoffnung verloren, jemals wieder einen Job zu finden. Was für eine Wirtschaft, was für ein Land, das sich den Luxus leisten kann, auf das Potenzial hunderttausender tatkräftiger, motivierter, begabter, ideenreicher Arbeitskräfte ganz einfach zu verzichten! Sollte nicht jedem Menschen, der einer Erwerbsarbeit nachgehen möchte, ganz selbstverständlich die Chance dafür offenstehen? Müsste die Wirtschaft, die, um zu funktionieren, stets auf möglichst viele und kaufkräftige Konsumentinnen und Konsumenten angewiesen ist, den Kuchen der Erwerbsarbeit nicht ebenso auf möglichst viele arbeitswillige Menschen möglichst gerecht verteilen? Müsste es nicht, analog zum Recht auf fliessendes Wasser, ausreichende Ernährung oder auf eine Wohnung, auch ein Recht auf Arbeit geben? Sollten die Wirtschaft und die gesamte Arbeitswelt nicht so etwas wie ein Haus sein, in dem Platz ist für alle und in dem jeder Mensch mit seinen individuellen Fähigkeiten und Begabungen willkommen ist? Wäre es nicht in jeglicher Hinsicht vernünftiger, das gesamthaft vorhandene Arbeitsvolumen möglichst gleichmässig auf alle arbeitsfähigen Menschen aufzuteilen, statt die einen durch Höchstleistungen und Überzeiten permanent zu überfordern und die anderen infolge zerschlagener Zukunftsaussichten zu demütigen und in psychisches und soziales Elend versinken zu lassen? Müsste man da nicht schon von einer Verletzung elementarer Menschenrechte sprechen, wenn einem Menschen auch noch der letzte Rest von Selbstachtung entrissen wird, indem man ihm über Jahre, Schlag um Schlag, Ohrfeige um Ohrfeige, zu verstehen gibt, dass man ihn eigentlich gar nicht braucht und dass er in dieser Welt, die ohne ihn auch auszukommen vermag, im Grunde genommen überflüssig ist? Noch herrscht das Primat der betriebswirtschaftlichen Rentabilität: mit möglichst wenig Personal und damit mit möglichst geringen Lohnkosten das Maximum an Profit herauszuholen. Noch dienen die Menschen der Wirtschaft und nicht die Wirtschaft den Menschen. Doch dies geht nur solange, als Wirtschaft und Gesellschaft fein säuberlich voneinander getrennt sind: Die Kosten, welche die einzelne Firma durch Personalabbau und Auspressung der verbliebenen Arbeitskräfte einspart, lösen sich nicht in Luft auf, sondern fallen anderswo an: bei der Arbeitslosenkasse, bei der Invalidenversicherung, bei der Sozialhilfe, im Gesundheitswesen, bei Beratungsstellen. Dies wird sich erst dann ändern, wenn das heute noch vorherrschende Primat der Privatwirtschaft gegenüber Gesellschaft und Politik auf den Kopf gestellt wird und die Wirtschaft nicht mehr vor allem dem Ziel grösstmöglicher Profitmaximierung verpflichtet ist, sondern vor allem dem Wohl für das Ganze, nicht nur in gesellschaftlicher, sondern auch in ökologischer Hinsicht, was ja unauflöslich miteinander verbunden ist. Dann werden nicht mehr die Menschen um einen Arbeitsplatz buhlen und sich dabei gegenseitig bis aufs Messer konkurrenzieren, sondern die Firmen werden um die Arbeitskräfte buhlen. Und dann wird man auch logischerweise nicht mehr von „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“ sprechen bzw. man wird diese Begriffe umdrehen, denn Arbeit – durch das Anbieten von Fähigkeiten und Begabungen – stellen ja nicht die so genannten „Arbeitgeber“ zur Verfügung, sondern die so genannten „Arbeitnehmer“. Die wievielte Absage, die wievielte Ohrfeige, den wievielten Faustschlag hat M. in der Zwischenzeit wohl hinnehmen müssen? Wie viel Demütigung, wie viel Missachtung wunderbarer Fähigkeiten und Begabungen, die in Menschen unausgelebt schlummern, braucht es wohl noch, bis eine neue Denkweise, eine neue Sicht auf das Wohl des Ganzen Wirklichkeit werden kann? 

Soziale Gerechtigkeit als unverzichtbare Voraussetzung für jede funktionierende Demokratie

 

