An jedem Geldstück, das wir über den Ladentisch schieben, kleben das Blut, der Schweiss, die Tränen und die Schreie jahrhundertelanger Ausbeutung

 

„Die Schweizer Firma Sogescol FR“, so berichtet die „Wochenzeitung“ am 4. November 2021, „kauft einer Plantage in Liberia Kautschuk ab und verkauft diesen anschliessend – zu einem höheren Preis – an einen Kunden in China. Die Preisdifferenz verbleibt in der Schweiz.“ Dies ist nur eines von Millionen Beispielen, weshalb die Schweiz so reich ist, wie sie ist. Und dennoch hält sich das Märchen, wonach die Schweiz nur dank der „Freien Marktwirtschaft“ so reich sei und die ärmeren Länder ebenso reich sein könnten, wenn sie nur ebenfalls das System der „Freien Marktwirtschaft“ einführen würden, hartnäckigst am Leben. Die Wahrheit ist, dass die Schweiz zwar tatsächlich dank der „Freien Marktwirtschaft“ bzw. dank dem kapitalistischen Wirtschaftssystem so reich ist, aber eben nur deshalb, weil so viele andere Länder der Welt viel ärmer sind. So erwirtschaftet die Schweiz im Handel mit den sogenannten „Entwicklungsländern“ gemäss Entwicklungsorganisation Oxfam einen fast 50 Mal höheren Gewinn, als sie diesen Ländern in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückerstattet. Was in keinem Schulbuch steht, aber bittere Realität ist: Wir leben immer noch zutiefst im Zeitalter des Kolonialismus, der mit dem Sklavenhandel begann und auf Millionen verschlungener, unsichtbarer Wege bis in unsere Tage fortdauert. An jedem Geldstück, das wir über den Ladentisch schieben oder das unser Bannkonto füllt, kleben das Blut, der Schweiss, die Tränen und die Schreie jahrhundertelanger Ausbeutung der Armen durch die Reichen. Und diese Ausbeutung geschieht nicht nur zwischen den reichen und den armen Ländern, sie geschieht ebenso gnadenlos zwischen den Armen und den Reichen in jedem einzelnen Land des globalen Kapitalismus, wo – als wäre es ein Zufall – die Kluft zwischen Arm und Reich immer noch grösser und grösser wird. Was nichts anderes heisst, als dass die Arbeiterinnen und Arbeiter in den kapitalistischen Ländern des Reichtums und jene in den armen Ländern des Südens die Opfer des gleichen kapitalistischen Ausbeutungssystems sind. Erst wenn diese Zusammenhänge aufgedeckt werden, erst wenn die Wahrheit ans Licht kommt, dass extremer Reichtum nur möglich ist dank extremer Armut, erst wenn in unseren Schulbüchern nicht nur das ABC der Buchstaben, sondern auch das ABC des Kapitalismus gelehrt wird, erst dann besteht die Hoffnung, dass der Kapitalismus und alle mit ihm verbundenen Formen der Ausbeutung überwunden werden können, um einem neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell Platz zu machen, in dem jegliche Ausbeutung ein Ende hat und ein gutes Leben für alle Menschen, im Einklang mit sich selber, wie auch im Einklang mit der Natur und den Lebensbedürfnissen zukünftiger Generationen Wirklichkeit werden kann.

Kapitalistische Logik: Lohnerhöhungen gefährden ökonomisches Gleichgewicht

 

„Wenn Lohnerhöhungen gefährlich werden können“ – so der Titel eines am 3. November 2021 auf dem Internetportal von SRF veröffentlichten Artikels. Schon denke ich an überrissene Managerlöhne, die innerhalb eines Jahres um 30 oder 40 Prozent in die Höhe klettern und „gefährliche“ Reaktionen von Menschen auslösen könnten, welche sich mit 3000 oder 4000 Franken pro Monat über die Runden schlagen müssen. Doch weit gefehlt. Der SRF-Artikel versucht aufzuzeigen, dass eine „massive Erhöhung“ der ganz gewöhnlichen Löhne ganz gewöhnlicher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für Ökonomen ein „Grund zu Sorge“ sein können, dann nämlich, wenn es zu einer „Lohn-Preis-Spirale“ komme. Eine solche entstehe dann, wenn Unternehmen zum Beispiel wegen höherer Rohstoff- oder Energiepreise ihre Kosten auf ihre Produkte schlagen. Dies verteure den Konsum und hätte die Forderung nach Lohnerhöhungen zur Folge, was die Unternehmen wiederum dazu zwingen würde, die höheren Lohnkosten auf ihre Produkte abzuwälzen. So drehe sich die Spirale immer weiter und schraube die Inflation in die Höhe. Nun ja, alles soweit logisch. Und gleichzeitig auch völlig absurd. Fast so absurd wie der unerschütterliche Glaube an das Bruttosozialprodukt als Massstab für wirtschaftlichen Erfolg, obwohl jeder Verkehrsunfall, jeder Häuserabbruch und jeder Waldbrand, ja selbst ein Krieg das Bruttosozialprodukt steigert, weil all dies mannigfaltige wirtschaftliche Aktivitäten aller Art zur Folge hat. Oder auch so absurd wie der Glaube an ein immerwährendes Wachstum von Gütern und Dienstleistungen in einer Welt, deren natürliche Ressourcen früher oder später für immer aufgebraucht sein werden, ohne dass auch nur das Geringste davon übrig bleibt. Oder auch so absurd wie das Konkurrenzprinzip, das Menschen, Unternehmen und ganze Volkswirtschaften in einen permanenten gegenseitigen Wettkampf zwingt, aus dem zwangsläufig die einen als Gewinner und alle anderen als Verlierer hervorgehen. Oder auch so absurd wie die Tatsache, dass Reichtum vor allem dort entsteht, wo immer mehr Geld vom einen Ende der Welt zum anderen hin- und hergeschoben wird, und nicht dort, wo die Menschen im Schweisse ihres Angesichts härteste Arbeit verrichten und unter Aufbietung aller ihrer Kräfte dafür sorgen, dass die Menschheit nicht schon längst untergegangen ist. Ja. Der Kapitalismus hat buchstäblich alles auf den Kopf gestellt und das Normale zum Abnormalen gemacht und umgekehrt. Und genau deshalb genügt es auch nicht, das eine oder andere kleine Rädchen auszuwechseln und durch ein anderes zu ersetzen. Nicht die Rädchen müssen ausgewechselt werden, sondern die Maschine als Ganzes. Das System als Ganzes. Denn, wie schon Albert Einstein sagte: „Probleme kann man niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ 

