Flüchtlingsdrama an der kroatisch-bosnischen Grenze: Bilder, die man nicht mehr vergessen kann

Die „Rundschau“ des Schweizer Fernsehens SRF strahlte am 6. Oktober 2021 eine erschütternde, in Zusammenarbeit mit der ARD und dem „Spiegel“ produzierte Dokumentation über die so genannten „Push-Backs“ von Migrantinnen und Migranten an der bosnisch-kroatischen Grenze aus. Bilder, die kaum zu ertragen sind: Flüchtlinge, die von kroatischen Sicherheitskräften in Kleinbussen herangekarrt und dann mit Schlagstöcken über die Grenze zu Bosnien getrieben werden – die Schreie der Geprügelten gehen durch Mark und Bein, die Brutalität der kroatischen Polizisten kennt keine Grenze. „Es gab Fälle“, berichtet ein im Film interviewter bosnischer Grenzpolizist, „da haben sie ganze Gruppen dermassen zusammengeschlagen, dass alle von ihnen ins Krankenhaus mussten. Und im Winter habe ich Menschen getroffen, ohne Schuhe, durchfroren, nass, weinende Frauen und Kinder, Familienväter mit gebrochenen Beinen und Armen.“

Kroatien gehe nicht freiwillig so hart gegen Flüchtlinge vor, sagt Ranko Ostojić, ehemaliger Polizeiminister Kroatiens, und wahrscheinlich hat er sogar Recht. Kroatien, so Ostojić, erledige bloss die Drecksarbeit für die EU. Und diese Drecksarbeit lässt sich die EU auch einiges kosten: Seit 2015 erhielt Kroatien von der EU für das so genannte „Migrationsmanagement“ nicht weniger als 163 Millionen Euro, mitfinanziert auch von der Schweiz. Das ist der Preis, den wir dafür bezahlen, dass wir uns dann hier, fern von der EU-Aussengrenze, in der Illusion wiegen können, wir hätten alles im Griff, fernab von den Schreien geprügelter Flüchtlinge, fernab von Kindern ohne Schuhe mitten im Winter und fernab von afghanischen, syrischen und irakischen Familienvätern mit gebrochenen Beinen und Armen. Oder, wie es die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel formulierte: „Kroatien leistet eine hervorragende Arbeit mit seinen Sicherheitskräften, das will ich ausdrücklich würdigen.“ Und auch das Staatssekretariat für Migration in Bern beschönigt: Die Schweiz könne ihre Mittel für das „Migrationsmanagement“ in Kroatien nicht beeinflussen, sie setze sich aber im politischen Dialog für die Einhaltung der Menschenrechte ein.

An dieser Stelle endet die Reportage der „Rundschau“. Doch eine wesentliche Frage bleibt offen: Was wäre denn die Alternative? Sollte man all die Hunderttausenden Menschen aus Afghanistan, Syrien, aus dem Irak und Afrika einfach über die Grenzen der EU hereinlassen? Wären faire Asylverfahren eine Lösung? Wie aber würde man dann mit jenen Flüchtlingen umgehen, die kein glaubhaftes Recht auf Asyl vorweisen könnten? Und was wären dann die Kriterien für einen positiven Asylentscheid, nur Krieg und Verfolgung oder auch Hunger, Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Not? Auf die eine oder andere Art wäre dies alles stets reine Symptombekämpfung. Die eigentliche Ursache des Problems, nämlich weshalb Menschen ihre Heimat verlassen, um sich an einem anderen Ort ein besseres Leben zu erhoffen, wäre damit nicht gelöst.

Nun, was für Möglichkeiten gäbe es, um statt der Symptome die eigentlichen Ursachen der Migration zu bekämpfen? Im Folgenden vier Vorschläge, bei denen die Schweiz als neutrales Land mit ihrer humanitären Tradition und einer jahrzehntelangen Erfahrung in Diplomatie und Konfliktvermittlung eine führende Rolle übernehmen könnte: ein globales Abkommen für garantierte Nahrungsmittel- und Rohstoffpreise, eine massive Erhöhung der „Entwicklungshilfe“, weltweite Abrüstung und Ächtung sämtlicher Waffen sowie rasche und effiziente Massnahmen für den Klimaschutz.

Erstens ein globales Abkommen für garantierte Nahrungsmittel- und Rohstoffpreise: Ein wichtiger Grund für die wirtschaftliche Not zahlreicher armer Länder des Südens und damit auch einer der Fluchtgründe liegt in den viel zu niedrigen Preisen für Nahrungsmittel und Rohstoffe, welche in die reichen Industrieländer exportiert, dort verarbeitet, gehandelt und zum Vielfachen des Ankaufspreises wieder verkauft werden. Ein globales Abkommen für garantierte Nahrungsmittel- und Rohstoffpreise würde den Produzentinnen und Produzenten ein gesichertes Einkommen verschaffen und sie wären nicht mehr gezwungen, sich mit möglichst tiefen Preisen auf dem Weltmarkt im Konkurrenzkampfs mit anderen Produzentinnen und Produzente zu behaupten.

Zweitens eine massive Erhöhung der „Entwicklungshilfe“. Wenn man bedenkt, dass die Schweiz im Handel mit „Entwicklungsländern“ 48mal so viel erwirtschaftet, wie sie diesen Ländern in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückgibt, so ist das weniger als ein Tropfen auf den heissen Stein – eine massive Erhöhung der „Entwicklungshilfe“ wäre eigentlich längst schon eine Selbstverständlichkeit.

Drittens weltweite Abrüstung und Ächtung sämtlicher Waffen. Dies wäre wohl einer der wichtigsten Schritte hin zu einer Welt, in der Menschen nicht mehr gezwungen wären, das Land, wo sie geboren wurden, zu verlassen. Die meisten Flüchtlinge, die gegenwärtig in Europa Asyl suchen, stammen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, Ländern also, die teilweise über Jahrzehnte von kriegerischen Auseinandersetzungen heimgesucht worden sind. Welches Land, wenn nicht die Schweiz als Geburtsstätte von Henri Dunant, dem Begründer des Roten Kreuzes, wäre besser berufen, um eine weltweite Bewegung für Abrüstung und Ächtung sämtlicher Waffen ins Leben zu rufen? „Nie wieder Krieg!“ forderte im Jahre 1924 die Friedensaktivistin Käthe Kollwitz. Die Botschaft ist heute dringender denn je, wenn wir an das gewaltige Arsenal von weltweit stationierten Atomwaffen denken, welche die Menschheit gleich mehrfach vernichten könnten. Weltweite Abrüstung und Ächtung aller Waffen würde für einmal nicht einmal etwas kosten, sondern im Gegenteil Unsummen von Geld freimachen für sinnvolle, zivile Projekte. Die Lösung politischer Konflikte mit militärischen Mitteln wäre damit überwunden, an ihre Stelle würde die gewaltlose, diplomatische Konfliktlösung treten. Dass die Schweiz gerade auf diesem Gebiet bereits heute eine vorrangige Rolle spielt, hat sich dieser Tage beim Treffen zwischen Jake Sullivan, dem Nationalen Sicherheitsberater von US-Präsident Biden, und dem chinesischen Spitzendiplomaten Yang Jiechi in Zürich wieder gezeigt.

Viertens rasche und effiziente Massnahmen für den Klimaschutz. Keine Frage, dass, wenn wir zu spät handeln, die ganz grossen Migrationsströme erst noch auf uns zukommen werden. Alle, die sich heute gegen einschneidende Massnahmen für einen wirksamen Klimaschutz stark machen, gleichzeitig aber eine harte Asylpolitik und grösstmögliche Abschreckung von Migrantinnen und Migranten verfechten, müssen sich den Vorwurf einer immensen Illusion und Realitätsverweigerung gefallen lassen.

Ein globales Abkommen für garantierte Nahrungsmittel- und Rohstoffpreise, eine massive Erhöhung der „Entwicklungshilfe“, weltweite Abrüstung und Ächtung sämtlicher Waffen sowie rasche und effiziente Massnahmen für den Klimaschutz – dies sind nur vier Vorschläge, doch sie würden schon sehr, sehr viel bewirken. Visionen, Aufbruch und Mut zu Neuem könnte schweizerische Wirtschafts- und Aussenpolitik geradezu beflügeln und der ganzen Welt ein Beispiel geben. Worauf warten wir noch?