Im Gegensatz zu früheren Zeiten, so wird oft gesagt, leben wir heute in einer „multioptionalen“ Gesellschaft. Noch nie hätte man eine so grosse Auswahl an unterschiedlichen Lebensentwürfen zur Verfügung gehabt. Auch philosophische Gespräche am Radio oder Fernsehen, Weiterbildungsveranstaltungen über „Selbstfindung“ und „Selbstoptimierung“ sowie eine ganze Flut von Ratgebern für die Erkundung des persönlichen „Lebensglücks“ kreisen um dieses Thema. Doch was wird sich die alleinerziehende Mutter, die zwischen dem Aufziehen ihres Kindes, ihrer Arbeit als Verkäuferin und dem Erledigen sämtlicher Haushaltsarbeiten rund um die Uhr kaum zum Schnaufen kommt, bei alledem wohl denken? Von „Selbstoptimierung“ kann sie wohl nur träumen, ihre „Multioptionalität“ besteht bestenfalls darin, ob sie ihrem Kind zu Weihnachten das lange ersehnte Spielzeug kaufen kann oder doch lieber ein wenig mehr Geld zur Verfügung hat für ein gutes Essen. Ja, die „Selbstfindung“ und die „Selbstoptimierung“ sind Merkmale der „modernen“ Gesellschaft, in der wir leben. Aber zugleich sind ihre Segnungen und Wohltaten höchst ungleich und höchst ungerecht verteilt. Sie sind nicht Privilegien heutiger gegenüber vergangener Generationen. Sie sind, wie so vieles andere auch, Privilegien einer wohlbetuchten Oberschicht gegenüber dem Rest der Bevölkerung. „Selbstfindung“, „Selbstoptimierung“ und „Multioptionalität“ werden einem nicht geschenkt, man muss sie sich leisten können, und dies ist nur jenem Teil der Bevölkerung vergönnt, der weit mehr Geld zur Verfügung hat, als das, was für die Sicherstellung der Grundbedürfnisse auch tatsächlich notwendig ist. Doch dies geht weit über Fragen von „Selbstfindung“ oder „Selbstoptimierung“ hinaus. Weite Bereiche gesellschaftlicher Teilhabe sind Herrschaftsgebiete der Reichen, wo die Ärmeren nichts zu suchen haben, von kulturellen Angeboten wie Theater, Musik, Ausstellungen, Literatur über Freizeitaktivitäten wie Skifahren, Tennis, Golf und Ferien im Luxushotel oder auf den Malediven bis hin zu Politik, wo nur in ganz seltenen Ausnahmefällen Angehörige der unteren Bevölkerungsschichten anzutreffen sind, obwohl in einer echten Demokratie doch eigentlich sämtliche Segmente der Bevölkerung angemessen vertreten sein müssten. So ist es wohl nicht übertrieben, von zwei Welten im gleichen Land zu sprechen, die so weit voneinander entfernt und gegenseitig so sehr entfremdet sind, dass die auf der Sonnenseite kaum mehr nachempfinden und verstehen können, wie denen auf der Schattenseite zumute ist. Doch der Zweispalt geht ja noch viel weiter: Die „unteren“ Bevölkerungsschichten sind nicht nur ausgegrenzt, abgehängt, stigmatisiert. Gleichzeitig erzielen sie durch ihre harte, entbehrungsreiche, anstrengende und dennoch schlecht bezahlte Arbeit jenen „Überschuss“ an Wohlstand, welcher den „höheren“ Bevölkerungsschichten jenes privilegierte Leben ermöglicht, welches ihnen selber verwehrt ist – wie die Köche, Putzfrauen, Kellnerinnen und Zimmermädchen auf einem Kreuzfahrtschiff, die durch ihre harte und schlechtbezahlte Arbeit dafür sorgen, dass sich die Gäste an Bord sämtlichen Annehmlichkeiten genüsslich hingeben können. Ich bin fast ganz sicher, dass die meisten sogenannten „Spaltungen“ innerhalb der Bevölkerung , die wir auch in der Schweiz in den vergangenen Jahren zunehmend wahrnehmen und die jetzt in der Coronapandemie ihren Höhepunkt erreicht haben, mit dieser „sozialen Apartheid“ etwas zu tun haben. Soziale Benachteiligung und Ausgrenzung führen, und das ist völlig verständlich, zu Hass und zu Wut. Die soziale Ungerechtigkeit, die Benachteiligung und Ausgrenzung ganzer Segmente der Bevölkerung, das ist der beste Nährboden für populistische Bewegungen, von den Trumpisten in den USA über die AfD in Deutschland bis zur SVP in der Schweiz. „Die AfD“, so Klaus Hurrelmann, Bildungsforscher an der Hertie School in Berlin, „schneidet unter den jungen Menschen deshalb so gut ab, weil sie als eine Partei wahrgenommen wird, die sich für die Rechte von Benachteiligten einsetzt.“ Wer deshalb populistischen Bewegungen, die ihrerseits auf eine gefährliche Spaltung der Gesellschaft hinarbeiten und in der Regel extreme, rassistische und fremdenfeindliche Positionen vertreten, wer also solchen Bewegungen das Wasser abgraben will, kann sich nicht darauf beschränken, diese auf irgendeine Art zu „bekämpfen“. Dauerhaft solchen Bewegungen den Boden entziehen können wir nur, indem wir die soziale Gerechtigkeit stärken. Die soziale Gerechtigkeit ist die eigentliche, unersetzliche, unabdingbare Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Wer sich nur noch in seine vier Wände privater Glückseligkeit, „Selbstfindung“ und „Selbstoptimierung“ zurückzieht, ohne sich um den Rest der Gesellschaft zu kümmern, gefährdet die Demokratie ebenso wie jene, die mit fremdenfeindlichen Parolen auf die Strassen gehen. Absurderweise sind die Entpolitisierung weiter Teile der Gesellschaft und der Rückzug ins private „Lebensglück“ heute weiter verbreitet denn je, und dies ausgerechnet in einer Zeit nie dagewesener sozialer, ökonomischer und ökologischer Herausforderungen, wo politisches Engagement auf breitester Basis an allen Ecken und Enden dringender nötig wäre denn ja.

 

 

Ein paar grundsätzliche Gedanken zur Abstimmung vom 13. Februar 2022 über die „Stempelsteuer“

 

