Gedanken in der Nacht vom 25. auf den 26. Dezember…

 

Da gerät doch vor lauter Glitzerkerzen, wundervollen Weihnachtsliedern und dem Festtagsbraten tatsächlich die andere Seite der Geschichte ganz und gar aus unserem Blickfeld. Diese andere Seite ist eine Geschichte voller Verbrechen, unsäglicher Leiden, unbeschreiblicher Demütigung und Erniedrigung von Menschen. Doch wie hatte das alles angefangen? Angefangen hatte es mit diesem sagenumwobenen Jesus, welcher nicht davor zurückschreckte, Ideen der Liebe und der Gerechtigkeit in die Welt zu setzen, Ideen, die angesichts der herrschenden Machtverhältnisse höchst gefährlich waren und ihn schliesslich sogar das Leben kosten sollten. Ob Jesus tatsächlich in einem Stall in der Nähe von Bethlehem geboren wurde, ob er drei Tage nach seinem Tod wieder auferstand und ob er tatsächlich der Sohn Gottes war – dies alles ist Gegenstand von Spekulationen und wird wohl niemals restlos geklärt werden. Tatsache aber ist, dass Jesus eine Botschaft verbreitete, die, nähme man sie Ernst, bis heute ein machtvolles Instrument gegen jegliche Form von Ungerechtigkeit und Unterdrückung sein müsste. Wie sehr nicht nur Jesus selber, sondern auch seine Anhängerinnen und Anhänger von den damaligen Machthabern als gefährliche „Rebellen“ und „Revolutionäre“ angesehen wurden, zeigt sich auch darin, dass zahllose Urchristen und Urchristinnen im Römischen Reich aufs Brutalste verfolgt, hingerichtet und oft öffentlich verbrannt wurden. Das änderte sich erst im Jahre 380, als der oströmische Kaiser Theodosius I das Christentum zur Staatsreligion erklärte. Und so wurde das, was ursprünglich eine Botschaft der Befreiung, der Gerechtigkeit und des Friedens gewesen war, sozusagen von einem Tag zum andern zu einem Instrument in der Hand der Reichen und Mächtigen gegen die Armen und Wehrlosen. Wo immer die Reichen und Mächtigen Europas ihre Feldzüge planten, wo immer sie Menschen ihrer Freiheit beraubten und sie zu Sklavinnen und Sklaven machten, wo immer sie die Erde verbrannten und alle Reichtümer der Erde ins Gold ihrer Paläste verwandelten: Stets taten sie dies alles im Namen Gottes. Zehntausende von Moslems fielen sieben „christlichen“ Kreuzzügen auf dem Gebiet des Nahen Ostens zwischen 1100 und 1300 zum Opfer. Und als Christoph Kolumbus 1492 Amerika entdeckte, begann ein weiteres tiefschwarzes Kapitel in der Geschichte der Menschheit: Seite an Seite mit den europäischen Eroberern drangen die „christlichen“ Missionare in die besetzten Gebiete ein und zwangen, stets mit der Bibel in der Hand, die einheimische Bevölkerung dazu, den christlichen Glauben anzunehmen – wer sich weigerte, wurde zu Tode gefoltert. Dann war Afrika an der Reihe: Im Laufe dreier Jahrhunderte verfrachteten europäische Handelsgesellschaften über zwölf Millionen Männer, Frauen und Kinder nach Amerika, wo sie auf bestialischste Weise zu lebenslanger Zwangsarbeit verdammt wurden – und auch das alles „im Namen Gottes“. Auch der belgische König Leopold I hatte die Bibel in der Hand, als er seinen Gouverneuren im Kongo den Befehl erteilte, allen Arbeiterinnen und Arbeitern, welche nicht die geforderte Menge an Kautschuk zusammenbrachten, die Hände abzuhacken. Kein bisschen besser erging es jenen rund 50’000 Menschen, grösstenteils Frauen, die, hauptsächlich zwischen 1550 und 1650, als „Hexen“ verurteilt, oft zu Tode gefoltert oder öffentlich verbrannt wurden – und auch die Richter, welche die Todesurteile fällten, beriefen sich bei ihrem Tun stets auf den „christlichen“ Gott. Selbst Adolf Hitler nannte in dem vom ihm erlassenen „Ermächtigungsgesetz“ die christliche Religion als den „wichtigsten Faktor in der Erhaltung des deutschen Volkstums.“ Auch der chilenische Diktator Augusto Pinochet sah sich als Machthaber von Gottes Gnaden. Und selbst der US-amerikanische Präsident George W. Bush war sich nicht zu schade, ein eben vom Stapel gelaufenes Atom-U-Boot auf den Namen „Corpus Christi“ zu taufen. Eigentlich müsste man am 24. Dezember nicht Kerzen, Kugeln und Schokoladeengel an den Weihnachtsbaum hängen, sondern die Bilder abgehackter Hände, totgeprügelter Sklaven und verbrannter Hexen. Eigentlich müsste die Geschichte des „Christentums“ in seiner Form unsäglichen Missbrauchs durch profitgierige Machthaber, Landeroberer, Vergewaltiger, Folterer, Patriarchen und Kriegsherren endlich einmal aufgearbeitet werden. Eigentlich müsste für so viele Verbrechen in irgendeiner Form Wiedergutmachung geleistet werden. Eigentlich wäre es allerhöchste Zeit, allen diesen über Jahrhunderte hinweg „im Namen Gottes“ begangenen Verbrechen in die Augen zu blicken. Und eigentlich wäre es höchste Zeit, die revolutionäre Botschaft des ursprünglichen Christentums wieder neu zu entdecken – als eine Kraft, die, so wie das damals Jesus tat, auch heute wieder die ganze Welt auf den Kopf stellen würde, diese Welt voller Kriege, voller Ungerechtigkeiten, voller Armut und Hunger und voller Zerstörungsgewalt gegenüber den natürlichen Lebensgrundlagen. Hierfür brauchen wir gar nicht so weit zu gehen. Denn Jesus hatte auch hierfür das richtige Wort, indem er die Menschen dazu aufrief, so zu werden wie die Kinder. Nicht die schön eingepackten Stofftiere, Baukästen und Schaukelpferde sind die wertvollsten Weihnachtsgeschenke. Die wertvollsten Weihnachtsgeschenke sind die Kinder selber, die alle noch eine tiefe Erinnerung an eine Welt voller Liebe und Gerechtigkeit in sich tragen, eine Welt, von der wohl insgeheim alle Menschen weltweit träumen und auf die so viele von ihnen dennoch schmerzlichst verzichten müssen. Wäre diese Botschaft nicht die revolutionärste, die man sich nur vorstellen kann? Dass das Paradies nicht etwas ist, worauf wir warten müssen, bis wir gestorben sind – sondern etwas, was sich hier und heute auf der Erde verwirklichen lässt, wenn nur genug Menschen daran glauben und dafür arbeiten. Wenn heute Kinder und Jugendliche auch bei eisiger Kälte auf die Strasse gehen, um gegen den drohenden Klimawandel ihre Stimme zu erheben, wenn Menschen ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um Flüchtlingen das Leben zu retten, wenn sich immer mehr Frauen gegen patriarchale Machtverhältnisse zur Wehr setzen, wenn Ureinwohnerinnen und Ureinwohner im Amazonasgebiet für ihre Rechte kämpfen, wenn immer mehr Menschen das weltweite kapitalistische Macht- und Ausbeutungssystem radikal in Frage stellen und sich selbst durch den Vorwurf, sie seien unverbesserliche „Kommunisten“, nicht beirren lassen, dann sind das alles Zeichen dafür, dass Jesus selber zwar längst gestorben ist, seine Ideen und seine Botschaft aber bis auf den heutigen Tag nicht das Geringste an Aktualität eingebüsst haben…