Extinction Rebellion – Was ist schon „normal“ in einer verrückten Welt?

 

Rund 100 Aktivistinnen und Aktivisten der Gruppe Extinction Rebellion (XR) blockieren am 5. Oktober 2021 die Rudolf-Brun-Brücke in Zürich. Später besetzen Demonstrierende auch die Kreuzung Urania-/Bahnhofstrasse. Die Polizei stellt den Demonstrierenden ein Ultimatum, dem keine Folge geleistet wird. Schliesslich trägt die Polizei sie einzeln weg. Kurz nach 13.30 Uhr ist die Blockade bei der Rudolf-Brun-Brücke aufgelöst. Aufwendiger gestaltet sich die Räumung an der Kreuzung Urania-/Bahnhofstrasse. Dort müssen Höhenretter von Schutz & Rettung zwei Aktivistinnen von einem Holzgerüst herunterholen, an das sie sich angekettet haben. Um 14.30 Uhr ist die Blockade aufgelöst, Dutzende von Aktivistinnen und Aktivisten in polizeilichen Gewahrsam überführt, der Verkehr kann wieder rollen… Rasch wären genug Argumente zur Hand, um solche Aktionen in Bausch und Bogen zu verurteilen: Den Aktivistinnen und Aktivisten gehe es bloss darum, mediales Aufsehen zu erregen, konkrete Lösungsvorschläge suche man vergebens. Die Strassenblockaden würden bei den Autofahrern und Autofahrerinnen, die wichtige Termine einhalten und rechtzeitig am Arbeitsplatz sein müssten, nur Ärger, Stress und Unverständnis auslösen. Solche Aktionen würden bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht gut ankommen und nichts dazu beitragen, mehr Menschen für die Ziele der Klimabewegung zu gewinnen. Doch so einfach sollten wir es uns mit einer Verurteilung der Aktionen von Extinction Rebellion nicht machen. Ich jedenfalls bewundere das Engagement, den Mut und die Beharrlichkeit der Aktivistinnen und Aktivisten von Extinction Rebellion, die sich auch mit unkonventionellen Mitteln einem System entgegenstellen, das allein dem materiellen Profit zuliebe auf eine andauernde und sogar immer noch weiter wachsende Ausbeutung von Mensch und Natur ausgerichtet ist. Es ist ein Schrei der Verzweiflung, Ausdruck einer umfassenden Hilflosigkeit, Enttäuschung darüber, dass die riesigen weltweiten Demonstrationen der Klimastreiks bis jetzt so wenig erreicht haben. Angesichts dieser Situation gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder ein Rückzug in die Lethargie oder ein wildes Durchbrechen aller Normalität. Mir kommt Antigone in den Sinn, die Tochter des griechischen Königs Kreon, die gemäss einer Legende ihren bei Kreon in Ungnade gefallenen Bruder eigenhändig bestattete, obwohl Kreon ihr dies ausdrücklich verboten und ihr sogar mit dem Tode gedroht hatte. Entgegen aller Vernunft folgte Antigone einzig und allein ihrem Gewissen. Und so tun es auch die Aktivistinnen und Aktivisten von Extinction Rebellion. In einer Welt, in der das Verrückte normal geworden ist, tun sie das „Abnormale“ und stellen damit alles auf den Kopf. Denn was ist schon „normal“? Ist es „normal“, wenn sich Abertausende Autos durch Städte wälzen, in denen alles immer enger wird und die Kinder fast keinen Platz mehr finden um zu spielen? Ist es „normal“, zwei Mal im Jahr auf die Malediven oder Teneriffa zu fliegen, um dort die Ferien zu verbringen? Ist es „normal“, jeden Tag Fleisch zu essen? Ist es „normal“, Kleider zu kaufen, die man eigentlich gar nicht braucht und die man am nächsten Tag wieder fortwirft? Ist es „normal“, dass ein paar Tausende Milliardäre so viel Vermögen besitzen wie der Rest der Welt? Ist es „normal“, wenn in gewissen Ländern bis zu einem Drittel der gekauften Lebensmittel wieder fortgeworfen werden, während sich weltweit eine Milliarde Menschen nicht einmal eine einzige Mahlzeit pro Tag leisten können? Oder ist es vielleicht nicht doch eher normal, auf einer Strasse zu sitzen, Lieder von einer anderen Welt zu singen, Gedanken über die Zukunft auszutauschen, Bescheidenheit, Demut und ein Leben im Einklang mit der Natur zu fordern? Extinction Rebellion und alle anderen Aktivistinnen und Aktivisten der Klimabewegung und der Klimastreiks bieten uns die einmalige Chance, eine neue Sprache kennenzulernen: die Sprache des Widerstands, der Rebellion, der Hoffnung auf eine andere Welt. Es ist eine Frage des Überlebens auf einem Planeten, der so schön sein könnte, wenn das, was heute als „verrückt“ gilt, wieder „normal“ wäre und umgekehrt. Übrigens: Nicht der machtgierige Kreon ist in die Geschichte eingegangen, sondern seine Tochter Antigone, deren Gewissen und deren Liebe so stark waren, dass sie gar nicht anders konnte, als die ganze Welt auf den Kopf zu stellen.

Kein Wunder, laufen uns die Handwerker, die Krankenpflegerinnen, die Fleischer und die Kellnerinnen scharenweise davon…

 