Jetzt soll es der Emissionsabgabe (Bestandteil der sogenannten Stempelabgabe), die eine Firma bei der Aufstockung ihres Eigenkapitals zu entrichten hat, an den Kragen gehen. Dadurch würden dem Staat Steuereinnahmen von jährlich 250 Millionen Franken verloren gehen. Bürgerliche Parteien und der Bundesrat begründen die geplante Abschaffung der Emissionsabgabe mit der dadurch bewirkten „Stärkung des Steuer- und Wirtschaftsstandorts“. Mit dem gleichen Argument wurde bereits 1998 die Unternehmensreform I umgesetzt, welche unter anderem die Abschaffung der Kapitalsteuer auf Bundesebene beinhaltete. Es folgte 2007 das Unternehmenssteuerreformgesetz II, welches mehrere unternehmerfreundliche Änderungen bei den Bemessungsgrundlagen für die Gewinnsteuer mit sich brachte. Und mit der Unternehmenssteuerreform III, die allerdings 2017 vom Volk abgelehnt wurde, hätten die Kantone die Möglichkeit bekommen, sämtlichen Unternehmen steuerliche Entlastungen zu gewähren, was zu Steuerausfällen von rund zwei Milliarden Franken geführt hätte. In den Erläuterungen des Bundesrats zur Unternehmenssteuerreform III lesen wir: „Mit der Unternehmenssteuerreform III sollte die Attraktivität des Steuerstandortes Schweiz gestärkt und die internationale Akzeptanz der Schweizer Unternehmensbesteuerung wieder hergestellt werden.“ Auch bei der Abschaffung der Erbschaftssteuer, die in den vergangenen Jahren nach und nach in fast allen Kantonen erfolgte, wird stets das Argument des „Standortwettbewerbs“ ins Feld geführt. Doch denken wir diese Argumentation konsequent weiter, dann gäbe es ja nie ein absolutes Ende dieses „Standortwettbewerbs“, weder zwischen den einzelnen Kantonen, noch zwischen den einzelnen Staaten. Buchstäblich ein Fass ohne Boden, wie auch bei jeder anderen Form von Wettbewerb: Es gibt stets noch einen anderen, der die Nase ein bisschen weiter vorne hat und den man überholen muss, um nicht den Anschluss zu verlieren – worauf der Überholte dann erst recht alles daran setzen wird, seinen Kontrahenten aus dem Feld zu schlagen. Wie sehr das ein Spiel ohne Grenzen ist, zeigt sich auch darin, dass die FDP, federführend in Sachen Steuerwettbewerb, am liebsten auch noch die beiden anderen Teile der Stempelsteuer abgeschafft hätte: die Abgabe auf Versicherungsprämien und die sogenannte Umsatzabgabe, welche immer dann fällig wird, wenn in- und ausländische Wertpapiere gehandelt werden. Die Streichung aller drei Stempelabgaben hätte Steuerausfälle von zwei Milliarden Franken zur Folge. Wenigstens konnte das Parlament das Schlimmste verhindern und lehnte die Abschaffung der beiden zusätzlichen Stempelabgaben ab. Der „Steuerwettbewerb“, von dem die Unternehmen profitieren, ist, aus sozialer und gesellschaftspolitischer Sicht, die wahre Katastrophe. Denn jeder Franken, den ein Unternehmen an Steuern weniger abgibt, muss entweder im öffentlichen Raum, im Sozialbereich, in der Bildung, in der Infrastruktur eingespart oder auf Steuern und Abgaben umgeschlagen werden, welche die arbeitende Bevölkerung aufzubringen hat – eine permanente, buchstäblich „endlose“ Umverteilung von der Arbeit zum Kapital. Und das ist ja noch längst nicht alles: Die Unternehmensgewinne, die zu einem grossen Teil in die Taschen von Aktionären und Aktionärinnen fliessen, sind ja nur deshalb möglich, weil genug Menschen in diesen Unternehmen für ihre Arbeit weniger verdienen, als ihre Arbeit eigentlich Wert wäre – ein doppelter und dreifacher Diebstahl also! Da sich bei diesem Spiel früher oder später alle letztlich ins eigene Fleisch schneiden – denn auch die Unternehmen sind auf stabile soziale Verhältnisse, guten öffentlichen Verkehr und gute Schulen angewiesen -, braucht es dringend einen radikalen Systemwechsel. An die Stelle der Globalisierung des Standortwettbewerbs und der Unternehmensgewinne muss eine Globalisierung der sozialen Gerechtigkeit treten. Das Konkurrenzprinzip mag bei sportlichen Wettkämpfen oder bei der Entwicklung neuer Technologien sinnvoll sein, nicht aber dort, wo es um die Existenzsicherung und das Wohl der Menschen geht. Steuersätze müssen sowohl in jedem Land wie auch weltweit verbindlich festgelegt werden, „Steuerwettbewerb“ muss der Vergangenheit angehören. Wenn es dahin auch noch ein weiter Weg ist: Die Abstimmung am 13. Februar gegen die Abgabe der Stempelsteuer ist immerhin ein erster kleiner Schritt dazu..

Rassismus früher und heute – wir brauchen nicht nur Vergangenheitsbewältigung, sondern vor allem auch Gegenwartsbewältigung

 

Wie „20Minuten“ am 10. Januar 2022 berichtet, schliesst der Europapark im deutschen Rust seine seit Jahren mit Rassismuskritik konfrontierte „Dschungel-Flossfahrt“, wo schwarze Personen in traditioneller afrikanischer Kleidung nebst weissen Kolonialherren in beigen Safarianzügen und Tropenhüten zu sehen sind – Zerrbilder längst vergangener Zeiten, die hier bilderbuchartig über Jahrzehnte weitervermittelt worden sind. Zerrbilder? Längst vergangene Zeiten? Schön wäre es. Bei aller Rassismuskritik in der heutigen Zeit geht nur zu leicht vergessen, dass Rassismus auch heute noch längst nicht ausgerottet ist. Ganz im Gegenteil. Gemäss Duden besteht Rassismus in „institutionellen und gesellschaftlichen Strukturen, durch die Menschen aufgrund bestimmter biologischer oder ethnisch-kultureller Merkmale diskriminiert werden.“ So gesehen wäre Rassismus erst dann überwunden, wenn Menschen weltweit ganz unabhängig vom Ort, wo sie geboren wurden, genau die gleichen Chancen auf ein menschenwürdiges Leben hätten, genau die gleichen Chancen auf fairen Lohn und gute Arbeitsbedingungen, die genau gleichen Chancen auf Bildung und kulturelle Teilhabe. Tatsache aber ist, dass ein Kind, das im Kongo oder im Jemen geboren wird, eine ungleich viel geringere Chance auf ein menschenwürdiges Leben frei von Ausbeutung und Unterdrückung hat als ein Kind, das in Schweden oder in der Schweiz geboren wird – und dies einzig und allein infolge seines Geburtsorts, seiner ethnischen Zugehörigkeit und seiner Hautfarbe. Rassismus ist heute noch, mehr denn je, allgegenwärtige, bittere Realität in einer Welt, in der die Gegensätze zwischen Arm und Reich laufend noch grösser werden. Der Unterschied ist nur, dass der Sklavenhalter von einst nicht mehr im beigen Safarianzug mit Tropenhut durch den afrikanischen Dschungel streift, sondern mit weissem Hemd, dunkelblauem Anzug und Krawatte in einem vollklimatisierten Büro in London, New York oder Zürich sitzt und dort die Millionengewinne aus seinen Geschäften mit Kakao, Bananen oder Tropenholz auf seinem Computer genüsslich hin- und herschiebt. So sensibel die Öffentlichkeit in den USA, in Deutschland, Spanien oder Frankreich heute auf den Rassismus früherer Zeiten reagiert, so systematisch Spuren und Denkmäler früherer Sklavenhalter ausgetilgt werden, so akribisch rassistische Begriffe aus dem täglichen Sprachgebrauch entfernt werden – so blind ist man auch heute noch gegenüber dem alltäglichen Rassismus, dem Millionen von Menschen in den Ländern des Südens, die tägliche Schwerstarbeit zwecks unaufhörlicher Gewinnvermehrung multinationaler Konzerne leisten, Tag für Tag ausgeliefert sind, nur weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort geboren wurden. Wäre man doch gegenüber diesem ganz „normalen“, alltäglichen Rassismus nur einen Bruchteil so kritisch wie gegenüber dem Rassismus früherer Zeiten! Dies würde allerdings mehr bedeuten als die Entfernung der „Dschungel-Flussfahrt“ aus dem Europapark in Rust. Es würde bedeuten, unser gesamtes kapitalistisches Wirtschaftssystem, diese weltweite Institutionalisierung von Ausbeutung, Gewalt und Rassismus, radikal zu hinterfragen und ein neues Wirtschaftssystem zu erdenken, das nicht mehr auf endloser Ausbeutung und Gewinnmaximierung beruht, sondern auf dem guten Leben für alle – ganz unabhängig davon, wo man geboren wird, welcher Ethnie man angehört und welche Hautfarbe man hat. Die „Dschungel-Flussfahrt“ im Europapark wird durch eine neue Bahn zum Thema „Österreich“ ersetzt. Schade. Man hätte ja auch einen Themenpark einrichten können, bei dem man von den Wolkenkratzern Manhattans bis zu den Goldminen in Südafrika gefahren wäre und dabei erfahren hätte, wie alles mit allem zusammenhängt.

