Reinigungsfachmann P.: Wie eine Zitrone, die man bis zum Letzten auspresst und dann einfach fortwirft

P., so berichtet der „Tages-Anzeiger“ am 1. März 2021, steckt in einem Teufelskreis. Der 63jährige Spanier arbeitete während mehreren Jahren als Reinigungsfachmann. Im Januar 2020 wechselte er seine Stelle, doch als kurz darauf die Coronapandemie ausbrach, wurde ihm noch in der Probezeit gekündigt. Er meldete sich beim RAV und erhält nun monatlich 2300 Franken. Auf alle Bewerbungen erhielt er bisher nur Absagen. Bereits beginnt sich ein Schuldenturm anzuhäufen. Doch den Gang aufs Sozialamt möchte P. vermeiden, ist ihm doch aus seinem Umfeld davon abgeraten worden: Ausländerinnen und Ausländer könnten, wie man immer wieder höre, auf einer schwarzen Liste landen, den Aufenthaltsstatus verlieren oder gar des Landes verwiesen werden. – Da kommt mir unweigerlich die Zitrone in den Sinn, die bis zum Letzten ausgepresst wird und die man dann, wenn sie leer ist, einfach fortwirft. Zwar wird immer wieder gesagt, wie dankbar Ausländerinnen und Ausländer sein müssten, wenn sie hier in der Schweiz eine Arbeitsstelle fänden, gutes Geld verdienen und von guten Sozialleistungen profitieren könnten. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit besteht nämlich darin, dass diese „grosszügige“ Schweiz mindestens so dankbar sein muss, wenn es Ausländer wie P. gibt, die meist zu bescheidenen Löhnen all jene Arbeiten verrichten, für welche man Schweizerinnen und Schweizer schon gar nicht mehr finden würde.

Die gleiche einseitige Sicht der Dinge – dass Menschen „froh“ und „dankbar“ sein müssen, arbeiten zu „dürfen“ – zeigt sich auch in den Begriffen „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“. Als handle es sich bei den „Arbeitgebern“ um besonders grosszügige Menschen und Firmen, welche etwas verschenken, von dem andere, eben die Beschäftigten, profitieren würden. Aber ist es nicht gerade umgekehrt? Sind es nicht vor allem die „Arbeitgeber“,  die von den bestehenden Arbeitsverhältnissen den grössten Nutzen ziehen? All ihre Macht und all ihr Geld würden in nichts zerfliessen, wenn es nicht genügend Menschen gäbe, deren zu bescheidenem Lohn geleistete Arbeit sich unaufhörlich in das wachsende Geld und die Profite der Unternehmen verwandelt. Müsste man nicht sogar diese Begriffe ins Gegenteil verkehren? Wer ist es denn, der die Arbeit „gibt“, und wer ist es, der sie „nimmt“? Tatsächlich sind es doch die „Arbeitnehmer“, die etwas „verschenken“ – ihre Kraft, ihr Wissen, ihre Begabungen, ihre Leidenschaft, ihre Zeit, ihre Geduld, oft auch ihre Gesundheit -, und sind es nicht die „Arbeitgeber“, die von alledem „beschenkt“ werden und erst noch mit einer grösseren Menge Geld dafür belohnt werden, sich auf Kosten anderer zu bereichern?

Dass überhaupt jemand auf die Idee kommt, Menschen, die uns jahrelang ihre Arbeitskraft „geschenkt“ und satte Gewinne ihrer Firmen erwirtschaftet haben, nun von einem Tag zum anderen des Landes zu verweisen, lässt sich wohl nur damit erklären, dass wir offensichtlich noch meilenweit davon entfernt sind, zur kapitalistischen Logik von Ausbeutung und Profitmaximierung einen radikalen Gegenentwurf  der Menschlichkeit, Solidarität und sozialen Gerechtigkeit zu erdenken und aufzubauen.

Nicht die Armen müssen sich ihrer Armut schämen, sondern die Reichen ihres Reichtums…

Der heutigen „Sonntagszeitung“ vom 28. Februar 2021 liegt das grossformatige Hochglanzmagazin „encore“ bei. Auf 41 Seiten wird die ganze Welt der Schönen und Reichen ausgebreitet: die zehn schönsten Golfplätze Europas in paradiesischen Landschaften, eine Anti-Aging-Crème für 115 Franken, ein modulares Sofasystem, aufgebaut in einer marmornen, tempelartigen Wandelhalle, ein Buch über den Luxusdesigner Aldo Cipullo für 200 Franken, ein Fernsehschirm für 80’000 Franken, der sich auf Knopfdruck in ein Wandbild verwandelt, das neueste Modell der Mercedes-S-Klasse, vorgeführt von zwei eleganten Ladys, Luxushotels in Bolivien, perlenförmig aneinandergereiht, gleich einem Mondcamp in eine Lagune hinausgebaut und mit hölzernen Stegen miteinander verbunden, eine nautische Uhr für 35’000 Franken, neueste Trendmode im Pilotenlook mit allem dazugehörenden Accessoire…

Versetzen wir uns für einen Moment in eine alleinerziehende Verkäuferin, die mit ihrem kargen Lohn Monat für Monat kaum über die Runden kommt. Stellen wir uns vor, sie hat sich heute ausnahmsweise mal die „Sonntagszeitung“ gekauft und dann auch das Magazin „encore“ durchgeblättert. Was wird sie sich bei diesem Blick in eine ferne, für sie wohl für immer unerreichbare Welt wohl gedacht haben? Hat sie sich vielleicht sogar ein klein wenig schuldig gefühlt? Schuldig, dass sie eben „nur“ Verkäuferin ist und für ihr Kind und für sich selber auf so vieles verzichten muss, was sich andere problemlos leisten können, von einem Fernsehgerät für 80’000 Franken, einer Uhr für 35’000 Franken und von Hotelferien in einer bolivianischen Lagune gar nicht erst zu reden.

