Lebensnotwendige Alternative zum „Freien Markt“: Auch Häuser und Brücken baut man nicht ohne Plan…

 

Gigantische Mengen an Fischen, die vor der westafrikanischen Küste gefangen und in chinesische Fischmehlfabriken transportiert werden, wo sie dann zu Futter für Lachse verarbeitet werden, die in norwegischen Aquakulturfarmen gezüchtet werden. Birnen, die in Argentinien geerntet, in Thailand verpackt und in den USA verkauft werden. Wein, der in Italien produziert, in die USA exportiert und später nach Deutschland transportiert wird, wo er billiger ist als der Wein, der auf direktem Weg von Italien nach Deutschland gelangte. Textilien, die in Bangladesch und anderen Billiglohnländern in so grosser Stückzahl hergestellt werden, dass nur etwas mehr als die Hälfte von ihnen überhaupt verkauft werden können und der Rest im Müll landet. Die Liste liesse sich beliebig verlängern, beispielhaft für eine Weltwirtschaft, die nicht nur in ökonomischer, sondern vor allem auch in sozialer und ökologischer Hinsicht ausser Rand und Band geraten ist. Und dies nur deshalb, weil niemand an diesem geradezu heiligen Dogma des „Freien Marktes“ zu rütteln wagt, wonach eben dieser „Freie Markt“ die einzige und beste Art und Weise sei, Produktion und Wirtschaftsabläufe zu regeln und die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen. Was für ein Unsinn. Der „Freie Markt“ folgt einem einzigen, die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen und der Natur zutiefst missachtenden Prinzip: Die Waren werden dort produziert, wo die Löhne am niedrigsten sind, und sie werden dort verkauft, wo die Menschen am meisten Geld haben, sie auch tatsächlich kaufen zu können. Mit dem Effekt, dass sich am einen Ende der Welt ein immer grösserer und sinnloserer Luxus anhäuft, während es am anderen Ende der Welt am Allernotwendigsten fehlt und Millionen von Menschen nicht einmal genug zu essen haben. Ob wir wollen oder nicht: Wenn wir das ändern wollen und wenn dieser Wahnsinn nicht noch immer weitere Blüten treiben soll, dann kommen wir nicht darum herum, das Dogma des „Freien Marktes“ radikal in Frage zu stellen und uns nach einer neuen, an den tatsächlichen Bedürfnissen von Mensch und Natur orientierten Wirtschaftsordnung umzusehen. Diese neue Wirtschaftsordnung wäre eine Art Planwirtschaft. Ich weiss, dass sich bei diesem Wort bei unzähligen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen die Haare aufstellen werden. Sie werden sogleich den Vergleich mit der Sowjetunion und anderen kommunistischen Staaten ins Feld führen und sie werden argumentieren, dass Planwirtschaft ein endgültig gescheitertes Wirtschaftsmodell sei. Doch Hand aufs Herz: Was ist grundsätzlich an einem Plan so schlecht? Jedes Haus und jede Brücke, die gebaut werden sollen, brauchen einen Plan. Jede Chirurgin und jeder Chirurg, der eine Operation vor sich hat, braucht einen Plan. Jeder Koch und jede Köchin brauchen, um ein Gericht zuzubereiten, einen Plan. Jeder Regisseur und jede Regisseurin, die ein Theaterstück auf die Bühne bringen wollen, brauchen einen Plan. Nur die Weltwirtschaft, das Grösste, Umfassendste und Komplexeste, was man sich nur vorstellen kann, soll ohne Plan auskommen? Nun, wie sähe eine solche moderne „Planwirtschaft“ aus? Im Gegensatz zur Freien Marktwirtschaft, die auf möglichst schrankenlose Ausbeutung von Mensch und Natur sowie auf grösst mögliche Gewinn- und Profitmaximierung ausgerichtet ist, wäre die neue „Planwirtschaft“ an einem möglichst sparsamen Umgang mit den natürlichen Ressourcen, an der Erfüllung der tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen und an der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen auch für kommenden Generationen orientiert. Konkret: Erstens gälte das Prinzip möglichst kurzer Wege zwischen den Orten der Produktion und den Orten des Konsums. Zweitens wären alle wirtschaftlichen Aktivitäten den Leitideen der Sozial-, der Umwelt- und der Zukunftsverträglichkeit unterworfen. Drittens wäre die neue „Planwirtschaft“ eine Wirtschaft „von unten“: Zunächst würden die Grundbedürfnisse befriedigt, und zwar über alle Grenzen hinweg; alle Menschen hätten genug zu essen, ein Dach über dem Kopf, ausreichende Kleidung, sauberes Trinkwasser, Zugang zu medizinischer Grundversorgung, Bildung und Kultur. Erst wenn alle diese Grundbedürfnisse befriedigt wären, bestünde der nächste Schritt darin, gewisse „Luxusgüter“ herstellen, aber stets in aufsteigender Folge: Erst wenn sich ausschliesslich alle Menschen ein gewisses „Luxusgut“ leisten könnten, würde die Produktion eines zusätzlichen, „nächst höheren“ Luxusgutes in Angriff genommen, dies alles freilich stets im Rahmen der Sozial-, Umwelt- und Zukunftsverträglichkeit. Gegner und Gegnerinnen einer neuen „Planwirtschaft“ werden ins Feld führen, dass dies das Ende jener Freiheit bedeuten würde, die wir heute mit dem Prinzip der „Freien Marktwirtschaft“ verbinden und die darin besteht, dass es Firmen und Unternehmen gänzlich freigestellt ist, an welchem Ort, zu welchen Bedingungen und zu welchem Preis welche Produkte auf den Markt geworfen werden. Doch um was für eine Freiheit geht es da eigentlich? Wenn diese Freiheit darin besteht, dass tonnenweise vor der westafrikanischen Küste gefangene Fische über Tausende von Kilometern nach China geschafft werden, um in Form von Fischfutter noch einmal über Tausende Kilometer wieder nach Norwegen transportiert zu werden, dann verzichte ich noch so gerne auf eine solche Freiheit. Und erst recht kann ich nichts anfangen mit der „Freiheit“, unsere Erde und die natürlichen Lebensgrundlagen materiellem Profit zuliebe dermassen auszuplündern, dass für kommende Generationen nicht einmal mehr das Allernötigste zum Überleben übrig bleiben wird. „Freier Markt“ oder „Neue Planwirtschaft“ – das ist nicht bloss ein Gedankenspiel. Es ist die Frage, ob wir Menschen auf diesem Planeten eine Zukunft haben werden oder nicht…