 

Regierungen und Parlamente: Von der angemessenen Abbildung sämtlicher Bevölkerungsgruppen noch weit entfernt…

 

„Die Zusammensetzung der politischen Gremien sollte die Bevölkerungsanteile angemessen abbilden“ – sagt Kathrin Bertschy, GLP-Nationalrätin und Co-Präsidentin von Alliance F, in den Mittagsnachrichten von Radio SRF am 3. November 2021. Und sie meint damit den Frauenanteil in den entsprechenden Regierungen und Parlamenten. Doch mit einem höheren Frauenanteil ist eine „angemessene Abbildung“ der Bevölkerung bei Weitem noch nicht erreicht. Sehen wir uns nämlich die Zusammensetzung von Regierungen und Parlamenten etwas genauer an, dann stellen wir unschwer fest, dass die Bevölkerung in Bezug auf Beruf und Ausbildung höchst ungleich vertreten ist und zahlreiche Berufsgruppen, denen Hunderttausende von Menschen angehören, sogar überhaupt nicht vertreten sind. Wären die verschiedenen Bevölkerungsgruppen tatsächlich angemessen vertreten, dann müssten beispielsweise im Nationalrat mehr Bauarbeiter als Rechtsanwälte sitzen, mehr Verkäuferinnen als Akademikerinnen, mehr Köche, Kellnerinnen und Putzfrauen als Unternehmer, Landwirte, Ökonomen und Rechtsberater. Die Diskriminierung von Frauen ist wenigstens seit Jahrzehnten ein öffentliches Thema und entsprechend gross sind die erreichten Fortschritte. Dies kann man von der Diskriminierung der werktätigen Bevölkerung auf den unteren Rängen der gesellschaftlichen Machtpyramide ganz und gar nicht behaupten. Im Gegenteil: Kein Mensch spricht von der gesellschaftlichen Diskriminierung von Bauarbeitern, Friseusen und Putzfrauen, niemand fordert eine angemessene Vertretung von Nichtakademikern gegenüber Akademikern in sämtlichen politischen Gremien. Dies hat wohl vor allem damit zu tun, dass tiefsitzende, fest in unseren Köpfen verankerte Vorurteile längst noch nicht überwunden sind. Früher waren es die Vorurteile und Denkmuster von Männern, welche es den Frauen nicht zutrauten, zu politischer Arbeit fähig zu sein oder Frauen sogar als weniger „intelligente“ Wesen betrachteten. Heute sind es die Vorurteile der so genannt „Gebildeten“ gegenüber den so genannt „Ungebildeten“, die den Unternehmer oder die Historikerin zur irrigen Meinung verleiten, ein Schreiner oder eine Putzfrau wäre nicht in der Lage, anspruchsvolle politische Arbeit zu leisten. Eine Blockade, mit der ein grosser Teil der Bevölkerung zu politischer „Unmündigkeit“ verdammt wird und die erst gelöst werden kann, wenn das, was man als „Lebensbildung“ oder „Volksbildung“ bezeichnen könnte, den gleichen gesellschaftlichen Stellenwert bekommt wie das, was als „akademische“ Bildung bezeichnet wird. Ich jedenfalls könnte mir vorstellen, dass ein Parlament, in dem wirklich alle Bevölkerungsgruppen angemessen vertreten wären, nicht nur weit bessere politische Resultate erzielen würde, sondern zugleich bei der breiten Bevölkerung, die sich nun tatsächlich auch vertreten fühlen würde, viel breiter abgestützt wäre. So wie die Gleichstellung der Frauen, ist auch die Gleichstellung der werktätigen Bevölkerung nicht mehr und nicht weniger als ein unerlässlicher Schritt in Richtung einer Demokratie, die diesen Namen, nämlich die „Volksherrschaft“, auch tatsächlich verdient… 

