Die neueste Daimlerlimousine und die Aktivistinnen und Aktivisten der Klimabewegung: zwei Welten im gleichen Land

 

„Das Auto“, so Thomas Sauter-Servaes, Mobilitätsforscher an der School of Engineering in Zürich, im „Tages-Anzeiger“ vom 22. Juni 2021, „das Auto wird in Zukunft noch viel attraktiver werden. Gerade wird es zu einer riesigen Erlebnismaschine ausgebaut. So zum Beispiel hat Daimler in der neuen Elektro-Luxuslimousine einen Hyperscreen eingebaut, der zieht sich von einer Seite des Autos zur anderen. Dieser Bildschirm soll lernend sein und die Funktionen, die der Nutzer gerne hat, auf die erste Ebene holen. Das Auto wird damit noch persönlicher. Es wird zu einem grossen Smartphone auf Rädern. Es wird die Vorlieben der Nutzenden immer besser kennen und wird passgenaue Angebote machen, beispielsweise einen Rabatt bei der Cafékette, deren Filiale auf dem geplanten Weg liegt.“ Verrückt. Während die gesellschaftspolitische Debatte im Hinblick auf den drohenden Klimawandel immer mehr in die Richtung einer verstärkten Förderung des öffentlichen Verkehrs, autofreier Innenstädte und gemeinschaftlicher Nutzung von Mietfahrzeugen geht, weiss die Autoindustrie nichts Gescheiteres, als den uralten und längst zur Groteske verkommenen Traum des Autos als zweitem Zuhause unter Aufbietung sämtlicher technischer Raffinessen wieder neu aufleben zu lassen. Zugegeben, bei den neuesten Serien handelt es sich mehrheitlich um Elektromobile. Aber verschlingt deren Herstellung nicht gleichermassen eine Unmenge an Energie und Rohstoffen? Wie viele seltene Metalle müssen aus der afrikanischen Erde geschürft werden, um diesen Hyperscreen herzustellen, der sich von der einen Seite des Autos zur anderen hinzieht? Liegt nicht eine umweltgerechte Entsorgung der Batterien immer noch in weiter Ferne? Verstopfen Elektroautos nicht genau so wie von Benzin angetriebene Fahrzeuge unsere Städte und erfordern stets immer weitere Strassen und den Verschleiss von wertvollem Kulturland? Ist nicht hinlänglich bekannt, dass die gesamte Ökobilanz eines Elektroautos kein bisschen besser ist als jene eines von Benzin angetriebenen Autos? Wenn ich mir das so vorstelle: Hier eine Automobilindustrie, die alles daran setzt, das Automobil der Zukunft in ein riesiges Smartphone zu verwandeln, das augenblicklich alle noch so ausgefallenen Wünsche seiner Insassen erfüllen wird – und dort die Aktivistinnen und Aktivisten der Klimabewegung, die bei Wasser und Brot wochenlang in Baumhütten ausharren, um den Bau einer Autobahn durch ein Waldgebiet zu verhindern, wenn ich mir das so vorstelle, dann überfällt mich unwillkürlich der Gedanke, ob das noch die eine und dieselbe Welt ist, in der beides gleichzeitig möglich ist. Oder ob hier nicht schon ein Graben aufgerissen worden ist, der sich nicht mehr zuschütten lassen wird. Ja, vielleicht steuern wir da tatsächlich auf einen „Kipppunkt“ zu, der den Übergang in ein von Grund auf neues, anderes Gesellschaftssystem mit sich bringen wird. Denn während auf der einen Seite die Auswüchse einer weltweiten Luxusgesellschaft immer groteskere Formen annehmen, werden gleichzeitig das Unverständnis, die Ungeduld und die Wut all jener jungen Menschen, die ihren Traum von einer besseren, gerechteren und friedlicheren Welt noch nicht verloren haben, immer stärker. Welche Seite obsiegen wird – das ist nicht mehr und nicht weniger als die Frage des Überlebens der Menschheit. Oder wollen wir allen Ernstes so lange warten, bis die Daimlerlimousine dereinst durch menschenleere Dörfer segeln wird und alle längst ausgestorbenen Tier- und Pflanzenarten nur noch auf dem Hyperscreen zu bewundern sind, der sich von der einen Seite des Autos auf die andere hinzieht?   

 

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Die Abstimmungen vom 13. Juni 2021: Plädoyer für eine Demokratie, die den gesellschaftlichen Fortschritt beflügelt

 