Alle, die wollten, könnten reich werden: Das Märchen, das bis auf den heutigen Tag weitererzählt wird…

 

Im Gratisblatt „20minuten“ vom 10. Mai 2021 werden die Lehrlingslöhne verschiedener Berufsgruppen miteinander verglichen. So etwa verdient eine Coiffeuse im ersten Lehrjahr zwischen 500 und 700 Franken und im dritten Lehrjahr zwischen 700 und 1000 Franken, während es beim Maurerlehrling 957 im ersten Lehrjahr und 1862 Franken im dritten Lehrjahr sind. Kommentiert werden diese Zahlen von Urs Casty, Gründer und Chef der Lehrstellenplattform Yousty. Er sagt: „Der Lohn sollte nicht im Vordergrund stehen. Wichtiger ist, dass die Lehre Spass macht. Und mit der Karriere und dem Lohn geht’s dann automatisch weiter. Denn man kann überall viel Geld verdienen, wenn man will.“ Aha, das alte Märchen vom Tellerwäscher, der zum Millionär geworden ist. Dieses Märchen, das sich längst als reine Illusion erwiesen hat. Erstaunlich, dass es heute immer noch „Fachleute“ gibt, welche sich an diesem Wunschdenken festklammern. Wer behauptet, alle, die wollten, könnten viel Geld verdienen, soll mal einer Verkäuferin, einer Coiffeuse, einer Krankenpflegerin, einem Koch oder einem Kehrichtmann erklären, was genau sie wollen und um wie viel mehr sie sich anstrengen müssten, um „viel Geld zu verdienen“. Die Antwort wird wahrscheinlich lauten, dass sie sich halt weiterbilden, Karriere machen und in der Berufshierarchie aufsteigen müssten. In dreifachem Sinne ein höchst fadenscheiniger und widersprüchlicher Lösungsvorschlag. Denn erstens gibt es nun mal nicht in jedem Berufszweig adäquate Aufstiegsmöglichkeiten. Zweitens haben nicht alle die zeitlichen und finanziellen Mittel, sich umfassend weiterzubilden. Und drittens wäre es ja auch gesamtgesellschaftlich alles andere als wünschbar, wenn alle, die schlecht bezahlte Tätigkeiten ausüben, „Karriere“ machen würden. Wer würde dann noch unsere Haare schneiden, wer würde unsere Strassen bauen, wer würde die Gestelle im Supermarkt auffüllen, wer würde unsere kranken und betagten Menschen pflegen? Nein, der eigentliche Skandal besteht nicht darin, dass zu wenige  Menschen Karriere machen und in der Berufshierarchie so lange aufsteigen, bis sie endlich einen anständigen Lohn haben. Der eigentliche Skandal besteht darin, dass sich Millionen werktägiger Menschen, die Tag für Tag anspruchsvollste und härteste Arbeit leisten, dennoch mit Löhnen abfinden müssen, die bis zum Dreihundertfachen kleiner sind als jene der am meisten Verdienenden. Dabei ist der kleine Lohn und all die damit verbundenen finanziellen Einschränkungen nur das Eine. Das Andere ist, dass dies alles nur zu oft noch mit dem Gefühl verbunden ist, an der misslichen Situation selber Schuld zu sein. Denn, wie schon wieder sagte es Urs Casty – und so wie er denken und argumentieren auch unzählige andere, die sich in den obersten Etagen der Einkommenspyramide befinden -: Es könne ja jeder, wenn er wolle, reich sein. Was im Klartext nichts anderes heisst: Wer arm ist, der ist eben selber Schuld. Wie viel Aufklärung und wie viel Zeit braucht es wohl noch, bis diese verheerende Lüge aus der Welt geschafft ist und die heute so eklatanten Lohnunterschiede zwischen „oben“ und „unten“ endlich der Vergangenheit angehören?