Ein Innovationspark auf der Fläche von 50 Fussballfeldern: verheissungsvoller Schritt in eine goldene Zukunft?

 

Nun kann, nach längerem rechtlichem Seilziehen, der Zürcher Innovationspark auf dem Gelände des Militärflugplatzes Dübendorf doch noch verwirklicht werden. Auf einer Fläche von rund 50 Fussballfeldern, der landesweit grössten öffentlichen Landreserve, sollen sich Hochschulen und innovative Firmen mit Robotik, Luft- und Raumfahrt beschäftigen. Eines der wichtigsten Projekte wird die Entwicklung eines CO2-neutralen Flugzeugs sein. Dies mag ja, auf den ersten Blick, ein löbliches Ziel sein. Doch Flugzeuge müssen nicht nur angetrieben, sondern auch gebaut werden. Und sie brauchen Flugplätze, und zwar immer mehr Flugplätze, denn alle sind sich ja einig, dass der globale Tourismus, wenn erst einmal die Coronakrise überwunden ist, weiter ins Unermessliche wachsen soll – allein in China befinden sich 216 neue Flugplätze innerhalb von 15 Jahren in Planung oder sind bereits gebaut worden. Die Flugzeuge werden dann vielleicht in zehn oder 15 Jahren CO2-neutral angetrieben sein, aber das Material und die Fertigungshallen für ihre Herstellung sowie der Bau der Flughäfen und aller damit verbundener Infrastrukturen werden weiterhin zu einem massiven Abbau von Rohstoffen und zu einer weiteren immensen Steigerung der CO2-Emissionen führen. Das Beispiel des Zürcher Innovationsparks zeigt, dass die zuständigen Wissenschaftler, Technikerinnen und Experten offensichtlich noch ganz im alten Denken gefangen sind: Statt den bisherigen Gigantismus des Massentourismus mit allen seinen verheerenden Auswirkungen grundsätzlich zu hinterfragen, und neue, umweltverträglichere Reiseformen zu entwickeln, wird alles daran gesetzt, dass die Wohlhabenden dieser Erde künftig ohne schlechtes Gewissen CO2-neutral auch noch die letzten Paradiese heimsuchen und zerstören können. Der gleiche fatale Irrglaube, wir könnten auf dem eingeschlagenen Weg uneingeschränkt weitermarschieren, zeigt sich bei der aktuellen Ausbreitung der Elektromobilität. „Die Herstellung eines Elektroautos“, so schreibt Fabian Scheidler in seinem Buch „Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“, „emittiert derzeit mehr CO2 als die Produktion eines konventionellen Pkw, vor allem wegen der grossen Batterien. Elektroautos verschlingen darüber hinaus grosse Mengen seltener Erden und anderer Mineralien, etwa Lithium, für deren Abbau ganze Landstriche verwüstet und enorme Süsswassermengen verbraucht werden. Wollte man die derzeitigen etwa eine Milliarde Pkw weltweit durch Elektroautos ersetzen, wäre das nächste ökologische Desaster vorprogrammiert.“ Sowohl das Fliegen über alle Grenzen hinweg wie auch die „Freiheit“ jedes Einzelnen, sich jederzeit und überall mit seiner Blechkarosse uneingeschränkt bewegen zu können, haben in einer Welt begrenzter Güter und begrenzten Lebensraums früher oder später keinen Platz mehr – versucht man sich vorzustellen, dass weltweit alle Menschen so viel fliegen und so viel Auto fahren wie der durchschnittliche Westeuropäer, dann sehen wir erst, was für ein Luftschloss da aufgebaut worden ist, das immer nur noch höher und höher wird, je länger wir es vor uns hinschieben. Ja, Innovationsparks haben wir dringend nötig. Aber nicht solche, die weiterhin dem alten Denken, dem Glauben an eine grenzenlose Mobilität und dem Gigantismus eines unbegrenzten Wachstums verhaftet sind, sondern uns aus alledem befreien und uns in neue Zeit hineinführen, in der die Bedürfnisse der Menschen, die Bedürfnisse der Erde, die Bedürfnisse der Natur und die Bedürfnisse kommender Generationen endlich wieder miteinander in Einklang stehen. Denn, wie schon Albert Einstein sagte: „Probleme kann man niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ 