„System Change, not Climate Change“: Dringender denn je…

 

Die „Festung Europa“ soll, um Flüchtlinge gezielt abzuwehren, mithilfe der Grenzschutzagentur Frontex weiter ausgebaut werden. Auch die Schweiz ist an diesem Projekt beteiligt und will ihren hierfür zur Verfügung stehenden Beitrag von jährlich 14 auf 61 Milliarden Franken erhöhen. Dagegen hat die Aktivistengruppe Migrant Solidarity Network das Referendum ergriffen. In Rio de Janeiro und anderen südamerikanischen Grossstädten lassen die Reichen rund um ihre Grundstücke immer höhere Mauern, Befestigungsanlagen und Alarmsysteme bauen, um unliebsame Eindringlinge aus den Armutsvierteln abzuwehren. Und die indonesische Hauptstadt Jakarta plant eine gewaltige Barriere von 30 Kilometern Länge draussen im Meer, um die Stadt vor dem steigenden Meeresspiegel zu schützen, Kostenpunkt 40 Milliarden Dollar. Was haben die Festung Europa, die Mauern und Stahlgitter rund um südamerikanische Luxusviertel und die Meeresbarriere von Jakarta miteinander zu tun? Sehr viel. Sie alle sind Ausdruck eines verzweifelten, immer absurderen und kostspieligeren Kampfes gegen die Auswüchse des kapitalistischen Wirtschaftssystems, das nicht nur die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer weiter anwachsen lässt, sondern mit seinen Dogmen des unbegrenzten Wachstums, der endlosen Gewinnmaximierung und der gnadenlosen Ausbeutung von Mensch und Natur hauptverantwortlich ist für den Klimawandel und seine dramatischen, lebens- und zukunftszerstörenden Folgen. Wie schon wieder war das damals, als die Mauer zwischen Ost- und Berlin fiel und die Sowjetunion wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrach? „Das ist das Ende der Geschichte“, jubelte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama und meinte damit, dass das überlegene System – der Kapitalismus – nun endgültig über das gescheiterte Modell des Sozialismus gesiegt hätte und fortan durch nichts mehr Neues, Besseres ersetzt werden könnte. Heute erkennen wir, dass Fukuyama Recht gehabt haben könnte, aber nicht in dem Sinne, wie er es meinte, sondern in dem Sinne, dass der Kapitalismus tatsächlich das Ende der Menschheit auf diesem Planeten bedeuten könnte. Das sieht mittlerweile selbst ein so arrivierter Politiker wie der Uno-Generalsekretär António Guterres so, wenn er sagt: „Wir schaufeln unser eigenes Grab.“ Ja, die Jugendlichen von „Fridays For Future“ wissen schon, weshalb sie sich den Slogan „System Change, Not Climate Change“ auf die Fahnen geschrieben haben. Jetzt, wo die Weltklimakonferenz begonnen hat, lagern Greta Thunberg und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter auf der anderen Seite des Flusses und ihre Schreie dringen nicht in die heiligen Hallen, wo die Würdenträgerinnen und Würdenträger aus aller Welt endlos debattieren – höchstwahrscheinlich ohne wirklich bedeutungsvolle Resultate zu erzielen. Wäre es nicht an der Zeit, die Jugendlichen der Klimabewegung in die Konferenzsäle hereinzulassen und die Würdenträgerinnen und Würdenträger in die Wüste zu schicken? Denn das „Ende der Geschichte“ kommt so oder so, die Frage ist nur, ob es das Ende der Menschheit bedeutet oder den Anfang eines neuen Zeitalters, in dem alle Ausbeutung und alle soziale Ungerechtigkeit ein Ende haben und der Menschheit gelernt haben wird, mit sich, mit der Natur und mit allen zukünftigen Generationen im Einklang zu leben…

In was für einer zerrissenen Welt leben wir eigentlich?

 