Der Kapitalismus wird nur in den Köpfen und den Herzen der Menschen, die hier und heute leben, überwunden – oder aber er wird überhaupt nicht überwunden

 

Eine junge Politaktivistin fordert anlässlich einer Kundgebung zum Tag der Arbeit die „Zerstörung des Kapitalismus“. Und B., der sich ebenfalls seit Jahren mit den Auswüchsen des kapitalistischen Wirtschaftssystems beschäftigt, meint, der Kapitalismus werde niemals „gewaltlos“ seine Herrschaft aufgeben – was im Klartext heisst, dass er also nur mittels Gewalt überwunden werden könne. Zugegeben, der Kapitalismus ist selber eine Form von Gewalt. Gewalt, welche die Reichen gegenüber den Armen ausüben. Gewalt in Form von materiellem Überfluss in den reichen Ländern, während weltweit eine Milliarde Menschen hungern. Gewalt, welche weltweit Milliarden von Arbeiterinnen und Arbeitern dazu zwingt, unter menschenunwürdigen Bedingungen zu schuften und dennoch nur einen kleinen Teil dessen zu verdienen, was ihre Arbeit eigentlich Wert wäre. Gewalt, welche eine auf endloses Wachstum und unbeschränkte Profitmaximierung fixierte Wirtschaft gegenüber der Natur verübt und heute schon die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zu zerstören droht. Dennoch wäre es zweifellos der falsche Weg, dieser kapitalistischen „Systemgewalt“ eine antikapitalistische „Gegengewalt“ entgegenzustellen. Ganz im Gegenteil: Die herrschende Systemgewalt kann nur überwunden werden, wenn ihr als radikale Gegenutopie die absolute Gewaltlosigkeit entgegengestellt wird. Denn so viel sollten wir aus der Geschichte gelernt haben: Der gewaltsame Sturz des französischen Königtums im 18. Jahrhundert führte bloss zu einer erneuten Schreckensherrschaft, nur dass die, die vorher unten waren, nun oben waren, und umgekehrt. Nicht viel anders die russische Oktoberrevolution, die unvermittelt in eine neue Diktatur mündete und den eben gerade erwachten Traum von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit jäh im Nichts erstickte. Ganz anders politische Bewegungen, die sich am Prinzip der Gewaltlosigkeit orientierten: Mahatma Gandhis berühmter „Salzmarsch“, der 1947 in der Unabhängigkeit Indiens von Grossbritannien gipfelte, und die von Martin Luther King zwischen 1955 und 1965 angeführte amerikanische Bürgerrechtsbewegung, welche zur Aufhebung der Rassentrennung in den USA führte und zur Erteilung des Stimm- und Wahlrechts an die gesamte schwarze Bevölkerung. Es mag naiv klingen, aber es geht kein Weg an der Gewaltlosigkeit vorbei. Eine neue Gesellschaft kann nicht gegen die Menschen, sondern nur mit ihnen verwirklicht werden. Und da müssen wir nicht einmal von einer Zukunft träumen, die in weiter Ferne liegt: Die Überwindung des Kapitalismus hat schon längst begonnen, nur haben es viele noch gar nicht gemerkt. Die weltweite Klimabewegung, getragen von vorwiegend jungen Menschen, „Black Lives Matter“, die Frauenbewegung und weltweit zahlreiche weitere kleinere und grössere Bewegungen für Menschenrechte, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Solidarität, aber auch das Ergebnis einer vom Kommunikationsbüro Edelman durchgeführten Umfrage, wonach 55 Prozent der Deutschen den Kapitalismus als eher „schädlich“ als „nützlich“ bezeichnen – dies alles sind doch die besten Zeichen dafür, dass schon unglaublich vieles in Bewegung gekommen ist und wir nun einfach nicht aufgeben dürfen, nur weil uns alles immer noch viel zu langsam geht. Echter Wandel braucht eben seine Zeit, die Veränderung in den Köpfen und der Herzen der Menschen erfolgt nicht auf Knopfdruck und von heute auf morgen. Zu tief hat sich der Kapitalismus mit all seinen Widersprüchen in unser Denken und Fühlen hineingefressen, es bedarf einer Riesenanstrengung, um alle diese Verkrustungen und Verhärtungen wieder abzulegen und den eigentlichen Kern unseres Seins wieder freizulegen, diese unendliche Sehnsucht nach Liebe und Gerechtigkeit, die wir alle als Kinder noch uns getragen hatten. Der Kapitalismus wird nicht auf irgendwelchen Schlachtfeldern, nicht durch Strassenschlachten oder Gewehrkugeln überwunden. Der Kapitalismus wird nur in den Köpfen und den Herzen der Menschen, die hier und heute leben, überwunden – oder aber er wird überhaupt nicht überwunden.

1. Mai 2021 in St. Gallen: Und es liegt so etwas wie ein bisschen revolutionäre Stimmung in der Luft…

 