Was die Coronakrise, die Klimafrage, das Schlachtfeld der sozialen Medien und der Ukrainekonflikt miteinander zu tun haben…

 

Alle kennen sie, alle wissen von zahllosen Beispielen, was für Wunder sie vollbringen kann, und doch wird sie Tag für Tag mit Füssen getreten, Tag für Tag zu Boden gestampft: die Liebe. Zum Beispiel auf den Strassen der Schweiz, Deutschlands und Österreichs, wo neuerdings schon zum Bürgerkrieg gegen die „Obrigkeit“ von Wissenschaftlern und Politikerinnen aufgerufen wird und manche nicht einmal vor Verleumdungen gröbster Art bis hin zu Morddrohungen zurückschrecken. Eine „Obrigkeit“, die ihrerseits unter permanentem Beschuss von Bürgerinnen und Bürgern stehen, von denen sie gleichermassen mit massivsten Anschuldigungen eingedeckt werden – ganz so, als ginge es nicht darum, gemeinsam ein Virus zu bekämpfen, sondern sich gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen. Das gleiche Bild in der Klimafrage, wo für viele Menschen schon längst nicht mehr die Sorge um die gemeinsame Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder im Vordergrund steht, sondern die Angst, auf liebgewonnene Annehmlichkeiten verzichten zu müssen und sich von jugendlichen „Träumerinnen“ und „Wirrköpfen“ den hart verdienten Wohlstand vermiesen zu lassen – ein Wunder, haben die Aktivistinnen und Aktivisten der Klimabewegung ob all den Beleidigungen, Schuldzuweisungen und all dem Hass, der ihnen entgegenschlägt, nicht schon längst die Flinte ins Korn geworfen. Gegenseitige Beleidigungen, Hass und Intoleranz treffen wir aber nicht nur in den Auseinandersetzungen rund um die Coronakrise und die Klimafrage an, sondern ganz allgemein im öffentlichen Diskurs, in der Alltagspolitik und, in erschreckendem Ausmass, in den so genannten „sozialen“ Medien. Auf tragische und verhängnisvolle Weise wird ein Medium, das sich bestens für das Kennenlernen anderer Meinungen, die Auseinandersetzung mit philosophischen Grundfragen und die gemeinsame Wahrheitsfindung eignen würde, dazu missbraucht, sich gegenseitig klein zu machen, in jedem anderen so viel Böses wie möglich ausfindig zu machen und die eigene Meinung unbeirrt über alles andere zu stellen. Und auch das, was gegenwärtig rund um die Ukraine geschieht, ist grundsätzlich nichts anderes. Auch hier haben gegenseitige Beschuldigungen und Feindbilder einen Zustand herbeigeführt, der, entgegen aller Vernunft, im schlimmsten Falle zu einem wirklichen Krieg mit unabsehbaren zerstörerischen Folgen führen könnte – Hass, dessen äusserste und extremste Form die Vernichtung jenes „Feindes“ ist, der die Gestalt jenes „Bösen“ angenommen hat, das es auszulöschen gilt. Schwere Zeiten für die Liebe. Und doch ist nichts so wichtig, als an ihr festzuhalten. Zwar wird, wer heute noch von einer Welt voller Liebe, Frieden und Gerechtigkeit träumt, meist als hoffnungsloser „Spinner“ oder „Utopist“ abgetan, doch ist eine Welt voller Liebe, Frieden und Gerechtigkeit das einzig wirklich Realistische, Vernünftige und Zukunftsfähige. Bald ist Weihnachten. Wenn dieses Fest einen Sinn haben soll, dann gewiss nicht in der Art und Weise, dass wir unsere Bäuche vollschlagen, einander mit einer Unmenge überflüssiger Dinge beschenken und im besten Falle noch ein paar Weihnachtslieder singen. Nein, wenn dieses Fest einen Sinn haben soll, dann nur in der Art und Weise, wie wir uns jene revolutionärste Botschaft Jesu in Erinnerung rufen, welche, nähme man sie Ernst, buchstäblich die ganze Welt auf den Kopf stellen würde: die Botschaft der Nächstenliebe, die Botschaft, jeden Menschen so zu lieben, wie man sich selber liebt. „Entweder“, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben oder als Narren miteinander untergehen.“