Schweizer Fernsehen SRF1, 1. November 2021, Werbeeinschaltung kurz vor der abendlichen Tagesschau: ein winziger Punkt in einem tiefblauen Himmel, der sich beim Näherkommen als das durch die Luft schaukelnde, hypermoderne neueste Mercedesmodell entpuppt. Engelsgleich segelt es weiter durch die Lüfte, wobei abwechslungsweise seine Innen- und seine Aussenansicht gezeigt wird. Schliesslich landet das Fahrzeug sanft im Irgendwo, eine Frau nimmt darin Platz und am blauen Himmel erscheint ein weisser Schriftzug: „This is for you, world!“ Und darunter, etwas kleiner: „Der neue EQS – jetzt entdecken.“ Kurz darauf kündigt TV-Korrespondent Sebastian Ramspeck einen in wenigen Tagen zu sehenden Dokumentarfilm mit folgenden Worten an: „Vergessen Sie Kreuzfahrten oder Skydiving für den Adrenalinkick. In der Zukunft geht’s in das Weltall. Wir stehen am Anfang eines neuen Zeitalters. Bald ist die Welt nicht mehr genug.“ Dazu die passenden Bilder, unter anderem eine Gruppe in die Luft schiessender Cowboys und eine vor Glück kreischende Astronautin in einer Weltraumkapsel. Verrückt. Ein Auto aus dem Himmel sozusagen als Geschenk für die Welt. Der Anfang eines neuen Zeitalters. Eine Welt, die „nicht mehr genug“ ist. In was für einer zerrissenen Welt leben wir eigentlich? Kurz nach dem Auto aus dem blauen Himmel und dem Weltraumflug zum Start in ein neues Zeitalter wird die Tagesschau über die Eröffnung der Weltklimakonferenz berichten, von der man jetzt schon, bevor sie noch richtig begonnen hat, sagen kann, dass ihre Ergebnisse angesichts der drohenden Klimakatastrophe aller Voraussicht nach höchst ernüchternd und völlig unzureichend sein werden. Ja. Fliegende Autos, um sich schiessende Cowboys und eine glückvoll kreischende Astronautin am Anfang eines neuen Zeitalters. Und wenige Sekunden später die Hiobsbotschaften und Katastrophenmeldungen über die vom Klimawandel bereits angerichteten und in naher Zukunft in immer drastischerem Tempo zu erwartenden Zerstörungen. Grösser könnte der Gegensatz nicht sein. Ist es doch genau dieses Heilsversprechen, symbolisiert durch ein aus dem Himmel gefallenes Auto und den farbensprühenden Start einer Weltraumrakete, welche, zusammen mit Millionen weiterer Glücks- und Heilsversprechen, allen noch so gut gemeinten Bemühungen um Klimaschutzmassnahmen schliesslich den Todesstoss versetzen werden. Beides zusammen geht nicht. Früher oder später werden wir uns entscheiden müssen. Die Medien spielen eine herausragende Rolle. Beides wäre heute Abend nicht nötig gewesen. Weder das aus dem Himmel gefallene Auto noch die Verkündigung eines neuen Zeitalters anlässlich eines privaten Wochenendausflugs ins Weltall. An deren Stelle hätte das Schweizer Fernsehen auch einen fünfminütigen Kurzbericht zum Thema Klimawandel aussenden können, analog zur täglichen Sendung „Börse aktuell“. Also: „Klima aktuell“ – jeden Abend zwischen 19.20 und 19.25 Uhr. Worauf warten wir noch?

G-20-Gipfel in Rom: Probleme kann man niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind

 

Der G-20-Gipfel in Rom hätte Wegbereiter sein können für die am 1. November 2021 beginnende zweiwöchige Weltklimakonferenz COP26 in Glasgow. „Stattdessen“, so der „Tagesanzeiger“, „haben die grossen Wirtschaftsmächte einmal mehr offenbart, dass sie sich nicht einig sind über die Dringlichkeit beim Kampf gegen die Klimaerwärmung.“ Insbesondere der chinesische Staatschef Xi Jinping warf ein, der industrialisierte Westen hätte über Jahrzehnte keine Rücksicht nehmen müssen, er solle jetzt mal mit dem guten Beispiel vorangehen, denn es sei nicht einzusehen, weshalb die aufstrebenden Mächte nicht dieselben Chancen haben sollten wie früher die Konkurrenz. Xi Jinping brachte es damit tatsächlich auf den Punkt: Alles begann damit, dass ein Teil der Welt – allen voran Europa und Nordamerika – reicher und mächtiger sein wollten als der Rest der Welt. Wichtigstes Instrument war dabei die Industrialisierung: Je mehr Industrialisierung, umso mehr Reichtum und Macht. Und damit war ein globaler Wettkampf entbrannt, der bis heute andauert und sich sogar im Laufe der Zeit noch immer mehr verschärft hat. Dass die ärmeren und „zurückgebliebenen“ Länder die gleichen Chancen fordern wie die reichen Länder des Nordens, kann man ihnen nicht verargen. Wir, die reichen Länder des Nordens, haben tatsächlich kein Recht, anderen Ländern jenen Weg zu versperren, den wir selber seit Jahrhunderten so erfolgreich beschritten haben. Und doch entpuppt sich dieser Weg angesichts der drohenden Klimakrise als fataler Irrweg. Würden nämlich alle Länder der Welt so viele Schadstoffe produzieren wie die reichen Industrienationen und würden alle Länder der Welt einen so grossen ökologischen Fussabdruck aufweisen wie zum Beispiel die Schweiz, welche drei Mal mehr Rohstoffe und Energie verbraucht, als die Erde im gleichen Zeitraum wieder nachwachsen lässt – dann wäre der totale Klimakollaps schon längst Tatsache. Dies bedeutet, dass sich die vermeintliche Fahrt ins Paradies, welche die reichen Länder des Nordens vorgespurt haben und der die armen Länder des Südens eifrig nachfolgen, je länger je mehr als eine Fahrt in die Hölle entpuppt. Deshalb kann man noch so viele G-20-Gipfel und noch so viele Weltklimakonferenzen abhalten: So lange nicht am Dogma blindwütiger Industrialisierung und Technologisierung, militärischer Aufrüstung, endloser Profitmaximierung und Wachstumsgläubigkeit gerüttelt und das globalisierte, auf Ausbeutung von Mensch und Natur ausgerichtete kapitalistische Wirtschaftsmodell nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird, kann sich nicht wirklich etwas ändern und wird man nach der Weltklimakonferenz vermutlich ebenso enttäuscht und ernüchtert sein wie nach der Konferenz der 20 grössten Industrienationen. Denn, wie Albert Einstein es so treffend formulierte: „Probleme kann man niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“  