Ja. Arm sein ist an sich schon schwer genug. Aber arm sein in einer Welt, in der viele andere in unsäglichem Luxus schwelgen, ist noch ungleich viel schwerer. Vergessen wir nicht: Wer sich ein Fernsehgerät für 80’000 Franken leisten kann, hat in aller Regel sein Geld nicht wirklich aus eigener Kraft verdient. Seinen übertriebenen Reichtum hat er grösstenteils vielleicht geerbt oder er besitzt Immobilien, die er möglichst gewinnbringend vermietet, oder er ist Aktionär eines florierenden Unternehmens, so wie die 16 Familienmitglieder der Roch-Erben Hoffmann und Oeri, die 2020 729 Millionen Franken an Dividenden „verdient“ haben. Es gibt viele Wege, um reich zu werden. Aber übertriebener Reichtum ist immer, früher oder später, auf was für verschlungenen Wegen auch immer, eine Form von Diebstahl an öffentlichem Gut. Während die meisten, die ein Leben lang „nur“ arbeiten und keine Gelegenheit haben, auf anderen Wegen zu Reichtum zu gelangen, meist bis an ihr Lebensende arm bleiben.

Es ist in der Tat eine verkehrte Welt: Eigentlich müssten sich die Reichen ihres Reichtums schämen – weil sie nämlich anderen etwas weggenommen oder vorenthalten haben. In der Logik des Kapitalismus aber ist es genau umgekehrt. Nicht die Reichen schämen sich ihres Reichtums, sondern die Armen schämen sich ihrer Armut und machen sich nicht selten noch Selbstvorwürfe. Das zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass viele Bedürftige auf Sozialhilfegelder, auf die sie Anspruch hätten, freiwillig verzichten, weil sie eben nicht offiziell als „arm“ gelten möchten. Während die Reichen in aller Regel ihren Reichtum stolz zur Schau tragen – ihr neues Auto blitzblank poliert durch die Stadt spazieren fahren, in allen Tönen vom Besuch im Opernhaus schwärmen und Bilder von der Südseeinsel an die ganze Verwandtschaft und Bekanntschaft verschicken.

Übertriebener Reichtum und übertriebene Armut sind die beiden Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Gesellschaft. Nicht nur das Postulat der sozialen Gerechtigkeit erfordert eine Umkehr des Bisherigen, sondern auch die Bedrohungen durch den Klimawandel: Übertriebener Luxus auf Kosten anderer – seien es Menschen, sei es die Natur – hat schlicht und einfach keine Zukunft. Zukunft hat einzig und allein eine Gesellschaft, in der Reichtum und Wohlstand gleichmässig auf alle Bürgerinnen und Bürger verteilt sind und Hochglanzmagazine wie „encore“ mit Uhren für 35’000 Franken und Fernsehgeräten für 80’000 Franken hoffentlich für immer der Vergangenheit angehören.

Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen: Die fragwürdige Unterscheidung zwischen“erklärbaren“ und „unerklärbaren“ Gründen

 

Frauen verdienen durchschnittlich immer noch rund 20 Prozent weniger als Männer. Gewerkschaften und Frauenorganisationen fordern seit Langem gleichen Lohn für gleiche Arbeit – bis anhin offensichtlich ohne Erfolg. Dabei wird in der Argumentation selbst von jenen Kreisen, die gleichen Lohn für gleiche Arbeit fordern, stets zwischen „erklärbaren“ und „unerklärbaren“ Lohndifferenzen unterschieden. „Erklärbare“ Gründe seien zum Beispiel die berufliche Stellung, die Ausbildung und die Branche. Diese „erklärbaren“ Grunde würden 54,5 Prozent sämtlicher vorhandener Lohndifferenzen sozusagen rechtfertigen, womit dann die eigentliche Diskriminierung „nur“ noch bei rund zehn Prozent liege. 

Diese Unterscheidung zwischen „erklärbaren“ und „unerklärbaren“ Gründen erscheint mir äusserst fragwürdig und beschönigend. Denn für ein objektives Bild müsste man nicht nur Männer- und Frauenlöhne innerhalb der gleichen Branche miteinander vergleichen, sondern man müsste auch die Löhne in typischen Männerberufen mit jenen in typischen Frauenberufen miteinander vergleichen. Logisch, hat eine Serviceangestellte nicht die gleiche berufliche Stellung wie ein Informatiker. Auch war ihre Ausbildungszeit weit kürzer als jene des Informatikers. Und ja, sie arbeiten in total verschiedenen Branchen. Aber ist das alles genug Rechtfertigung dafür, dass der Informatiker zwei bis drei Mal so viel verdient wie die Serviceangestellte? Das gleiche Bild ergibt sich, wenn wir eine Krankenpflegerin mit einem Chirurgen vergleichen, eine Detailhandelsangestellte mit dem Abteilungschef eines Supermarkts oder eine Kitaangestellte mit einem Universitätsdozenten. Und erst recht krass wird es, wenn wir an einen der typischsten Frauenberufe denken, nämlich den Beruf der Hausfrau, in dem zwar überdurchschnittlich viel gearbeitet, aber rein gar nichts verdient wird… 