Neuer Kinofilm „The 355“: Und das war sie dann schon, die Emanzipation der Frau?

 

Am 6. Januar 2022 ist in Schweizer Kinos der Actionfilm „The 355“ angelaufen. Das Besondere daran: Nicht Männer spielen darin die Hauptrolle, sondern fünf hochkarätige Schauspielerinnen, die, so berichtet die „Tagesschau“ am 7. Januar, „ihren männlichen Actionkollegen punkto Knallerei und Prüglerei in nichts nachstehen und damit ganz offensichtlich sämtliche Genderstereotypen kurzerhand eliminieren, und dies mit dem Zweihänder, der Waffe in der Hand.“ In der Tat: „The 355“ macht „James Bond“ alle Konkurrenz. Wie James Bond auf der Jagd nach dem ultimativen Bösewicht, so kämpfen sich die fünf Agentinnen von „The 355“ auf der Suche nach einer Cyberwaffe bisher ungekannter Zerstörungskraft durch jedes noch so heimtückische Hindernis, angefangen von einer Verfolgungsjagd quer durch Paris, zu Fuss und per Motorrad, durch enge Strassen zwischen umgeworfenen Postkartenständern und Bistrotischen, quer über den Fischgrossmarkt mit spektakulärem Showdown zwischen Kühltruhen, auf Eis gelagerten Schwertfischen und Transportschiffen, und so weiter, von Paris über Marokko bis Shanghai. Doch ist das schon alles? Eigentlich habe ich mir unter der Emanzipation der Frau und der Überwindung bisheriger Genderstereotypen etwas anderes vorgestellt. Oder können wir uns ernsthaft damit zufriedengeben, dass die Frauen bloss in die Rollen schlüpfen, die bisher den Männern vorbehalten waren, um nun einfach noch einmal die gleichen Geschichten nachzuspielen, die schon tausendmal gespielt worden sind? Müssten echte Emanzipation, echter gesellschaftlicher Fortschritt und echte Überwindung traditioneller Geschlechterrollen nicht darin bestehen, Filme dieser Art schon gar nicht mehr zu drehen? Generationen haben sich über sinnlose Autowettrennen auf endlosen Highways in der Abendsonne, über immer ausgeklügeltere Waffen, Roboter und Unterseeboote, über mit Maschinengewehrsalven niedergemähte Gangsterbanden, über durch klirrende Fensterscheiben fliehende Bösewichte und über meterweit herumspritzendes Blut halb zu Tode amüsiert. Wäre es nicht an der Zeit, langsam erwachsen zu werden? Gut, immerhin retten am Ende des Films die fünf Agentinnen, wie löblich, die Erde vor dem Dritten Weltkrieg. Doch hätte es da nicht auch noch ein paar andere, kreativere und vielleicht sogar realistischere Möglichkeiten gegeben? Hätten die fünf Agentinnen, statt sich gegenseitig Motorräder, Tiefkühltruhen und Postkartenständer um die Köpfe zu schlagen, ihre Energie, ihre Tatkraft, ihr Geschick und ihre Intelligenz nicht auch darauf verwenden können, um eine internationale Konferenz für Frieden und Abrüstung ins Leben zu rufen, zu der Frauen aus allen Ländern der Welt eingeladen worden wären? Das wäre nicht spannend genug gewesen? Und ob! Die Widerstände und Hindernisse, die den fünf Frauen entgegengeschlagen hätten und wie sie damit umgegangen wären, was eine solche Bewegung weltweit ausgelöst hätte, wie der Dritte Weltkrieg dadurch vielleicht tatsächlich hätte verhindert werden können – kein noch so spannender Actionfilm, keine noch so wilde Motorradjagd, keine noch so weit in die Höhe fliegende Tiefkühltruhe könnten ein solches weltweites Friedensprojekt auch nur annähernd an Spannung überbieten. Aber ja, das würde wahrscheinlich viel weniger Geld in die Kinokassen und an die grossen Filmkonzerne spülen. Und so werden wir halt bescheiden, lassen die Postkartenständer und die Schwertfische weiterhin sausen und wähnen uns nur schon deshalb allzu gerne in einer besseren Welt, weil jetzt nicht mehr die Männer, sondern die Frauen mit der Waffe in der Hand auf die nimmermüden Bösewichte losballern…  

Der Wirbel um Novak Djokovic: Bloss die Folge eines unbegreiflichen, ausser Rand und Band geratenen Nationalismus?