Afghanistan: Das Mädchen mit den Augen voller tiefster Traurigkeit

 

Augen voller tiefster Traurigkeit, die mich nicht mehr loslassen. Ein Mädchen, das in den Ruinen seines vom Krieg zerstörten Hauses am Boden kauert, ohne Eltern, irgendwo im fernen Afghanistan, eines von Millionen von Kindern, die nicht wissen, ob sie diesen Winter überleben werden, ob sie der Kälte widerstehen können, ob sie genug zu essen bekommen. Während wir den Weihnachtsbaum schmücken, feine Gerichte kochen und unsere Kinder mit wundervollen Geschenken beglücken werden. So weit voneinander entfernt und doch so nahe ist das alles. Doch weshalb ist unser Gedächtnis so kurz? Als am 11. September 2001 zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers in New York rasten, diese zum Einsturz brachten, dabei fast 3000 Menschen ums Leben kamen und US-Präsident Bush schon bald darauf zu einem vernichtenden Feldzug gegen Afghanistan aufrief, welches als mutmassliches Rückzugsgebiet der Drahtzieher des Terroranschlags galt, da gab es noch zahlreiche kritische Stimmen, welche die Frage aufwarfen, ob der militärische Angriff auf ein Land, in dem weit über 99 Prozent der Bevölkerung mit den Anschlägen vom 11. September auch nicht das Geringste zu tun hatten, gerechtfertigt sei, bloss um einer Handvoll von Terroristen habhaft zu werden. Offensichtlich befinden wir uns in einer sehr schnelllebigen Zeit: 20 Jahre Krieg der USA und ihrer Verbündeten scheinen die kritischen Stimmen von damals in Nichts aufgelöst zu haben: Als der mutmassliche Hauptdrahtzieher der Anschläge vom 11. September, Osama bin Laden, schliesslich am 2. Mai 2011 aufgestöbert werden konnte und getötet wurde, schien sich der von den USA inszenierte Krieg, der über 350’000 Menschen das Leben gekostet hat, „gelohnt“ zu haben. Ob das Mädchen mit den traurigen Augen dies alles jemals verstehen wird? Ob sie jemals verstehen wird, dass in ihrer Heimat 20 Jahre lang die grösste Militärmacht der Welt einen Krieg geführt hat, der jährlich 50 Milliarden Dollar verschlang – während jetzt zur Bekämpfung der aktuellen Hungersnot von den westlichen „Geberländern“ gerade mal 280 Millionen Dollar, also fast 300 Mal weniger, zur Verfügung gestellt worden sind und auch das gesamte Gesundheitssystem infolge chronischer Unterfinanzierung und fehlender Hilfszahlungen buchstäblich vor dem Zusammenbruch steht? Und ob sie jemals verstehen wird, dass ausgerechnet jene Staaten, die ihre Truppen eben erst Hals über Kopf aus Afghanistan abgezogen haben, das Land nun mit härtesten Wirtschaftssanktionen belegen, obwohl sie doch wissen müssten, dass sie damit vor allem den ärmsten Teil der Bevölkerung treffen, während die Privilegierteren mehr oder weniger ungeschoren davon kommen? Während es in unseren Stuben immer wärmer wird, wird es in Afghanistan jeden Tag ein bisschen kälter und ich frage mich, ob das Mädchen mit den Augen voller tiefster Traurigkeit überhaupt noch lebt. Und wie wenn das alles nicht schon schlimm genug wäre, stolpere ich über eine weitere Nachricht aus Afghanistan. Die Bevölkerung leide, so teilt das Welternährungsprogramm mit, unter einer der schwersten Dürren, die das Land je heimgesucht hat: Infolge von Hitze und Wassermangel seien die landwirtschaftlichen Erträge im Jahre 2021 gegenüber dem Vorjahr um 20 Prozent gesunken. Wenn nicht gehandelt werde, drohe früher oder später der „Totalzusammenbruch der Landwirtschaft“. Und weiter: Angesichts des weltweiten Klimawandels könnten solche Dürren immer mehr zur „afghanischen Normalität“ werden. Und damit schliesst sich auf brutalste Weise der Kreis: Ausgerechnet die USA, welche nicht nur über die grösste Militärmaschine der Welt verfügen, sondern auch über die tödlichen Instrumente von Wirtschaftssanktionen und verweigerten Hilfsgeldern, ausgerechnet die USA sind auch an vorderster Front mitverantwortlich für die weltweite Klimaerwärmung, von der wiederum vor allem die ärmsten Länder am allermeisten betroffen sind. Was werden die Geschichtsbücher in 50 Jahren über unsere heutige Zeit wohl schreiben? Und in was für einer Welt wird das afghanische Mädchen mit den Augen voller tiefster Traurigkeit, wenn sie diese dunkle Zeit überstanden haben wird, wohl leben? 

