Omicron: Höchste Zeit für ein klein wenig mehr Gerechtigkeit…

 

In den Bäuchen finsterer, stickiger Schiffe voller Exkremente, eng aneinander gekettet, ohne sich bewegen zu können, wie Tiere, wurden sie aus ihrer afrikanischen Heimat nach Amerika verfrachtet und dort auf Feldern, Plantagen und in Bergwerken zur Zwangsarbeit verdammt, 12 Millionen Männer und Frauen im Laufe dreier Jahrhunderte, eines der grössten Verbrechen aller Zeiten. Wer denkt schon angesichts des heutigen Reichtums der europäischen Länder daran, dass genau dies, nämlich die von den damaligen europäischen Handelshäusern mit dem Sklavenhandel erzielten Profite, die Grundlage bilden sollte für den späteren Reichtum Europas? Doch das war erst der Anfang. Später begann der grosse Raubzug erst Recht. Niemand kann die Mengen an Gold, Diamanten, Tropenhölzern, Kakao- und Kaffeebohnen, Bananen, Zuckerrohr und Kautschuk beziffern, die im Laufe der Jahrhunderte von Afrika nach Europa geschafft wurden, Früchte millionenfacher härtester Arbeit unter sengender Sonne zum Wohle jener, die eigentlich schon längst genug reich gewesen wären, aber ganz offensichtlich nie genug davon zu bekommen schienen. Einer der schlimmsten unter ihnen war der belgische König Leopold der Zweite. Unter seiner Regentschaft fanden rund neun Millionen Kongolesen, die Hälfte der damaligen Bevölkerung, in der Zwangsarbeit der Kautschukgewinnung den Tod. Tötungen, Verstümmelungen, Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung, besonders berüchtigt waren die belgischen Aufseher, welche jenen Arbeitern, welche das Tagessoll nicht erfüllten, die Hände abhackten. Und so verwandelte sich der ärmste Kontinent der Welt, Europa, im Laufe von fünf Jahrhunderten in den reichsten Kontinent, während der reichste Kontinent der Welt, Afrika, zum ärmsten wurde. Auf tragische Weise findet diese Geschichte dieser Tage ihre tragische Fortsetzung: Europa, reich genug, um sich selbst auf Vorrat für seine ganze Bevölkerung Impfstoff gegen das Coronavirus zu beschaffen, scheint sich wenig um die Menschen jenes Kontinents zu kümmern, der von ihm während so langer Zeit ausgeplündert wurde und dem heute alle Mittel fehlen, seine eigene Bevölkerung medizinisch ausreichend zu versorgen. Beträgt die Impfquote in der EU inzwischen rund 70 Prozent, liegt sie in Afrika bei gerade mal drei Prozent. Der Ausbruch der neuen Omicron-Mutation hat gezeigt, wie gefährlich das ist: Solange in den armen Ländern so wenige Menschen vor einer Infektion geschützt sind, ist die Gefahr gross, dass immer wieder neue Mutationen auftauchen – da kann in den reichen Ländern noch so fleissig geimpft werden, gegen das Auftreten neuer Mutationen nützt das wenig. Fünf Jahrhunderte, in denen der ärmste Kontinent zum reichsten wurde und umgekehrt. Wäre es nicht endlich an der Zeit, ein klein wenig von diesem Verbrechen wieder gut zu machen? Oder verschanzen wir uns weiterhin hinter unseren Mauern der Selbstbehäbigkeit und des unverbesserlichen Irrglaubens, all unseren Wohlstand ganz alleine und redlich verdient zu haben? „Entweder“, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „werden wir als Brüder und Schwestern überleben, oder wir werden als Narren miteinander untergehen.“

Black Friday: Nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs

 