 

Wer die serbische „Krawallpresse“ lese, so schreibt der „Tagesanzeiger“ vom 8. Januar 2022, wähne sich kurz vor einem „Weltkrieg“. Und dies schlicht und einfach nur deshalb, weil dem serbischen Tennisstar Novak Djokovic aufgrund eines fehlenden Impfausweises die Einreise nach Australien verweigert worden ist. Djokovic als Märtyrer, als Opfer einer Weltverschwörung – sein Vater ging gar so weit, ihn mit Jesus zu vergleichen, der ebenfalls gekreuzigt worden sei. Allerdings, so räumt der „Tagesanzeiger“ ein, habe die „nationalistische Aufwallung“ wohl auch mit „verletztem Nationalstolz“ zu tun und mit der permanent von der Staatsmacht wiederholten „Mär“, der Westen habe in den 1990er-Jahren ein unschuldiges Volk angegriffen. „Solch krude Ansichten“, so der „Tagesanzeiger“, „verunmöglichen eine ernsthafte Vergangenheitsbewältigung“. Mär? Krude Ansichten? So einfach sollte man es sich nicht machen, sonst läuft man Gefahr, der gleichen Zuspitzung, Vereinfachung und Schuldzuweisung zu verfallen, die man so gerne der Gegenseite zum Vorwurf macht. Blenden wir zurück: Ab 1989 nehmen die Spannungen zwischen den Teilrepubliken der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien immer mehr zu. Dabei geht es auch um Fragen der Ökonomie und des finanziellen Ausgleichs zwischen den verschiedenen Regionen. Die reichen Regionen wie Slowenien und Kroatien kündigen ihre finanzielle Unterstützung der ärmeren Regionen wie Bosnien, Herzegowina, Mazedonien, Montenegro und Serbien auf, diese wiederum sehen sich dadurch existenziell bedroht. Gleichzeitig mit den Autonomiebestrebungen der einzelnen Teilrepubliken wächst der Nationalismus, das Trennende bekommt gegenüber dem bis anhin Verbindenden immer mehr Gewicht. Bis die schwelenden Konflikte in offene Kriege umschlagen, in denen sich die Streitkräfte der Teilrepubliken und die jugoslawische Volksarmee unter Führung der Serben unversöhnlich gegenüberstehen. Es beginnt 1991 mit dem Slowenienkrieg und geht weiter mit dem Kroatienkrieg 1991-1995 und dem Bosnienkrieg 1992-1995. Wie tief der Graben zwischen den verschiedenen Volksgruppen mittlerweile geworden ist, zeigt sich in der Aussage des späteren kroatischen Staatspräsidenten Tudman, der betont, wie glücklich und stolz er sei, weder mit einer Serbin noch mit einer Jüdin verheiratet zu sein. Nach und nach spalten sich die früheren Teilrepubliken Jugoslawiens ab und bilden eigene, autonome Staaten. Auch der Kosovo strebt die Unabhängigkeit von Serbien bzw. der nach allen Abspaltungen noch übrig gebliebenen Bundesrepublik Jugoslawien an, hatte Kosovo doch bereits 1989 infolge einer Änderung der serbischen Verfassung seine früheren Autonomierechte verloren und hatte seither die Diskriminierung der einheimischen Bevölkerung durch die serbische Obermacht kontinuierlich zugenommen. 1992 rufen die Kosovoalbaner unter Ibrahim Rugova die unabhängige „Republik Kosova“ aus, Rugova ist zunächst bestrebt, die Autonomie gewaltlos zu erreichen, aber mit der Zeit beginnen immer mehr Kosovaren am Sinn des gewaltlosen Widerstands zu zweifeln und unterstützen die UÇK, die ab 1997 mit bewaffneten Aktionen gegen die serbische Polizei in Erscheinung tritt. Die gegenseitige Gewalt nimmt laufend zu. Und dies ist der Augenblick, in dem die westliche Militärmacht unter Führung der USA in einer Art und Weise in den Jugoslawienkrieg eingreift, wie sie dies nur gegenüber Serbien getan, niemals aber gegenüber einer anderen Volksgruppe in diesem Konflikt auch nur je erwogen hätte. Wenn sich Serbinnen und Serben heute noch immer als „Opfer der Geschichte“ sehen, so sind das weder „krude Ansichten“, noch handelt es sich um eine „Mär“, sondern es ist bitterernste, knallharte, tödliche Realität: Am 24. März 1999 beginnen, notabene ohne völkerrechtliche Grundlage, die Luftanschläge der NATO auf mehrere serbische Provinzen, daran beteiligt sind U-Boote in der Adria, von B-52-Bombern abgefeuerte Marschflugkörper und von verschiedenen Basen gestartete Kampfflugzeuge. Schon in der ersten Kriegsnacht werden mehrere Chemiewerke bombardiert, grosse Mengen giftiger und krebserregender Stoffe treten aus. Ärzte raten schwangeren Frauen zur Abtreibung und für zwei Jahre zur Vermeidung von Schwangerschaften. In den folgenden Wochen werden auch Gebäude des Serbischen Rundfunks angegriffen. Ebenfalls wird der Belgrader Fernsehturm zerstört. Ein weiteres wichtiges Angriffsziel ist die Stromversorgung, eine grössere Anzahl von Umspann- und Wärmekraftwerken werden bombardiert. Zahlreiche Strassen und Brücken, Spitäler und Verwaltungseinrichtungen, rund 300 Schulen und 176 Kulturdenkmäler werden beschädigt oder zerstört. Als der Krieg am 10. Juni 1999 zu Ende ist, meint ein Kommentator des Schweizer Fernsehens in der Tagesschau: „Serbien wurde um 40 Jahre zurückbombardiert.“ Und das soll keine Wunden schlagen? Ein so gedemütigtes Volk soll einfach mir nichts dir nichts wieder zur Tagesordnung übergehen? Da soll man nicht anfällig sein für übertriebene Vaterlandsliebe? Wer heute über das serbische Volk und über Novak Djokovic den Kopf schüttelt, müsste mindestens so sehr den Kopf schütteln über diesen beispiellosen Militärschlag im Frühjahr 1999, mit dem kein einziges jener Probleme, mit denen er begründet wurde, tatsächlich gelöst, sondern nur unendlich viele neue geschaffen wurden. Das Mindeste wäre genau das, was der „Tagesanzeiger“ fordert, nämlich eine konstruktive „Vergangenheitsbewältigung“. Nur kann man wohl nicht allen Ernstes vom serbischen Volk alleine die Bewältigung einer so traumatischen, bis heute nachwirkenden Demütigung erwarten. Die Vergangenheitsbewältigung müssten vor allem jene betreiben, die einen völkerrechtswidrigen Krieg vom Zaun gerissen haben und nichts Gescheiteres wussten, als in ein lichterloh brennendes Feuer noch zusätzlich Öl zu giessen. Und ja: Auch Medien wie der „Tagesanzeiger“ müssten sich vor allem um eine sachliche Aufklärung historischer Zusammenhänge bemühen, statt Feindbilder, die sowieso schon genug stark verbreitet sind, noch zusätzlich anzufeuern…