Gegenseitige Drohgebärden und Säbelrasseln rund um die Ukraine: Höchste Zeit, dem Krieg weltweit ein Ende zu setzen

 

Russische Truppen an der Grenze zur Ukraine. Appelle des amerikanischen Präsidenten Joe Biden an Wladimir Putin, ein russischer Einmarsch in die Ukraine hätte unabsehbare Vergeltung zur Folge. Putins Warnung an den Westen, nicht weitere Staaten wie etwa Moldawien, Georgien oder eben die Ukraine in die NATO einzugliedern. Drohgebärden und Säbelrasseln auf beiden Seiten und im schlimmsten Falle ein Krieg ungeahnten Ausmasses. Verrückt. Während hochkomplexe Gehirnoperationen mittels ferngesteuerter Sonden durchgeführt werden, Kommunikationsnetze ganze Kontinente miteinander verknüpfen und immer ausgeklügeltere Flugkörper in immer grössere Weiten des Weltalls vordringen, haben die wissenschaftlichen Erkenntnisse im Bereich von gewaltfreier Konfliktlösung, Friedensförderung durch Dialog und dem gezielten Abbau gegenseitiger, meist auf wechselseitiger Projektion beruhenden Feindbilder offensichtlich noch nicht den Weg in die Köpfe der politisch verantwortlichen Machtträger gefunden. Nichts wäre in dieser Zeit grösster Anspannung so wichtig wie eine neutrale Friedensvermittlung, so wie das im Jahre 2015 der damalige Schweizer Aussenminister Didier Burkhalter im Namen der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) angesichts der damals wachsenden Spannungen im russisch-ukrainischen Grenzgebiet auf vorbildliche Weise praktizierte. Und heute? Wo, beispielsweise, steckt der derzeitige Schweizer Aussenminister Ignatio Cassis? Schläft er? Und was ist mit der OSZE? Hat sie sich in Luft aufgelöst? Und ist von der neuen deutschen Aussenministerin Analena Baerbock allen Ernstes nichts anderes zu hören, als dass es bei den gegenwärtigen Spannungen zwischen den USA, der EU, Russland und China um nichts weniger gehe als um einen „Kampf zwischen Gut und Böse“? Was heute im Konflikt rund um die Ukraine geschieht, hat nicht nur mit diesem Teil der Welt zu tun. Ein weiterer Konflikt befindet sich schon in der nächsten Schlaufe, die Drohung Chinas, Taiwan zu annektieren, und die Drohung der USA, dies unter gar keinen Umständen zuzulassen. Und wer weiss, wie viele andere Konflikte, die heute noch einigermassen unter Kontrolle sind, früher oder später zu einem regelrechten Krieg ausarten könnten. Wenn der Konflikt rund um die Ukraine friedlich gelöst werden kann, würde dies auch für alle anderen potenziellen Konflikte weltweit ein unübersehbares Signal aussenden: Ja, es ist, wenn alle Seiten genug guten Willen zeigen, tatsächlich möglich, Konflikte zwischen Staaten und Völkern friedlich auszutragen. Und wenn es am einen Ort möglich ist, weshalb soll es dann nicht an allen anderen auch möglich sein? Dabei geht es nicht nur darum, der betroffenen Bevölkerung ein Leben in Frieden und Sicherheit zu garantieren. Es geht auch darum, finanzielle Mittel und Ressourcen, die immer noch für militärische Rüstung verschwendet werden, für zivile Zwecke, Aufbauprojekte und für die internationale Völkerverständigung zu verwenden. „Jede Kanone, die gebaut wird“, sagte der US-General Dwight D. Eisenhower, „jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“ Womit wir auf unserem Gedankengang noch einen Schritt weitergekommen sind: Es geht nicht nur um gewaltfreie Lösung zwischenstaatlicher Konflikte. Es geht konsequenterweise auch um eine Abschaffung sämtlicher Waffen und Armeen, die es ja dann auch gar nicht mehr braucht. Heute, angesichts eines weltweit zum Himmel starrenden Waffenarsenals, mit dem die Erde gleich doppelt und dreifach vernichtet werden könnte, stehen wir, wie schon der amerikanische Präsident John F. Kennedy vor rund 60 Jahren sagte, vor einer historischen Wahl: „Die Menschheit“, sagte er, „muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.“

Die erstaunlich revolutionäre Idee eines Investmentbankers

 