Ja, wir Schweizerinnen und Schweizer verfügen glücklicherweise über das demokratische Recht, über Dinge abstimmen zu können, die in anderen Ländern ausschliesslich von Parlamenten oder Regierungen bestimmt werden. Doch die Abstimmungen vom 13. Juni 2021 über ein neues CO2-Gesetz für mehr Klimaschutz, über eine Trinkwasser- und eine Pestizidinitiative für eine umweltschonendere Landwirtschaft sowie über ein neues Antiterrorgesetz haben gezeigt, dass demokratisches Mitbestimmungsrecht nicht gleichbedeutend sein muss mit gesellschaftlichem Fortschritt: Die drei Umweltvorlagen wurden abgelehnt, das Antiterrorgesetz, das selbst gegen unbescholtene Bürgerinnen und Bürger bei Verdacht auf politisch unliebsame Äusserungen Anwendung finden kann und das damit hinter Saudiarabien zum weltweit zweitschärfsten Gesetz dieser Art zählen wird, wurde angenommen. Nun kann man sagen: Das sind nun mal die demokratischen Spielregeln. Die Mehrheit entscheidet. Und die unterlegene Minderheit muss dies diskussionslos akzeptieren. Doch so einfach ist das nicht. Ein Blick in die Geschichte zeigt nämlich, dass sich die Mehrheit auch irren kann. So etwa wurden sowohl die Einführung einer Altersvorsorge wie auch das Frauenstimmrecht mehrmals abgelehnt, bis sie endlich die notwendige Mehrheit fanden. Was „richtig“ und was „falsch“ ist, lässt sich erst über längere Zeiträume hinweg erkennen. Ich wage zu behaupten, dass die Abstimmungen vom 13. Juni 2021 zu jenen Abstimmungen zählen werden, deren Ergebnis schon in wenigen Jahren als „falsch“ angesehen werden könnte, spätestens dann nämlich, wenn gutes Ackerland durch unverminderten Einsatz von Pestiziden seine natürliche Fruchtbarkeit verloren haben wird, wenn die Klimaerhitzung jenen Kipppunkt erreicht haben wird, an dem sie sich nicht mehr rückgängig machen lässt, und wenn die ersten Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen im Gefängnis landen, weil sie zu einem radikalen Sturz der kapitalistischen Staats- und Wirtschaftsordnung aufgerufen haben. Keine Frage: Demokratie ist gut und wichtig und soll auf keinen Fall in Frage gestellt werden. Aber sie kann nicht funktionieren in einem luftleeren Raum, in dem eine Benzinpreiserhöhung um ein paar wenige Rappen oder die Erhöhung von Flugticketpreisen um zwanzig oder dreissig Franken mehr politisches Gewicht bekommt als die Frage unseres gemeinsamen Überlebens auf diesem Planeten. Wenn die Demokratie nicht zum Spielball unterschiedlicher Machtgruppen verkommen, sondern weitblickend den gesellschaftlichen und ökologischen Fortschritt beflügeln soll, dann braucht sie so etwas wie eine ethische Grundlage. Nebst den Wahlen und Abstimmungen, die meist stark von den finanziellen Mitteln der verschiedenen Parteien und Verbänden beeinflusst sind und in denen nicht selten die billigsten Schlagwörter und Argumente mehr Gewicht erhalten als fundierte Tatsachen, müssten so etwas wie lokale Gesprächsgruppen gebildet werden, in denen Gegnerinnen und Befürworter aktueller politischer Vorlagen am gleichen Tisch sitzen und gegenseitig ihre Argumente austauschen. Heute ist das Gegenteil der Fall: Jede Gruppe schliesst sich in ihre „Blase“ ein und will von den „gegnerischen“ Gruppen möglichst nichts wissen. Paradebeispiel für diese gegenseitige Polarisierung ist die „Arena“ des Schweizer Fernsehens: „Freund“ und „Feind“, „Gut“ und „Böse“ sitzen sich gegenüber, niemand versucht den anderen zu verstehen, es geht bloss darum, die eigene Position zu verteidigen und hierfür möglichst viele Argumente ins Feld zu führen. So wird das Ganze zum gegenseitigen Schlachtfeld und es geht am Ende nicht mehr um die Sache, sondern nur noch um „Sieg“ oder „Niederlage“. In lokalen, gemischt zusammengesetzten Gesprächsgruppen ginge es hingegen vielmehr darum, Argumente und Gegenargumente gegenseitig ernst zu nehmen, zu lernen und, wenn nötig, auch die eigenen Positionen zu überdenken. Eine Demokratie, die nicht ist, sondern die wächst. Eine Demokratie, die nicht den Schlagabtausch zwischen verschiedenen Interessengruppen fördert, sondern den gemeinsamen gesellschaftlichen Fortschritt. Ganz im Sinne des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt, der sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“    

Wahlen in Sachsen-Anhalt: Weshalb den Linksparteien die Wählerinnen und Wähler davon laufen

 