An diesem nasskalten 1. Mai 2021 haben sich bei der Grabenhalle in St. Gallen rund 500 Menschen eingefunden, um an einer Kundgebung zum traditionellen Tag der Arbeit teilzunehmen. Viele bunte Fahnen, Transparente, eine gute Stimmung, auffallend viele sehr junge Menschen, Vertreterinnen und Vertreter von Gewerkschaften, Linksparteien und Ausländerorganisationen. Auf dem Zug durch die Altstadt werden lautstark antikapitalistische Parolen skandiert, revolutionäre Stimmung liegt in der Luft, endlich, nach so langen coronabedingten Monaten des Schweigens. Zum Abschluss der Kundgebung: Mehrere Reden junger Frauen, eindringlich, leidenschaftlich, mitreissend. Es geht um faire Löhne, um die Gleichberechtigung der Frauen, um das Abstimmungs- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer, um finanzielle Unterstützung für all jene, die von der Coronapandemie besonders betroffen sind, um eine gerechtere Verteilung von Einkommen und Vermögen, um möglichst rasche und wirksame Massnahmen gegen den Klimawandel, um die Überwindung des Kapitalismus. Zugleich finden Kundgebungen zum Tag der Arbeit auch in Bern, Zürich und anderen Städten statt. Zugegeben, es sind keine Massenaufmärsche. Aber es sind Brennpunkte, an denen sich der Wind inmitten einer Zeit, in der es leider an weitergehenden Visionen ganz und gar mangelt, behutsam in eine neue Richtung zu drehen beginnt. Wäre dies alles für die Medien nicht ein gefundenes Fressen? Doch als ich am nächsten Tag meine Sonntagszeitungen lese, finde ich bloss zwei kleine Randnotizen zu den Kundgebungen vom 1. Mai, mit dem Hinweis, die Anlässe seien „weitgehend friedlich“ verlaufen. Keines, aber auch kein einziges Wort über die sozialpolitischen Forderungen, von denen an diesem Tag die Rede war, und auch kein einziges Wort über all jene Visionen und Träume von einer besseren, gerechteren und friedlicheren Welt, die gerade in einer so schweren Zeit wie der unsrigen umso lebenswichtiger wären. Haben die Medien an diesem Tag geschlafen? Hätten die jungen Menschen, statt Parolen zu skandieren, Lieder zu singen und Reden zu halten, Autos anzünden und Fensterscheiben einschlagen sollen? Wäre ihnen dann wohl mehr Beachtung geschenkt worden? Man kann, wie in Deutschland, Kundgebungen am 1. Mai verbieten. Man kann sie aber auch totschweigen. Das kommt fast aufs selbe heraus…

„Trinkwasserinitiative“ und „Pestizidinitiative“: Damit Menschen, Tiere und Natur wieder ins Gleichgewicht gelangen

 

Die „Trinkwasserinitiative“, über die am 13. Juni 2021 abgestimmt wird, verlangt, dass künftig nur noch Landwirtschaftsbetriebe Subventionen oder Direktzahlungen erhalten, die auf den Einsatz von Pestiziden verzichten und ohne prophylaktischen Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung auskommen. Zudem sollen die Betriebe ihre Tiere ausschliesslich mit betriebseigenem Futter versorgen. Die „Pestizidinitiative“, über welche ebenfalls am 13. Juni 2021 abgestimmt wird, will den Einsatz synthetischer Pestizide in der landwirtschaftlichen Produktion, in der Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse und in der Boden- und Landschaftspflege verbieten. Auch der Import von Lebensmitteln, die synthetische Pestizide enthalten oder mit solchen produziert wurden, soll verboten werden. Zwei Initiativen, die auf den ersten Blick zweifellos vollumfänglich einleuchten, fordern sie doch nichts weniger als eine Landwirtschaft, die im Einklang mit der Natur, dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und dem Wohl von Menschen und Tieren steht. Und doch erwächst den beiden Initiativen von allen möglichen Seiten Widerstand, vorab vom Schweizerischen Bauernverband, den bürgerlichen Parteien, der Economiesuisse und dem Gewerbeverband. Und sogar „Bio Suisse“, der Dachverband der Schweizer Knospe-Betriebe, lehnt zumindest die eine der beiden Initiativen, nämlich die „Trinkwasserinitiative“, ab. Das lässt sich nur so erklären, dass wir uns eben schon längst nicht mehr in einer kleinen, „heilen“ Welt befinden, in der auf natürliche Weise das Wohlergehen von Mensch, Tier, Pflanze und Natur aufs engste miteinander verknüpft sind. Nein, jeder noch so kleine Landwirtschaftsbetrieb, ob in der Schweiz, in Australien oder in Südafrika, ist Teil eines globalen Systems, in dem eben nicht das Wohlergehen von Menschen, Tieren und der Natur an erster Stelle stehen, sondern der grösstmögliche materielle Profit. Das alles führt dazu, dass in Brasilien jeden Tag riesige Waldflächen abgeholzt werden, damit die Menschen in den USA und in Europa täglich ihr Stück Fleisch auf dem Teller haben. Es führt dazu, dass in den reichen Ländern des Nordens Früchte und Gemüse, die aus fernen Ländern importiert werden, billiger sind als jene, die im eigenen Land produziert werden. Es führt dazu, dass auf grossen Farmen in Kanada und Australien immer schwerere Erntemaschinen zum Einsatz gelangen, so dass auf den Böden mit der Zeit überhaupt nichts mehr wachsen kann. Es führt dazu, dass mithilfe von Pestiziden weit grössere Mengen an Nahrung herausgepresst werden, als die Erde unter natürlichen Bedingungen hervorbringen würde, Nahrung, die dann auf einen Weltmarkt geworfen wird, auf dem die Preise im gegenseitigen Konkurrenzkampf ins Bodenlose gedrückt werden. Es führt dazu, dass in den reichen Ländern so viele Überschüsse produziert werden, dass rund ein Drittel aller Lebensmittel im Müll landen, während gleichzeitig weltweit eine Milliarde Menschen hungern. Es führt dazu, dass die natürlichen Lebensgrundlagen in einer Art und Weise bedroht und zerstört werden, dass die Menschen in 40 oder 50 Jahren vielleicht überhaupt nichts mehr zu essen haben. Nicht der einzelne Boden hier oder dort ist krank. Nicht nur die Art und Weise, wie wir mit Tieren umgehen, ist krank. Das ganze System ist krank. Die Produktion von Nahrungsmitteln hat nicht dem Kapital, nicht den materiellen Interessen und nicht der Gewinnmaximierung multinationaler Konzerne zu dienen, sondern einzig und allein dem Wohl der Menschen, der Tiere, der Natur und dem Lebensbedürfnis zukünftiger Generationen. Deshalb ist die Stossrichtung der „Trinkwasserinitiative“ und der „Pestizidinitiative“ goldrichtig. Man kann sich nur wünschen, dass an unzähligen anderen Orten weltweit ähnliche Initiativen entstehen, damit das, was in unserer heute so „verrückt“ gewordenen Welt noch als „übertrieben“, „unrealistisch“ und „weltfremd“ erscheinen mag, eines Tages das Normalste und Selbstverständlichste ist, was man sich nur vorstellen kann, und damit es möglichst bald zu dem kommt, was die Klimabewegung schon lange fordert, nämlich zu einem radikalen „System Change“, in dem all das, was bis heute auseinandergerissen wurde, wieder ins Gleichgewicht gelangt. 