James Breiding, Gründer und Chef der Zürcher Investmentfirma Naissance Capital, fordert in der „NZZ am Sonntag“ vom 5. Dezember 2021 eine „globale Zentralbank gegen den Klimawandel“. Zur Begründung seiner Forderung erinnert er an die US-Wirtschaftskrise 1907. Der Bankier J. P. Morgan war überzeugt, dass es die Zusammenarbeit sämtlicher Finanzinstitute brauchte, um das System zu retten. So rief er Dutzende der führenden Financiers in New York in seine Privatbibliothek und befahl ihnen, Mittel zur Stärkung des Systems bereitzustellen. Er zwang die Eingeladenen, die ganze Nacht dort zu bleiben, bis alle seinem Plan zustimmten. Es funktionierte – die Stabilität des Finanzsystems war gerettet. Weil J. P. Morgan erkannt hatte, dass etwas „Proaktives“ und „Systematisches“ geschehen musste. Denn, so Morgan: „Es ist einfach zu gross für jeden Einzelnen von uns.“ Breiding fordert nun in seinem Artikel ein ähnliches Vorgehen bei der Lösung der Klimakrise. „Es gibt Momente“, schreibt er, „in dem Probleme zu schwierig werden, um von schwerfälligen Demokratien gelöst zu werden.“ Breiding denkt, in Bezug auf die Klimakrise, an einen „vertrauenswürdigen Schiedsrichter“, der koordiniert und vermittelt, was einzelne Länder einfach nicht leisten können.“ Denn: „Supranationale Probleme erfordern supranationale Lösungen.“ Und: „Unlösbare Probleme erfordern kühnes, innovatives Denken, ja sogar Experimente, keine Wiederholung des Status quo.“ Bemerkenswert, dass für einmal nicht ein Klimaaktivist, sondern ein eingefleischter Investmentbanker Thesen vertritt, die bei genauerem Hinsehen durchaus etwas Revolutionäres an sich haben. Läuft doch die Idee eines „supranationalen Schiedsrichters“ der Grundphilosophie des „Freien Marktes“, auf dem sich die verschiedenen Player im offenen Konkurrenzkampf möglichst uneingeschränkt gegenüberstehen, diametral entgegen. Und wenn Breiding „innovatives Denken“, „Experimente“ und „keine Wiederholung des Status quo“ fordert, dann erinnert das an die Aussage Albert Einsteins, wonach man Probleme nicht mit der gleichen Denkweise lösen könne, mit der sie entstanden seien. Vielleicht wäre ja ein „supranationaler Schiedsrichter“ bloss der erste Schritt hin zu einer Art Weltregierung, die dann nicht nur für die Klimakrise Verantwortung übernähme, sondern auch für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen, für Gesundheitskrisen wie die Coronapandemie, für Verkehrsfragen, für die Lösung zwischenstaatlicher Konflikte, für die Bekämpfung von Hunger und Armut, für die Förderung der sozialen Gerechtigkeit. Denn alle diese Probleme sind in einer so globalisierten Welt wie der unseren aufs engste miteinander verflochten und jedes von ihnen kann nur gelöst werden, wenn alle anderen auch gelöst werden. Oder, wie es der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt formulierte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ Es wäre wohl das Beste, was wir aus den gegenwärtigen, uns allen so schwer bedrohenden Krisen lernen können: Dass wir alle diese Probleme nicht mehr gegeneinander, sondern nur noch miteinander lösen können, sind sie doch, wie J. P. Morgan schon 1907 wusste, schlicht und einfach „zu gross für jeden Einzelnen von uns.“

 

Deutsche Regierungskoalition: Mit der Ampel in ein neues Zeitalter?

 

Frenetische, nicht endenwollende Standing Ovations. 99,8 Prozent der SPD-Delegierten haben dem mit Grünen und FDP ausgehandelten Regierungspapier zugestimmt. „Nun kann ein Aufbruch für Deutschland stattfinden“, freut sich der zukünftige Bundeskanzler Olaf Scholz. Und Generalsekretär Lars Klingbeil ergänzt: „Ich bin wahnsinnig stolz auf das, was wir da gemeinsam verhandelt haben.“ Ausser sich vor Freude ist auch Saskia Esken, Co-Präsidentin der SPD. „Mit der Ampel“, schwärmt sie, „schreiben wir Geschichte.“ Doch von was reden die eigentlich? Was für ein „Aufbruch“ soll da stattfinden? Worauf soll man so mächtig stolz sein? Was für eine „Geschichte“ wird da neu geschrieben? Und wofür eigentlich applaudieren die SPD-Delegierten so frenetisch? Sucht man hinter den Worten die Taten, den „Aufbruch“, den „Neubeginn“, die neue „Geschichte“, dann ist das, wie wenn man die Stecknadel im Heuhaufen suchen müsste. Einigermassen Sicherung bescheidener Renten. Ein Mindestlohn von lächerlichen zwölf Euro. 400’000 neue Wohnungen pro Jahr. Viel mehr ist da nicht zu finden. Und das soll genügen, um „Geschichte zu schreiben“? Hätte man nichts wenigstens die Einführung einer Reichtumssteuer, eine Reduktion der Steuern auf tiefen Einkommen oder die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre herausholen können? Auch dann freilich wäre man immer noch Lichtjahre weit davon entfernt, „Geschichte zu schreiben“. Nein, es gibt nur einen einzigen wirklichen Wahlsieger, nur einen, der wirklich Geschichte schreibt. Und das ist das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Denn egal, wer diese Wahlen „gewonnen“ hat, egal, wer mit wem eine Koalition gebildet hat: Auch nach dem Dezember 2021 werden in Deutschland die Reichen immer reicher, während sich die Armen selbst mit mehr als einem Job kaum über Wasser halten können. Auch nach dem Dezember 2021 werden in Deutschland die höchsten Löhne das 200- bis 300fache der niedrigsten ausmachen. Auch nach dem Dezember 2021 wird es in Deutschland Dutzenden von multinationalen Konzernen nicht so sehr um das Wohl der werktätigen Bevölkerung gehen, als vielmehr um das Wohl ihrer Aktionärinnen und Aktionäre. Auch nach dem Dezember 2021 wird das Dogma eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums ungebrochen weitergehen, natürliche Ressourcen und Bodenschätze weiterhin ungehindert ausgebeutet und die Klimaerhitzung in totaler Verantwortungslosigkeit gegenüber zukünftigen Generationen weiter vorangetrieben werden. Auch nach dem Dezember 2021 wird in Deutschlands Schulen der gegenseitige Konkurrenzkampf um Noten, Zeugnisse und Zukunftschancen Vorrang haben vor der gleichberechtigten individuellen Förderung aller Kinder und Jugendlichen in einer wohlwollenden, Mut machenden Umgebung. Das ist das Fatale am Kapitalismus: Er versteckt sich hinter der Maske der Demokratie. Er zwingt Politikerinnen und Politiker in ein Spiel, an das sie am Ende selber noch glauben, bis sie allen Ernstes wegen ein paar wenigen Stecknadeln im Heuhaufen schon von einer neuen „Geschichte“ schwärmen, von der sie in Tat und Wahrheit weiter entfernt sind denn je. Den Kapitalismus wird’s freuen. Einmal mehr und erfolgreicher denn je ist sein Spiel aufgegangen…