Landtagswahlen im deutschen Bundesland Sachsen-Anhalt. Die CDU erreicht einen Wähleranteil von 36 Prozent, die AfD 22,5 Prozent, die Linke 11 Prozent, die SPD 8,5 Prozent, die Grünen 6,5 Prozent und die FDP ebenfalls 6,5 Prozent. Auch wenn sich viele über den deutlichen Vorsprung der CDU gegenüber der AfD freuen, kann das Ergebnis nicht darüber hinweg täuschen, dass die politische Linke bei diesen Wahlen eine vernichtende Niederlage hinnehmen musste. Nicht einmal bei jenem Bevölkerungssegment, dessen Interessen sie traditionellerweise vertritt, hat die Linke gepunktet: Von den in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen lebenden Wählerinnen und Wählern haben sich 38 (!) Prozent für die AfD entschieden, 20 Prozent für die CDU und nur 12 Prozent für die Linke und gerade mal 9 Prozent für die SPD, die frühere Hochburg der Arbeiterschaft und Vorkämpferin sozialer Gerechtigkeit. Doch nicht nur im deutschen Sachsen-Anhalt laufen die „kleinen“ Leute den traditionellen Linksparteien scharenweise davon und landen schliesslich bei populistischen und rechten bis rechtsextremen politischen Kräften und Parteien. Auch Donald Trump wurde vornehmlich von den „kleinen“ Leuten in abgehängten und von Arbeitslosigkeit stark betroffenen Gebieten zum US-Präsidenten gewählt. Auch Marine Le Pen, die reelle Chancen als Nachfolgerin des französischen Präsidenten Emmanuel Macron hat, gewinnt ihr Wählerpotenzial vornehmlich aus den „unteren“ Bevölkerungsschichten. Und selbst die schweizerische SVP wird heute zu einem grossen Teil von Bürgerinnen und Bürgern gewählt, welche noch vor zehn oder zwanzig Jahren ihre Stimme der Sozialdemokratie gegeben hätten. Was läuft da schief? Weshalb gelingt es den Linksparteien immer weniger, ihr traditionelles Wählerpotenzial abzurufen? Und welches ist das Geheimrezept der Rechtsparteien, mit dem sie ihre wachsenden Wahlerfolge erzielen? Die Antwort ist eigentlich ganz einfach und lässt sich auf ein einziges Wort reduzieren. Dieses Wort ist der Kapitalismus. Denn all die Sorgen und Nöte, schwere Arbeit bei schlechtem Lohn, geringe gesellschaftliche Wertschätzung, wachsender Leistungsdruck und Konkurrenzkampf am Arbeitsplatz, Arbeitslosigkeit, Abbau öffentlicher Einrichtungen, all das, worunter die Menschen leiden und was sie in immer grösserer Zahl in die Hände der Populisten und Heilsversprecher vom rechten politischen Rand treibt, das sind die ganz logischen und zwangsläufigen Folgen jenes kapitalistischen Wirtschaftssystems, das auf der Ausbeutung von Menschen und Natur zwecks endlosem Wachstum und unaufhörlicher Profitmaximierung beruht. Die traditionellen „Linksparteien“ können sich noch so anstrengen, noch so viele gute Ideen haben – gefangen im kapitalistischen System, wird es für jeden Millimeter, den sie an sozialem Fortschritt erkämpfen, immer gleich wieder zwei Millimeter geben, welche sie wieder zurückschlagen. Diese systembedingte Machtlosigkeit ist der Grund dafür, dass sich immer mehr Menschen von den traditionellen „Linksparteien“ abwenden und eine neue politische Heimat suchen, so widersprüchlich, konzeptlos und nicht selten sogar verlogen diese auch sein mag. Grundlegend ändern würde sich das erst in dem Augenblick, da all jene Bewegungen, Parteien und politischen Kräfte, die sich der sozialen Gerechtigkeit und dem guten Leben für alle verschrieben haben, aus dem Schatten des Kapitalismus heraustreten würden und das in die Tat umzusetzen begännen, was unter anderem sogar im Parteiprogramm der schweizerischen Sozialdemokratie festgeschrieben steht: die Überwindung des Kapitalismus. So könnte die politische Linke jene Glaubwürdigkeit und Faszination wiedererlangen, die ihr heute fehlen. Und sie würde den populistischen und nationalistischen Kräften und Parteien den Boden unter den Füssen wegziehen. Dass die Zeit für einen so grundlegenden Wandel längst schon reif wäre, zeigt eine unlängst vom Edelman-Kommunikationsbüro durchgeführte Umfrage, wonach 55 der Deutschen finden, der Kapitalismus richte mehr Schaden als Nutzen an. Und da sich die kapitalistische Wachstumsspirale naturgemäss immer schneller dreht, wird auch das Leiden unter dem Kapitalismus naturgemäss immer schneller zunehmen – bis hin zum Klimawandel, der ebenso eine ganz logische und direkte Folge der kapitalistischen Wachstums- und Ausbeutungslogik ist. Gewiss, der Kapitalismus kann nicht von heute auf morgen überwunden werden. Aber hier und heute kann, als erster Schritt, eine grosse, breite Debatte darüber beginnen, so dass am Ende eines Wahltags wie heute in Sachsen-Anhalt, nicht bloss darüber diskutiert wird, welche Partei wie viele Wählerprozente gegenüber vor vier Jahren gewonnen oder verloren hat, sondern vor allem darüber, in was für einer Welt wir in zehn oder zwanzig Jahren leben möchten, in der das gute Leben nicht bloss ein schöner Traum, sondern Wirklichkeit geworden wäre für alle.  

2050: Im Museum des Kapitalismus

 