Entweder werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben oder als Narren miteinander untergehen…

 

Der Impfstoff gegen das Coronavirus wurde bisher höchst ungleich verteilt: Von 900 Millionen injizierten Dosen sind bisher nur gerade 0,3 Prozent an Menschen in Ländern mit niedrigen Einkommen verabreicht worden. Die soziale Kluft zwischen den reichen Ländern des Nordens und den armen Ländern des Südens geht also auch in der Zeit der Coronapandemie gnadenlos weiter. Und doch hat sich etwas zutiefst geändert: Früher konnten die reichen Länder des Nordens die Früchte des Südens – vom Erdöl und Edelmetallen über Tropenfrüchte, Kaffee und Kakao bis zu Edelholz, Elektrogeräten und Textilien – ungestört geniessen und sich daran bereichern. Den süssen Früchten auf dem Gestell des Supermarkts sah niemand die Leiden und die Schmerzen der Arbeiterinnen und Arbeiter an, welche diese Früchte geerntet hatten. An keinem Computer und an keinem Smartphone klebte der Schweiss jener Arbeiterinnen und Arbeiter, welche die zur Herstellung dieser Geräte notwendigen Metalle aus dem Boden geschürft hatten. Kein T-Shirt und kein Paar Schuhe war durchtränkt von den Tränen der Frauen, die bis zur Erschöpfung, oft unter Schlägen ihrer Aufseher und für einen Hungerlohn, der kaum zum Leben reichte, in den Textilfabriken Indiens oder Bangladeshs geschuftet hatten, um alle diese begehrten und schönen Dinge herzustellen. Man konnte fein säuberlich alles voneinander trennen, hier die Konsumglitzerwelt des Nordens, dort Elend und Hunger. Hier wachsender Reichtum, dort wachsende Armut. Hier Golfplätze und Naturparadiese, dort verbrannte Erde, Stürme und überflutete Meeresküsten. Das Coronavirus hat diese Grenze zwischen dem sichtbaren Reichtum des Nordens und der unsichtbaren Armut des Südens aufgelöst. Konnte sich die Kaffeebohne auf ihrem Weg vom Süden in den Norden aus einem Produkt von Ausbeutung und Hungerlohn in einen wohlschmeckenden Espresso verwandeln, so behält das Virus auf seinem Weg über die Grenzen hinweg seine ganze tödliche Gefährlichkeit. Konnten wir früher vor dem von uns selber verursachten Elend die Augen verschliessen, so geht das heute nicht mehr. Und es ist ja nicht nur die Coronapandemie. Auch die Folgen des Klimawandels werden über alle Grenzen hinweg immer deutlicher spürbar. Und auch das Flüchtlingselend an der Grenze zwischen reichen und armen Ländern appelliert immer dringender an unsere gemeinsame Verantwortung und die Tatsache, dass keines der grossen Zukunftsprobleme bloss innerhalb nationalstaatlicher Grenzen zu lösen ist, sondern dass wir alle miteinander auf einer Erde leben, auf der wir, wie es Martin Luther King sagte, „entweder als Brüder und Schwestern überleben oder als Narren miteinander untergehen.“ Oder, wie es der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt formulierte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Neues CO2-Gesetz: Das wäre höchstens ein kleiner Anfang…

 