Impfpflicht ja oder nein? Es wäre so einfach…

 

Die Diskussionen rund um die Impfflicht und um sämtliche Privilegien Geimpfter gegenüber Ungeimpften zeigen, wie schwierig es ist, ein Problem zu lösen, so lange die vorangegangenen Probleme noch ungelöst sind. Das vorangegangene Problem besteht darin, dass die Impfquote noch viel zu niedrig ist. Wenn dieses Problem gelöst wäre und sich möglichst die gesamte Bevölkerung impfen lassen würde, dann würden alle anderen Probleme wegfallen und kein Mensch käme mehr auf die Idee, von Impfpflicht oder von Privilegien Geimpfter gegenüber Ungeimpften zu sprechen – weil es Ungeimpfte ja schlicht und einfach nicht mehr gäbe. Warum hat Gibraltar mit einer Impfquote von 100 Prozent und vier Coronatoten seit April 2021 ohne Impfpflicht geschafft, was wir nicht schaffen? Die Impfgegner und Impfgegnerinnen werden gegen die mögliche Einführung einer Impfpflicht Sturm laufen und die Spaltung der Gesellschaft wird sich weiter vertiefen. Dabei haben sie allein die Lösung in der Hand. Es wäre so einfach…

Die hartnäckige Lüge, das Zeitalter des Kolonialismus sei vorüber

 

Auf einer Fläche von mehr als 27’000 Quadratkilometern, so berichtet der „Tagesanzeiger“ vom 2. Dezember 2021, bauen Firmen, die von der Schweiz aus verwaltet werden, auf über 550 Plantagen in 24 Ländern unter anderem Zuckerrohr, Palmöl, Orangen und Kautschuk an. 27’000 Quadratkilometer, das ist um einiges mehr als die gesamte Schweizer Landwirtschaftsfläche, welche rund 14’500 Quadratkilometer beträgt. Doch nicht nur was die Plantagen unter eigener Verwaltung betrifft, sondern auch im gesamten globalen Rohstoffhandel ist die Schweiz Weltmeisterin: Ihr Anteil am globalen Goldhandel beläuft sich auf 67 Prozent, beim Kupfer sind es 60 Prozent, beim Palmöl 56 Prozent, beim Kaffee 53 Prozent, beim Zucker 44 Prozent, beim Rohöl 39 Prozent, bei der Kohle und beim Kakao je 35 Prozent. Kaum einer dieser Rohstoffe berührt jemals Schweizer Boden – umso gigantischer sind die Gewinne, welche Schweizer Firmen in Genf, Zug und im Tessin mit Rohstoffgeschäften machen. Betrachtet man die gesamten Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und den sogenannten „Entwicklungsländern“, dann erwirtschaftet die Schweiz gemäss einer Studie der Entwicklungsorganisation Oxfam dabei einen fast 50 Mal höheren Gewinn, als diesen Ländern dann in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückgegeben wird. Zudem, wenn wundert’s, gehört die Schweiz zu den global führendsten Finanzzentren. Rund ein Viertel des grenzüberschreitenden Vermögens der Welt werden in der Schweiz verwaltet. Der Finanzplatz Schweiz ist zudem führend in der Handelsfinanzierung und einer der wichtigsten Versicherungs- und Rückversicherungsstandorte der Welt. 

Doch allen diesen Tatsachen zum Trotz halten sich zwei Lügen nach wie vor hartnäckig am Leben. Die erste Lüge: Das Zeitalter des Kolonialismus sei vorbei. Tatsache ist, dass koloniale Strukturen und die Zweiteilung der Welt in Ausgebeutete und Ausbeuter die heutigen Beziehungen zwischen reichen und armen Ländern schärfer prägen denn je. Es hat, in der Geschichte des Kolonialismus, nie so etwas gegeben wie einen totalen Bruch, einen totalen Neuanfang. Das Leben einer Landarbeiterfamilie irgendwo im Inneren Afrikas unterscheidet sich vom Leben ihrer Vorfahren vor 200 oder 300 Jahren ebenso wenig, wie sich das Leben eines schweizerischen Multimillionärs an der Zürcher Goldküste vom Leben seiner Vorfahren vor 200 oder 300 Jahren unterscheidet. Im Gegenteil, die Unterschiede sind eher noch grösser geworden: Während sich eine Milliarde Menschen nicht einmal ausreichend ernähren können, stieg die Anzahl der Milliardäre weltweit zwischen 2011 und 2021 von 1’210 auf 2’760! 