Dass in typischen Frauenberufen so viel weniger verdient wird als in typischen Männerberufen, ist Ausdruck einer gewaltigen systembedingten Diskriminierung der Frauen und dürfte auf keinen Fall unter dem Vorwand „erklärbarer“ Lohnunterschiede weggesteckt werden. In Tat und Wahrheit beträgt die tatsächliche Diskriminierung der Frauen nicht weniger, sondern viel, viel mehr als jene 20 Prozent, die wir der Statistik entnehmen. Gerechtigkeit wird nicht schon an jenem Tage erreicht sein, an dem eine Informatikerin gleich viel verdient wie ein Informatiker. Gerechtigkeit wird erst an jenem Tage erreicht sein, an dem eine Coiffeuse gleich viel verdient wie ein Versicherungsbeamter, eine Krankenpflegerin gleich viel wie ein Chefarzt, eine Kitaangestellte gleich viel wie ein Hochschuldozent und eine Verkäuferin gleich viel wie der CEO eines multinationalen Konzerns. Denn es werden zwar alle möglichen und unmöglichen Argumente für bestehende Lohnungleichheiten zwischen den verschiedenen beruflichen Tätigkeiten ins Feld geführt, Tatsache aber ist, dass es, damit Gesellschaft und Wirtschaft funktionieren können, sämtliche Berufe braucht und alle aufeinander angewiesen und voneinander abhängig sind und es daher nicht einzuleuchten vermag, weshalb nicht auch alle, die an allen Ecken und Enden ihren Beitrag zum Gelingen des Ganzen leisten, den gleichen Anteil am Kuchen bekommen sollten, den alle miteinander gebacken haben.

Postangestellte im Dauerstress: Als wären es Hochleistungssportler

23,3 Prozent mehr Pakete, so meldet der „Tages-Anzeiger“ am 22. Februar 2021, hat die Post 2020 im Vergleich zum Vorjahr ausgeteilt. Und da sind die Pakete, welche von privaten Zustellern wie UPS, DPD und DHL transportiert werden, noch nicht einmal mitgezählt. Doch nicht nur die Zahl der Pakete hat zugenommen, sondern auch die Grösse und das Gewicht. Zunehmend werden Elektrogeräte und Möbelstücke bestellt, ganze Batterien von Weinflaschen, Sportgeräte wie Hanteln und vieles mehr. Das bleibt nicht ohne körperliche Auswirkungen auf die Paketzusteller: Immer mehr von ihnen leiden insbesondere unter Rücken- und Kreuzschmerzen. „Ich habe mich kürzlich an einem Hantelpaket verhoben und hätte wohl eigentlich eine Pause einlegen sollen“, berichtet einer von ihnen, „doch ich war dermassen unter Zeitdruck, dass das einfach nicht drin lag.“ Ein anderer berichtet, er schleppe regelmässig Pakete, die über der Suva-Grenze von 25 Kilogramm lägen, so hätte er zum Beispiel einmal ein Paket von 43 Kilogramm zustellen müssen. Es gibt zwar gewisse Hilfsmittel wie zum Beispiel Handwagen, doch der Zeitdruck, dem nicht nur die Mitarbeitenden der Post, sondern vor allem auch jene der privaten Anbieter ausgesetzt sind, ist so gross, dass diese Hilfsmittel nicht immer zum Einsatz kommen. Es stellt sich dann die Frage: „Mache ich heute lieber nur zwei Stunden Überzeit, die oft sowieso nicht bezahlt wird, und mache mir so den Rücken kaputt, oder arbeite ich drei Stunden mehr und schone dafür meinen Körper?“

Während die Post wenigstens einem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt ist, herrscht bei den privaten Anbietern der reinste Wildwuchs: Unbezahlte Überstunden sind hier die Regel. Am schlimmsten geht es jenen Angestellten, die über Subunternehmen bei der DPD angestellt sind. Die Liste der Klagen von Betroffenen ist lang und reicht von Unregelmässigkeiten bei Löhnen, Spesen, Arbeitszeiten, Nachtarbeit bis zu Überwachung, Gesundheitsschutz, Fahrzeugsicherheit und Verletzung von Gewerkschaftsrechten.

Welcher Teufel hat eigentlich die politisch Verantwortlichen angetrieben, welche am 1. Januar 1998 den damaligen Staatsbetrieb der PTT zerschlagen haben und dem liberalisierten Wildwuchs, der sich seither entwickelt hat, Tür und Tor geöffnet haben? Vorher bildeten die Mitarbeitenden der Postbetriebe eine Gemeinschaft, zusammengehalten von gleichen Rechten und Sicherheiten für alle. Heute finden sie sich wieder auf dem Schlachtfeld eines gegenseitigen Konkurrenzkampfs, und sind unerbittlichem Zeitdruck um Tausendstelsekunden unterworfen, als handle es sich um Hochleistungssportler. Da mutet das aktuelle Angebot der Post, Mitarbeitenden die Gelegenheit zu Massagen, zu Physiotherapie und zum Zugang zu Krafträumen zu ermöglichen, geradezu lächerlich an. Besser würden sie sich darum kümmern, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass die körperlichen Probleme schon gar nicht erst auftreten. Aber eben, das geht ja nicht, denn wenn der eine Anbieter gegenüber seinen Angestellten nur ein bisschen grosszügiger ist als die anderen, verliert er sogleich einen Teil seiner Kundschaft an diese – ein Teufelskreis, in dem immer jener die Oberhand hat, der aus seinen Angestellten am meisten herauspresst und ihnen die wenigsten Rechte und Sicherheiten zubilligt.

