Klimaplan der Grünen: Nicht Wolkenkuckucksheim, sondern Zeichen einer neuen Zeit

 

Francesco Benini, Verfasser eines Kommentars im „St. Galler Tagblatt“ vom 13. Januar 2021, hat offensichtlich keine Freude am neuen Klimaplan der Schweizer Grünen, der dieser Tage der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Despektierlich bezeichnet Benini das neue Positionspapier der Grünen als „Wolkenkuckucksheim“ – was immer damit gemeint sein mag. Die Grünen, so Benini, planten eine „Umerziehung der Gesellschaft“, die künftig weniger konsumieren solle. Auch sei den Grünen „die Freiheit der Menschen offensichtlich gleichgültig“, sollte die Bevölkerung doch „mit Werbeverboten vom Kauf nicht erforderlicher Güter abgehalten werden.“ Dem „Monstrum“ dieses Klimaplans, der die Menschen „bevormunden“ wolle, könne er, Benini, mit dem besten Willen nichts Positives abgewinnen. Nun, schauen wir uns doch die zentralen Begriffe in Beninis Argumentation etwas genauer an. Es sind die typischen Begriffe, wie sie in Diskussionen zu den Themen Klima- und Umweltschutz und Klimawandel immer und immer wieder ins Feld geführt werden. Erstens: Die Grünen strebten eine „Umerziehung“ der Bevölkerung an. Dazu ist zu sagen, dass auch die heutige Warenwelt und die Konsumgesellschaft, in die wir alle von klein auf hineinwachsen, alles andere als frei ist von Beeinflussung, Manipulation und, im weitesten Sinne, „Erziehung“. Fast täglich werden neue Produkte auf den Markt geworfen, der Kundschaft mit allen Mitteln der Verführung angepriesen und gleichzeitig immer neue Bedürfnisse geweckt, so dass nicht nur der täglich produzierte Warenberg, sondern gleichzeitig auch die nicht mehr benötigten und fortgeworfenen Dinge immer weiter in den Himmel wachsen. Wenn nun die Grünen dazu auffordern, unsere täglichen Konsumgewohnheiten zu hinterfragen, so hat dies nichts mit einer „Umerziehung“ zu tun, sondern, im Gegenteil, mit einem Aufdecken und Hinterfragen jener subtilen und allgegenwärtigen Form von „Erziehung“, der wir in einer unaufhörlich wachsenden Warenwelt von klein auf ausgesetzt sind. Und damit sind wir beim zweiten Begriff, dem Begriff der „Freiheit“. Ein Werbeverbot für „überflüssige“ Dinge, wird behauptet, bedeute eine Einschränkung der persönlichen Freiheit. Doch ist es wirklich „Freiheit“, wenn ich unter möglichst vielen verschiedenen Turnschuhen, Fahrrädern und Feriendestinationen „frei“ auswählen kann? Geht es da nicht viel eher um die Freiheit der Wirtschaft, wann und wo und wie auch immer die Bedürfnisse der Konsumenten und Konsumentinnen anzustacheln und in die gewünschten Bahnen zu lenken? Alles, was auf den ersten Blick als „Bevormundung“ und „Einschränkung“ erscheinen mag, ist auf den zweiten Blick in Tat und Wahrheit das Gegenteil: Wir müssen wohl auf einen Teil unseres bisherigen Luxuskonsums verzichten. Dafür aber gewinnen wir eine Zukunft, in der die Menschen auch in 50 oder 100 Jahren auf diesem Planeten immer noch ein gutes Leben haben können. Und zwar nicht nur auf einzelnen Wohlstandsinseln, sondern weltweit. Was heute noch als „Monster“ und „Wolkenkuckucksheim“ bezeichnet wird, das wird dannzumal, rückblickend, als eines von vielen Zeichen einer neuen Zeit gefeiert werden.