In Berlin gibt es das Museum der DDR, wo die Besucherinnen und Besucher einen umfassenden Einblick bekommen, wie man im ehemaligen Ostdeutschland lebte und wie Gesellschaft, Politik und Wirtschaft damals organisiert waren. Stirnerunzeln, Verwunderung, ungläubiges Staunen und nicht selten auch Erleichterung darüber, dass die damalige sozialistische Staatsmacht mit ihrer Einheitsdoktrin und einem umfassenden Spitzelsystem endgültig der Vergangenheit angehört. Rund 60 Jahre später, im Jahre 2050 oder so, wird es in New York, London oder Singapur das Museum des Kapitalismus geben und auch dort werden die Besucherinnen und Besucher aus dem Staunen nicht herauskommen, dass so etwas jemals möglich war. Dass ein Hundertstel der Weltbevölkerung fast die Hälfte des gesamten Weltvermögens besass und die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung gerade mal einen Hundertstel davon. Dass es sich die Menschen in den reichen Ländern des Nordens leisten konnten, mehr als einen Drittel der eingekauften Lebensmittel in den Müll zu werfen, während weltweit jeden Tag zehntausend Kinder vor ihrem fünften Geburtstag starben, weil sie nicht genug zu essen hatten. Dass nicht wenige Menschen in den reichen Ländern, selbst ohne zu arbeiten und bloss aus dem Anteil an Erbschaften oder Aktien, an jedem einzelnen Tag um ein Vielfaches mehr verdienten als ein Minenarbeiter im Kongo oder eine Textilarbeiterin in Bangladesch trotz härtester Arbeit während ihres ganzen Lebens. Dass die Menschen aus den reichen Ländern in alle Länder der Welt reisen konnten und überall mit wärmster Gastfreundschaft willkommen geheissen und verwöhnt und ihnen jeder Wunsch von den Augen abgelesen wurde, während umgekehrt die Menschen aus den armen Ländern, wenn sie in den reichen Ländern Schutz vor Armut oder Krieg zu finden hofften, bloss mit Stacheldrahtzäunen, meterhohen, unüberwindbaren Mauern, Hass und Ablehnung empfangen wurden. Dass nicht nur die armen Menschen den reichen Menschen wie Sklaven und Sklavinnen ausgeliefert waren und damit der Reichtum der Reichen in immer schwindelerregendere Höhen hinaufgetrieben wurde, sondern dass in diesem Plan unaufhörlichen Wachstums auch die Tiere, die Pflanzen, ja die ganze Natur dem Zweck endloser Profitmaximierung unterworfen waren: masslose Abholzung von Regenwäldern im Sekundentakt, Gifte und immer aggressivere Anbau- und Erntemethoden zur Steigerung der Nahrungsmittelproduktion, Tropenfrüchte aus Hungergebieten auf den Tellern der Reichen, Abertausende Hühner zusammengepfercht in viel zu engen Ställen, die sich gegenseitig zu Tode bissen. Und dass zu allem Überdruss, wie wenn das nicht alles schon genug wäre, Unmengen von Geld weltweit in die militärische Aufrüstung gesteckt wurden und so viele Waffen aufgetürmt worden waren, dass man die ganze Erde damit gleich mehrfach hätte vernichten können. Und wenn jetzt in diesem Museum des Kapitalismus ein Kind seine Mutter oder seinen Vater fragt, wie denn das alles möglich gewesen sei und wie die Menschen das alles ausgehalten hätten, reich zu sein, während andere hungerten, und so viele andere seltsame Dinge zu tun, obwohl sie ja wussten, dass sie damit ihren eigenen Untergang herbeiführen würden, wenn ein Kind alle diese Fragen stellt, dann wird sich seine Mutter oder sein Vater wohl lange überlegen müssen, was für Antworten sie darauf geben könnten. Und dann, nach langem Überlegen, wird der Vater oder die Mutter vielleicht sagen: Weisst du, das ist zwar schwer zu erklären, aber ich glaube, es war die Macht der Gewohnheit. Wenn man genug lange etwas tut und alle anderen es auch tun und auch früher schon alle es getan haben, dann meint man, es sei normal, obwohl es eigentlich verrückt ist. Schon den Kindern hatte man mit der Muttermilch den Kapitalismus eingeträufelt und in der Schule ging dann das nahtlos weiter und die Kinder lernten, gegeneinander um Macht, Ansehen und Erfolg zu kämpfen, egal, ob andere darunter litten oder nicht. Auch die Ökonomen, die am ehesten noch etwas hätten ändern können, waren von der kapitalistischen Muttermilch durchdrungen und predigten die Lehre des Kapitalismus in allerhöchstens sich unerheblich voneinander unterscheidenden Varianten. Und auch die Politiker und Politikerinnen verhielten sich nicht anders. Man redete zwar von Demokratie und von Freiheit, aber im Grunde waren auch die verschiedenen Parteien nichts anderes als einzelne Flügel einer grossen kapitalistischen Einheitspartei und unterschieden sich nur durch unerhebliche Differenzen. Die Menschen meinten zwar, sie hätten die alten Religionen überwunden und lebten in völliger Freiheit. Im Grunde aber war diese Freiheit nichts anderes als ein unsichtbares Gefängnis, in dem sich eine ganz neue Religion etabliert hatte, die Religion des Geldes. Für Geld taten sie alles, es anzuhäufen, es anderen abzutrotzen, aus ihm Häuser zu bauen, die bis in den Himmel wuchsen, ja selbst um damit ihren eigenen Untergang vorzubereiten. Erstaunt und ein bisschen durcheinander von so viel Unbegreiflichem will das Kind nun wissen, wie denn das Zeitalter des Kapitalismus zu Ende gegangen sei. Das, sagt seine Mutter, sei keine einfache Frage. Vieles sei zur gleichen Zeit an vielen Orten anders geworden. Schlüsselfiguren seien Kinder und Jugendliche gewesen, an vorderster Front eine sechzehnjährige schwedische Schülerin namens Greta, die im Jahre 2017 eine millionenfache weltweite Bewegung ausgelöst hätte, zunächst gegen den drohenden Klimawandel und seine zerstörerischen Folgen für die Zukunft der Menschheit, dann aber immer mehr auch für die Vision einer von Grund auf neuen, nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auf der Basis sozialer Gerechtigkeit und eines guten Lebens für alle. Irgendwann, berichtet die Mutter, sei die Bewegung nicht mehr aufzuhalten gewesen, umso mehr, als immer mehr Menschen erkannt hätten, dass sowohl der Klimawandel, wie auch die haarsträubenden Gegensätze zwischen Arm und Reich, die gnadenlose Ausbeutung von Mensch und Natur im Dienste schrankenloser Profitmaximierung und letztlich auch all die Kriege um Macht, Rohstoffe und Profite alle den gleichen Ursprung gehabt hätten, eben das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Wahrscheinlich sei es vor allem den Kindern und Jugendlichen, die einen so wesentlichen Anteil an diesem Wandel getragen hätten, aber auch den Frauen, die ebenfalls führende Rollen übernommen hätten, zu verdanken, dass der Übergang von der kapitalistischen in die nachkapitalistische Zeit so gewaltlos und sanft verlaufen sei – eine Revolution ohne Blutvergiessen, etwas, was die Menschheit in dieser Form noch nicht gekannt hätte…

CO2-Gesetz, Trinkwasser- und Pestizidinitiative: Ökologische Reformen auf dem Buckel der sozial Schwächsten?