Das neue CO2-Gesetz, über das am 13. Juni 2021 abgestimmt wird, will mit der Einführung einer Flugticketabgabe, einer Erhöhung der Abgaben auf Benzin, Gas und Erdöl, tieferen CO2-Zielwerten für Gebäude und Gebäudesanierungen, der Förderung umweltfreundlicherer Autos, der Unterstützung klimafreundlicherer Technologien und der Errichtung eines Klimafonds einen wesentlichen Beitrag zur Reduktion der CO2-Immissionen und zum Klimaschutz leisten. Kritiker und Kritikerinnen des Gesetzes führen unter anderem das Argument ins Feld, die vorgesehenen Abgaben und Gebühren, die eine Reduktion schädlicher Emissionen bezwecken, führten zu einer einseitigen Benachteiligung der „kleinen“, schlecht verdienenden Leute. So kämen auf eine Durchschnittsfamilie jährliche Mehrkosten von 1000 Franken zu, gewisse Flugdestinationen wären für Leute mit kleinerem Portemonnaie nicht mehr erschwinglich, der Handwerker, der zu seiner Kundschaft täglich weite Strecken zurückzulegen habe, könne die Kosten für das teurere Benzin kaum mehr berappen und hohe Auflagen bei Gebäudesanierungen wie auch Neubauten würden sich zuletzt wiederum auf die Mietkosten der „einfachen“ Leute überschlagen. Argumente, die – auch wenn man ein noch so überzeugter Verfechter wirkungsvoller Klimaschutzmassnahmen ist – nicht ganz von der Hand zu weisen sind. Tatsächlich sind Abgaben und Gebühren, die – wie zum Beispiel auch die Krankenkassenprämien – für alle gleich und ohne Rücksicht auf die individuellen sozialen und materiellen Verhältnisse erhoben werden, zweifellos höchst ungerecht. Fällt für Gutverdienende eine Erhöhung von Abgaben und Gebühren nämlich kaum ins Gewicht, bedeuten sie für die weniger gut Verdienenden oft überaus einschneidende und schmerzliche Eingriffe in ihr Haushaltsbudget. Etwas überspitzt könnte man sagen: Die „kleinen“ Leute sollen sich gefälligst um den Klimaschutz kümmern – indem sie sowieso schon weniger konsumieren, die Umwelt weniger belasten und nun durch weitere Abgaben und Gebühren zusätzliche Opfer erbringen sollen -, während die „grossen“ Leute weiterhin mit ihren SUVs über die Autobahnen rasen, ihre Swimmingpools im Sommer und im Winter aufheizen und nicht nur einmal, sondern gleich drei oder vier Mal pro Jahr um die halbe Welt fliegen. Zwar würde gemäss dem vorliegenden CO2-Gesetz ein Teil der geleisteten Abgaben über einen Klimafonds wieder an die Bevölkerung zurückfliessen, was zu einer gewissen ausgleichenden Gerechtigkeit führen würde. Doch die Tatsache, dass die „grossen“ Leute weiterhin nach Lust und Laune ihren umweltbelastenden Vergnügungen und Aktivitäten frönen könnten, ist damit nicht aus der Welt geschafft. Um dies zu verhindern, müsste man sämtliche Gebühren und Abgaben so massiv erhöhen, dass sich dann die „kleinen“ Leute überhaupt gar nichts mehr leisten könnten. Müsste man aufgrund dieser Überlegungen nun also besser das neue CO2-Gesetz ablehnen? Nein, denn wir können schlicht und einfach nicht tatenlos zuschauen, wie sich unser Klima von Jahr zu Jahr weiter aufheizt und die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen immer bedrohlicher auf dem Spiel stehen. Das heisst: Trotz aller Unzulänglichkeiten ist es unbedingt nötig, im Sinne eines ersten kleinen Schrittes diesem CO2-Gesetz zuzustimmen. Doch wird es, um die Klimakatastrophe abzuwenden, nicht genügen, Flugtickets und Benzinpreise ein wenig zu erhöhen, die Entwicklung klimafreundlicherer Autos und Technologien ein wenig zu fördern und Ölheizungen durch Wärmepumpen zu ersetzen. Es braucht viel, viel mehr. Es braucht nicht weniger als eine grundlegende philosophische Auseinandersetzung mit dem Sinn des Lebens. Was brauche ich, um glücklich zu sein? Worauf könnte ich verzichten? Was könnte ich mit wem teilen? Was ist der Wert einer Reise? Ist es erstrebenswert, so schnell wie möglich von A nach B zu kommen? Ist das Billigste immer das Beste? Können das, was ich heute geniesse, auch die Menschen in anderen Ländern und zu späteren Zeiten geniessen? Oder verprasse ich etwas, was ich anderen dadurch vorenthalte? Würden wir uns immer wieder mit solchen Fragen auseinandersetzen und unsere Lebensweise dementsprechend verändern, dann bräuchte es so etwas wie dieses neue CO2-Gesetz vielleicht gar nicht mehr. Weil wir nämlich genug vernünftig geworden wären, freiwillig und ohne äusseren, gesetzlichen Zwang hier und heute so zu leben, dass noch möglichst viele zukünftige Generationen auf diesem Planeten ein gutes und schönes Leben haben können… 

 

 

 

Was spricht gegen einen EU-Beitritt der Schweiz?

 