Es wird zwar oft gesagt, man könne das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. Doch was spricht dagegen, aus gemachten Fehlern zu lernen und noch einmal an den Punkt zurückzukehren, an dem das ganze Unheil begonnen hat? Schliesslich hat es die britische Regierung auch geschafft, die Privatisierung der Eisenbahn rückgängig zu machen, als sich erwiesen hatte, dass es an allen Ecken und Enden nicht funktionierte. Kaum vorzustellen, was für ein Segen das wäre: Post, UPS, DPD und DHL würden sich zu einem staatlichen Monopolbetrieb zusammenschliessen mit gleichen Rechten, Schutz, Sicherheit und Arbeitsbedingungen für alle. Im Gleichschritt mit der wachsenden Zahl von Paketen würde auch die Zahl der Angestellten schrittweise erhöht, was in Anbetracht der grossen Zahl Stellenloser kein Problem sein dürfte. Kein einziger Mitarbeiter müsste alleine und ohne Hilfe Pakete mit einem Gewicht von 30 oder 40 Kilogramm aus seinem Fahrzeug stemmen und möglicherweise noch mehrere Stockwerke hochtragen – immer sässe auf dem Fahrzeug ein weiterer Mitarbeiter und jeder von den beiden trüge nur die halbe Last. Überstunden gäbe es auch keine mehr, denn der Personalbestand würde eben laufend den Anforderungen der Kundschaft angepasst und wenn ein Paket halt mal statt heute erst morgen ausgeliefert würde, bräche ja deswegen auch nicht die Welt zusammen.

Das ist die Grundfrage: Lassen wir es weiterhin zu, dass bloss Firmenleitungen, Konzernchefs und Aktionäre jene Entscheide fällen, die dann in letzter Konsequenz die an der Basis tagtäglich arbeitenden Menschen betreffen, oder müssten wir nicht Verhältnisse schaffen, in denen jene, die an der Basis arbeiten, auch selber darüber entscheiden, welches die Bedingungen dieser von ihnen verrichteten Arbeit sein sollen. Hierzu braucht es noch viel mehr als Gewerkschaften, die immer nur punktuelle einzelne kleine Verbesserungen erstreiten können. Es braucht ein neues Denken. Eine neue Philosophie. Eine neue Kultur, um aus gemachten Fehlern zu lernen und damit die Chance zu eröffnen, es in Zukunft besser zu machen.

Mosaiksteine einer neuen Welt

 

Drei Mosaiksteine einer neuen Welt habe ich in der heutigen „NZZ am Sonntag“ vom 21. Februar 2021 entdeckt. Der erste Mosaikstein ist eine Änderung der Bau- und Zonenordnung der Stadt Hamburg, welche zukünftig den Bau von neuen Eigenheimen verhindern soll, dies vorab aus ökologischen und aus Platzgründen. Mindestens so interessant wie diese vor wenigen Jahren noch undenkbare Bauzonenänderung ist der von der „NZZ am Sonntag“ gesetzte Titel dieses Artikels: Dieser Titel lautet nicht etwa „Weltfremde Utopisten“ oder „Grüne Fundis setzen Hauseigentümern das Messer an den Hals“, sondern, man staune: „Das Einfamilienhaus – heiss geliebtes Auslaufmodell.“ Der zweite Mosaikstein ist das soeben erschienene Buch „Wie wir die Klimakatastrophe verhindern“ von Bill Gates. In diesem Buch vergleicht Bill Gates den Klimawandel mit einer Badewanne, die sich langsam, aber stetig durch einen lediglich tropfenden Hahn füllt, irgendwann überschwappt und alles überflutet. Ein drastisches Bild, dementsprechend drastisch dann auch die Massnahmen, die Bill Gates zur Verhinderung des Klimawandels vorschlägt. Und der dritte Mosaikstein sind die unlängst von der schweizerischen Landesregierung herausgegebenen „Ernährungsempfehlungen“, wonach man noch höchstens zweimal bis dreimal pro Woche Fleisch essen solle, jeweils maximal 100 bis 120 Gramm. Dies wäre zwar, unter dem Aspekt eines konsequenten Klimaschutzes, immer noch viel zu viel, aber doch wenigstens zweieinhalb Mal weniger als die Menge Fleisch, die im Jahre 2020 konsumiert wurde. Noch vor wenigen Jahren wäre eine solche Empfehlung durch den Bundesrat undenkbar gewesen. Drei Mosaiksteine, die aufhorchen lassen, die Anlass zu Hoffnung geben, die zeigen, dass an vielen Orten, oft im Kleinen und oft nur zaghaft, aber dennoch spürbar die Dinge in Bewegung gekommen sind. Noch sind zwar die Widerstände enorm. „Die Leute sollen essen, wozu sie Lust haben“, sagt etwa SVP-Nationalrat Mike Egger. Er will sich doch sein hart erarbeitetes Stück Fleisch nicht verbieten lassen. Und erst recht wenn es ans Auto geht, ans Einfamilienhaus, an die Ferienreise in die Südsee, an die Reise mit dem Kreuzfahrtschiff: Wer will sich denn schon all das, wofür er ein halbes Jahr lang hart gearbeitet hat, klauen lassen. Doch was klauen wir, die so tun, als gehörte die Erde uns ganz allein, was klauen wir all jenen Milliarden von Menschen, die noch nicht einmal geboren sind? Aktivisten und Aktivistinnen der Klimabewegung wird oft vorgeworfen, sie würden sich „antidemokratisch“ verhalten. Doch tatsächlich trifft das Gegenteil zu: Es geht ganz und gar nicht darum, die Demokratie einzuengen oder gar abzuschaffen. Im Gegenteil: Es geht darum, die Demokratie auszuweiten – auszuweiten auf all jene Generationen, die nach uns kommen werden und die auch in 20, 50 oder 100 Jahren auf einer Erde leben möchten, die allen ihren Bewohnerinnen und Bewohnern, Menschen, Tieren und Pflanzen, ein gutes Leben ermöglichen wird. Sie alle, hätten sie schon heute als Ungeborene ein politisches Stimmrecht, sie alle würden noch die radikalsten Forderungen der Klimabewegung befürworten und sich mit allzu zaghaften, halbherzigen Massnahmen und Kompromissen ganz und gar nicht zufrieden geben. Mosaiksteine einer neuen Welt sind gut und wichtig. Aber es muss der Tag kommen, an dem solche Mosaiksteine nicht mehr seltene Ausnahmen sind, sondern mit vielen, vielen anderen Mosaiksteinen zusammen ein von Grund auf anderes Bild ergeben, das Bild einer neuen Welt.