Wie der „Spiegel“ am 4. Oktober 2021 berichtet, zeichnet sich in Deutschland in vielen Branchen ein immer grösserer Arbeitskräftemangel ab. So etwa bei den Bäckerinnen und Bäckern. „Auch die Fleischerinnen und Fleischer laufen uns davon“, so Thomas Lissner, Chef der Gewerkschaft NGG in der Region Dresden-Chemnitz. In Ortschaften, wo es früher mehrere Restaurants gab, findet sich heute nur noch eines und auch dieses hat nur noch halbtags geöffnet, auch dies eine Folge akuten Personalmangels. In Norddeutschland beklagt die IG Metall, dass Windkraftbauer kaum noch neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden. Und der Zentralverband des Deutschen Handwerks sieht gar die deutschen Klimaziele in Gefahr: All die zusätzlichen Bau- und Instandsetzungsvorhaben seien mit dem jetzigen Stamm an Beschäftigten kaum hinzukriegen. Nicht besser sieht es bei den Spediteuren aus, denen die Fernfahrerinnen und Fernfahrer zunehmend ausgehen. Und auch die Kita-Verbände melden akuten Personalmangel. Die gleiche Entwicklung, wenn auch weniger dramatisch, können wir in der Schweiz feststellen. Hier zeigt sich der Personalmangel vor allem im Pflegebereich, in der Gastronomie, bei den Handwerkerinnen und Handwerkern, im Hoch- und Tiefbau sowie in der Lebensmittelindustrie. Dass wir bis jetzt trotzdem einigermassen gut über die Runden gekommen sind, verdanken wir vor allem jenen hunderttausenden ausländischen Arbeitskräften vom Zimmermädchen, der Putzfrau und der Kellnerin über den Fabrikarbeiter und den Buschauffeur bis zum Erntehelfer und zur Krankenpflegerin, die dafür sorgen, dass sich unsere Wirtschaft über Wasser halten kann und nicht schon längst kollabiert ist. Dass in Deutschland so grosser Personalmangel herrscht und die Schweiz zunehmend auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen ist, dies ist allerdings kein Zufall. Es ist vielmehr die unmittelbare Folge einer jahrzehntelangen gesellschaftspolitischen Entwertung all jener beruflichen Tätigkeiten, die ganz unten, an der Basis der Arbeitswelt, geleistet werden, einerseits existenziell notwendig sind, anderseits aber im Entferntesten nicht die Beachtung und Wertschätzung erfahren, die sie eigentlich verdienen würden. Schon in den Schulen wird den Kindern eingetrichtert, gute Noten seien deshalb so wichtig, weil sie die Türen für spätere „höhere“ Bildung und damit verbunden gutbezahlte Jobs öffnen würden. Alle reden pausenlos davon, man müsse sich lebenslang weiterbilden, jeder einmal erreichte Stand sei bloss eine Sprosse auf der Leiter zu „Höherem“. Niemand kann einfach Schreiner oder Krankenpflegerin sein, ohne von allen Seiten den Druck zu spüren, man müsste im Leben doch mindestens eine Berufsmatura oder wenn möglich einen Bachelor oder einen Master absolvieren, um ein vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft zu sein. Es ist ein geradezu grotesker Widerspruch: Einerseits werden die Menschen pausenlos dazu aufgefordert, in ihrer beruflichen Karriere „vorwärtszukommen“, anderseits ist die Wirtschaft existenziell davon abhängig, dass Menschen auf den „untersten“ Etagen, an der Basis von allem, all jene undankbaren, anstrengenden und schlecht bezahlten Jobs erledigen, ohne welche, wenn sich niemand darum kümmern würde, die ganze Wirtschaft augenblicklich in sich zusammenbrechen würde. Dreifach sind die Arbeiterinnen und Arbeiter an den „unteren“ Rändern der Arbeitswelt gestraft: Erstens leiden sie in aller Regel unter extrem harten Arbeitsbedingungen, denke man nur an das Pflegepersonal in den Krankenhäusern, an die Zimmermädchen und Köche in den Hotels oder an die Arbeiter auf dem Bau und in Schlachthöfen, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Zweitens leiden die Arbeiterinnen und Arbeiter an den „unteren“ Rändern der Arbeitswelt unter der fehlenden gesellschaftlichen Wertschätzung – eigentlich müsste man zu Menschen, die Tag für Tag unter so schwierigen Umständen einen so unentbehrlichen Beitrag zur Gesellschaft leisten, hinaufschauen und sie geradezu als „Helden“ und „Heldinnen“ feiern, doch das Gegenteil ist der Fall: Während sie namenlos ihre tägliche Schwerarbeit verrichten, feiert man nicht sie zu Helden und Heldinnen, sondern Konzernchefs, Politiker, Spitzensportlerinnen und Stars aus der Musik- oder Filmszene. Drittens leiden die Arbeiterinnen und Arbeiter an den „unteren“ Rändern der Arbeitswelt trotz der schweren, oft gefährlichen und gesundheitsschädigenden Arbeit unter zumeist tief unterdurchschnittlichen Löhnen. Solange harte Arbeitsbedingungen, fehlende Wertschätzung und niedrige Löhne auf den „untersten“ Rängen der Arbeitswelt anhalten, müssen wir uns nicht wundern, wenn die Menschen, welche diese Arbeit bisher verrichtet haben, zunehmend „scharenweise davonlaufen“. Um diesem Trend längerfristig entgegenzuwirken, werden wir nicht darum herumkommen, bisherige Denkmuster radikal zu hinterfragen. Erstens müssen die Arbeitsbedingungen so umgestaltet werden, dass sie die Menschen nicht mehr krankmachen, sondern ein lustvolles Arbeiten im Einklang mit den tatsächlich vorhandenen körperlichen und psychischen Kräften ermöglichen. Dies geht nur durch eine Abkehr vom unseligen Konkurrenz- und Profitabilitätsprinzip, welches verlangt, dass jeder Arbeiter und jede Arbeiterin – gleichsam im Wettkampf gegen alle anderen Arbeiterinnen und Arbeiter – jeweils stets die allerhöchste Leistung erbringen muss und daher einem permanenten zerstörerischen Zeitdruck ausgesetzt ist. Zweitens sollen körperliche, handwerkliche, soziale, musische und intellektuelle Begabungen die gleiche Wertschätzung erfahren. Das muss schon in der Schule beginnen, wo zum Beispiel das Kind, das sich liebevoll um ein anderes kümmert, dafür ebenso viel Anerkennung bekommen sollte wie das Kind, das eine tadellose Mathematikprüfung schreibt. Drittens braucht es gerechte Löhne. Nüchtern betrachtet, erbringt der Bauarbeiter, der bei Wind und Wetter, bei Hitze und Kälte mit den schweren Brettern auf dem Gerüst hoch- und niedersteigt, eine ungleich höhere Leistung als der Bankbeamte, der in der wohlgeheizten und klimatisierten Schalterhalle seine Kundinnen und Kunden bedient. Nüchtern betrachtet, müsste daher der Bauarbeiter eigentlich einen höheren Loh bekommen als der Bankbeamte. Oder, und das wäre immerhin ein Schritt in die richtige Richtung, er müsste gleich viel verdienen. Gedanken, die heute leider noch keine Mehrheiten finden. Aber wenn eines Tages der letzte Koch sein letztes Schnitzel gebraten, die letzte Putzfrau das letzte Direktionspult abgestaubt und die letzte Krankenpflegerin den letzten Patienten gesundgepflegt hat, dann werden wir sehen, dass irgendwo im Aufbau und der Entwicklung der kapitalistischen Arbeitswelt etwas Zentrales ganz gehörig schief gelaufen ist.

Kapitalismus – was ist das eigentlich?

 