Laut einer repräsentativen Onlinebefragung des Umfrageinstituts Demoscope, so berichtet der „Tages-Anzeiger“ am 27. November 2021, hat ein Drittel der Befragten mindestens einen der letztjährigen Black-Friday-Einkäufe inzwischen bereut. Bei den Jungen zwischen 15 und 34 Jahren sind es sogar zwei Drittel, die zugegriffen haben, ohne zu überlegen, ob sie das Produkt tatsächlich auch brauchen. Dass am Black Friday so viel gekauft wird, hat vor allem auch damit zu tun, dass die Preise oft vorgängig ganz langsam erhöht werden, damit dann am Black Friday ein grösserer Rabatt gewährt werden kann. Doch der Black Friday ist nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs. Auch zu ganz „normalen“ Zeiten wird in aller Regel viel mehr gekauft, als man unbedingt braucht, einfach deshalb, weil es so billig ist, dass man es sich leisten kann. Von sämtlichen in der Schweiz gekauften Textilien wird ein Drittel gar nicht erst getragen. Auch von sämtlichen gekauften Lebensmitteln landet ein Drittel im Müll. Und wie oft kauft man ein neues Handy, ein neues Fernsehgerät, einen neuen Computer, ein neues Auto, ein neues E-Bike – nicht weil das alte nicht mehr funktionieren würde, sondern weil man unbedingt auf der Höhe der Zeit sein möchte und gerade ein besonders „günstiges“ Angebot ausfindig gemacht hat. Kein Wunder, prognostiziert das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation eine Zunahme des Güterverkehrs bis zum Jahr 2050 um 31 Prozent, bei den Lieferwagen rechnet man sogar mit einer Zunahme von 53 Prozent, was vermutlich vor allem damit zu tun haben dürfte, dass die Kundinnen und Kunden die bestellte Ware so schnell wie möglich im Haus haben wollen und es eben viel länger dauern würde, wenn der Transport mit einem Lastwagen erfolgen würde. Schon erstaunlich, dass in sämtlichen Diskussionen rund um den Klimawandel das Konsumverhalten von Herrn und Frau Schweizer so selten thematisiert wird. Denn wenn man eine Ökobilanz aller überflüssig produzierten und wieder weggeworfenen Waren, sämtlicher Emissionen infolge von Verschrottung und Entsorgung des Weggeworfenen und aller Hunderttausender auf der Strasse gefahrenen Kilometer zum Transport der ganzen Warenflut ziehen würde, dann sähe diese Ökobilanz vermutlich, gelinde gesagt, katastrophal aus. Doch das Ganze hat nicht nur eine ökologische, sondern auch eine gesellschaftspolitische Seite. In einem Land, wo übermässiges Konsumieren überflüssiger Dinge für viele Menschen selbstverständlich ist, da lastet der soziale Druck auf all denen, die sich das eben nicht leisten können, umso mehr. Arm sein in einem armen Land ist schon genug schwer. Aber arm sein in einem reichen Land, das ist noch viel schwerer. Wie soll die alleinerziehende Verkäuferin, die sich mit monatlich 3500 Franken durchschlagen muss, ihrem Kind erklären, dass es auch dieses Jahr zu Weihnachten keine Schachtel mit den schönen, bunten Legosteinen geben wird, und das, obwohl diese am Black Friday so billig gewesen wären. Kein Wunder, dass sich die Zahl der Menschen, die sich wegen Betreibungen auf einer Schuldenberatungsstelle melden, immer weiter anwächst. Wie eben alles anwächst im Kapitalismus, die Warenberge überflüssiger und zu Spottpreisen verkaufter Waren ebenso wie die Schulden der an den untersten Rändern der Gesellschaft Lebenden, die Paketflut in den Postverteilungszentren ebenso wie die Bein-, Schulter- und Rückenschmerzen derer, die dort arbeiten, die Gewinne der Unternehmen und der Aktionärinnen und Aktionären ebenso wie der Konsum von Fleisch, Tropenfrüchten und anderen Genussmitteln aller Art auf Kosten der Zerstörung ganzer Tier- und Pflanzenwelten, die Anzahl der mit Lastwagen und Flugzeugen transportierten Luxusgüter ebenso wie die Elektromüllhalden in Bangladesch oder Burkino Faso. Alles schön gemäss dem heiligen Gesetz des Kapitalismus, wonach Wachstum das einzig wirklich Erstrebenswerte ist. Doch könnte man unter „Wachstum“ nicht auch noch etwas ganz anderes verstehen als die Menge transportierter Waren, gefahrener Kilometer, produzierter Luxusgüter? Wachstum der Bescheidenheit? Wachstum der sozialen Gerechtigkeit? Wachstum der Lebensfreude?

Corona: Was, wenn uns parteipolitisches Gezänk, das Hin- und Herschieben von Kompetenzen, Rechthaberei und Besserwisserei nicht mehr weiterbringen?

 

Gegenwärtig erleben wir in Deutschland und in der Schweiz das gleiche Drama: Die Corona-Infektionszahlen schnellen in die Höhe, die Krankenhäuser nähern sich immer mehr ihrer Kapazitätsgrenze, doch die Politikerinnen und Politiker beschränken sich mehr oder weniger darauf, abzuwarten und die Situation zu „beobachten“. In Deutschland schieben sich die alte und die neue Regierung die Verantwortung gegenseitig zu wie eine heisse Kartoffel, an der sich niemand die Finger verbrennen will, in der Schweiz sind es der Bund und die Kantone, die sich den Schwarzen Peter gegenseitig in die Schuhe schieben. Ausserordentliche Zeiten erfordern ausserordentliche Massnahmen. Wäre es nicht vernünftiger und zielführender, so etwas wie einen „Expertenrat“ einzurichten, mit den besten und auserlesensten Fachpersonen ihres Gebiets, von Virologen und Infektiologinnen über Kinderärzte bis zu Psychologinnen und Wirtschaftswissenschaftlerinnen? Ein solches Gremium würde sich ausschliesslich mit der Coronapandemie, ihren Auswirkungen sowie den notwendigen Schutzmassnahmen auseinandersetzen, nicht so wie heute beispielsweise in der Schweiz, wo der zuständige Gesundheitsminister als Bundesrat noch unzählige andere Geschäfte zu betreuen hat. Der Expertenrat würde sich täglich zu einer Sitzung treffen und stünde auch in ständigem Kontakt und Erfahrungsaustausch mit den entsprechenden Gremien in anderen Ländern, ist das Coronavirus doch überall das gleiche, egal ob es in Spanien, Österreich oder Polen wütet. Die Empfehlungen des Expertenrates müssten verbindlich sein und landesweit von der Politik eins zu eins umgesetzt werden. Ein weiterer grosser Vorteil eines solchen Expertenrates bestünde darin, dass seine Mitglieder frei und ohne äusseren Druck agieren könnten, einzig und allein der Wissenschaft verpflichtet, und nicht, wie das bei den Politikern und Politikerinnen der Fall ist, immer schon wieder mit einem Bein im nächsten Wahlkampf stehen. Ich höre schon die Warnung vor einer Aushebelung der Demokratie, wenn man einem solchen Expertenrat zu viel Macht verliehe. Doch die beste Demokratie taugt nichts, wenn sie nicht verhindern kann, dass Tag für Tag Tausende von Menschen sterben oder unter den Spätfolgen einer Ansteckung über lange Zeit leiden müssen. Die Einrichtung eines Expertenrats würde keinesfalls zu einer Beseitigung demokratischer Rechte führen, sondern wäre im Gegenteil ein wirkungsvolles Instrument, um die Gesundheit der Menschen und damit in letzter Konsequenz auch die Grundlagen unserer demokratischen Gesellschaften zu sichern. 