Je länger je mehr erweist sich das Rahmenabkommen als Kartoffel, die bei jedem Hin- und Herschieben zwischen der EU und der Schweiz immer noch heisser und ungeniessbarer wird. Wäre es nicht an der Zeit für einen grundsätzlichen Marschhalt? Wäre nicht der Zeitpunkt gekommen, um über einen EU-Beitritt der Schweiz noch einmal möglichst unvoreingenommen und vorurteilsfrei nachzudenken? Faktisch ist ja die Schweiz schon längst ein Teil Europas: Über 50 Prozent aller aus der Schweiz ausgeführten Waren gehen in EU-Mitgliedsländer, während die Schweiz gar drei Viertel aller importierten Waren aus der EU bezieht. Aber auch im Gesellschaftlichen, Kulturellen, in Technik, Wissenschaft, Bildung und Forschung sind die gegenseitigen Verflechtungen immens. Als vor rund 30 Jahren das Schweizer Volk – notabene nur mit einer hauchdünnen Mehrheit von 50,3 Prozent – einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum ablehnte, war die Welt noch eine andere. Damals glaubte man noch, jedes Land könne seine politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen für sich alleine bewältigen. Heute wissen wir, dass dies längst nicht mehr der Fall ist. Sicher, die Schweiz ist mit ihrem Alleingang bisher ganz gut gefahren, sonst gehörte sie wohl nicht zu den reichsten Ländern der Welt. Aber gut gefahren ist sie eben nur in einem ganz eigennützigen Sinn des Wortes: Sie hat es, nicht nur in Bezug auf Europa, sondern auch in Bezug auf alle anderen Länder, mit denen sie ihre Geschäfte treibt, meisterhaft verstanden, immer ein bisschen mehr zu nehmen als zu geben, ganz der akribische Buchhalter, der die Schweiz seit dem Aufkommen des Kapitalismus immer schon gewesen ist. Höchste Zeit für eine neue Perspektive: Die Schweiz als Mitglied der EU, endlich in der Rolle dessen, der nicht nur nimmt, sondern auch gibt. Und das nicht bloss wirtschaftlich. Mit ihrer kleinräumigen Basisdemokratie, ihrem reichen Kulturleben, ihrem Erfindergeist, ihren starken öffentlichen Institutionen und Infrastrukturen und der dualen Berufsbildung hat die Schweiz so viele Trümpfe in der Hand, dass es nachgerade verschwenderisch ist, diese nicht auch anderen zugute kommen zu lassen. Zwar behaupten einige, mit einem EU-Beitritt würde die Schweiz ihre Souveränität aufgeben. Tatsache ist, dass die Schweiz sowohl das basisdemokratische Instrument der Initiative wie auch jenes des Referendums beibehalten könnte. Andere behaupten, die Schweiz müsste ihre Neutralität aufgeben. Wie Österreich und Schweden zeigen, entspricht auch dies nicht den Tatsachen. Ebenso wenig wie die Behauptung, der Schweizer Franken würde im Falle eines EU-Beitritts durch den Euro ersetzt – Dänemark und Schweden beweisen das Gegenteil. Seltsamerweise ist die EU-Diskussion seit Jahren ein Tabu. Als hätte man eines Tages sämtlichen Befürworterinnen und Befürwortern eines EU-Beitritts den Mund zugeklebt und seither ist nichts mehr von ihnen zu hören. Wer hat eigentlich ein so grosses Interesse daran, dass man über ein so wichtiges Thema tödliches Stillschweigen bewahren muss? Man muss sich ja nicht gleich als Befürworter, als Befürworterin eines EU-Beitritts zu erkennen geben. Aber mindestens müsste man breit, öffentlich und ohne ideologische Scheuklappen darüber diskutieren dürfen. Das wäre doch unserer Demokratie, auf die wir angeblich allesamt so stolz sind, dringendst würdig.  

 

Frauenquoten sind gut und recht – aber es gibt noch andere Bevölkerungsgruppen, die auf ihre Gleichberechtigung warten

 

Die neuen, anfangs April 2021 verabschiedeten publizistischen Leitlinien des Schweizer Fernsehens verlangen, dass bei Nachrichten- und Diskussionssendungen „genderneutral und diskriminierungsfrei berichtet“ werden müsse. Explizit heisst es: „Wir streben bei Expertinnen und Experten ein ausgeglichenes Verhältnis an, Zielgrösse ist 50:50.“ Während die SVP eine solche Geschlechterquote ablehnt, wird sie unter anderen von der SP-Nationalrätin Edith Graf-Litscher begrüsst. Sie findet es richtig, dass das Schweizer Fernsehen „die Gesellschaft in ihrer Vielfalt abbildet.“ Doch was ist mit „Vielfalt“ hier ganz genau gemeint? Es fällt auf, dass, wenn es um die „Vielfalt“ der Gesellschaft geht, damit fast immer nur eine gleichberechtigte Vertretung von Frauen gemeint ist. Doch die Gesellschaft setzt sich nicht nur aus Frauen und Männern zusammen, sondern auch aus „Alten“ und „Jungen“, aus „Gebildeten“ und so genannt „Ungebildeten“, aus Menschen mit einheimischen Wurzeln und solchen mit einem Migrationshintergrund. Um die Vielfalt der Gesellschaft wirklich angemessen abzubilden, müssten daher nicht nur Frauenquoten, sondern auch „Jugendquoten“, „Arbeiterquoten“ und „Ausländerquoten“ eingeführt werden. Erste zaghafte Schritte bei der vermehrten Berücksichtigung von Ausländerinnen und Ausländern sind, nicht zuletzt auf Druck der entsprechenden Interessenverbände, festzustellen. Von einer „Jugendquote“ sind wir allerdings noch himmelweit entfernt, nur selten sind in einem „Club“ oder einer „Arena“ des Schweizer Fernsehens 16- oder 18jährige Jugendliche anzutreffen – es sei denn, es gehe in der betreffenden Sendung explizit um das Thema Jugend. Während auf der einen Seite schon das Stimm- und Wahlrecht für Sechzehnjährige diskutiert wird, verschliessen sich nicht nur das Fernsehen, sondern auch die meisten übrigen Medien dem Potenzial Jugendlicher weitgehend hartnäckig. Dabei sind sie es, die Jugendlichen, die als Erwachsene in jener Welt leben werden, die wir heute weitgehend über ihre Köpfe hinweg aufbauen. Eine Riesenchance wird damit vertan, sind es doch genau die Jugendlichen, die uns mit ihrer Phantasie, ihrer Kreativität und ihrem offenen, freien Denken die Augen öffnen können dafür, unsere heutigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Herausforderungen auf neue, unkonventionelle Weise anzupacken. Und erst recht zu kurz kommen all jene Menschen, die man als so genannt „ungebildet“ zu bezeichnen pflegt. Es fällt auf, dass in Nachrichten- und Diskussionssendungen vor allem so genannte „Expertinnen“ und „Expertinnen“ auftreten, bei denen es sich in aller Regel um akademisch Gebildete handelt. Wer hätte in einem „Club“ oder einer „Arena“ schon mal eine „einfache“ Verkäuferin oder einen „einfachen“ Bauarbeiter gesehen? Damit aber werden 90 Prozent der Bevölkerung schon mal zum vornherein ausgeschlossen, und dies, obwohl genau diese 90 Prozent der Bevölkerung aufgrund ihrer reichen täglichen Lebens- und Berufserfahrung an der Basis der Gesellschaft auch in jeder noch so „hochkarätigen“ Gesprächsrunde ausserordentlich viel zu sagen hätten und vielleicht auch das eine oder andere Votum einer so genannt „gebildeten“ Person relativieren oder zumindest wertvoll ergänzen könnten. „Frauenquoten“ sind gut und recht. Aber wir sollten es darob nicht versäumen, auch all jenen anderen Bevölkerungsgruppen, die in der öffentlichen Berichtserstattung bisher zu kurz gekommen sind, mehr Raum zu geben. Nicht nur mit dem Ziel, vorgegeben Quoten zu erfüllen, sondern vor allem mit dem Ziel, ein Riesenpotenzial an Erfahrungen, Ideen und Phantasie für die Bewältigung zukünftiger Herausforderungen zu nutzen, das uns sonst verschlossen bliebe. 