Wer sich gegenüber dem Kapitalismus kritisch äussert, sieht sich oft mit solchen und ähnlichen Reaktionen konfrontiert: Was hast du denn, kein anderes Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell war im Verlaufe der Geschichte so erfolgreich und kein anderes hat uns so grossen Wohlstand und so viel Freiheit beschert. Oder: Was hast du denn, wir leben doch gar nicht im Kapitalismus, sondern in der „Freien Marktwirtschaft“. Oder: Möchtest du lieber den Kommunismus, Zustände wie in der früheren Sowjetunion oder DDR? Oder: Kapitalismus, was ist das eigentlich? Beginnen wir beim letzten Punkt: Was ist Kapitalismus eigentlich? Nehmen wir, um diese Frage zu beantworten, eine zweifellos unverdächtige Quelle, den Duden. Dort finden wir unter dem Stichwort „Kapitalismus“ folgende Definition: „Eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, deren treibende Kraft das Gewinnstreben Einzelner ist.“ Wie aktuell diese Definition ist, wird uns spätestens bewusst, wenn wir einen Blick auf die reichsten Menschen dieser Welt werfen. Gemäss dem Wirtschaftsmagazin „Forbes“ wuchs das Vermögen der 3000 reichsten Menschen der Welt zwischen 2020 und 2021 um ganze fünf Billionen auf 13 Billionen Dollar! Doch das ist nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs. Weltweit, selbst in den ärmsten Ländern, gibt es eine Klasse von reichen und reichsten Menschen, deren Reichtum von Jahr zu Jahr ins Unermessliche steigt. Zwar wird oft behauptet, der Reichtum der Reichen hätte eine positive Wirkung auf den Lebensstandard der Armen. Eine Behauptung, die jeglicher Grundlage entbehrt: Während die Reichen und Reichsten ihren Reichtum von Jahr zu Jahr vermehren, leben Milliarden von Menschen in bitterster Armut, haben nicht genug zu essen, müssen in notdürftigen Behausungen leben, unter katastrophalen hygienischen Verhältnissen und ohne Zugang zu medizinischer Versorgung, Bildung und Kultur. Doch die Armut kennt ebenso wenig nationale Grenzen wie der Reichtum. Selbst in den reichsten Ländern der Welt gibt es immer mehr Menschen, die von ihrem Einkommen kaum anständig leben können oder, um einigermassen über die Runden zu kommen, gleich mehreren Jobs nachgehen und damit ihre Gesundheit aufs Spiel setzen müssen. An dieser Stelle höre ich den Einwand, sie alle – die Putzfrau in einem deutschen Bürohochhaus, der Kehrichtmann in Madrid oder das Zimmermädchen in einem griechischen Hotel – müssten sich eben bloss ein bisschen mehr anstrengen und dann würde es ihnen mit der Zeit auch besser gehen. Doch die Putzfrau, der Kehrichtmann und das Zimmermädchen könnten sich noch so anstrengen, sie würden dennoch kein grösseres Stück des allgemeinen Wohlstandskuchens ergattern können. Die ungleiche Verteilung von Reichtum und Armut ist kein Zufall, sie entspringt dem Wesen des Kapitalismus: Für jeden Reichen braucht es hundert Arme. Denn der Reichtum der Reichen fällt nicht vom Himmel. Der Reichtum der Reichen wächst aus der Armut der Armen. Wenn der Minenarbeiter irgendwo in Afrika jene Rohstoffe zu Tage befördert, die später in Deutschland oder Schweden zur Herstellung von Automobilen verwendet werden, dann sind die Profite, die mit der Herstellung dieser Automobile erzielt werden – bis hin zu den Konzernchefs und den Aktionärinnen und Aktionären – die unmittelbare Folge des viel zu niedrigen Lohns des Minenarbeiters, der viel zu tiefen Preise für die Rohstoffe und der viel zu geringen Investitionen in die Sicherheit, in den Umweltschutz und in die Wohnstätten, sanitären Einrichtungen und Bildungsstätten, wo die Minenarbeiter und ihre Familien leben. Auf millionenfachen Wegen steht immer am einen Ende der Kette der Reiche und am anderen Ende der Arme. Den Kapitalismus könnte man auch mit einer Medaille vergleichen: Die eine Seite der Medaille ist glänzend und wunderschön, glitzert und funkelt nur so von Lebenslust und Lebensfreude inmitten einer schier endlosen Warenwelt. Die andere Seite der Medaille dagegen ist voller Blut, voller Tränen, voller Schmerzen, voller Entbehrungen und viel zu harter Arbeit bei fast keinem Lohn und nicht der geringsten Aussicht auf ein besseres Leben. Ausbeutung ist das Schlüsselwort. Man hört es nicht gern, doch es ist in Tat und Wahrheit das eigentliche Grundprinzip des Kapitalismus: Die einen presst man aus wie Zitronen bis zum Alleräussersten – den anderen lädt man alle Köstlichkeiten der Welt auf ihre Tische, bis sie beinahe zusammenbrechen. Doch nicht nur die Menschen werden ausgebeutet. In fast noch grösserem Ausmass wird die Natur ausgebeutet, so als wäre alles bis in alle Ewigkeit endlos vorhanden. Gnadenlos fallen Tag für Tag riesige Tropenwälder der Gier nach immer grösseren Profiten aus dem Export von Fleisch und Futtermitteln zum Opfer. Noch die letzten Reserven seltener Metalle werden ausgeplündert, der Tatsache zum Trotz, dass in nicht allzu ferner Zukunft nichts mehr davon übrig geblieben sein wird. Mit Pestiziden und immer grösseren und schwereren Landmaschinen wird das Allerletzte aus den Böden herausgepresst – bis eines Tages auf den so geschundenen Flächen überhaupt nichts mehr wachsen wird. Und damit sind wir, nach dem Gewinnstreben und der Ausbeutung, beim dritten Prinzip des Kapitalismus, dem Dogma eines unbegrenzten Wachstums. Dies wiederum hängt zusammen mit dem vierten Prinzip, dem Konkurrenzprinzip. Kapitalismus bedeutet: Wettkampf aller gegen alle. Jeder einzelne kapitalistische Betrieb steht in einem permanenten Konkurrenz- und Überlebenskampf mit allen anderen Betrieben. Wer in diesem gnadenlosen Wettkampf überleben will, muss stets eine Nasenlänge schneller und billiger sein als die Konkurrenz. Und weil die so genannte „Globalisierung“ – die bloss ein etwas wohlklingenderes Wort ist für die weltweite Herrschaft der kapitalistischen Wirtschaftsordnung – heute schon bis in die äussersten Winkel aller Kontinente vorgedrungen ist, steht eigentlich schon die ganze Welt in gegenseitiger Konkurrenz: Die Textilarbeiterinnen in Bangladesch wetteifern mit den Textilarbeiterinnen in Vietnam, der schweizerische Schreiner muss sich gegen deutsche oder österreichische Konkurrenten behaupten, deutsche Automobilfabriken wetteifern mit der amerikanischen und italienischen Konkurrenz, afrikanische Kakaoproduzenten stehen unter dem Druck, nicht von lateinamerikanischen Produzenten verdrängt zu werden. Und alle sind in diesem sich immer schneller drehenden Karussell gezwungen, immer härter und schneller zu arbeiten und zu immer kleineren Preisen immer grössere Mengen zu produzieren, bloss um nicht im gegenseitigen Überlebenskampf auf der Strecke zu bleiben. Und so erklärt sich auch das Dogma des endlosen Wachstums: Der gegenseitige Konkurrenzkampf zwingt zu einer permanenten Produktionssteigerung. Nur so kann der Gewinn kontinuierlich gesteigert  und damit das Überleben der eigenen Firma oder des eigenen Konzerns im Kampf aller gegen alle gesichert werden. Wer bei alledem immer noch behauptet, der Kapitalismus sei die beste aller möglichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen, verschliesst wohl beide Augen vor der Realität. Vor allem aber verschliesst er die Augen vor der Zukunft. Sowohl das Gewinnstreben Einzelner wie auch die Ausbeutung, das Wachstumsprinzip und der globale Konkurrenzkampf müssen zwangsläufig früher oder später an einen „Point of no Return“ gelangen, an einen Punkt, von dem es kein Zurück mehr gibt. Wir diskutieren heute zwar fast ausschliesslich über den Klimawandel. Aber das ist nicht das einzige Unheil, auf das wir zusteuern, wenn vermutlich auch das Bedrohlichste. Aber auch alle anderen sozialen, ökonomischen und ökologischen Fehlentwicklungen, die der Kapitalismus mit sich bringt, müssen Anlass zu grösster Besorgnis sein. Wir werden nicht daran vorbeikommen, den Kapitalismus zu überwinden und durch ein von Grund auf neues Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu ersetzen, das nicht auf Profitgier und gegenseitigem Konkurrenzkampf, auf der Ausbeutung von Mensch und Natur und auf dem Dogma eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums beruht, sondern auf einem Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur und auf einem guten Leben für alle, nicht für die heutige, sondern auch für alle zukünftigen Generationen. Zuletzt komme ich auf zwei Fragen zurück, mit denen dieser Text eingeleitet wurde. Die erste betrifft den Begriff der „Freien Marktwirtschaft“. Der Idee einer „Freien Marktwirtschaft“ könnte durchaus etwas Positives abzugewinnen sein. Allerdings nur, wenn alle an diesem Markt Beteiligten über die gleich langen Spiesse verfügen, was im Kapitalismus eben ganz und gar nicht der Fall ist. Zwei Beispiele: Der Wohnungsmarkt in europäischen Städten wie Zürich und Berlin: Während Luxuswohnungen leer stehen, die niemand bezahlen kann, ist es für Minderbemittelte praktisch unmöglich, eine passende und auch bezahlbare Wohnung zu finden – der Markt funktioniert nicht im Geringsten. Auch global betrachtet ist nichts von einer wirklich gut funktionierenden „Freien Marktwirtschaft“ zu sehen. So fliessen weltweit die Güter eben gerade nicht zu den Menschen, die sie am dringendsten bräuchten, sondern zu jenen Menschen, die genug Geld haben, um sie tatsächlich kaufen zu können: Unmengen an Nahrungsmitteln aus Ländern, wo Menschen Hunger leiden, landen in europäischen Supermärkten, wo sowieso schon alles im Überfluss vorhanden ist und sich die Menschen sogar den unsäglichen Luxus leisten können, einen Drittel sämtlicher Lebensmittel in den Müll zu werfen. Zu behaupten, wir lebten in einer „Freien Marktwirtschaft“, nicht im Kapitalismus, bedeutet daher eine Beschönigung der Realität und verunmöglicht eine eingehende Analyse der dem Kapitalismus zugrundeliegenden Mechanismen. Zuletzt noch die Sache mit dem „Kommunismus“. Gerne wird Menschen, die sich über den Kapitalismus kritisch äussern, unterstellt, sie seien „Kommunisten“. Als gäbe es nur Schwarz oder Weiss, hier der Kapitalismus, dort der Kommunismus. Mit einer solchen Etikettierung wird aber jegliche weitere Diskussion, jedes weitere Nachdenken abgewürgt. Und genau dies, das kritische Nachdenken wie auch der offene Dialog, ist in der heutigen Zeit grösster Herausforderungen so wichtig. Weder der Kapitalismus, so wie er sich heute gebärdet, noch der Kommunismus, wie er in der Sowjetunion praktiziert wurde, können unsere Zukunft sein. Individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit haben den gleichen Stellenwert und bedingen sich gegenseitig. Die Epoche des Kommunismus ist vorbei. Die Epoche des Kapitalismus nähert sich ihrem Ende. Es wird Zeit für etwas Neues, das nicht von „oben“ oder gar durch Zwang verordnet wird, sondern aus den Menschen herauswächst, die hier und heute leben. Hierzu bedarf es globaler Netzwerke, grenzüberschreitender Bewegungen, es bedarf der Solidarität zwischen den Menschen der reichen und der armen Länder. Denn die „Globalisierung“ des Kapitalismus kann nur überwunden werden, wenn sich auch seine Gegenkräfte weltweit „globalisieren“…   