 

  

Die Unsichtbarmachung der Zusammenhänge als Mittel zur kapitalistischen Machterhaltung

 

„Für die Hedgefonds-Manager“, schreibt Nobert Harris in seinem Buch „Endspiel des Kapitalismus“, „war 2020 ein besonders gutes Jahr. Das Vermögen der 25 bestverdienenden Hedgefonds-Manager stieg um insgesamt 32 Milliarden Dollar. Dabei handelt es sich um eine reine Umverteilung. Wenn jemand mit Finanzjonglage in einem Jahr eine Milliarde verdient, dann bezahlt das jemand. Um die 32 Milliarden Dollar für diese zwei Dutzend Menschen zusammenzubringen, müssen 32 Millionen Menschen je 1000 Dollar in den Topf werfen.“ Harris zeigt eindringlich, dass jener Reichtum der Reichen, der in der heutigen Zeit immer unverschämtere Ausmasse annimmt, weder geschenkt noch ehrlich verdient wird, sondern von anderen Menschen hart erarbeitet werden muss. Er widerlegt damit die immer noch tief verbreitete Lüge, wonach Reichtum stets ehrlich verdient werde, oder, noch dreister, dass Reichtum stets auch den Armen zugute käme. Das Geheimrezept des Kapitalismus beruht darauf, dass diese permanente Umverteilung von den Armen zu den Reichen systematisch unsichtbar gemacht wird. Durch ein nach aussen scheinbar „legales“ Weltsystem unaufhörlichen Räubertums, versteckt hinter sekundenschnellen Finanztransaktionen, digitalen Netzen, Algorithmen und dicken Mauern von Banken und Finanzinstituten, wo das eigentliche Verbrechen unsichtbar bleibt und deshalb nicht als das Verbrechen wahrgenommen wird, das es tatsächlich ist. Würden Tag für Tag vor unserem Fenster pausenlos Eisenbahnwagons voller Goldbarren vorbeidampfen, aus den Wüsten des Elends kommend und in die fernen Paradiese der Reichen donnernd, dann würde wohl ein millionenfacher Aufschrei rund um die Welt gehen, so aber bleibt alles stumm. Doch nicht nur was die Geldflüsse betrifft, auch alle anderen Formen kapitalistischer Ausbeutung beruhen darauf, dass ihre Zusammenhänge und Auswirkungen unsichtbar sind und daher auch keinen weltweiten Aufschrei auslösen. Würden die Spielpuppen unter dem Weihnachtsbaum das Wehklagen kaputtgearbeiteter Fabrikarbeiterinnen aus sich herausschreien, würde man jedes Mal, wenn man auf seinem Teller in ein Stück Fleisch hineinschneidet, die Todesangst des Tieres vor seiner Schlachtung verspüren, und sähe man beim Blick in heute noch unversehrte Naturlandschaften stets unmittelbar auch all die verwüstete, verbrannte oder überschwemmte Erde in zehn oder zwanzig Jahren als Folge unserer heute so verschwenderischen Lebensweise, dann wäre der Kapitalismus wohl schon längst in sich zusammengebrochen. Denn es ist ja nicht so, dass der Mensch kein empfindsames, mitleidvolles Wesen wäre. Er hält es kaum aus, wenn ein geliebter Mensch in seiner Nähe leiden muss, er liebt in der Regel seine Kinder über alles, stirbt sein Hund oder seine Katze, bricht ihm dies fast das Herz. Dies „weiss“ das kapitalistische Machtsystem nur zu genau und setzt daher alles daran, die Verbindungen zwischen Tätern und Opfern im weltweiten System von Ausbeutung und Raubrittertum derart gründlich unsichtbar zu machen, dass nur ja an einer keinen Ecke Gefühle von Mitverantwortung und Mitgefühl entstehen, die für das Machtsystem als Ganzes gefährlich werden könnten. Nun könnte man einwenden, es gäbe da ja noch, als Gegengewicht zu dieser Unsichtbarmachung, die Medien. Doch beteiligen sich diese, so unglaublich dies klingen mag, ihrerseits an der Unsichtbarmachung sämtlicher tiefergehender Zusammenhänge innerhalb des kapitalistischen Macht- und Ausbeutungssystems. Typisches Beispiel ist die allabendliche Tagesschau. Da werden Naturkatastrophen, Regierungswechsel, Flüchtlingsdramen, wirtschaftliche Erfolgszahlen, Berichte über Arme und Obdachlose im Minutentakt aneinandergereiht, so als hätte das eine mit dem anderen nicht das Geringste zu tun. Die Fäden, die Verbindungen, die Zusammenhänge, das gesamte Räderwerk: Fehlanzeige. Der Zuschauer, der auf seinem Sofa sitzt und liebevoll seinen Hund krault, sieht Hunderte von Flüchtlingen an der polnisch-belarusischen Grenze, ohne besonders berührt zu sein. Und selbst wenn ein Gefühl von Mitleid aufgekommen wäre, ist da schon die nächste Meldung, welche ihn in seinen Bann zieht. Und so geht es bei alledem nicht so sehr darum, möglichst gründlich nachzudenken, bisher ungeahnte Erkenntnisse zu gewinnen, Hintergründe aufzudecken, als vielmehr darum, dann, wenn die allabendliche „Informationspflicht“ abgehakt ist, wieder möglichst schnell zur – kapitalistischen – Tagesordnung überzugehen. So werden nicht nur die 25 bestverdienenden Hedgefonds-Manager, sondern auch Millionen weiterer weltweiter Nutzniesser und Profiteure des kapitalistischen Raubrittertums weiterhin ruhig schlafen können, selbst mitten in einer der grössten Gesundheitskrisen aller Zeiten, mitten in einer Welt, die noch nie so tief gespalten war in Arm und Reich, auf einer Erde, die unter eben diesem Raubrittertum so sehr leidet, dass die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen mehr und mehr in Frage gestellt sind. Und doch bleibt Hoffnung. Das Mitleid, die Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit, die Liebe – das alles ist nicht ausgestorben, es ist nur zugedeckt, vernebelt, kleingemacht. Um eine Zukunft zu schaffen, in der für alle Menschen über alle Grenzen hinweg ein gutes Leben Wirklichkeit geworden ist, muss das heute noch Unsichtbare sichtbar werden, braucht es eine schonungslose Aufdeckung und Offenlegung aller dieser wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, die heute noch im Dienste der Machterhaltung des Kapitalismus unter den Tisch gewischt werden. Hierfür muss man die Menschen nicht künstlich zu etwas zwingen, sondern, ganz im Gegenteil, sie zum Besten und Wertvollsten ihrer selbst ermutigen und befreien, durch die Werkzeuge der Liebe und der Wahrheitsfindung. Dann wird die Welt zweifellos möglicherweise schon bald nicht mehr die Gleiche sein, die sie einmal gewesen ist. 