Frauensession in Bern: zu früh um zu feiern…

 

Frauensession in Bern. Auf den 246 Stühlen, wo sonst die gewählten Parlamentärinnen und Parlamentarier sitzen, haben 246 Frauen Platz genommen. Die Frauen feiern. Sie singen, klatschen, jubeln, freuen sich über die erkämpften Fortschritte in der Sozial- und Gleichstellungspolitik und schauen voller Tatendrang in die Zukunft. „Ich bin überwältigt“, sagt Sophie Ackermann, die Geschäftsführerin des schweizerischen Dachverbands Alliance F, „Sie können sich nicht vorstellen, wie schön dieser Anblick ist.“ Ob so viel Euphorie seien ein paar kritische Gedanken erlaubt. Ja, die Frauen in der Schweiz haben in den 50 Jahren seit der Einführung des Frauenstimmrechts politisch viel erreicht. Doch die erkämpften Erfolge können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir allen diesen Erfolgen zum Trotz nach wie vor in einer durch und durch kapitalistischen Klassengesellschaft leben, an deren Grundstrukturen auch das Vordringen der Frauen in immer mehr Machtbereiche nicht grundsätzlich etwas geändert hat. Noch immer leben in der Schweiz rund 700’000 Menschen in bitterer Armut. Noch immer beträgt der Unterschied zwischen den Spitzenlöhnen und den Tiefstlöhnen das Verhältnis von 300 zu 1. Noch immer – und sogar noch immer mehr – wird man hierzulande nicht dadurch reich, dass man möglichst viel und schwer arbeitet, sondern dadurch, dass man von möglichst hohen Erbschaften profitiert oder von Unternehmensgewinnen, die letztlich von Menschen mit tiefen Einkommen in schwerer Arbeit erwirtschaftet wurden. Noch immer ist die gesellschaftliche Wertschätzung höchst ungleich verteilt und geniesst der Chefarzt im Spital oder die Rechtsanwältin ein viel höheres Ansehen als die Verkäuferin oder die Putzfrau. Noch immer gehören typisch „weibliche“ Berufe zum traditionellen Tieflohnsegment, während die Löhne kontinuierlich in die Höhe steigen, je „männlicher“ der entsprechende Beruf ist. Noch immer – und sogar immer noch mehr – ist die Arbeitswelt von gegenseitigem, oft nahezu mörderischem Konkurrenzkampf um Macht und Profite geprägt, einem Konkurrenzkampf, der schon in der Schule beginnt und die Kinder zu einem gegenseitigen Wettstreit um Noten, Zeugnisse und Zukunftschancen zwingt. Noch immer ist die Wirtschaft auf permanentes, endloses Wachstum fixiert und noch immer verbraucht die Schweiz drei Mal so viele Ressourcen und Energie, wie die Erde im gleichen Zeitraum wieder nachwachsen lässt. Noch immer erzielt die Schweiz im Handel mit Entwicklungsländern einen fast 50 Mal höheren Gewinn, als sie diesen Ländern dann in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückerstattet. Noch immer betreibt die Schweiz eine Umwelt-, Wirtschafts- und Finanzpolitik, die massgeblich für den Klimawandel und alle damit verbundenen ökologischen Zukunftsbedrohungen mitverantwortlich ist. Sehen wir uns die Erfolge der Frauenbewegung durch diese „kapitalismuskritische“ Brille an, dann müssen wir konstatieren, dass die Frauen zwar seit Jahrzehnten in kapitalistische Machstrukturen hineingewachsen sind, diese aber dadurch nicht grundsätzlich hinterfragt oder umgestaltet wurden. Ein Beispiel: Die Lehrerin, die Teilzeit arbeitet – fraglos ein bedeutender gesellschaftlicher Fortschritt, wäre so etwas doch vor 40 oder 50 Jahren nur in seltenen Fällen möglich gewesen -, kann sich dies aber nur leisten, weil die Kitaangestellte, die ihr Kind betreut, so viel weniger verdient als sie selber und sie auch ihrer Putzfrau nur einen Bruchteil ihres eigenen Lohnes bezahlen muss. Die Lehrerin kann auch nur deshalb abends auswärts essen gehen, weil das Essen dank der tiefen Löhne des Kochs und der Kellnerin für sie genug erschwinglich ist. Und sie kann auch nur deshalb jedes Jahr neue Kleider und für ihre Kinder schöne neue Spielsachen kaufen, weil die Textilarbeiterinnen und die Fabrikarbeiter, welche diese Dinge herstellen, im Vergleich zu ihr, der Lehrerin, so erbärmlich wenig verdienen. So erfreulich der gesellschaftliche Fortschritt ist, den die Lehrerin geniesst – er ist nur möglich, solange die kapitalistischen Macht- und Ausbeutungsstrukturen nicht grundsätzlich angetastet werden. Von den zahlreichen Macht-, Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen in der globalisierten kapitalistischen Welt sind die Diskriminierung, die Benachteiligung und die Unterdrückung von Frauen nur eine von vielen, wenn auch zweifellos eine der gravierendsten. Und es ist keine Frage: Alles muss unternommen werden, um diese zu beseitigen. Aber damit sind wir noch lange nicht am Ende, sondern eigentlich erst am Anfang. Auch alle übrigen Unterdrückungs- und Ausbeutungsstrukturen müssen auf dem Weg zu einer solidarischen, gewaltfreien, ausbeutungsfreien Welt überwunden werden: Die Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter durch all jene, die das nötige Kapital und die nötige Macht besitzen, um andere für sich arbeiten zu lassen. Die Ausbeutung der armen Länder des Südens durch die reichen Länder des Südens. Die Ausbeutung der Natur durch Raubbau, Gewinnsucht und unbegrenzte Profitmaximierung. Eigentlich wäre erst dann, wenn alle diese Ausbeutungsverhältnisse überwunden wären, die Zeit gekommen, um zu feiern, zu singen, zu klatschen und sich gegenseitig zuzuprosten… 