 

Die Gegnerinnen und Gegner des CO2-Gesetzes argumentieren, dass sich wegen der Erhöhung der Flugpreise eine Familie mit kleinem Einkommen künftig keine Ferien auf Teneriffa mehr leisten könne. Und auch den Schreiner auf dem Land, der täglich auf sein Auto angewiesen sei, werde eine Erhöhung des Benzinpreises empfindlich treffen. Auch die Gegnerinnen und Gegner der Trinkwasser- und der Pestizidinitiative führen ins Feld, dass eine Erhöhung der Lebensmittelpreise insbesondere Familien mit geringem Einkommen hart treffen würde. Mit dieser Argumentation kann man zukünftig alle sozialen und ökologischen Reformen abschmettern, denn jede Erhöhung von Preisen oder Abgaben trifft stets die Schlechtverdienenden ungleich viel stärker als die Gutverdienenden. Das zeigten auch die monatelangen Protestaktionen der „Gelbwesten“ gegen die von der französischen Regierung verhängte Benzinpreiserhöhung. Doch wer daran etwas ändern will, muss nicht hinten anfangen, sondern vorne, nämlich bei den Löhnen und Einkommen. Der wahre Skandal sind nicht die höheren Preise für Flugtickets, Benzin und Lebensmittel – alle diese Konsumgüter sind heute sowieso schon viel zu billig. Der wahre Skandal besteht vielmehr darin, dass schweizweit rund 700’000 Menschen unter oder an der Armutsgrenze leben und jeden Franken zweimal umdrehen müssen, bevor sie ihn ausgeben können. Der wahre Skandal besteht darin, dass es immer noch keinen landesweit verbindlichen Mindestlohn gibt und sich viele Menschen mit Hungerlöhnen von 3000 oder 3500 Franken zufrieden geben müssen. Der wahre Skandal besteht darin, dass die am besten verdienenden Schweizerinnen und Schweizer bis zu 300 Mal mehr verdienen als die am schlechtesten bezahlten. Der wahre Skandal besteht darin, dass die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer 709 Milliarden Franken besitzen – mehr als die gesamte jährliche Wirtschaftsleistung der Schweiz und mehr als das jährliche Militärbudget der USA! Es ist nur zu bezeichnend, dass ausgerechnet jene politischen Kreise wie die SVP, welche soziale und ökologische Reformen aus angeblicher Rücksicht auf Minderbemittelte an vorderster Front bekämpfen, sich ebenso vehement gegen jegliche Bemühungen um mehr soziale Gerechtigkeit, höhere Löhne und stärkere Besteuerung von Gutverdienenden und Unternehmen wehren. Doch wir werden nicht daran vorbeikommen, unsere Zukunft nicht nur „grüner“, sondern vor allem auch sozialer zu gestalten. Denn mehr soziale Gerechtigkeit und ein weniger grosses Gefälle zwischen Gut- und Schlechtverdienenden sind unentbehrliche Voraussetzungen dafür, dass auch weitergehende ökologische Reformen eine Zukunft haben – ökologische Reformen, die dann nicht nur auf den Schultern ausgerechnet jener liegen, die sowieso schon auf vieles verzichten müssen, sondern von der ganzen Gesellschaft solidarisch mitgetragen werden.

CO2-Gesetz: Eine Avocado im Supermarkt oder ein Apfel im Quartierladen?

 

Im „Club“ des Schweizer Fernsehens SRF1 vom 25. Mai 2021 geht es um das CO2-Gesetz, über das am 13. Juni 2021 abgestimmt wird. Während die befürwortende Seite Lenkungsabgaben auf Benzin, Heizöl und Flugtickets sowie die Errichtung eines Klimafonds zur Förderung alternativer Energien als unerlässlich erachtet, streitet die gegnerische Seite den Nutzen sämtlicher solcher Massnahmen rundweg ab und behauptet, dass technologische Innovationen zur Reduktion umweltschädlicher Emissionen auch ohne solche Massnahmen möglich seien. Während ich das Gespräch verfolge, verspüre ich in mir eine immer stärker werdende Ungeduld. Wann endlich stellt jemand in der Runde die Frage, was für einen Wohlstand wir uns denn, um den Klimawandel aufzuhalten, in Zukunft überhaupt noch leisten können? Denn mit höheren Benzinpreisen und Abgaben auf Flugtickets ist das Problem des viel zu hohen CO2-Ausstosses ja überhaupt nicht gelöst, so lange munter weiter geflogen wird und die Anzahl der Autos auf unseren Strassen weiterhin kontinuierlich zunimmt. Und wann endlich stellt jemand die Frage, welche von all den Gütern, die wir täglich kaufen und konsumieren, wirklich notwendig sind und auf welche wir allenfalls, um den Klimawandel aufzuhalten, auch verzichten könnten? Doch ich warte vergebens. Die Runde scheint sich, wenn auch geteilt in Pro und Contra zum CO2-Gesetz, mindestens in dem Punkte einig zu sein, dass wir unseren bisherigen Wohlstand ungehindert weiterführen können und sämtliche Ursachen des Klimawandels einzig und allein mit finanziellen und technischen Massnahmen in den Griff zu bekommen sind. Und dies, obwohl wir Schweizerinnen und Schweizer jedes Jahr drei Mal so viel Ressourcen und Rohstoffe verbrauchen, als von der Erde auf natürliche Weise wieder geschaffen werden. Und in diesem Moment wird mir erst bewusst, dass die wichtigste Person in dieser Runde, die wohl genau diese Fragen gestellt hätte, fehlt, nämlich ein Vertreter oder einer Vertreterin der Klimajugend. Unbegreiflich, dass das Schweizer Fernsehens darauf verzichtet hat, hat die Klimajugend doch genau dieses Thema, über das hier eineinhalb Stunden diskutiert wurde, überhaupt erst ins Rollen und in jenes öffentliche Bewusstsein gebracht, das es heute hat. Aber Halt. Ganz am Schluss der Sendung, in der allerletzten Wortmeldung, meint ausgerechnet die Vertreterin der SVP, man müsste halt auch mal darüber diskutieren, ob es sinnvoll sei, mit dem Auto zum Supermarkt zu fahren, um dort eine Avocado zu kaufen, oder ob es nicht gescheiter wäre, zu Fuss in den Quartierladen zu gehen, um dort einen Apfel zu kaufen. Schade, dass die Sendung an dieser Stelle zu Ende war, eigentlich hätte sie hier erst so richtig anfangen müssen… 