Ja zum Medienpaket am 13. Februar 2022: Denn die Medien sind die „Lebensversicherung der direkten Demokratie“

 

Ich liebe meine Lokalzeitung. Doch schon ist sie wieder ein paar Seiten dünner geworden. Und ich weiss: Sie kämpft ums Überleben. Seit Jahren schwinden die Einnahmen aus Inseraten, als Folge der sinkenden Anzahl von Abonnentinnen und Abonnenten. Weniger Einnahmen aus Inseraten, weniger Einnahmen von Abonnenten, das zwingt zu Sparmassnahmen: Abbau beim Personal, weniger Ressourcen für aufwendige Recherchen. Die Folge: ein Qualitätsverlust, der sich in einer weiteren Reduktion der Anzahl Abonnentinnen und Abonnenten und demzufolge in noch geringeren Einnahmen aus Inseraten niederschlägt. Ein Teufelskreis. 70 Zeitungen schweizweit haben diesen Kampf in den vergangenen Jahren bereits aufgegeben, die anderen konnten sich knapp über Wasser halten, aber zu was für einem Preis: Unter dem Druck schwindender Werbeeinnahmen müssen laufend Stellen abgebaut werden, bis anhin beispielhafte Korrespondentensetze werden drastisch redimensioniert, zeitaufwendige Recherchen bleiben auf der Strecke, bisher voneinander unabhängige Medienhäuser werden fusioniert und deren Redaktionen zusammengelegt, die traditionelle Vielfalt an Meinungen und Kommentaren unterschiedlicher Blätter weicht zunehmend einem Einheitsbrei, unter dem wachsenden Zeit- und Spardruck verzichten immer mehr Zeitungen auf eigene, unabhängige Publikationen und schreiben sich nicht selten sogar ihre Texte gegenseitig ab. Und dies alles als Folge des verhängnisvollen Grundirrtums, wonach auch die Vermittlung von Informationen, wie jedes kapitalistische Produkt vom Gipfeli über die Zahnpasta bis zum Staubsauger rentieren müsse. Vogel friss oder stirb. Was keinen Gewinn abwirft, hat keine Daseinsberechtigung. Es ist diese unselige Verquickung zweier Dinge, die in den gleichen Topf geworfen werden, im Grunde aber nichts miteinander zu tun haben: auf der einen Seite der Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf umfassende, seriöse Information mit möglichst vielen Hintergrundfakten als Grundlage für eine funktionierende Demokratie, auf der anderen Seite der Anspruch des Kapitals auf seine Selbstvermehrung, koste es, was es wolle. Das geht dann im Extremfall so weit wie bei der Online-Ausgabe von „20Minuten“, wo die redaktionellen Richtlinien vorschreiben, dass es bei einem Artikel nicht so sehr auf den Informationsgehalt ankomme, sondern einzig und allein darauf, wie viele Klicks er generiere. Sehr zum Leidwesen der dort arbeitenden Redaktoren und Journalistinnen, von denen sich einige mittlerweile sogar weigern, ihren Namen unter einen Artikel zu setzen, mit dem sie sich gar nicht identifizieren können und den sie nur deshalb geschrieben haben, um damit möglichst viele Klicks zu erzielen. Die Veränderungen in der Medienlandschaft widerspiegeln einen gesamtgesellschaftlichen Trend und zeigen sich auf besonders drastische Weise beispielsweise auch im Gesundheitswesen, wo ebenfalls zwei Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, in den gleichen Topf geworfen werden: der Anspruch der Menschen auf Gesundheit auf der einen Seite und der Anspruch, das Gesundheitssystem solle ein möglichst rentables Geschäft sein, auf der anderen. So wie das Gesundheitswesen, gehören auch die Medien nicht in den Sektor kapitalistischer Gewinnmaximierungslogik, sie gehören, wie die Schule, die Müllabfuhr und die Versorgung mit Wasser und Elektrizität, in den Sektor des Service public – als Grundpfeiler für die Demokratie, die ohne sie nicht existieren kann. 100 Millionen Franken jährlich als Unterstützung aus dem Staatshaushalt an die Medien sind ja gut und recht, werden die Erosion und die Kannibalisierung der Medienlandschaft aber nicht dauerhaft aufhalten können. Es braucht mehr als das. Es braucht einen radikalen Paradigmenwechsel. Denn, wie es die zuständige Bundesrätin Simonetta Sommaruga so treffend auf den Punkt brachte: „Medien sind die Lebensversicherung der direkten Demokratie.“ Deshalb sollten wir am 13. Februar zum Gesetz über ein neues Medienpaket nicht nur einmal, sondern doppelt und dreifach ja sagen – im Bewusstsein, dass dies nicht das Ende, sondern nur der Anfang sein kann einer gesamtgesellschaftlichen Debatte darüber, welche Wirtschaftssegmente sinnvollerweise weiterhin der kapitalistischen Gewinnmaximierungslogik unterworfen bleiben und welche von ihr zum Wohle des Ganzen befreit werden sollten.