Mythos Bildung – der falsche Weg

 

Eine Anzeige des Hilfswerks Caritas in meiner Tageszeitung: Einem afrikanischen Fischer mit Wollkappe wird folgendes Zitat in den Mund gelegt: „Meine Kinder werden nicht mehr Fischer sein.“ Der Leser und die Leserin wird aufgerufen, zu diesem Zweck eine Geldspende zu leisten und so „das Richtige zu tun“. Doch ist es tatsächlich das „Richtige“? Ist Bildung, wie es so schön heisst, tatsächlich der Weg aus der Armut? Schaut man sich nur jene Menschen an, die tatsächlich den Aufstieg vom Fischer zum Dorflehrer oder gar zum Universitätsdozenten schaffen, dann mag dies ja möglicherweise zutreffen. Und doch geht die Rechnung nicht auf. Denn wenn alle Fischer eines Tages Dorflehrer oder gar Universitätsdozenten sind, dann gibt es niemanden mehr, der Fische fängt. Wenn alle Frauen, die jetzt Äcker und Felder bearbeiten, Krankenschwestern oder Ärztinnen sind, dann gibt es niemanden mehr, der die Äcker und die Felder bearbeitet. Und wenn alle Männer, die jetzt Häuser bauen, Rechtsanwälte oder Banker geworden sind, dann gibt es niemanden mehr, der die Häuser, Strassen und Brücken baut. Der Ruf nach immer mehr und mehr Bildung ist der falsche Weg und führt in eine katastrophale Sackgasse, nicht nur in den ärmeren Ländern des Südens, auch in den reicheren Ländern des Nordens. Der Skandal besteht nicht darin, dass die Menschen zu wenig gebildet sind. Der Skandal besteht darin, dass der Fischer und die Ackerbäuerin in Afrika, der Bauarbeiter, der Lastwagenfahrer und die Putzfrau in Europa oder den USA nur deshalb so arm sind, weil sie einen Beruf ausüben, der traditionell schlecht entlohnt ist und nur wenig gesellschaftliche Wertschätzung geniesst. Die Lösung liegt nicht darin, dass sich alle diese unterprivilegierten Arbeiterinnen und Arbeiter bis zum Gehtnichtmehr weiterbilden, um auf der gesellschaftlichen Erfolgsleiter möglichst weit nach oben zu kommen. Die Lösung würde vielmehr darin liegen, dass ihre existenziell so wichtige und unentbehrliche Arbeit fair entlohnt wird – in letzter Konsequenz bis hin zu einem weltweiten Einheitslohn – und endlich die Wertschätzung erfährt, die sie tatsächlich verdient. Dann wird der afrikanische Fischer im Inserat der Caritas nicht mehr sagen, dass seine Kinder eines Tages nicht mehr Fischer sein werden, sondern er wird sagen, dass seine Kinder endlich stolz darauf sein können, einen Beruf ausüben zu können, der mindestens so wichtig oder vielleicht sogar noch wichtiger ist als der Beruf eines Immobilienmaklers oder einer Computerspezialistin. In Anlehnung an eine uralte indianische Weisheit, wonach man Geld nicht essen kann, könnte man sagen: Erst wenn die letzte Universität gebaut, die letzte Semesterarbeit geschrieben und der letzte Doktortitel vergeben ist, wird man sehen, dass man von Bildung allein nicht leben kann.

 

Und was, wenn uns der Strom eines Tages ausgeht?