 

 

Neues schweizerisches Antiterrorgesetz: Prävention gegen Terrorismus ist gut und lebenswichtig, aber wenn, dann richtig

 

Das neue schweizerische Anti-Terror-Gesetz, über das am 13. Juni 2021 abgestimmt wird, soll mehr Möglichkeiten für die Polizei schaffen, gegen potenzielle Gefährder vorzugehen, bei denen konkrete und aktuelle Anhaltspunkte darauf hinweisen, dass sie in Zukunft eine terroristische Aktivität ausüben könnten. Dabei geht es vor allem um „Linksextreme“, „Rechtsextreme“ und „Islamisten“, wobei Letztere in der öffentlichen Diskussion im Zentrum stehen. Namentlich könnten gegen solche Gefährder Kontakteverbote, elektronische Überwachung mit Fussfesseln, Standortverfolgung über Mobiltelefone, Meldepflicht, Hausarrest sowie ein Verbot, das Land zu verlassen, verhängt werden, und dies bereits ab dem Alter von zwölf Jahren. Kein anderes Land weltweit ausser Saudi-Arabien kennt ein so strenges Anti-Terror-Gesetz. Zahlreiche Strafrechtler und Strafrechtlerinnen geben zu bedenken, dass so weitreichende Massnahmen gegen Menschen, die ja noch keine Straftaten begangen haben, höchst bedenklich und auch nicht vereinbar seien mit den internationalen Menschenrechten. Dass Prävention gegen Terrorismus auch ganz anders angegangen werden könnte, skizzierte Olivier Roy, französischer Politikwissenschaftler und profunder Kenner muslimischer Gesellschaften und Gemeinschaften, in einem Artikel der NZZ vom 5. Januar 2021. Am Beispiel von Frankreich zeigt Roy auf, dass man, um den islamistischen Terror zu bekämpfen, dem Islam mehr Raum in der Gesellschaft geben müsste, statt ihn in Nischen abzudrängen, wo es an jeglicher sozialer Kontrolle fehle. Auch sei es wichtig, dass die islamischen Gemeinschaften gut ausgebildete, einheimische Geistliche hätten, welche die soziale Realität der Gläubigen kennen und teilen, an Stelle von schlecht bezahlten Imamen, die aus den Ursprungsländern geholt werden und kaum die Landesspreche sprechen. Diese Geistlichen wiederum sollten, so Roy, nicht in Industriearealen oder Hinterhöfen predigen, sondern in hellen, schönen Moscheen. Vorbildlich sei in diesem Zusammenhang Österreich, wo der Staat muslimische Gemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkennt. Roys Ausführungen werfen in der Tat ein schiefes Licht auf die Art und Weise, wie die Schweiz mit ihrer muslimischen Minderheit umgeht. Statt den „hellen, schönen Moscheen“, müssen sich die islamischen Glaubensgemeinschaften meist nach wie vor mit Industriearealen und Hinterhöfen zufrieden geben. Und die Diskussionen und Abstimmungen über Minarette, Burkas und Kopftücher zeigen, dass Vorurteile und Ressentiments gegenüber einer Minderheit, die immerhin fast sechs Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, immer noch weit verbreitet sind. Einverstanden, man muss dem Terrorismus den Nährboden entziehen. Aber nicht, indem man das weltweit schärfste Antiterrorgesetz etabliert und schon Zwölfjährige mit Fussfesseln herumlaufen lässt oder unter Hausarrest stellt. Viel besser wäre es, Formen des Zusammenlebens und des gegenseitigen Respekts aufzubauen, die ein Aufkommen extremistischer Tendenzen schon gar nicht erst aufkommen lassen. Prävention gegen Terrorismus ist gut und lebenswichtig. Aber wenn, dann richtig.