120’000 Franken pro Woche für eine Villa am „besten Ort der Erde“

 

„Der beste Ort auf Erden“ – dies der Titel einer Reportage im „Tagesanzeiger“ vom 5. Januar 2022. Der beste Ort auf Erden – das ist Verbier im Kanton Wallis, wo sich wohlhabende Britinnen und Briten in eine „coronafreie“ Luxuswelt zurückgezogen haben, fernab von ihrem Heimatland, wo die Infektionszahlen wieder mal so richtig in die Höhe schiessen. Der „Tagesanzeiger“ berichtet von zwei Familien, die soeben im Privatjet in Genf gelandet sind und nun in Verbier erwartet werden. Der 25-Meter-Pool im Souterrain ist gereinigt, die Böden aus Walliser Granit desinfiziert und poliert. Und Privatkoch Joe bereitet zum Nachtessen ein mit Trüffeln versetztes Roasted Chicken vor. Luxus pur, für 120’000 Franken pro Woche. – Schärfer denn je zuvor hat die Coronapandemie die ganze Brutalität und Perversion der kapitalistischen Klassengesellschaft entlarvt. Während Abertausenden schlecht verdienenden Arbeiterinnen und Arbeitern gar nicht anderes übrig bleibt, als sich auch unter widrigsten Umständen weiterhin abzurackern, begleitet von der ständigen Angst, sich und ihre Familien mit einem gefährlichen Virus anzustecken, steigen ihre gutbetuchten Landsleute der Oberklasse in ihre Privatjets und finden am „besten Ort auf Erden“ ihre sichere Zuflucht. Doch das ist erst die eine Seite der Geschichte. Die andere ist, dass diese Reichen und Privilegierten ausschliesslich auf eine schier endlose Zahl wiederum anderer Arbeiterinnen und Arbeiter angewiesen sind, um dieses Leben am „besten Ort auf Erden“ überhaupt führen zu können. Wer hat das Poulet, das heute Abend serviert werden wird, gezüchtet, geschlachtet und präpariert? Wo wurden die Gewürze, die Koch Joe verwendet, um das Mahl möglichst schmackhaft zu machen, geerntet, wer hat sie sortiert, gewaschen, verpackt, von wem wurden sie transportiert, wer steuerte das Schiff, von wem wurden sie umgeladen und weitertransportiert? Wer sorgt dafür, dass das Wasser für den Swimmingpool stets sauber und in genügender Menge zur Verfügung steht, wer baute die Rohrleitungen und wer repariert sie, wenn sie kaputtgegangen sind? Wer kümmert sich um die Elektrizität, mit der gekocht, gewaschen, beleuchtet und das Warmwasser aufbereitet wird, wer baute unter Lebensgefahr die Staudämme, die Hochspannungsmasten, wer spannte die Leitungen und woher kamen das Eisen, der Stahl, der Beton und alle anderen Materialien, die es hierfür brauchte? Wer bäckt frühmorgens das Brot, das zum Frühstück auf dem Tisch stehen wird, und wer hat die Butter hergestellt, wer hat die Himbeeren geerntet und wer hat sie später zur Konfitüre weiterverarbeitet? Wer hat tief in der Nacht die Skipiste präpariert, auf der am nächsten Tag die Familien aus England zu Tale sausen werden, und wer hat die Skilifte, die Gondelbahnen, die Bergrestaurants und die Pistenfahrzeuge gebaut? Eigentlich müsste auf jedem Gegenstand des täglichen Gebrauchs die gesamte Geschichte seiner Herstellung aufgezeichnet sein, um uns stets ins Bewusstsein zu rufen, dass jeder Konsum und jeder Profit am einen Ende der Kette nur möglich ist dank der Arbeit unzähliger Arbeiterinnen und Arbeiter. Doch der Kapitalismus hat alle diese Fäden zerrissen, indem Arbeit, Produktion, Konsum und Profit über die ganze Welt hinweg so weit voneinander getrennt wurden, dass man keinem Produkt mehr ansieht, wie viel Anstrengung, wie viel Schweiss, wie viele Schmerzen und wie viel Leiden notwendig waren, um es herzustellen. Nun war dies alles freilich auch schon vor der Coronakrise nicht anders. Anders ist nur, dass der Graben zwischen denen, die vor allem profitieren, und denen, die vor allem leiden, noch viel grösser geworden ist, als er schon war. Doch genau darin könnte auch eine Chance liegen: Dass die Gegensätze so himmelschreiend  und so unübersehbar geworden sind, dass nun eigentlich kein vernünftiger Mensch mehr länger zur Tagesordnung übergehen könnte. Dass uns die Coronapandemie die Augen geöffnet hat für Dinge, die wir früher zu oft übersehen haben. Dass die Welt nach Corona nicht mehr die gleiche sein wird wie zuvor und dass es nicht mehr möglich sein wird, dass es Menschen gibt, die sich für 120’000 Franken pro Woche eine Villa am „besten Ort der Erde“ leisten können. Weil der beste Ort auf Erden nicht mehr Verbier, Dubai oder Palm Beach sein wird, sondern jeder Ort der Erde der beste sein wird.