27 Bootsflüchtlinge im Ärmelkanal ertrunken: Was ist „legal“, was ist „illegal“?

 

„Im Ärmelkanal“, so berichtet die „Tagesschau“ des Schweizer Fernsehens am 25. November 2021, „sind bei einer illegalen Überfahrt in einem Schlauchboot 27 Menschen ums Leben gekommen. Inzwischen sind fünf mutmassliche Menschenschmuggler festgenommen worden, die in den Fall verwickelt sein sollen. Und bereits haben Frankreich und Grossbritannien erklärt, gezielter als bisher gegen Schmugglerbanden vorzugehen, um ihnen das Handwerk zu legen.“ Als wäre das Problem damit gelöst. Als ginge es bloss darum, den „Menschenschmugglern“ das Handwerk zu legen und dann wäre die Welt in Ordnung. Nein, „illegal“ sind nicht die Menschenschmuggler und schon gar nicht die Flüchtlinge. Illegal ist Reichtum, der auf Kosten anderer angehäuft wurde. Weshalb ist Grossbritannien im Vergleich zu Bangladesch oder Mali so reich? Nicht weil die Engländerinnen und Engländer so viel härter und länger arbeiten als die Menschen in Bangladesch oder Mali. Sondern zum Beispiel, weil Grossbritannien einer der weltweit wichtigsten Finanzplätze ist und sich hier Unsummen von Geld versammeln, die über Jahrhunderte schon seit der Zeit des Sklavenhandels weltweit von den Armen zu den Reichen gewandert sind. Oder zum Beispiel, weil die Rohstoffe, welche aus aller Welt nach Grossbritannien importiert werden, so viel billiger sind als die Fertigprodukte, die daraus hergestellt werden. Oder zum Beispiel, weil die britische Rüstungsindustrie sagenhafte Gewinne dadurch erzielt, dass mit den von ihr produzierten Waffen ganze Städte und Dörfer fernab dem Boden gleichgemacht werden. Wie verzerrt unsere Wahrnehmung ist, zeigt sich nur schon darin, dass man die Reise von 27 Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten nach Grossbritannien ganz selbstverständlich als „illegal“ bezeichnet, während kein Mensch auf die Idee käme, die Reise von 27 Touristinnen und Touristen aus Grossbritannien nach den Malediven als „illegal“ zu bezeichnen – obwohl diese Reise nur möglich ist aufgrund des riesigen Wohlstandsgefälles zwischen Norden und Süden. Nicht den Schmugglerbanden ist das Handwerk zu legen, sondern dem Anhäufen von Reichtum auf Kosten anderer. So lange dies nicht geschieht und sich die Kluft zwischen reichen und armen Ländern nicht massiv verkleinert, so lange kann man noch so hohe Mauern bauen, noch so hohe Grenzzäune, noch so strenge Asyl- und Immigrationsgesetze schaffen. All die Menschen, die nichts zu verlieren haben, werden immer wieder einen Weg finden, um ihr Glück an einem Ort zu suchen, wo sie sich ein besseres, menschenwürdiges Leben erhoffen.

Und wieder sind die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer um sagenhafte 115 Milliarden Franken reicher geworden

 