Agrarinitiativen: Eigentlich müsste man auch die Konsumentinnen und Konsumenten in die Pflicht nehmen

 

Man fordert von den Bäuerinnen und Bauern, möglichst umweltschonend und ohne chemische Hilfsmittel zu produzieren. Doch die Produktion ist nur ein Teil des Gesamtsystems. Ein anderer, mindestens so wichtiger Teil des Systems sind die Agro- und Lebensmittelkonzerne, die mit der Produktion und dem Handel mit Lebensmitteln ihre Gewinne erwirtschaften. Und schliesslich, als dritter Teil, die Konsumentinnen und Konsumenten. Was für ein Widerspruch: Der Landwirtschaft auferlegt man minutiöse Details bis hin zu geradezu Milliliter genauen Vorschriften, was, wann, wo und wie angepflanzt und geerntet werden darf. Gleichzeitig laufen die Konsumentinnen und Konsumenten sozusagen frei herum, können jederzeit ihre Produkte dort einkaufen, wo sie im Moment gerade am billigsten sind, können so viele Grillpartys schmeissen und so viel Fleisch auf ihre Teller türmen, wie sie nur wollen, können im Supermarkt die Früchte und das Gemüse, das nicht im Hochglanz erstrahlt und nicht perfekt geformt ist, auf dem Gestell liegen lassen, können Äpfel aus Südafrika und Neuseeland kaufen, nur weil sie ein bisschen billiger sind als die schweizerischen, und können sich den Luxus leisten, einen Drittel des Gekauften verschimmeln und ungeniessbar werden zu lassen. Ja, was für ein Widerspruch. Und das alles im Namen einer falsch verstandenen „Freiheit“, bei welcher der Konsument und die Konsumentin ganz zuoberst stehen und alle anderen ihnen zu dienen haben – mit fatalen Auswirkungen auf die Umwelt, auf die Arbeits- und Lebensbedingungen in den ärmeren Ländern und auf die Lebensbedingungen zukünftiger Generationen. Höchste Zeit, endlich auch die Konsumentinnen und Konsumenten in die Pflicht zu nehmen – bevor sich die heute noch so billigen Preise für Lebens- und Nahrungsmittel, die stets in verschwenderischer Fülle zur Verfügung stehen, in einen so hohen Preis verwandeln, dass wir ihn eines Tages vielleicht auch mit dem dicksten Portemonnaie nicht mehr werden bezahlen können.

„Entwicklungshilfe“ – nicht mehr als ein Tropfen auf einen heissen Stein…

 

Katja Gentinetta, politische Philosophin, berichtet in der „NZZ am Sonntag“ vom 16. Mai 2021 über die Tätigkeit der Stiftung Swisscontact in Entwicklungsländern. So wurde beispielsweise im Jahre 2020 nach elf Jahren Laufzeit ein mit 60 Millionen Dollar dotiertes, gross angelegtes Projekt zur Stärkung der Kakaobranche in Indonesien abgeschlossen. Im Verlaufe des Projekts wurden 165’000 Kakaobäuerinnen und Kakaobauern in 57 Distrikten aus zehn Provinzen geschult. Gegenstand der Schulungen waren Betriebswirtschaft, Buchhaltung, Farm-Management und Ernährungspraxis. Ausserdem wurde eine Datenbank aufgebaut, mit der die nachhaltige Produktion verfolgt und zertifiziert werden kann. Über 100’000 Kakaobäuerinnen und Kakaobauern wurden bereits auch von dritter Stelle zertifiziert. Die landwirtschaftliche Produktivität konnte um rund 20 Prozent gesteigert werden. Und die Zahl der Kakaobäuerinnen und Kakaobauern, die unterhalb der Armutsgrenze leben, konnte halbiert werden. „Das Projekt“, so Gentinetta, „ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass die Privatwirtschaft zur nachhaltigen Entwicklung in Entwicklungsländern beitragen kann.“ So erfreulich die Bilanz dieses Projekts auf den ersten Blick erscheinen mag, so viele offene Fragen stellen sich, wenn man das Ganze etwas kritischer unter die Lupe nimmt. Wenn rund 80’000 Kakaobauern und Kakaobäuerinnen nun nicht mehr unter der Armutsgrenze leben müssen, heisst das ja gleichzeitig, dass die anderen rund 80’000 immer noch unter der Armutsgrenze leben müssen und dies, obwohl 60 Millionen Dollar in das Projekt investiert wurden und die landwirtschaftliche Produktion um 20 Prozent gesteigert werden konnte. Dies zeigt, dass es sich bei alledem um reine Symptombekämpfung handelt. Die Kakaobäuerinnen und Kakaobauern werden zwar geschult, zertifiziert und in die Mechanismen des betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Denkens eingeführt, bis sie perfekt angepasst genau so funktionieren, wie der kapitalistische Weltmarkt dies von ihnen verlangt. Der eigentliche Skandal, der aber hinter allem steckt, wird nicht angepackt. Der Skandal, dass die Kakaobäuerinnen und Kakaobauern für ihre Arbeit viel zu wenig verdienen im Vergleich zu den multinationalen Konzernen, die mit dem Transport, dem Handel, der Verarbeitung und dem Verkauf der Schokolade ihre ganz grossen Milliardengeschäfte tätigen. Und das Geschäft mit dem Kakao und der Schokolade ist ja nicht das einzige Geschäft, das so funktioniert. Auch bei der Kaffeebohne, beim Palmöl, bei der Ananas, weiteren tropischen Früchten und zahllosen anderen Produkten, die in der „Dritten Welt“ gewonnen werden, überall dasselbe: Zuunterst die Plantagenarbeiter, die Gemüsepflückerinnen, die Erntehelfer, welche die schwerste, anstrengendste und gefährlichste Arbeit verrichten und dennoch fast nichts verdienen, während die Profite von unten nach oben in gleichem Masse zunehmen, wie die Schwere der Arbeit abnimmt. Da ist alles, was sich „Entwicklungshilfe“ nennt, lediglich ein winziger Tropfen auf einen riesigen heissen Stein, der Milliarden von Menschen in den Boden drückt: Allein die Schweiz erzielt im Handel mit Entwicklungsländern 48 Mal mehr Profit, als sie diesen Ländern in Form von Entwicklungshilfe wieder zurückgibt. Swisscontact und andere „Entwicklungshilfeorganisationen“ leisten zweifellos gute Arbeit, die vielen Menschen in armen Ländern das Leben ein wenig leichter machen kann. Noch zielführender aber wäre es, wenn sich diese Organisationen ebenso eifrig um den Aufbau einer neuen, nichtkapitalistischen Wirtschaftsordnung kümmern würden, in der Menschen nicht mehr bloss deshalb zu einem Leben in Armut verurteilt sind, weil sie jene Güter produzieren, mit denen sich die Menschen in den reichen Ländern das Leben schön machen und erst noch eine goldene Nase verdienen.  