Alle schreien nach Bildung – was aber wäre, wenn es eines Tages tatsächlich nur noch Akademikerinnen und Akademiker gäbe?

 

Weltweit wird Bildung als wirksamstes Mittel im Kampf gegen die Armut propagiert. Auch in den „entwickelten“ Ländern des Nordens ist der Leitsatz „Je höhere Bildung, umso besseres Leben“ weitgehend unbestritten. Doch zu Ende gedacht, würde dies bedeuten, dass eines Tages weltweit jeder Mensch über einen „höheren“ oder gar akademischen Bildungsgrad verfügen würde. Ein Zustand, den man sich wohl nicht ernsthaft herbeiwünschen kann. Denn wer, wenn es dereinst nur noch Akademiker und Akademikerinnen gäbe, würde dann noch unsere Häuser bauen? Wer würde unsere Nahrungsmittel anbauen und ernten? Wer würde unser Brot backen? Wer würde all die unzähligen Gegenstände des täglichen Gebrauchs herstellen und wer würde sie von Stadt zu Stadt über unsere Strassen transportieren? Wer würde unsere Kleider nähen? Wer würde unsere Alten und Kranken pflegen? Wer würde unsere Kanäle und Wasserschächte reinigen? Wer würde im Winter den Schnee beiseite räumen? Wer würde die Spitäler, die Hotels, die Bürogebäude, die Kaufhäuser und die Fabrikhallen putzen? Wer würde unsere Haare schneiden? Wer würde die Gestelle in den Supermärkten auffüllen? Wer würde unsere Autos herstellen und sie, wenn sie kaputtgegangen sind, reparieren? Wer würde in den Hotels und den Restaurants für uns kochen und uns bedienen? Verfügten alle Menschen über eine so genannte „höhere“ Bildung, würden unsere gesamte Wirtschaft und Gesellschaft augenblicklich wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen. Die Beseitigung bestehender Benachteiligungen und Ungleichheiten infolge angeblich „fehlender“ oder „mangelhafter“ Bildung kann niemals darin liegen, dass immer mehr Menschen eine „höhere“ Bildung anstreben. Sie muss vielmehr darin liegen, dass allen Menschen, egal welche berufliche Tätigkeit sie ausüben, die gleiche gesellschaftliche Wertschätzung und damit in letzter Konsequenz auch die gleiche Entlohnung zustehen müssen. „Bildung“ wäre dann nicht mehr, wie dies heute der Fall ist, bloss ein Mittel zum Zweck, ein Sprungbrett zu einer angenehmeren und besser bezahlten Arbeit. Bildung wäre nichts anderes als die permanente Vervollkommnung der Fähigkeiten, die sich jemand in seiner persönlichen Tätigkeit im Verlaufe seines Lebens nach und nach erwirbt. Eine so „gebildete“ Krankenpflegerin und ein so „gebildeter“ Maurer verfügen über eine nicht weniger wertvolle „Bildung“ als jene, über die eine Ärztin oder ein Rechtsanwalt verfügt. Bildung wäre dann so gesehen nicht mehr das Privileg Einzelner gegenüber anderen, sondern das Recht jedes Einzelnen und jeder Einzelnen auf die Anerkennung und Vervollkommnung ihrer individuellen Begabungen und damit auf ihren einzigartigen, unersetzlichen Beitrag zum Gelingen des Ganzen.