Neue Volksinitiative der Juso und fadenscheinige bürgerliche Gegenargumente

 

Mit ihrer nächsten Volksinitiative wollen die Juso die Reichen zur Kasse bitten, wenn es um Massnahmen gegen den Klimawandel geht. Mit höheren Steuern für Reiche sollen etwa die Vergünstigung des öffentlichen Verkehrs, mehr Solarenergie oder die Förderung alternativer Heizquellen finanziert werden. Und, besonders brisant: Niemand soll mehr als 100 Millionen Franken besitzen. Kein Wunder, wird von bürgerlicher Seite schon scharf geschossen, bevor die neue Juso-Initiative überhaupt erst lanciert worden ist. Es handle sich bei dieser Initiative, so FDP-Nationalrat Christin Wasserfallen in „20minuten“ vom 27. September 2021, schlichtweg um „Enteignung“ und eine „Verletzung verfassungsmässiger Rechte“. Gut, es lässt sich darüber diskutieren, wie es sich verhindern lässt, dass jemand mehr als 100 Millionen Franken besitzt. Aber der tatsächliche Skandal besteht ja nicht darin, Reiche für öffentliche Aufgaben vermehrt zur Kasse zu bitten. Der tatsächliche Skandal besteht darin, dass es überhaupt Menschen in diesem Lande gibt, die mehr als 100 Millionen Franken besitzen. Der tatsächliche Skandal besteht darin, dass ein Prozent der Bevölkerung über 43 Prozent sämtlicher Vermögen verfügen. Der tatsächliche Skandal besteht darin, dass die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer 709 Milliarden Franken besitzen und diese Summe sogar im Laufe der vergangenen zehn Jahre verdoppeln konnten. Der tatsächliche Skandal besteht darin, dass in einem der reichsten Länder der Welt rund 700’000 Menschen so hart am Rand des Existenzminimums leben, dass sie so ziemlich auf alles, was für die Reichen selbstverständlich ist, verzichten müssen. Wenn Christian Wasserfallen von einer „Enteignung“ der Reichen spricht, dann müsste man ihm dringend Nachhilfeunterricht in Ökonomie und Geldwesen erteilen. Woher kommt denn das viele Geld in den Händen der Reichen und Reichsten? Wurde es tatsächlich Franken um Franken hart erarbeitet? Oder ist es nicht so, dass ihnen das Meiste davon in Form von Erbschaften, Dividenden, Wohnungsmieten, Börsengewinnen und anderen Kapitalbeteiligungen in die Taschen geflossen ist, ohne dass sie hierfür die geringste eigene Leistung erbringen mussten? Wer mit dem Handel von Rohstoffen viel Geld verdient, profitiert davon, dass die Menschen, welche diese Rohstoffe zu Tage befördert haben, für ihre Schufterei bloss mit einem Hungerlohn abgespiesen werden, während mit dem Handel dieser Rohstoffe und dem Verkauf der aus ihnen hergestellten Güter Milliardengewinne erzielt werden. Wer sein Geld mit dem Vermieten von Wohnungen verdient, profitiert davon, dass die in ihnen lebenden Menschen einen so hohen Anteil ihres Einkommens für die Miete aufbringen müssen, dass ihnen nur allzu oft für den übrigen Lebensunterhalt nur noch das Allernötigste übrigbleibt. Wer dank Dividenden reich wir, profitiert davon, dass Firmen „überschüssiges“ Geld erwirtschaften, was nur dadurch möglich ist, dass die in ihnen arbeitenden Menschen viel weniger Lohn bekommen, als ihre Arbeit eigentlich Wert wäre. Lieber Herr Wasserfallen, haben Sie es verstanden? Es sind nicht die Juso, welche die Reichen und Reichsten „enteignen“ wollen. Es sind die Reichen und Reichsten, die schon lange – und in immer grösserem Ausmass – das Volk enteignen, die arbeitenden Menschen, die wenig oder durchschnittlich verdienen, die alles, was sie verdienen, zum Leben brauchen und nicht im Traum die Chance haben, ein auch nur noch so kleines Vermögen aufzubauen. Niemand kann 100 Millionen Franken besitzen und behaupten, er hätte das redlich verdient. Auf tausend geheimnisvollen, unsichtbaren und verschlungenen Wegen wandert das Geld unaufhörlich von den Arbeitenden zu den Besitzenden. Und daher zielt auch der zweite Vorwurf, diese neue Juso-Initiative bedeute eine „Verletzung verfassungsmässiger Rechte“, voll und ganz ins Leere. Wenn etwas in der Verfassung steht, dann gewiss nicht das Recht darauf, 100 Millionen Franken besitzen zu dürfen, sondern viel eher das Recht jedes Bürgers und jeder Bürgerin auf ein menschenwürdiges Leben. Wird, trotz aller noch so guten Argumente, auch diese Initiative der Juso, ebenso wie die 99%-Initiative, an der Urne scheitern? Diese Wahrscheinlichkeit ist gross. Doch dass Volksinitiativen der Juso in der Regel keine Mehrheiten finden, braucht kein schlechtes Zeichen zu sein. Es ist ganz selbstverständlich, dass neue, unkonventionelle, das herrschende Denksystem in Frage stellende Ideen niemals auf Anhieb Mehrheiten finden werden. Denn, wie schon Arthur Schopenhauer sagte: „Ein neuer Gedanke wird zuerst verlacht, dann bekämpft, bis er nach längerer Zeit als selbstverständlich gilt.“ Deshalb wäre es auch falsch, von „verlorenen“ Volksabstimmungen zu sprechen. Einen grösseren Erfolg als die Diskussion und die Meinungsbildung, die sie zur Folge haben, kann man sich gar nicht vorstellen…

Die Menschheit und ihr uralter Traum von der sozialen Gerechtigkeit

 