Schweizerische Ausländer- und Flüchtlingspolitik: Nein, die Erde ist keine Kugel, sie ist eine Pyramide…

 

Gemäss Artikel 30 des schweizerischen Ausländergesetzes kann ein Kanton einer ausländischen Person die Aufenthaltsbewilligung erteilen, wenn es um „erhebliche fiskalische Interessen“ geht – sprich, wenn die betreffende Person so reich ist, dass ihr Aufenthalt in der Schweiz mit genug erheblichen Steuereinnahmen verbunden ist. Das lassen sich gutbetuchte Ausländerinnen und Ausländer nicht zwei Mal sagen: Total 34 chinesische Staatsangehörige, so berichtet der „Tages-Anzeiger“ am 16. Februar 2021, kamen in den vergangenen vier Jahren in die Schweiz. Insgesamt leben zurzeit 352 Ausländerinnen und Ausländer mit einer solchen Sondererlaubnis in der Schweiz. Sie stammen aus China, Russland, Saudi-Arabien, den USA und Brasilien. Um wen es sich dabei handelt, bleibt geheim. Angaben zu den Personen, die von diesem Sonderstatus profitieren, werden von den zuständigen Behörden mit dem Hinweis auf das Steuergeheimnis und den Datenschutz zurückgehalten. Unwillkürlich wandern meine Gedanken zum Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos, wo rund 8000 Menschen in notdürftigen Behausungen leben. Das neue Lager, so berichtet die Entwicklungsorganisation Oxfam, sei noch schlimmer, als das abgebrannte Lager von Moria gewesen sei. Manche der Zelte seien nur 20 Meter vom Meer entfernt und böten keinen Schutz vor starkem Wind und Regen. Es fehle an Heizungen. Essen gebe es meist nur einmal am Tag und sei zudem von schlechter Qualität. Auch gäbe es kaum sanitäre Anlagen mit fliessendem Wasser, so dass viele Lagerbewohner sich im Meer waschen müssten. Ausserdem fehle es an einem Abwassersystem. Aufgerüttelt von diesen unmenschlichen Verhältnissen, haben sich inzwischen mehrere Schweizer Städte bereiterklärt, eine gewisse Anzahl von Flüchtlingen von der Insel Lesbos aufzunehmen. Doch sie erhielten von der Justizministerin Karin Keller-Sutter die Antwort, dass es hierfür „keine rechtliche Grundlage“ gäbe und das Asylwesen Sache des Bundes sei. Dass die Erde keine Scheibe ist, auf der sich die Menschen aller Länder auf Augenhöhe begegnen, wissen wir schon längst. Sie ist aber auch keine Kugel. Sie ist eine Pyramide, an deren oberstem Ende die Reichen und Reichsten sitzen, und auf deren Stufen gegen unten die Menschen immer ärmer und ärmer werden. Während den Reichen und Reichsten aller Länder weltweit alle Türen offenstehen und sie sich völlig „legal“ von Land zu Land, von Luxushotel zu Luxushotel, von Kreuzfahrtschiff zu Kreuzfahrtschiff bewegen können, endet die Reise der Armen und Ärmsten auf der Flucht vor Hunger, Krieg und Verfolgung an Stacheldrahtzäunen, meterhohen Betonmauern und an einem schweizerischen Gesetzbuch. Einem Gesetzbuch, das gleichzeitig Reichen und Reichsten aus aller Welt Unterschlupf gewährt, ganz unabhängig davon, auf was für „legalen“ oder „illegalen“ Wegen sie ihren Reichtum erworben haben. In solchen Momenten fehlen einem dann plötzlich einfach die Worte…

 

Erst wenn der Kapitalismus verschwunden ist, wird auch die Kinderarbeit verschwinden

 