 

Elektromobile boomen schon fast so wie E-Bikes. Flugzeuge sollen zukünftig mit Wasserstoff angetrieben werden, zu dessen Aufbereitung eine Unmenge an Elektrizität benötigt wird. Rechenzentren für die Bewältigung der wachsenden Flut digitaler Daten verschlingen so viel Strom wie ganze Grossstädte. Die Palette untereinander vernetzter und vom Smartphone gesteuerter Haushaltsgeräte wächst und wächst. Alles in allem, so die Prognose des Elektrokonzerns Axpo, wird der Strombedarf in der Schweiz bis zum Jahr 2050 um 35 Prozent ansteigen. So ist es nicht verwunderlich, dass ein unlängst veröffentlichter Bericht des Bundes warnt, die Sicherheit der schweizerischen Stromversorgung könnte schon in wenigen Jahren nicht mehr garantiert sein. Als mögliche Massnahme schlägt der Bund vor, im Schnellverfahren Gaskraftwerke zu bauen, um der Gefahr einer Strommangellage vorzubeugen. Und die Axpo schlägt vor, die bisherigen Kernkraftwerke erst nach 60 Jahren abzuschalten, während Economiesuisse-Präsident Chrstoph Mäder sogar den Ausstieg aus der Kernenergie grundsätzlich infrage stellt. Zudem soll weiterhin Strom aus der EU importiert werden. Schliesslich setzt man grosse Hoffnung in die Solarenergie. Erforderlich wäre aber eine Ausweitung der bestehenden Anlagen um das 14fache – was in Anbetracht der nötigen Bewilligungsverfahren wohl ein reiner Wunschtraum bleiben muss. Erstaunlicherweise spricht alles nur davon, wie man den steigenden Strombedarf in Zukunft abdecken könnte. Aber niemand spricht davon, ob es nicht vielleicht zweckmässiger und zukunftsträchtiger wäre, schlicht und einfach nicht mehr solche Unmengen an Strom zu verbrauchen, wie wir uns das heute gewohnt sind. Denn auf alle fossilen Energiequellen zu verzichten, alles auf die Karte der erneuerbaren Energien zu setzen und zugleich Jahr für Jahr mehr Strom zu verbrauchen – das ist eine Rechnung, die früher oder später schlicht und einfach nicht aufgehen kann. Man spricht zwar immer von „intelligenten“ Technologien, aber wirklich intelligent und vorausschauend wäre es doch, einen masslos verschwenderischen Lebensstil zu hinterfragen, der im Moment zwar viele Annehmlichkeiten mit sich bringt, uns aber gleichzeitig buchstäblich den Boden unter den Füssen wegfrisst. Muss es in den Herbstferien tatsächlich der Flug nach Teneriffa sein oder wäre die Wanderwoche im Engadin nicht mindestens so erlebnisvoll und erholsam? Brauche ich wirklich ein E-Bike oder täte es meiner Gesundheit nicht vielleicht sogar besser, weiterhin die Hügel mit meinem elektrofreien Bike hochzukraxeln? Bin ich wirklich auf ein privates Automobil angewiesen oder wäre es vorstellbar, zur Gänze auf den öffentlichen Verkehr umzusteigen? Oder, wenn ich wirklich unbedingt ein Automobil bräuchte: Welche Wege wären auch ohne das Automobil zu bewältigen, mit dem öffentlichen Verkehr, dem Fahrrad oder zu Fuss? Muss ich mir wirklich zu jeder Tages- und Nachtzeit und an jedem beliebigen Ort auf meinem Smartphone Videos und Spielfilme anschauen können? Könnte ich mir vorstellen, für die Wohnungsmiete ein wenig mehr Geld aufzuwerfen und dafür so nahe bei meinem Arbeitsort zu leben, dass ich auf mühsames Pendeln in überfüllten Zügen oder Bussen verzichten könnte? Brauche ich tatsächlich alle diese miteinander vernetzten und gesteuerten Unterhaltungs-, Haushalts- und Kommunikationsgeräte in meiner Wohnung, den riesigen Flachbildschirm, die Musikanlage, mit der man ganze Konzerthallen beschallen könnte, den selbstfahrenden Rasenmäher, der sich während 24 Stunden durch meinen Garten bewegt? Gewiss: Die Konsumentinnen und Konsumenten, das ist nur die eine Seite. Die andere, das sind die Firmen, welche alle diese stromfressenden Fahrzeuge, Geräte und Kommunikationsmittel produzieren. Doch wenn etwas nicht mehr gekauft wird, dann wird es früher oder später auch nicht mehr hergestellt. So einfach ist das. Unser heutiges Konsumverhalten und unseren heutigen verschwenderischen Lebensstil kritisch zu hinterfragen, hat nichts mit blinder, verklärender Nostalgie zu tun – ganz abgesehen davon, dass sich schon heute ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung die meisten dieser „Luxusgüter“ sowieso schon gar nicht erst leisten können. Wünschbares von Machbarem zu unterscheiden, Sinnvolles und Sinnloses zu unterscheiden, das wäre ein verantwortungsbewusster Blick in die Zukunft: Dass nämlich möglichst viele, aber eben nicht blindlings alle dieser Annehmlichkeiten, die wir heute geniessen, auch noch unseren Kindern und Kindeskindern zur Verfügung stehen werden. Denn nicht nur die Energie, auch die Rohstoffe sind begrenzt. Längerfristig können wir nicht mehr verbrauchen, als die Erde stets von Neuem wieder nachwachsen lässt. „Die Welt“, sagte Mahatma Gandhi, „hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“

 

 

Jugendidealismus und Realpolitik zwischen Traum und Wirklichkeit

 