Vier von fünf Deutschen, so berichtet der „Tagesanzeiger“ vom 24. September 2021, halten die Welt für ungerecht. Dies das Ergebnis einer von der Lindauer Stiftung Friedensdialog durchgeführten Studie. Dieser Befund deckt sich mit einer 2017 ebenfalls in Deutschland durchgeführten Befragung, wonach 92 Prozent der Deutschen den Leitwert der sozialen Gerechtigkeit für wichtig halten. Auch eine vom Edelman-Kommunikationsbüro im Jahre 2020 durchgeführte Befragung geht in die gleiche Richtung: Für 55 Prozent der Deutschen richtet der Kapitalismus mehr Schaden als Nutzen an, indem er dazu beitrage, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr vergrössere. Soziale Gerechtigkeit – offenbar ein Grundbedürfnis des Menschen, das aber in der heutigen Welt mit ihren immensen sozialen Gegensätzen auf unerträgliche Weise immer und immer wieder verletzt wird. Drei Fragen stellen sich. Erstens: Woher kommen Gier und Profitstreben Einzelner oder ganzer Bevölkerungsschichten, wenn der Mensch doch angeblich von Natur aus ein mitfühlendes, soziales Wesen ist? Zweitens: Was ist soziale Gerechtigkeit denn eigentlich in letzter Konsequenz? Und drittens: Wie könnte soziale Gerechtigkeit weltweit verwirklicht werden? Zur ersten Frage nach der Gier und dem Profitstreben Einzelner oder ganzer Bevölkerungsschichten: Dies hat – so meine Hypothese – wesentlich mit dem gesellschaftlichen Selektionssystem zu tun, dem man schon in der Schule und später in der Arbeitswelt und der Wirtschaft unterworfen ist. Wer auf der Erfolgsleiter nach oben kommen will, muss stark, schnell und skrupellos sein – ob er sich auf dem Weg nach oben auch noch um Schwächere kümmert, danach fragt niemand. Umgekehrt bleiben Sensible, Soziale, Mitfühlende, Verletzliche häufig auf der Strecke. Man nennt es zutreffend auch die „Ellbogengesellschaft“. Und so muss man sich dann nicht wundern, dass sich am oberen Ende der Gesellschaft, sei es in der Wirtschaft, der Forschung, der Bildung, der Politik, jene Menschen ansammeln, denen es vor allem um ihr eigenes Ego geht, um Macht und Prestige – gewiss eine Minderheit der Bevölkerung, welche jene Fürsorglichkeit, durch welche sich eine Mehrheit der ganz „einfachen“, „gewöhnlichen“ Menschen auszeichnen, ganz und gar nicht repräsentiert und die dennoch ungleich viel mehr Macht und Einfluss besitzt, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse nach ihren Interessen zu bestimmen und zu beeinflussen. Zur zweiten Frage nach dem Wesen der sozialen Gerechtigkeit. Eigentlich ist es einfach: Es gibt keinen einzigen plausiblen Grund dafür, dass ein Mensch bloss aufgrund seines Geburtsortes, seiner sozialen Stellung oder seiner beruflichen Tätigkeit ein besseres oder schlechteres Leben haben sollte als irgendein anderer. Jeder Mensch trägt, indem er lebt und arbeitet, seinen individuellen Teil zum Erfolg und zum Gelingen des Ganzen bei und sollte daher auch den gleichen Teil wieder zurückbekommen wie alle anderen. In letzter Konsequenz müsste man daher einen weltweiten Einheitslohn einführen, alle Menschen müssten über gleich viel Nahrung und sauberes Trinkwasser verfügen wie alle anderen, gleich gute Wohnverhältnisse, die gleich gute Gesundheitsversorgung, den gleich guten Zugang zu Bildung und Kultur. Gewiss eine Utopie, die sich nicht heute oder morgen verwirklichen lässt. Nichtsdestotrotz dürfen wir sie nicht aus den Augen verlieren und uns stets bewusst sein, dass das Meiste, was als „soziale Gerechtigkeit“ bezeichnet wird, nicht wirklich sehr viel damit zu tun hat, so zum Beispiel, wenn im aktuellen deutschen Bundestagswahlkampf von einzelnen Parteien eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 bzw. 13 Euro gefordert und dies schon als ein Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit gefeiert wird – während im gleichen Land Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdiener das 200- oder 300fache davon einheimsen. Die Utopie einer weltweiten sozialen Gerechtigkeit, von der wir weiter entfernt sind denn je, muss uns als Stachel im Fleisch so lange und so quälend schmerzen und uns so viele schlaflose Nächte bereiten, bis sich die Utopie in Wirklichkeit verwandelt haben wird. Zur dritten Frage nach der Verwirklichung weltweiter sozialer Gerechtigkeit: Dies geht nicht ohne eine radikale Überwindung des kapitalistischen Wirtschaftssystems und der kapitalistischen Klassengesellschaft. Nicht nur wegen der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch wegen der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen. In der eingangs zitierten Studie des Lindauer Friedensdialogs nannte die Mehrzahl der Befragten das „Engagement von Stiftungen“ als wirksamstes Mittel zur Realisierung weltweiter sozialer Gerechtigkeit. Dies zeigt die unglaubliche Diskrepanz zwischen der Macht des real existierenden Kapitalismus und den fehlenden politischen Instrumenten, diese Macht zu brechen und durch ein von Grund auf neues, auf Frieden und Gerechtigkeit aufbauendes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu ersetzen. Und doch bleibt Hoffnung. Dass für die allermeisten Menschen die soziale Gerechtigkeit oberste Priorität hat, zeigt, dass wir, für eine bessere Zukunft, nicht so sehr den Menschen künstlich etwas aufzuzwingen brauchen, sondern dass es genügen müsste, all jene Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die sie davon abhalten, ihre Sehnsucht nach Frieden, Gerechtigkeit und nach dem guten Leben für alle Wirklichkeit werden zu lassen.

Klimastreik: Muss man denn zuerst Radau schlagen, bis man wahrgenommen wird?

 

Klimastreik am 24. September 2021. Weltweite Kundgebungen. Allein in Berlin sind 100’000 Menschen auf der Strasse, in ganz Deutschland schätzungsweise rund 620’000. Auch in der Schweiz finden in mehreren Städten Demonstrationen statt, mit insgesamt mehreren tausend Teilnehmenden. Der Klimastreik ist aus seinem coronabedingten Dornröschenschlaf erwacht. Ein Anlass für die Medien, umfassend darüber zu berichten? Fehlanzeige! Als ich mir am Freitagabend die Tagesschau anschaue und später die Sendung „10 vor 10“: nichts, einfach nichts, weder ein Bericht über die Kundgebungen in der Schweiz, noch ein Bericht über die grossen Kundgebungen in Deutschland. Und als ich am folgenden Morgen den „Tagesanzeiger“ lese, sieht es nicht viel besser aus. Im Hauptteil der Zeitung eine kümmerliche Randnotiz über die Anlässe in Deutschland, ohne Bild und mit dem Hinweis, es hätten „zehntausende“ Menschen im ganzen Land demonstriert, obwohl es nur allein schon in Berlin rund 100’000 gewesen sind. Im Lokalteil dann immerhin ein etwas längerer Artikel über die Kundgebung in Zürich, aber ohne Angabe der Teilnehmerzahl und mit einem Bild, auf dem gerade mal ein gutes Dutzend Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu sehen sind, während sich doch insgesamt etwa 4000 Menschen am Zürcher Klimastreik beteiligt haben. Wenn ich mir die Berichterstattung über die Kundgebungen der Gegnerinnen und Gegner von Impfungen und Coronaschutzmassnahmen in Erinnerung rufe, dann frage ich mich schon: Muss man denn, um von den Medien und damit auch von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, zuerst andere Menschen beschimpfen und beleidigen, Morddrohungen aussprechen, Hass in den sozialen Medien verbreiten, mit dem Sturm aufs Bundeshaus drohen und von der Polizei aufgebaute Absperrgitter einzureissen versuchen? Die Klimabewegung hätte wohl mindestens so viel wenn nicht mehr Beachtung verdient als die Kritiker und Kritikerinnen der Coronaschutzmassnahmen. Erstens gerade weil es eine durch und durch friedliche und gewaltlose Bewegung ist und es selbst bei einer Teilnehmerzahl von mehreren zehntausend bis anhin nie auch nur ansatzweise zu Ausschreitungen und Tätlichkeiten gekommen ist und auch nie zu Beschimpfungen und Beleidigungen „Andersdenkender“. Und zweitens, weil der Klimaschutz zweifellos wohl das wichtigste Thema unserer Zeit ist. Wenn Hitze und Dürre grosse Teile der Erdoberfläche unfruchtbar machen, die Trinkwasserversorgung in weiten Teilen der Welt zusammenbricht und die Meeresspiegel so sehr ansteigen, dass Millionen von Menschen ihre Heimat verlieren, dann nützen auch die erfolgreichsten wirtschaftlichen Kennziffern, die ausgeklügeltsten Verkehrssysteme und die besten Sozialeinrichtungen nicht mehr viel. Doch ganz offensichtlich scheint auch den Medien der kurzfristige materielle Profit wichtiger zu sein als die gemeinsame Sorge um die Zukunft aller Menschen auf diesem Planeten. 