Fast alle Staaten der Welt, so das „Tagblatt vom 13. Februar 2021, hätten sich mit der Agenda 2030 der UNO auf das Ziel geeinigt, jegliche Form der Kinderarbeit bis 2015 abzuschaffen. Um dieses Ziel zu erreichen, müsse allerdings noch viel geschehen: Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation IAO seien weltweit immer noch 218 Millionen Kinder zwischen fünf und 17 Jahren von Kinderarbeit betroffen. – Erstaunlich ist, dass zwar zahlreiche internationale Organisationen, Politiker und Politikerinnen und sogar die Mehrheit der multinationalen Konzerne übereinstimmend die Abschaffung der Kinderarbeit fordern, dass aber niemand ernsthaft die Frage stellt, welches denn die eigentlichen Ursachen der Kinderarbeit sind. Dabei liegen diese doch auf der Hand: Kinder müssen überall dort arbeiten, wo ihre Eltern nicht genug Geld verdienen, um eine Familie ernähren zu können. Kein Vater und keine Mutter lässt ihr Kind arbeiten mit dem Ziel, ihm Schaden zuzufügen. Sie tun es nur deshalb, weil die wirtschaftlichen Verhältnisse sie dazu zwingen und sie ohne den Lohn des Kindes nicht überleben könnten. Somit wäre das einfachste Mittel zur Abschaffung der Kinderarbeit, weltweit allen Menschen existenzsichernde Löhne auszurichten. Doch damit sind wir schon beim nächsten Knackpunkt. Würde die Firma A auf der Plantage B oder in der Mine C ihren Arbeiterinnen und Arbeitern existenzsichernde Löhne zahlen, so würden die Produkte, die Nahrungssmittel oder die Rohstoffe, die sie herstellen oder zutage befördern, so teuer, dass sie sie nicht mehr verkaufen könnten, Firma A würde Pleite machen und alle ihre Arbeiterinnen und Arbeiter wären arbeitslos. Wir befinden uns eben nicht in einer heilen, gerechten, menschenfreundlichen Welt. Wir befinden uns im globalen Kapitalismus, der aufs engste mit einem permanenten, sich laufend noch verschlimmernden, buchstäblich mörderischen Preiskampf verbunden ist. In diesem globalen System der Ausbeutung von Mensch und Natur, des ungebrochenen Glaubens an ein immerwährendes Wachstum und des gegenseitigen Konkurrenzkampfs über alle Grenzen hinweg bilden die Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Plantagen und in den Minen des Südens die schwächsten, verletzlichsten Glieder. Dabei müsste es doch, wenn schon, genau umgekehrt sein. Ob Schokolade, Kaffee, tropische Früchte, Kobalt oder Palmöl: Die eigentliche Schwerarbeit ganz unten, ohne die sämtliche Lieferketten über den Transport, die Vermarktung bis hin zum Verkauf in den Supermärkten des Nordens und die unsäglichen Gewinne der Aktionäre multinationaler Konzerne augenblicklich in sich zusammenbrechen würden, diese Schwerarbeit müsste eigentlich, als Basis von allem, nicht am schlechtesten, sondern, im Gegenteil, am besten bezahlt sein. Anzuklagen sind daher nicht nur all jene multinationalen Konzerne, welche aus der Ausbeutung von Mensch und Natur ihre Gewinne erzielen. Anzuklagen ist vor allem das kapitalistische System weltweiter Ausbeutung, in der sich das Elend, der Schweiss und die Tränen der Menschen des Südens unaufhörlich in das Gold des Nordens verwandeln. Ohne Überwindung des Kapitalismus bleiben all die schönen Worte für eine bessere und gerechtere Welt reine Illusion. Nicht nur Ausbeutung, Hunger und Armut, sondern auch die Kinderarbeit wird erst dann verschwinden, wenn auch der Kapitalismus verschwunden ist.

IV und Sozialhilfe: Und wo bleibt die soziale Gerechtigkeit?

 