Und wieder sind sie noch viel reicher geworden, als sie schon waren: die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer. Ihr Gesamtvermögen ist, wie das Nachrichtenmagazin „10vor10“ am 25. November 2021 berichtet, innert Jahresfrist um sagenhafte 115 Milliarden Franken angestiegen, von 709 auf 824 Milliarden. Das ist um einiges mehr als die gesamte Wirtschaftsleistung der Schweiz und entspricht in etwa dem jährlichen Militärbudget der USA. Doch woher ist dieses viele Geld gekommen? Dirk Schütz, Chefredaktor des Wirtschaftsmagazins „Bilanz“, sieht den Grund in der Coronakrise. Da macht er es sich wohl etwas allzu einfach, hat sich doch das Vermögen der 300 Reichsten schon lange vor Corona, nämlich zwischen 2009 und 2019, bereits verdoppelt. Nein, der Grund für die wundersame Geldvermehrung muss woanders liegen. Denn definitiv ist dieses Geld weder vom Himmel gefallen, noch ist es in irgendwelchen Muscheln auf dem Meeresgrund gewachsen. Nun, woher könnte es gekommen sein? Der Gründe gibt es viele, und alle liegen im kapitalistischen Geld- und Wirtschaftssystem begründet. Reich werden kann man beispielsweise dadurch, dass man Geld und Besitztümer erbt. Oder dadurch, dass man ein besonders erfolgreiches Unternehmen führt, dessen Gewinn, einfach gesagt, auf einem möglichst geringen Aufwand und einem möglichst hohen Ertrag beruht. Oder dadurch, dass man Aktien besitzt und dadurch von der Arbeit anderer profitiert. Oder dadurch, dass man Immobilien besitzt und diese möglichst teuer vermietet. Oder durch das Handeln mit billigen Rohstoffen, die man viel teurer verkauft. Oder durch alle möglichen Versicherungs- und Finanzgeschäfte aller Art. Und so weiter. Aber stets muss irgendwer, der selber nicht davon profitiert, diesen Reichtum buchstäblich im Schweisse seines Angesichts erarbeiten. Es ist die unaufhörliche Umverteilung von den Arbeitenden zu den Besitzenden: Wer viel besitzt, wird zwangsläufig über kurz oder lang noch mehr besitzen. Wer aber wenig besitzt, kann so viel arbeiten, wie er will und wird dennoch nicht reicher. Jeder Franken, der in der Kasse des Reichen klingt, ist ein Franken, der in der Lohntüte des Arbeiters, der Verkäuferin im Supermarkt und des Sozialhilfeabhängigen fehlt. Unglaublich, dass die Lüge, wonach Reichtum stets die Frucht harter Arbeit und daher redlich „verdient“ sei, nicht schon längstens aufgeflogen ist, dies umso mehr, als das Phänomen ja nicht nur in der Schweiz, sondern auch weltweit in gleicher Weise zu beobachten ist und daher wohl nicht ein Zufall sein kann, sondern eben die ganz zwangsläufige und logische Folge des kapitalistischen Wirtschafts- und Finanzsystems. Höchst bedauerlich, dass weder im Nachrichtenmagazin wie „10vor10“, noch im Wirtschaftsmagazin „Bilanz“, das in einer Hochglanzausgabe regelmässig Ende November die 300 Reichsten ausführlich porträtiert, über solche Zusammenhänge jemals etwas zu lesen und zu hören ist. Fairerweise müsste man zumindest, wenn man schon die 824 Milliarden zeigt, die oben angekommen sind, auch zeigen, wo und wem sie jetzt fehlen…

Die 35-Stunden-Woche: Weshalb wird uns einen Fortschritt leisten können, der für die überwiegende Mehrheit der Menschheit in unerreichbarer Ferne liegt

 

Die Swisscom, so berichtet der „Tagesanzeiger“ am 24. November 2021, ist mit der Forderung nach einer 35-Stunden-Woche an die Öffentlichkeit getreten – ein Anliegen, das auch von der SP seit Längerem verfochten wird und im Trend der Zeit liegt: Seit Jahrzehnten haben sich die wöchentlichen Arbeitszeiten in der Schweiz kontinuierlich verringert, die 16-Stunden-Arbeitstage  des 19. Jahrhunderts liegen in dunkler Vergangenheit. Doch so verlockend es für die Betroffenen auch sein mag: Es hat, wie alles im Kapitalismus, seine Schattenseiten. Die Arbeitszeiten haben sich im Laufe der Zeit nämlich nicht wirklich reduziert, sondern bloss verlagert. Und zwar von den sogenannt „qualifizierten“ Jobs, wo gut verdient wird, zu den „Knochenjobs“, wo zwar sehr viel gearbeitet, aber kaum etwas verdient wird. Wenn man nämlich, zum Beispiel als Koch, als Strassenarbeiter, als Kellnerin oder als Verkäuferin – auch bei voller Erwerbstätigkeit und womöglich noch zusätzlichen Überstunden – dennoch nicht genug verdient, um eine Familie ernähren zu können, und daher der Ehepartner, die Ehepartnerin, gezwungen ist, ebenfalls, ob sie will oder nicht, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, so bedeutet dies faktisch nicht eine Arbeitszeitverkürzung, sondern eine Arbeitszeitverlängerung: Um im Niedriglohnsektor die gleiche Lohnsumme zu erreichen wie früher, muss insgesamt länger gearbeitet werden, während in Berufen, wo man überdurchschnittlich viel verdient, ein einziger Lohn für den Lebensunterhalt genügt. Eine zweite Verlagerung hat stattgefunden zwischen den Löhnen und Arbeitsbedingungen hierzulande einerseits und den Löhnen und Arbeitsbedingungen im Ausland andererseits. Wenn sich Herr und Frau Schweizer auch mit dem Lohn einer 35-Stunden-Woche locker jede beliebige Anzahl von Kleidern und Schuhen leisten können, dann ist dies nur möglich, weil irgendwo in der Türkei oder in Bangladesch Hunderttausende von Arbeiterinnen genau zu jenen Hungerlöhnen und Arbeitszeiten schuften, die wir Glücklichen schon längst hinter uns gelassen haben. Auch all die Lebens- und Genussmittel in unseren Supermärkten sind nur deshalb so billig, weil die damit verbundene Arbeit nicht mehr hierzulande geleistet wird, sondern auf brasilianischen Kaffeeplantagen, auf spanischen Erdbeerfeldern, wo sich marokkanische und algerische Landarbeiterinnen und Landarbeiter zu Tode schuften, und in deutschen Schlachthöfen, wo polnische Leiharbeiter jene Arbeit verrichten, die nur noch wenige Deutsche oder Schweizer zu leisten bereit wären. Noch krasser ist es nur bei den Rohstoffen. Während afrikanische Minenarbeiter, wiederum zu Hungerlöhnen und an überlangen Arbeitstagen, wertvollste Bodenschätze zutage schürfen, ist ausgerechnet die Schweiz, welche über keinerlei Rohstoffe verfügt, Nummer eins im internationalen Handel und im Kaufen und Verkaufen dieser Güter. Da ist dann auch unsere Empörung über die in der „Dritten Welt“ immer noch weit verbreitete Kinderarbeit nur scheinheilig. Den Reichtum, den wir geniessen, verdanken wir der Arbeit von Millionen von Menschen, die nicht genug verdienen, um davon leben zu können – da ist die Kinderarbeit, will man nur einigermassen über die Runden kommen, doch der einzige Ausweg, genau so wie in unseren Fabriken und auf unseren Bauernhöfen im 19. Jahrhundert. Kein Wunder, kann man sich dann, wenn andere so viel, so hart, so lange und zu so unmenschlichen Bedingungen und geringen Löhnen für uns arbeiten müssen, kürzere Arbeitszeiten leisten – auf Kosten all jener, die davon nicht einmal zu träumen wagen. Lösen lässt sich das Problem nur durch eine neue globale Wirtschaftsordnung, die nicht mehr auf Ausbeutung beruht, sondern auf einer Überwindung der weltweiten Klassengesellschaft, auf gerechtem Teilen von Gütern und Reichtum und auf fairen – möglichst gleichen – Löhnen für alle. Damit nicht nur der schweizerische Swisscom-Mitarbeiter, sondern auch die schweizerische Kellnerin, die kongolesische Krankenschwester und der chilenische Hafenarbeiter in 35 Stunden pro Woche genug verdienen, um davon leben zu können. Denn, wie schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ 