Der Klimastreik und ein hinkender Bauarbeiter: Alles hängt mit allem zusammen

 

24. September 2021, Klimastreik in Zürich. Nach und nach füllt sich der Platz vor der Technischen Hochschule, wo die Kundgebung ihren Anfang nimmt. Wenige Meter davon entfernt sind Bauarbeiter damit beschäftigt, an der Fassade des Hochschulgebäudes ein Gerüst aufzubauen. Und dann sehe ich ihn, der mir heute den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf gehen wird: ein älterer Arbeiter, der stark hinkend und mit schmerverzerrtem Gesicht die schweren Rohre schultert und dorthin trägt, von wo sie dann mit einem Seil hochgehievt werden. Sein Gesicht widerspiegelt nicht nur seine Schmerzen, es ist auch grau und voller Furchen. So wie er aussieht, müsste er wohl schon lange pensioniert sein. Sieht ihn niemand von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Klimakundgebung oder will ihn niemand sehen? Schlagartig wird mir bewusst, dass alles mit allem zusammenhängt. Es ist der Kapitalismus. Dieser gleiche Kapitalismus, der mit seinem Dogma unbegrenzten Wachstums nicht nur unser Klima aus dem Gleichgewicht zu bringen droht, sondern auch dem nimmersatten Profit zuliebe das Letzte aus den arbeitenden Menschen herauspresst, bis sie nur noch humpelnd und unter Aufbietung ihrer letzten Kraft, geplagt von Schmerzen, Tag für Tag ihren Feierabend kaum erwarten können. Dieser gleiche Kapitalismus, der täglich Abertausende Kinder in Afrika schon vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs tötet, weil sie nicht genug zu essen haben – während in den reichen Ländern des Nordens Nahrungsmittel in solchem Überfluss vorhanden sind, dass sich die Menschen den Luxus leisten können, einen Drittel davon in den Abfallkübel zu werfen. Dieser gleiche Kapitalismus, der Wälder gigantischen Ausmasses verbrennen lässt, Böden, die Luft, Seen und Flüsse vergiftet und dafür verantwortlich ist, dass schon Abertausende von Tier- und Pflanzenarten für immer von diesem Planeten verschwunden sind. Dieser gleiche Kapitalismus und die von ihm verursachte wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die Millionen von Menschen zu Flüchtlingen macht und ihre Sehnsucht nach einem besseren Leben nur zu oft in Nichts zerschlagen lässt. Dieser gleiche Kapitalismus, der, wenn es um Macht, Einfluss und die Gier nach Bodenschätzen und Rohstoffen geht, auch nicht vor dem Einsatz militärischer Mittel zurückschreckt, über ganze Länder hinweg Blutspuren hinterlassend, die über Jahrzehnte hinweg nicht mehr verheilen werden. Inzwischen wälzt sich der Zug des Klimastreiks durch die Strassen der Zürcher Innenstadt. Laute, mitreissende Musik. Tanzende Menschen. Parolen, tausendfach erschallend. Ein wunderbares Gefühl, Teil von so viel Leidenschaft, von so viel Hoffnung zu sein. Und in diesem Augenblick habe ich einen Traum. Ich träume, dass dieser Zug, in dem ich mich bewege, immer grösser wird. Aus jeder Seitengasse, an der wir vorbeikommen, strömen immer wieder neue Menschen hinzu, ergiessen sich wie Bäche in einen Fluss, der immer breiter und breiter wird: Textilarbeiterinnen aus Bangladesch, die es satt haben, von ihren Aufsehern angeschrien und geprügelt zu werden, nur weil sie nicht genug schnell arbeiten. Ein Kind aus Vietnam, das nackt und schutzlos dem Angriff einer amerikanischen Napalmbombe ausgesetzt war und dessen Körper noch immer von schmerzenden Narben übersät ist. Afrikanische Sklavinnen und Sklaven, die millionenfach in den finster stinkenden Bäuchen englischer und portugiesischer Schiffe nach Amerika verschifft und dort zu unsäglicher Zwangsarbeit verdammt wurden, bloss um jene Handelshäuser reich zu machen, auf deren Fundamenten der europäische Kapitalismus später seine Herrschaft aufbauen sollte. Kinder aus aller Welt, die schon von klein auf schwerste Arbeiten verrichten müssen und für die schon ein paar Schuhe der grösste Luxus sind. Und ja, dann strömen auch sie aus wieder anderen Seitengassen: kleinere und grössere Tiere, auch sie gezeichnet von unvorstellbarem Leiden, in viel zu engen Gehegen, auf viel zu überfüllten Transportschiffen, in Schlachthöfen unbeschreiblicher Ängste, und alles nur, um mittels aller dieser Qualen den grösstmöglichen materiellen Profit herauszuschlagen. Und jetzt, mitten in der riesigen Menge, sehe ich ihn auf einmal wieder, den alten Bauarbeiter mit dem grauen Gesicht. Noch immer humpelt er, aber wo in seinem Gesicht der Schmerz zu sehen war, sind jetzt Heiterkeit und Hoffnung. Es ist, als wäre er von diesem gewaltigen Fluss getragen und nichts könnte ihn mehr aufhalten. Nein, dieser 24. September 2021 ist nicht das Ende. Es ist der Anfang, an dem alles erst so richtig beginnt, die Quelle, wo der Fluss entspringt, der Weg, an dem unzählige weitere Bäche und Flüsse in ihn münden werden, bis wir am Meer angelangt sind, wo eine neue Zeit Wirklichkeit geworden sein wird.

 

Evergrande – ein kapitalistisches Lehrstück gefährlicher Tragweite

 

Der zweitgrösste chinesische Immobilienentwickler Evergrande, so berichtet der „Tagesanzeiger“ am 21. September 2021, ist mit 315 Milliarden Dollar verschuldet. Die drohende Pleite hat weltweite Auswirkungen und schürt die Angst vor einer neuen Finanzkrise. Betroffen wären nicht nur die 3,8 Millionen Angestellten, deren Jobs indirekt von Evergrande abhängen, sondern auch die Kurse global tätiger Banken, unter anderem der schweizerischen Finanzinstitute CS und UBS. Voraussichtlich hätte eine Pleite von Evergrande auch ein sinkendes Wirtschaftswachstum von China zur Folge. Dies wiederum hätte Auswirkungen auf die Rohstoffpreise und würde zahlreiche Schwellenländer in Not bringen, deren finanzielle Lage stark von den Rohstoffpreisen abhängig ist. Ein schwächeres Wachstum Chinas hätte insbesondere auch für Deutschland negative Konsequenzen: Für das Exportland Deutschland ist China der wichtigste Handelspartner. Eine Schwächung Deutschlands wiederum hätte negative Auswirkungen auf die Schweiz. Die auf der Titelseite des „Tagesanzeigers“ publizierte Karikatur zeigt hintereinander aufgestellte Dominosteine. Der erste ist Evergrande. Kippt dieser, dann kommt es zu einer Kettenreaktion und der Reihe nach kippen auch alle übrigen Steine. Ein anderes Bild wäre eine Kette, die auseinanderbricht, sobald ihr schwächstes Glied reisst. Man muss nicht viel von Ökonomie verstehen um zu sehen, dass hier offensichtlich alles aus den Fugen geraten ist. Nur schon damit angefangen, dass beim Handel mit Immobilien derart astronomische Summen im Spiel sein können, wo doch, nüchtern betrachtet, Wohnen und Wohnungsbau zu den Grundbedürfnissen der Menschen gehören und am vorteilhaftesten gemeinnützig oder genossenschaftlich organisiert sein müssten, fern jeglichen Gewinnstrebens und fern jeglicher Spekulation. Aber eben, wenn man so tief im kapitalistischen Dickicht festgefahren ist, sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr, kann sich etwas anderes gar nicht mehr vorstellen und sieht noch in den grössten Absurditäten etwas „Normales“. Auch die Tatsache, dass der globalisierte Kapitalismus, in dem alles weltweit miteinander verknüpft und verbunden ist, erregt höchstens noch ein kurzes Staunen, bevor wir wieder zu einer „Tagesordnung“ zurückkehren, die, wenn man sie aus Distanz von einem anderen Planeten aus anschauen könnte, mindestens als der helle Wahnsinn erscheinen müsste. Welche unselige Macht hat uns eigentlich dazu gebracht, alles mit allem zu verknüpfen? Das ist, wie wenn man in allen Häusern einer Stadt vorsorglich genügend Benzin einlagern würde, damit, wenn eines der Häuser brennt, gleich alle anderen auch zu brennen beginnen. Viel vernünftiger wäre doch eine grösstmögliche Autonomie jedes einzelnen Unternehmens, jeder einzelnen Landesregion, jeder einzelnen Volkswirtschaft. Damit jeglicher Schaden möglichst begrenzt bleibt und sich nicht wie ein Lauffeuer landes- und weltweit ausbreiten kann. Die weltweite Verknüpfung von allem mit allem hat uns jeglichen ökonomischen Gestaltungswillen aus der Hand gerissen. Als würden wir von einer unsichtbaren Macht regiert, auf die wir jeglichen Einfluss verloren haben und der wir schicksalshaft ausgeliefert sind. Wir meinen, die althergebrachten Religionen überwunden zu haben, doch gleichzeitig haben wir nur eine neue Religion geschaffen, die Religion des globalisierten Kapitalismus, der wir von Brasilien bis Russland, von Südafrika bis Taiwan, von Kanada bis China zu Füssen liegen. Es bleibt uns nur übrig, wie gebannt auf unsere Bildschirme zu starren und die steigenden und fallenden Kurse zu verfolgen und zu hoffen, dass nur ja nichts wirklich Schlimmes passiert. Fast wünschte man sich, dass alle diese Absurditäten noch viel schlimmere Formen annehmen, bloss um uns die Augen dafür zu öffnen, noch rechtzeitig das Ruder herumzureissen und ein neues Zeitalter jenseits aller kapitalistischen Verrücktheiten Wirklichkeit werden zu lassen.