Wenn sich in diesen Tagen in Deutschland die SPD, die Grünen und die FDP auf den Weg zu Koalitionsverhandlungen im gegenseitigen Ringen um zukünftigen Einfluss und Führungspositionen begeben, dann ist dies nicht nur die Auseinandersetzung zwischen den Führungsgremien jener drei Parteien, die in den Bundestagswahlen am erfolgreichsten abgeschnitten haben. Es ist zugleich die Auseinandersetzung zwischen dem, was man als „Träume“ und „Idealismus“ und dem, was man als „Wirklichkeit“ und „Realpolitik“ bezeichnen könnte. Ist nämlich die jüngere Generation – angefangen von der Klimabewegung bis zu den Jungen Grünen und den Juso – voller Tatendrang, voller Ungeduld, voller Visionen von einer gerechten und lebenswerten Zukunft, so sind eben solche Ungeduld und solche Visionen bei der „älteren“ Generation nur höchst selten anzutreffen. Es ist der ewig gleiche Konflikt zwischen dem „vernünftigen“ Erwachsenen und dem „ungestümen“ Kind. Ich erinnere mich gut: Als ich im Alter von etwa zwölf Jahren so „naiv“ war, mir eine Welt ohne Waffen und ohne Krieg zu erträumen, belehrte mich mein Vater, dies wäre gar nicht möglich, da es in der Geschichte der Menschheit immer schon Kriege gegeben habe und dies deshalb auch in Zukunft weiterhin so sein werde. Und auch König Kreon warnte in der griechischen Sage seine Tochter Antigone davor, ihren Bruder, der bei den Mächtigen des Landes in Ungnade gefallen war, entgegen aller Gesetze zu bestatten – und sich dadurch den Zorn der Götter aufzuladen. Seither hat sich die Geschichte von Kreon und Antigone abertausendfach wiederholt. Und auch in diesen Tagen werden in Deutschland einmal mehr der Jugendidealismus und die Träume von einer anderen Welt auf dem Altar der „Realpolitik“ zu Grabe getragen. Warum nur werden die Menschen fast alle im Verlaufe ihres Lebens so furchtbar erwachsen? Warum geben die Menschen im Laufe ihres Lebens fast alle ihre kindlichen und jugendlichen Träume auf? Warum werden die meisten von ihnen, obwohl sie doch gerade selber noch Kinder gewesen waren, plötzlich zu Erwachsenen, die nun ihrerseits wieder ihre eigenen Kinder belehren und zu möglichst „vernünftigen“ Wesen erziehen wollen? „Im Jugendidealismus“, sagte der berühmte Urwalddoktor Albert Schweitzer, „erschaut der Mensch die Wahrheit, mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt eintauschen sollte.“ Ja, es wäre so etwas wie eine Revolution, der Sprung in ein neues Zeitalter. Und es liegt so nahe, wir müssen es gar nicht erfinden, es wird uns jeden Tag millionenfach geschenkt, mit jedem Kind, das geboren wird und die Sehnsucht nach unendlicher Liebe und Gerechtigkeit noch in sich trägt. Ich weiss, die „vernünftigen“ Erwachsenen werden sagen: Aber die Welt ist nicht so, Ungerechtigkeit und Machtkämpfe sind Tatsachen, denen wir uns stellen müssen, Träume von einer anderen Welt mögen schön sein, aber sie helfen uns nicht dabei, die Probleme, die wir hier und heute haben, zu lösen. Nun ja, aber dann wird nie etwas aus diesem Traum von der unendlichen Liebe und Gerechtigkeit. So „naiv“ es klingen mag: Ich plädiere dafür, an das Unmögliche zu glauben. „Tue zuerst das Notwendige“, sagte Franz von Assisi, „dann das Mögliche, und plötzlich schaffst du das Unmögliche.“
Vielleicht hilft uns dieses Bild weiter: Wenn wir erwachsen werden, dann sollten wir möglichst nur mit einem Bein dieses „vernünftige“ Wesen werden, das wir uns unter einem „normalen“ Erwachsenen vorstellen, während wir mit dem anderen Bein in der Welt des Kindes, der Jugend, der Visionen und der Träume verbleiben sollten. Das würde sich in allen unseren täglichen Verhaltensweisen niederschlagen und uns stets anspornen, einerseits zwar auch kleine, auf den ersten Blick geringfügige Schritte anzupacken, dabei anderseits aber nie das grosse Ganze aus den Augen zu verlieren – wie ein in weiter Ferne liegender Fixstern, der dem täglichen Handeln zuverlässig die Richtung weist. Ja, eine solche Spannung zwischen Traum und Wirklichkeit könnte unter Umständen schmerzvoll und manchmal vielleicht kaum aushaltbar sein. Aber sie wäre der einzige Weg in ein neues Zeitalter, in dem sich nicht mehr die Kinder bemühen würden, möglichst schnell erwachsen zu werden, sondern die Erwachsenen, möglichst lange Kinder zu bleiben. „Trenne dich nie von deinen Illusionen und Träumen“, sagte Mark Twain, „wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren, aber aufgehört haben zu leben.“ Ich bin zuversichtlich. Noch nie hatte Antigone so viele Nachfolgerinnen und Nachfolger wie heute.