Die Alternative zur Demokratie ist die Demokratie

 

„Man kann die Welt auch demokratisch an die Wand fahren“, meinte eine junge Frau, die unlängst an einer Strassenaktion von „Exstinction Rebellion“ in Zürich teilnahm. Ähnliche Gedanken gehen einem durch den Kopf, wenn man an die Abstimmung über das schweizerische CO2-Gesetz denkt oder an die neu gewählte Regierung Deutschlands, welche bei Weitem nicht jene Erwartungen erfüllt, welche zahllose Wählerinnen und Wähler in Sachen Klimaschutz in sie gesetzt hatten. Hat sich die Demokratie überlebt? Wäre es an der Zeit, eine Art Diktatur einzuführen, um die wichtigsten Probleme unserer Zeit endlich einer Lösung entgegenzuführen? Nein, das wäre eine Bankrotterklärung sondergleichen. Denn die Demokratie ist, neben der sozialen Gerechtigkeit und der Freiheit, wohl unser höchstes gesellschaftliches Gut. Es darf nicht darum gehen, die Demokratie abzuschaffen. Im Gegenteil. Es geht darum, sie weiterzuentwickeln, sie auf den neuesten gesellschaftlichen Stand zu bringen. Heute besteht Demokratie nämlich hauptsächlich darin, dass die Mehrheit Recht bekommt. Wenn einer Abstimmungsvorlage 50,1 Prozent der Bevölkerung zustimmen, dann wird sie umgesetzt, wenn sie von 50,1 Prozent der Stimmenden abgelehnt wird, dann fällt sie durch. Oder, wie in Deutschland: Wenn die SPD zwei Prozentpunkte mehr Wähleranteil als die CDU erreicht, wird sie zur Regierungspartei und wird den zukünftigen Bundeskanzler stellen – hätte sie zwei Prozentpunkte weniger Wähleranteil erzielt, dann wäre es genau gegenteilig herausgekommen. So wird die Demokratie zur Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, während die eigentlichen Grundinteressen und Bedürfnisse der Menschen auf der Strecke bleiben. Doch wie könnte man das ändern? Demokratie kann im luftleeren Raum nicht wirklich funktionieren. Sie braucht so etwas wie eine ethische Grundlage, einen gesellschaftlichen „Vorlauf“. In welcher Form ein solcher „Vorlauf“ erfolgen könnte, ist schwer zu sagen. Aber vielleicht könnte es in der Richtung gehen, wie es bei den afrikanischen Urvölkern vor vielen hundert Jahren Brauch war: Da wurde über Beschlüsse, die das Dorf zu fällen hatte, so lange gesprochen, „palavert“, bis alle der gleichen Meinung waren. Das ging zweifellos nur, indem man einander aufmerksam zuhörte und aus den vielen kleinen Mosaiksteinchen schliesslich ein Ganzes geformt werden konnte. So ganz anders, als es uns in der „Arena“, der Diskussionssendung am Schweizer Fernsehen jeden Freitagabend, aber auch in den Talkshows auf den deutschen Kanälen vorgeführt wird: Jeder Gesprächsteilnehmer, jede Gesprächsteilnehmerin ist bemüht, „ihre“ Wahrheit zu verkünden und die Meinungen der anderen möglichst klein zu reden. Anderen aufmerksam zuzuhören, anderen vielleicht auch mal Recht zu geben, eine gemachte Fehlaussagen zu korrigieren – gibt es nicht. Die Sendung „Club“ zeigt, dass es auch anders gehen kann, vor allem dann, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht nach Parteizugehörigkeit aufgespalten sind. Doch es braucht nicht nur eine andere Gesprächskultur. Es braucht auch so wie etwas wie ein gemeinsames Ganzes, Werte, die über den einzelnen Themen und Sachverhalten stehen und Verbindliches zwischen den einzelnen Parteien und Bevölkerungsgruppen schaffen können. Nichts würde sich dafür besser eignen als unsere schweizerische Bundesverfassung. Schliesslich hatte man sich zu dem Grundlagenwerk vor langer Zeit demokratisch bekannt und es ist nicht einzusehen, weshalb es nicht auch heute noch ein mindestens so hohes politisches Gewicht haben sollte wie irgendwelche Parteiprogramme oder Regierungserklärungen. Nur schon der Satz „Die Schweiz trägt eine Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen“ würde so ziemlich alles auf den Kopf stellen, was unter heutiger Wirtschafts- und Umweltpolitik verstanden wird. Auch im deutschen Grundgesetz heisst es: „Der Staat schützt in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere.“ Höchstwahrscheinlich fänden wir diesen Grundsatz noch in zahllosen anderen Verfassungen und Grundgesetzen weltweit. Und damit sind wir beim entscheidenden Punkt: Das Gemeinsame – das Bedürfnis nach Sicherheit, Freiheit, Frieden und sozialer Gerechtigkeit auf einem lebenswerten Planeten – ist so viel grösser und umfassender als politische Grabenkämpfe und das kleinliche Gezänk um einzelne Prozentpunkte in Wahlen und Abstimmungen. Nein, die Demokratie ist nicht abzuschaffen, im Gegenteil, sie ist auszubauen und weiterzuentwickeln zu einem Instrument, das in der Lage ist, die riesigen Herausforderungen unserer Zeit tatsächlich zu lösen, durch eine ethische Basis, Orientierung an den Grundwerten, eine Neuauflage der „Palaverkultur“ und die Besinnung auf das Gemeinsame, das so viel grösser ist als alles Trennende. Noch nie gab es eine solche Fülle von Weiterbildungsangeboten aller Art, noch nie hörte man so oft wie heute die Forderung nach „lebenslangem Lernen“. Da wäre es doch höchste Zeit, dass wir auch im Gesellschaftlich-Politischen weiterlernen und alles daran setzen, unsere Demokratie noch viel besser zu machen, als sie schon ist.

 

„Gendern“ – eine rein akademische Luxusdiskussion?

 

Gemäss „Sonntagszeitung“ vom 21. November 2021 postuliert Paul Gygax, Unidozent und Leiter der Arbeitsgruppe Psycholinguistik an der Universität Freiburg, in seinem soeben erschienen Buch „Denkt das Gehirn männlich?“ die konsequente Verwendung weiblicher Sprachformen, das so genannte „Gendern“. Zweifellos ist das „Gendern“ eine wichtige, ja geradezu unerlässliche gesellschaftspolitische Forderung im Hinblick auf die Gleichberechtigung der Geschlechter. Doch leider ist das „Gendern“ bis heute praktisch ausschliesslich eine akademische Diskussion. Die Verwendung männlicher und weiblicher Formen ist weit davon entfernt, bis in Restaurantküchen, Fabrikhallen, Baustellen oder Wohnzimmer ganz „gewöhnlicher“ Durchschnittsfamilien vorgedrungen zu sein. Wer im „Gendern“ das eigentliche Hauptinstrument zur Beseitigung von Ungerechtigkeiten und Diskriminierung sieht, verkennt, dass die gesellschaftspolitischen Trennlinien eben nicht nur zwischen Männern und Frauen verlaufen, sondern vor allem auch zwischen den verschiedenen gesellschaftspolitischen Schichten in der kapitalistischen Klassengesellschaft. Der alleinerziehenden Mutter, die sich mit 3000 Franken pro Monat durchschlagen muss, nützt es nichts, wenn in den Zeitungen und Büchern, die sie sich sowieso nicht leisten kann, durchgängig männliche und weibliche Formen verwendet werden. Und die Kellnerin hat noch keinen Rappen mehr Lohn, wenn in der gepflegten Kundschaft, welche sie bedient, ausschliesslich „korrekt“ gesprochen und „gegendert“ wird. Auch die Arbeit der Krankenpflegerin wird kein bisschen weniger anstrengend, wenn in den Krankheitsberichten, die sie zu lesen hat, jede männliche Personenbezeichnung noch eine zusätzliche weibliche Endung aufweist. Bedeutet dies, das man auf „Gendern“ verzichten sollte mit dem Argument, dies alles sei eine reine Luxusdiskussion, eine reine Zeitverschwendung von Menschen, die offensichtlich nichts Gescheiteres zu tun wüssten? Keinesfalls. Das Hinterfragen einer rein männlichen Sprachwelt ist essenziell. Aber das „Gendern“ kann im besten Falle nur ein erster kleiner Schritt sein hin zu einem viel umfassenderen, grösseren. Gerechtigkeit ist nicht eine Frage von Doppelpunkten, Sternchen oder einem Binnen-I, die den bisher rein männlichen Formen von Substantiven hinzugefügt werden. Die gesellschaftspolitischen und akademischen Anstrengungen, Initiativen und Debatten, die heute mit viel Eifer in das korrekte „Gendern“ investiert werden, müssten vermehrt auch für die Überwindung einer Klassengesellschaft aufgebracht werden, welche einen grossen Teil der Bevölkerung nicht nur sprachlich, sondern vor allem auch materiell diskriminiert. Man wünschte sich zum Thema der sozialen Gleichheit eine ebenso breite, intensive und leidenschaftliche Diskussion wie über die Fragen korrekter Rechtschreibung, geschlechtsneutraler Redewendungen und der Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Sprachformen und Denkprozessen.   