„IV drängt Wenigverdiener in die Sozialhilfe ab“ – so titelt der heutige „Tages-Anzeiger“ vom 8. Februar 2021: „Anspruch auf eine Rente der IV hat nur, wer wegen gesundheitlicher Beeinträchtigungen mit einem mindestens 40 Prozent tieferen Einkommen leben muss. Dies macht sich die IV zunutze, wie Recherchen zeigen. Sie rechnet bei ihren Rentenentscheiden mit Löhnen für Hilfsarbeiten, die auf dem Arbeitsmarkt gar nicht bezahlt werden. Das ist vor allem für Menschen ein Problem, die schon vor der Invalidität wenig verdient haben. Viele haben keine Chance auf eine Rente und landen bei der Sozialhilfe.“ Eigentlich ist es absurd: Eigentlich müssten Menschen, die in ihrer beruflichen Tätigkeit über Jahre ihr Bestes gaben und dabei auch ihre Gesundheit aufs Spiel setzten, im Falle einer Erkrankung oder eines Unfalls ganz besonders rücksichtsvoll behandelt werden und sogar so etwas wie ein Schmerzensgeld bekommen. In der Realität aber ist genau das Gegenteil der Fall. Verunfallte oder erkrankte Berufsleute werden bestraft, indem sie nun entweder, wenn sie „Glück“ haben, einer schlechter bezahlten, einfacheren Tätigkeit nachgehen, oder aber, wenn sie Pech haben, überhaupt keine Arbeit mehr finden und früher oder später in der Sozialhilfe landen. Ganz so, als wären sie an ihrer misslichen Lage selber Schuld und müssten sich halt nun wohl oder übel damit abfinden, auf ihren früheren Lebensstandard zu verzichten. Gewiss, wir sind weit entfernt von früheren Zeiten, als sich Menschen, die keiner geregelten Arbeit nachgehen konnten, mit Betteln oder irgendwelchen Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten mussten. Wir haben, glücklicherweise, ein soziales Netz, das niemanden fallen lässt. Und trotzdem: Ist es nicht höchst ungerecht, wenn Menschen, nur weil sie das Pech hatten, infolge einer besonders schweren Arbeit oder anderer schlechter äusserer Umstände krank zu werden oder einen Unfall zu erleiden, zeitlebens damit bestraft werden, am alleruntersten Rand der Gesellschaft zu leben? Ob es die IV-Rente ist oder das Sozialhilfegeld: Die betroffenen Menschen müssen auf hunderterlei Annehmlichkeiten verzichten, die für den Rest der Gesellschaft selbstverständlich sind, vom Kinobesuch über das auswärts Essen bis hin zur jährlichen Ferienreise. Das einzige wirklich Gerechte wäre ein Einheitslohn: Ausschlaggebend wäre nicht mehr der soziale Status, der mit einer bestimmten beruflichen Tätigkeit verbunden ist. Ausschlaggebend wäre der geleistete Aufwand, die investierte Leistung. Wenn ein körperbehinderter Hilfsgärtner mit vollem Einsatz eine Stunde lang Pflanzen gesetzt, Unkraut gejätet und Sträucher geschnitten hat, dann hat er, in Bezug auf sein vorhandenes Potenzial, eine ebenso grosse Leistung erbracht wie die Ärztin, die sich eine Stunde lang voller Empathie um ihre Patienten und Patientinnen gekümmert hat. Und so müssten eigentlich beide für diese Stunde auch genau den gleichen Lohn bekommen, tragen sie doch beide das Beste, was in ihren Kräften liegt, zum Gelingen des Ganzen bei und haben somit beide das Anrecht auf einen gleich hohen Lebensstandard. Bleibt aber die Frage, wie denn mit jenen Menschen umzugehen sei, die überhaupt keine, auch keine schlechte, Arbeitsstelle finden. Nun, auch das ist wiederum kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem. Die Arbeitswelt müsste schlicht und einfach so organisiert sein, dass es für jeden Menschen eine ihm gemässe berufliche Tätigkeit gibt, eine Arbeitswelt also, die nicht von oben bestimmt ist, von der Gewinnsucht und den Profitansprüchen von Konzernen, sondern von unten, von den Menschen mit all ihren Begabungen, ihrem Potenzial und ihren Leidenschaften. IV-Renten, Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe, das mag ja alles gut und recht sein, tatsächlich aber handelt es sich bei alledem um reine Symptombekämpfung in einer Welt, die immer noch meilenweit von echter sozialer Gerechtigkeit und einem guten Leben für alle entfernt ist.

Wenn man den Reichtum bekämpft, dann verschwindet die Armut ganz von selber

 

Schweizer Fernsehen SRF1, 4. Februar 2021, Dokumentarfilm „Die Schere – Der Graben zwischen Arm und Reich“. Eindrücklich werden eine alleinerziehende Mutter, eine Mittelstandsfamilie und ein Unternehmer, der zu den 300 reichsten Schweizern gehört, porträtiert. Das Fazit: Die Schere zwischen Arm und Reich war schon vor der Coronakrise gross und hat sich im Verlaufe der Pandemie noch weiter vergrössert. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer im Verlaufe des Jahres 2020 noch einmal um 7 Milliarden Franken reicher geworden sind und nun insgesamt 709 Milliarden Franken besitzen, eine Summe, die genügen würde, den Gotthardbasistunnel nicht weniger als 58 Mal zu bauen! „Wer keine Aktien und keine Immobilien hat, der schaut in die Röhre“, sagt der Unternehmer. Tatsächlich: Die Reichsten der Reichen sind vor allem deshalb so reich, weil sie viel geerbt haben oder sich mittels Aktien oder dem Besitz von Immobilien bereichern konnten. An dieser Stelle hätte der Film allerdings noch um einiges weiter in die Tiefe gehen können. Denn dass es Arme und Reiche gibt und die Reichen immer reicher werden, während die Armen arm bleiben oder sogar noch ärmer werden, das ist alles andere als ein Zufall. Es ist die unausweichliche und logische Folge des kapitalistischen Geld- und Wirtschaftssystems, das auf einer permanenten Umverteilung des Reichtums von den Arbeitenden zu den Besitzenden beruht. Die Armen sind deshalb so arm, weil die Reichen so reich sind – und umgekehrt. Denn das Geld wächst weder auf Bäumen, noch findet man es in den Muscheln irgendwo auf dem Meeresgrund. Das Geld wandert unaufhörlich aus den Taschen der Armen in die Taschen der Reichen, aus den Händen derer, die arbeiten, in die Hände derer, die besitzen, verwalten und organisieren. Jeder Franken, um dessen Wert hier und heute eine Aktie gestiegen ist, stammt ursprünglich aus konkreter Arbeit irgendwo an einer Werkbank, auf einem Baugerüst oder in der Küche eines Restaurants. Nur weil der arbeitende Mensch für seine Arbeit weniger Lohn bekommt, als seine Arbeit eigentlich wert wäre, ist es möglich, dass andere Menschen, die keine konkrete Arbeit verrichten, dennoch mehr Geld bekommen als der Arbeiter oder die Arbeiterin, welche den Gewinn erwirtschaftet hat. Damit nicht genug: Unaufhörlich fliesst Geld aus den Taschen der Armen in die Taschen der Reichen: beim Einkaufen im Supermarkt, beim Bezahlen der Krankenkassenprämien und Wohnungsmieten, beim Einkauf von Kleidern und Schuhen. Der Schweiss der Arbeitenden verwandelt sich buchstäblich endlos ins Gold der Reichen – die beiden Kehrseiten der kapitalistischen Medaille. Deshalb ist es die grösste Lüge, wenn sich der Unternehmer mit seiner „Wohltätigkeit“ brüstet, weil er doch so viel Steuern zahle, welche der Allgemeinheit zugute kämen. Die Wahrheit ist: Mit seinen Steuern gibt er den arbeitenden Menschen bloss einen winzigen Teil dessen zurück, was er ihnen zuvor gestohlen hatte.Wer daher fordert, man müsse die Armut bekämpfen, müsste vorher eigentlich die Forderung aufstellen, man müsste den Reichtum bekämpfen. Denn wenn man den Reichtum bekämpft, dann verschwindet die Armut ganz von selber.