Die zweite Lüge: Die Schweiz sei nur deshalb das reichste Land der Welt, weil wir Schweizerinnen und Schweizer uns diesen Reichtum mit Fleiss und Intelligenz so hart erarbeitet hätten. Tatsache ist, dass zwar Fleiss, Sparsamkeit und Pioniergeist durchaus beim Aufbau des schweizerischen Reichtums eine wichtige Rolle gespielt haben, dass es die Schweiz aber gleichzeitig aufs Beste verstanden hat, sich die weltweiten kapitalistischen Macht- und Ausbeutungsstrukturen eigennützig auf vielfältigste Weise nutzbar zu machen. Anders lässt sich nicht erklären, weshalb die Schweiz, welche fast als einziges Land gar keine eigenen Rohstoffe besitzt und auch nur über eine vergleichbar geringe Landwirtschaftsfläche verfügt, dennoch bis zum heutigen Tag das reichste Land der Welt geworden ist. 

Die Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative, welche eine Volksmehrheit gefunden hat, zeigt, dass das öffentliche Bewusstsein und die Sensibilität gegenüber der nicht nur rühmlichen Rolle der Schweiz als Nutzniesserin weltweiter kapitalistischer Ausbeutungsmechanismen offensichtlich im Wachsen begriffen ist. Das gibt Hoffnung. Auf dass es dann vielleicht doch noch eines Tages zu einem Ende des Kolonialismus und zum Anfang eines neuen Zeitalters kommt, in dem Weltwirtschaft nicht mehr auf Profitmaximierung und Ausbeutung beruht, sondern auf Kooperation, Fairness und dem guten Leben für alle.

Drohende „Parallelgesellschaft“ nach der Abstimmung vom 28. November 2021?

 

Exponentinnen und Exponenten der Bewegungen, welche das Covid-19-Gesetz bekämpft haben, Coronaschutzmassnahmen und das Impfen ablehnen und unsere Landesregierung als „Diktatur“ bezeichnen, haben nach ihrer Abstimmungsniederlage vom 28. November 2021 angekündigt, eine „Parallelgesellschaft“ aufbauen zu wollen, mit eigenen Gesetzen, einem eigenen Wertesystem, einer eigenen Gesundheitspolitik, einer eigenen Krankenkasse. Steht eine solche Forderung nicht in totalem Gegensatz zum Ruf nach jener „urschweizerischen“ Demokratie, welche gerade von den „Freunden der Verfassung“ und den anderen behördenkritischen Gruppierungen bei jeder Gelegenheit lautstark beschworen wird? Man kann doch nicht Demokratie fordern und gleichzeitig, als Reaktion auf eine Abstimmungsniederlage, die Spaltung der Gesellschaft postulieren. Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung ist sich dieses Widerspruchs zweifellos bewusst. Doch es genügt nicht, solche Forderungen bloss zu verurteilen. Man würde es sich zu einfach machen, Massnahmen- und Behördengegnerinnen und -gegner allesamt als „Schwurbler“ und „Covidioten“ abzutun und das Gespräch und die Begegnungen mit ihnen abzubrechen. Man kann durchaus eine klare eigene Meinung haben und dennoch gleichzeitig auch die Minderheit und politische Positionen, die einem unangenehm sind, ernst nehmen. Wenn diese Auseinandersetzung nicht mehr stattfindet, dann ziehen sich alle Menschen bloss noch in ihre je eigene Blase zurück, in der sie sich gegenseitig verstärken und gegenüber gegensätzlichen Meinungen und Ideen immer blinder und unempfänglicher werden. „Ein echtes Gespräch“, sagte der Philosoph Hans-Georg Gadamer, „setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.“ Das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Gelingt es uns, Gemeinsames herauszufinden, dann sind wir auch besser in der Lage, uns mit dem Trennenden auseinanderzusetzen. Eine junge Lehrerin, die sich zu den „Massnahmengegnern“ bekennt, erzählte mir von ihrem Traum von einer anderen Welt, in der die Menschen viel solidarischer wären als in der heutigen, sich selber versorgen würden und auch die Schule ganz anders wäre, viel näher bei den Bedürfnissen der Kinder. Hätte ich mich diesem Gespräch verweigert, wäre mir diese wertvolle Begegnung entgangen. Bereicherung erfahre ich nicht nur durch die, welche gleich denken wie ich, sondern vor allem auch durch jene, die anders denken. Doch hat solches Bemühen, Andersdenkende ernst zu nehmen und zu verstehen, auch seine Grenzen. Dann nämlich, wenn es sich um Menschen handelt, denen es nicht nur um ihre persönliche Meinung und ihre individuelle „Wahrheit“ geht, sondern darum, eine eigene Machtpositionen aufzubauen, indem sie möglichst viele Gleichgesinnte um sich scharen. Solche Entwicklungen können dann in gefährliche Nähe von Fanatismus und der Aushebelung jeglicher Demokratie führen, das, was man auch von Sekten kennt. Doch gerade um solche Tendenzen zu verhindern, ist es umso wichtiger, die Begegnungen und den Gedankenaustausch mit Andersdenkenden nicht abzubrechen. Wer sich von anderen unverstanden und isoliert fühlt, wem andere aus dem Weg gehen, mit wem andere nicht mehr sprechen, der wird sich umso mehr an seiner Blase – und eben auch an möglichen Wortführern und Scharfmachern – festklammern. „Die Demokratie“, sagte der frühere britische Premierminister Winston Churchill, „ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.“ Das müssen wir, gerade in so schwierigen Zeiten wie der heutigen, im Interesse von uns allen hochhalten und unbeständig daran weiterarbeiten, denn die Demokratie ist viel zu wertvoll, um leichtfertig aufs Spiel gesetzt zu werden.