Hurra, jetzt dürfen auch die Kundinnen und Kunden von Coop schon das Personal bewerten und können erst noch einen Gutschein im Wert von 1000 Franken gewinnen…

 

Wie das Gratisblatt „20minuten“ am 20. September 2021 berichtet, sollen Kundinnen und Kunden von Coop zukünftig das Verhalten und das Auftreten des Personals an der Kasse und auf der Verkaufsfläche bewerten können, auf einer Skala von 0 bis 5. Coop hat zur Einführung dieses Bewertungssystems sogar extra ein Gewinnspiel lanciert: Wer sich am Bewerten aktiv beteiligt, kann einen Gutschein im Wert von 1000 Franken gewinnen. Wenn ich also zukünftig meinen Einkauf auf das Rollband lege und mir die Kassierin freundlich zulächelt, dann werde ich nicht mehr wissen, ob es sich da einfach um eine ganz spontane und freundliche Mitarbeiterin handelt, ob ich ihr besonders sympathisch bin oder ob sie das nur deshalb tut, um eine möglichst positive Bewertung zu ergattern. Das Gleiche im Hotel und im Restaurant, wo die Gäste schon seit Längerem die Möglichkeit haben, übers Internet eine Beurteilung des in Anspruch genommenen Angebots vorzunehmen, so dass auch die Zimmermädchen, die Köche, der Herr am Empfang und die Kellnerinnen bei jedem Handgriff und jeder Bewegung wissen, dass dieses oder jenes Verhalten oder dieses oder jenes falsche Wort zur falschen Zeit eine negative Gästebewertung zur Folge haben könnte – und folglich höchstwahrscheinlich auf eine entsprechende Rüge ihres Arbeitgebers. Bald werden wir wahrscheinlich auch schon die Arbeit unserer Physiotherapeutin, unseres Fitnesstrainers, unserer Krankenpflegerin, unserer Zahnärztin, unseres Briefträgers und unserer Coiffeuse via Internet bewerten können und alle werden sich jede erdenkliche Mühe geben, um in den Genuss einer positiven Bewertung zu gelangen. Nun, was soll daran so schlecht sein? Erstens töten solche Bewertungssysteme jegliche Spontaneität ab. Das Lächeln der Kellnerin, die anschliessend von ihrem Gast bewertet wird, gleicht dem Lächeln von Sportgymnastinnen und Synchronschwimmerinnen, die auch dann noch ein Lächeln auf dem Gesicht haben, wenn ihr Körper vor Anstrengung und vor Schmerzen fast zerbricht. Weit ist da der Weg nicht mehr hin bis zu jenen Robotern, die ihre Kundinnen und Kunden zwar perfekt bedienen – wie das heute in japanischen Hotels und Restaurants schon gang und gäbe ist -, stets ein Lächeln auf dem Gesicht haben, nie ihre Geduld verlieren, nie einen Fehler machen – dafür aber keine Seele mehr haben. Die Coiffeuse, die eine wunderbare Frisur herbeizaubert, die Verkäuferin im Modegeschäft, welche ihre Kundinnen besonders einfühlsam berät, der Koch, der sich alle Mühe gibt, ein feines Gericht zuzubereiten: Sie alle haben das auch vorher schon nach bestem Wissen und Gewissen gemacht, doch jetzt stehen sie bei jeder Bewegung und jedem Wort im Blickfeld eines unsichtbaren Auges. Ein durch nichts zu rechtfertigender Eingriff in die Persönlichkeit der Betroffenen, denen man aus völlig unerklärlichen Gründen nun auf einmal all das, was bisher selbstverständlich war und nichts anderem entsprang als der Leidenschaft und der Liebe zu ihrer Arbeit, nun auf einmal nicht mehr zuzutrauen scheint – als wären es Marionetten, die nur dann funktionieren, wenn einer oben ist, alle Fäden in der Hand hält und die Figuren richtig zu führen weiss. Zweitens, und das erscheint mir noch schlimmer: Solche Bewertungssysteme verschlimmern all jene „Untertanenverhältnisse“, die bereits vor der Einführung des Bewertungssystems bestanden, erst recht. Das Leitmotiv, wonach der Kunde König sei, wird nun erst recht auf die Spitze getrieben. Hat sich der Gast früher über ein Essen, das ihm nicht schmeckte, bei der Kellnerin beschwert, so saust er nun nach dem Essen nach Hause und hackt seine negative Bewertung in den Computer. Da negative Bewertungen erfahrungsgemäss häufiger gegeben werden als positive, erhöht dies zusätzlich den Druck auf die Angestellten. Das zutiefst Unmenschliche daran ist, dass die Kundinnen und Gäste zwar stets – ganz nach dem Motto: wer zahlt, befiehlt – auch ihre schlechten Tage haben und auch mal unfreundlich oder sogar herablassend und verletzend sein dürfen – man dem Personal aber genau dieses Recht, auch mal einen schlechten Tag oder auch mal eine schlechte Laune zu haben, verwehrt. Kein Wunder, wird es immer schwieriger, genügend Personal für Jobs zu finden, die einerseits überaus streng und schlecht bezahlt sind und in denen man anderseits so gnadenlos der Willkür von Kundinnen und Gästen ausgeliefert ist. Seit ich unlängst der Bäckerin im Supermarkt, wo ich regelmässig einkaufe, dafür gedankt habe, dass sie stets so gutes Brot backe, grüsst sie mich jedes Mal schon von Weitem, wenn sie mich beim Einkaufen sieht. Und auch die Kellnerin im Restaurant, wo ich kürzlich zu Mittag gegessen habe, strahlte übers ganze Gesicht, als ich ihr für die freundliche und zuvorkommende Bedienung ein herzliches Dankeschön ausgesprochen habe. Wäre das nicht eine viel effizientere – und erst noch billigere – Methode, um Menschen für ihre Arbeit zu motivieren, statt sie rund um die Uhr mit Argusaugen zu beobachten, zu vergleichen und zu bewerten?