Im Jahre 2040: das gute Leben für alle

 

Im Jahre 2040 ist das gute Leben für alle Menschen weltweit Wirklichkeit geworden. Der extreme Reichtum von früher ist ebenso von der Bildfläche verschwunden wie die extreme Armut. Es herrscht ein Einheitslohn für jegliche berufliche Tätigkeit über alle Grenzen hinweg. Geld ist nur noch reines Tauschmittel. Geld als Machtmittel, Banken, Börsen, Ausbeutung von Mensch und Natur zugunsten materieller Profite – all das gehört der Vergangenheit an. An Ressourcen, Rohstoffen und Lebensmitteln wird nur so viel verbraucht, als auf natürliche Weise wieder nachwächst. Der ökologische Fussabdruck des Menschen liegt bei 1,0. Die Wirtschaft ist von unten nach oben aufgebaut, nicht umgekehrt. Und sie ist nicht mehr auf Wachstum und materiellen Profit ausgerichtet, sondern auf die Bedürfnisse der Menschen: Zunächst werden so viele Nahrungsmittel hergestellt, dass weltweit alle Menschen genug zu essen haben. Dann werden so viele Kleider hergestellt, dass alle Menschen weltweit genug davon bekommen. Und so weiter. Luxusartikel kommen erst ganz zuletzt und auch erst dann, wenn die ihnen vorangehenden grundlegenderen Bedürfnisse aller Menschen weltweit erfüllt sind. Alles, was hergestellt wird, darf die dreifache Verträglichkeit nicht überschreiten. Zum einen die Sozial- oder Globalverträglichkeit: Das betreffende Produkt darf nur dann hergestellt werden, wenn es sich für alle Menschen weltweit herstellen lässt. Zweitens, damit zusammenhängend, die Umweltverträglichkeit: Ein Produkt darf nur dann hergestellt werden, wenn es nicht zu einer Umweltbelastung führt, welche das Verhältnis zwischen Mensch und Natur aus dem Gleichgewicht bringt. Und drittens die Zukunftsverträglichkeit: Ein Produkt darf nur dann hergestellt werden, wenn es auch 20 oder 50 Jahre später immer noch hergestellt werden könnte, ohne das Verhältnis zwischen Mensch und Natur aus dem Gleichgewicht zu bringen. Fahrräder würden wohl die dreifache Verträglichkeit erfüllen, Privatautos hingegen wohl kaum. Vegetarische Ernährung würde die dreifache Verträglichkeit ebenfalls erfüllen, Ernährung mit Fleischprodukten wahrscheinlich nicht oder wenn, dann nur in sehr beschränktem Umfang. Im Jahre 2040 ist zudem das Grundprinzip des Zusammenlebens, in jeder Kommune, in jedem Land, aber auch weltweit nicht mehr die gegenseitige Konkurrenz, sondern die Kooperation. Es geht nicht mehr darum, der Beste, Schnellste, Stärkste und Erfolgreichste zu sein, sondern vielmehr darum, dass jeder Mensch, jede Stadt, jede Region, jedes Land mit seinen individuellen Begabungen und Talenten das Bestmögliche zum Gelingen des Ganzen beiträgt. Das fängt schon in den Schulen an, wo die Kinder nicht mehr gegeneinander wetteifern, sondern jedes sich auf seine eigene Weise entfalten kann. Die Schulen des Jahres 2040 gleichen nicht mehr einer Treppe, wo es darum geht, möglichst schnell oben zu sein, sondern einem Garten, in dem es für jedes Kind einen einzigartigen, unverwechselbaren Weg seines Lernens und seiner persönlichen Entfaltung gibt. Und noch etwas: Im Jahre 2040 gibt es keine Waffen und keine Armeen mehr, alle zwischenstaatlichen Konflikte werden friedlich ausgetragen und ohne dass es zu Gewinnern und Verlierern kommt. In einer solchen Welt gibt es auch keine Flüchtlinge mehr, denn wer wollte schon, wenn er in seiner Heimat ein gutes Leben haben kann, freiwillig diese verlassen. Wenn Menschen im Jahre 2040 andere Länder bereisen, dann begegnen sie sich weltweit in jedem Land mit den dort lebenden Menschen auf der gleichen Augenhöhe, nicht als Touristen, denen die Einheimischen zu dienen haben, aber eben auch nicht als Flüchtlinge, denen man mit Abwehr, Ablehnung oder gar Verachtung begegnet. Das alles sind nur ein paar Pinselstriche jenes grossen Gemäldes, das uns die Welt im Jahre 2040 zeigt und zu dem Millionen weitere Menschen ihre eigenen Pinselstriche auf dem Weg zu einem guten Leben für alle hinzufügen können. Meine Zukunftsvision sei naiv? Mag sein. Aber die Vorstellung, alles könne so weitergehen wie bisher und der Freie Markt würde schon dafür sorgen, dass am Ende alles gut herauskäme, diese Vorstellung ist wohl noch um ein Vielfaches naiver…