Lieferdienste, in Flaschen pinkelnde Velokuriere und die „plötzliche Lust“ der Konsumentinnen und Konsumenten

 

Der Genfer Lieferdienst Smood ist, wie die „Wochenzeitung“ am 18. November 2021 berichtet, eine „Erfolgsgeschichte“ und hat seit 2015 ein rasantes Wachstum hingelegt. Ein Schweizer Unternehmen, das es mit den ganz Grossen auf dem Markt aufnehmen kann, zum Beispiel mit Uber eats und Just Eat aus den Niederlanden. Weniger rosig sieht es für die Menschen aus, die für Smood arbeiten. Eine Lohnabrechnung, so die „Wochenzeitung“, hätte Farès Doudouhi noch nie gesehen. Ende August seien ihm 180 Stunden vergütet worden, obwohl er nach eigenen Berechnungen 195 Stunden gearbeitet hätte. Hinzu käme die Zeit, während der Doudouhi auf Aufträge gewartet habe: Sie werde nicht bezahlt, genau so wenig wie die Autoreparatur, die er im selben Monat in Auftrag geben musste. Weitere Kosten würden für Benzin anfallen. Alle diese Auslagen vergüte Smood mit gerade mal 32 Rappen pro Stunde. Insgesamt seien ihm im August 4247 Franken ausbezahlt worden, nach Anzug aller Auslagen seien ihm am Ende gerade mal noch 3000 Franken geblieben, und dies bei 50 Stunden Arbeit pro Woche. Doch es würde zu kurz greifen, nur einzelne Unternehmen wegen schlechter Arbeitsbedingungen an den Pranger zu stellen. An den Pranger zu stellen, ist in erster Linie nicht Smood noch Hey Migrolino, weder Stash noch Eat CH, weder Just Eat noch Shoplino und wie die Lieferdienste, die seit Jahren wie die Pilze aus dem Boden schiessen, alle heissen. An den Pranger zu stellen ist das System als Ganzes, die Idee der „Freien Marktwirtschaft“, das Prinzip des Konkurrenzkampfs aller gegen alle. Ein gegenseitiger Vernichtungsfeldzug mit gigantischen Kollateralschäden. Immer schneller, immer billiger, das ist die Devise. Und wer da nicht mithalten kann, bleibt gnadenlos auf der Strecke. Ein Motor, der alles bis zum äussersten Exzess weitertreibt, Kuriere, die sich im Wettlauf mit der Konkurrenz fast zu Tode strampeln und unterwegs in mitgenommene Flaschen pinkeln, weil der Zeitdruck gelegentliche Pausen gar nicht zulässt. Doch nicht nur Hauslieferdienste sind einem gnadenlosen Konkurrenzkampf um die Gunst der Kundschaft ausgeliefert, ebenso Hotels und Restaurants, Handwerksbetriebe, Autowerkstätten, Frisiersalons und so weiter und so weiter. Und stets lautet die Devise: immer schneller, immer billiger. Doch damit dieses ganze zerstörerische Spiel nicht ein Ende findet, braucht es nicht nur die Unternehmen, welche Dienstleistungen anbieten. Es braucht ebenso die Kundinnen und Kunden, die das Spiel mitmachen, indem sie in aller Regel stets das billigste und schnellste Angebot wählen, ohne sich der Folgen, die sie damit anrichten, bewusst zu sein. Mit dem Sprung ins Internet und dem immer schnelleren Zugang zu einer Riesenpalette von Angeboten aller Art hat sich eine „Konsumkultur“ entwickelt, die darauf beruht, dass einem sozusagen rund um die Uhr die ganze Welt zur Verfügung steht. Christa Wahlstart, Sprecherin des Lieferdienstes Avec nous, sagt: „Wir liefern Dinge, die einem gerade noch fehlen oder auf die man plötzlich Lust hat.“ Je nachdem, ob man ein Velokurier ist, der in eine Flasche pinkelt und im Grossstadtverkehr sein Leben riskiert, oder ob man für seine Party eine Pizza, Chips und Bier bestellt, sieht diese „plötzliche Lust“ höchst unterschiedlich aus. Und noch einmal anders sieht die „plötzliche Lust“ für jene Unternehmer, Firmenbesitzerinnen und Aktionäre aus, denen die Firmen gehören. So hat der Gründer des Lieferdienstes Smood, Marc Auschlimann, gemäss Wirtschaftsmagazin „Bilanz“ heute ein Vermögen von 150 bis 200 Millionen Franken. Alles herausgestrampelt aus knochenharter Arbeit von Kurierinnen und Kurieren und der „plötzlichen Lust“ Abertausender Konsumentinnen und Konsumenten. So ist das, im Kapitalismus. So lange alle mitmachen, niemand das Spiel unterbricht und alle ungebrochen daran glauben, dass nur das gut ist, was möglichst schnell und möglichst billig ist…