Auch ohne Flugzeug lässt sich wunderbar reisen…

 

In einem Propagandavideo gegen das CO2-Gesetz, über welches in der Schweiz am 13. Juni 2021 abgestimmt wird, steht Camille Lothe, Präsidentin der Jungen SVP Kanton Zürich, auf einem Steg am Zürichsee, wo gerade ein Schiff ablegt. „Wir Jungen“, sagt Lothe, „wollen die Welt erkunden, neue Freundschaften schliessen und andere Länder kennen lernen.“ Doch wenn das CO2-Gesetz und damit eine neue Steuer von bis zu 120 Franken pro Flug angenommen werde, so Lothe, dann würde das Fliegen „für viele von uns, die nur ein kleines Budget haben, fast unmöglich“. Dabei, so Lothe, sollten doch alle die Chance haben, die Welt zu erkunden. Lothe verschweigt allerdings in ihrem Propagandavideo, dass ein Teil der Flugticketabgaben in der Höhe von 60 Franken pro Kopf und Jahr wieder an die gesamte Bevölkerung zurückverteilt werden soll. Und noch etwas verschweigt sie: Dass das Erkunden anderer Länder und die Begegnung mit Menschen anderer Kulturen und Sprachen sehr wohl auch möglich ist, ohne sich mit einem Flugzeug fortzubewegen. Ich erinnere mich an meinen ersten Sprachaufenthalt in England, im Alter von 18 Jahren. Unvergesslich sind mir heute noch die Überfahrt von Calais nach Dover, die Klippen an der südenglischen Küste, das Eintauchen in eine neue Welt, die erste Begegnung mit meiner Gastfamilie, die Faszination, welche die englische Sprache in mir auslöste, die begeisternden Vorlesungen an der Sprachschule, die ich besuchte. Weiter erinnere ich mich an eine Reise, die ich, zusammen mit einer Gruppe Jugendlicher, im Jahre 1976 unternahm. Wir hatten die verrückte Idee, vom Bodensee dem Rhein entlang und dann über die Alpen bis nach Bellinzona zu wandern, rund 300 Kilometer in zwei Wochen. Das stundenlange Wandern mit schweren Rucksäcken, die Vielfalt und der Wechsel der Landschaften, der Siedlungen und der Natur, das Übernachten im Heuschober, unter Garagendächern oder im Freien – all das wird mir für immer in Erinnerung bleiben. Und dann kam, zusammen mit meiner Frau, die Zeit der grossen Radtouren, jeden Sommer, quer durch die Schweiz, Deutschland und Frankreich. Allein über die Fahrt von der Neissequelle in Tschechien bis an die Ostsee könnte ich ein ganzes Buch schreiben. Mittlerweile bin ich über 71 Jahre alt und bereue es keinen Moment, nie in Amerika, Afrika, auf Bali oder auf den Malediven gewesen zu sein. Das Reisen mit dem Flugzeug, für viele von uns zur Selbstverständlichkeit geworden, ist kein Menschenrecht, sondern ein Privileg, von dem über 90 Prozent der Weltbevölkerung ausgeschlossen sind. Nicht Flugticketabgaben sollten unser Reiseverhalten steuern, sondern der gesunde Menschenverstand. Und dieser sagt uns, dass das Reisen mit dem Flugzeug zu reinen Privat- und Vergnügungszwecken auf diesem Planeten schlicht und einfach keine Zukunft hat. Zugegeben, der Umbau der Flugbranche wird äusserst schmerzlich und kostspielig sein. Aber die weltweiten Schäden, welche die Klimaerwärmung zur Folgen haben wird, werden tausend Mal schmerzlicher und kostspieliger sein. Vielleicht ist diese Erkenntnis selbst an der jungen SVP-Politikerin nicht ganz spurlos vorbeigegangen. Schliesslich steht sie in ihrem Propagandavideo nicht am Flughafen Kloten, sondern am Zürichsee. Und es gibt in der Schweiz noch weitere rund 1500 Seen. Wir müssten sehr, sehr lange leben, um sie alle kennenzulernen, uns an ihren Ufern zu tummeln, sie zu durchschwimmen, sie zu Fuss oder per Fahrrad zu umrunden. Ja, das Schöne liegt in nächster Nähe, man muss es nur sehen…