Zankapfel Taiwan: Krieg als Instrument zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte muss ein Ende haben

 

Seit 40 Jahren sei das Verhältnis zwischen China und den USA noch nie so schlecht gewesen wie heute, schreibt der „Tagesanzeiger“ am 17. November 2021. Einer der Hauptstreitpunkte ist das Verhältnis zwischen dem Inselstaat Taiwan und China. Seit Jahren steht Taiwan unter wachsendem politischen und militärischen Druck Chinas, welches die Vereinigung des Inselstaates mit China fordert. Ein, wie Chinas Staatschef XI Jinping sagt, „historisch unabwendbarer“ Schritt, der notfalls auch mit Gewalt durchgesetzt würde. Auf der anderen Seite die USA, die an einem 1979 vereinbarten Gesetz festhalten, wonach sich die USA der Verteidigungsfähigkeit von Taiwan verpflichtet haben. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder lassen die beteiligten Staaten den Konflikt eskalieren – mit dem Risiko, dass es zu einem kleineren oder grösseren Krieg kommt, mit möglicherweise unabsehbaren Folgen. Oder die beteiligten Regierungen setzen sich zusammen an den Verhandlungstisch und setzen alles daran, den Konflikt friedlich zu lösen. Könnte das nicht eine Aufgabe für die Schweiz sein? Wir rühmen uns ja stets unserer vielgepriesenen Neutralität – da würde doch nichts näher liegen, als diesen Status dafür zu nutzen, verfeindete Mächte zum gemeinsamen Gespräch einzuladen, ohne Partei der einen oder anderen Seite zu sein. Doch wie auch immer, ob die Schweiz ihre guten Dienste nun anbietet oder nicht: Wann endlich kommen die Mächtigen dieser Welt zur Vernunft? Hat Krieg jemals auch nur ein einziges zwischenstaatliches Problem so gelöst, dass es den betroffenen Menschen besser ging als zuvor? Wann endlich wird das, was in jeder Familie das Selbstverständlichste ist, nämlich, dass man Konflikte nicht mit Gewalt, sondern mit Worten zu lösen versucht, auch zur Selbstverständlichkeit im Verhältnis zwischen Ländern und Völkern? Wie können wir es zulassen, dass jährlich Hunderte von Milliarden Dollar für Waffen ausgegeben werde, während eine Milliarde Menschen nicht einmal genug zu essen haben? Artikel 2 Nr. 4 der UN-Charta lautet: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit eines Staates gerichtete Androhung oder Anwendung von Gewalt.“
Wie viel Wert ist denn das Papier, auf dem die Erklärungen der UNO über Jahrzehnte hinweg festgeschrieben wurden? Von der Steinzeit bis in unsere heutige Zeit haben Kriege unermessliches Leiden über die Menschheit gebracht, mit schlimmsten Folgen über Jahrhunderte und Generationen hinweg. Bis sich heute noch zwei Grossmächte gegenüberstehen, bis an die Zähne bewaffnet, zwei Grossmächte, die es in der Hand haben, entweder die Geschichte der Kriege blindlings weiterzuverfolgen und im aller schlimmsten Fall einen Dritten Weltkrieg auszulösen, der möglicherweise das Ende der Menschheit bedeuten könnte. Oder sie haben es in der Hand, das Steuer herumzureissen und einer neuen Ära den Weg zu öffnen, in der Krieg als Mittel der Konfliktlösung endlich ein Ende hätte. Das ist so etwas wie ein Kipppunkt. Er setzt voraus, dass zwei Männer, die weitgehend immer noch ganz ähnlich denken, wie Männer schon seit Menschengedenken gedacht haben, sich inspirieren lassen von einem neuen Geist, von all den über Jahrhunderte für Frieden und die Abschaffung der Armeen kämpfenden Pazifistinnen und Pazifisten, von Künstlern und Schriftstellerinnen, von den Jugendlichen, die für eine gerechtere und friedlichere Zukunft auf die Strasse gehen, von den Kindern, die alle schon bei ihrer Geburt für eine Welt voller Liebe und Frieden träumen. „Erst wenn die Macht der Liebe die Liebe zur Macht überwindet, wird es Frieden geben,“ sagte Jimi Hendrix. Und offensichtlich hatte auch Martin Luther King den historischen Zeitpunkt vorausgesehen, an dem wir uns heute befinden: „Entweder“, sagte er, „werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben, oder aber als Narren miteinander untergehen.“