Grossbritannien in der Coronapandemie: Jahrelange Sparpolitik hinterlässt ihre Spuren…

 

Schreckliche Bilder aus Grossbritannien zur Zeit der Coronapandemie: Dutzende von Ambulanzen stauen sich vor den Spitaleingängen, Patientinnen und Patienten müssen oft stundenlang in der Kälte warten, bis sie eingelassen werden. Das Pflegepersonal ist hoffnungslos überlastet. Chris Whitty, medizinischer Chefberater der britischen Regierung, warnt vor einem baldigen Zusammenbruch des Nationalen Gesundheitsdienstes. Doch dass es zu solchen Zuständen kommen konnte, liegt nicht nur an der täglich wachsenden Zahl Coronakranker. Es liegt auch daran, dass das britische Gesundheitssystem seit Jahren einem rigorosen Sparprogramm unterworfen worden ist. So etwa standen beim Ausbruch der Coronapandemie gerade mal insgesamt 5000 Beatmungsgeräte zur Verfügung, nicht einmal sieben pro 100’000 Einwohner, womit Grossbritannien auf Platz 24 von 31 europäischen Ländern lag. Auch bei der Ausbildung von Krankenschwestern und Krankenpflegern wurde jahrelang gespart. Die Folgen dieser Sparpolitik zeigen sich auch bei der Anzahl Krankenhausbetten: Grossbritannien verfügt über 228 Krankenhausbetten pro 100’000 Einwohner, drei Mal weniger als Deutschland. Dies hatte zur Folge, dass der Nationale Gesundheitsdienst bereits in den vergangenen Jahren immer wieder auch schon bei den ganz gewöhnlichen Grippewellen an den Anschlag kam. Die tieferliegende Ursache von alledem liegt im Finanzierungssystem des britischen Gesundheitswesens: Es gibt keine gesetzliche Krankenversicherung, das Gesundheitswesen ist Teil der allgemeinen Haushaltspolitik und daher direkt von dieser abhängig. Unter der seit Jahren betriebenen Politik des „schlanken Staates“ leidet dann eben auch der gesamte öffentliche Bereich inklusive Gesundheitswesen. Hier zeigt sich der kapitalistische Staat in seiner ganzen Widersprüchlichkeit: Während Grossbritannien in Bezug auf sein nationales Gesamtvermögen an Immobilien, Aktien und Bargeld mit über 14 Milliarden Dollar weltweit auf Platz vier liegt und die britische Wirtschaft jedes Jahr um 1,3 bis 2,6 Prozent wächst, bekommt der grosse Teil der Bevölkerung kaum etwas davon zu spüren. Im Gegenteil: Die sozialen Gegensätze verschärfen sich weiter von Jahr zu Jahr, die Armut breitet sich immer weiter aus. Gleichzeitig zählen bereits 54 Britinnen und Briten zum exklusiven Club der Milliardäre und die reichsten fünf von ihnen besitzen mehr als die 12,6 Millionen Ärmsten des Landes. Selbst die Queen mit ihrem Riesenvermögen figuriert erst auf Platz 262 der reichsten Briten und Britinnen. Das vielgelobte Ziel des „Wachstums“, dem sich der kapitalistische Staat verschrieben hat, trägt eben ganz unterschiedliche Gesichter und je nachdem, auf welcher Seite man sich befindet, ist es ein Segen oder ein Fluch. Denn wie der Reichtum wächst, wächst eben auch die Armut. Wie die Menge der Güter wächst, die auf den Strassen hin- und hergeschoben werden, wachsen auch die Sorgen und Nöte jener Menschen, die am untersten Rand der Gesellschaft leben. Wie die Bürohäuser und Wolkenkratzer in den Himmel wachsen, so wächst auch die Zahl jener Menschen, die nicht bloss eine schlechte, sondern überhaupt keine Arbeit mehr haben. Man muss schon sehr gutgläubig sein, wenn man hoffen möchte, dass der „freie Markt“, wie man so schön sagt, dies alles früher oder später schon wieder in Ordnung bringen wird. Wird er zweifellos nicht. Besser heute als morgen müssten wir uns daher Gedanken machen, wie eine Welt jenseits des Kapitalismus aussehen könnte, in der nicht mehr Wachstum um jeden Preis und Anhäufung von Reichtum in den Händen einiger weniger die obersten Maximen wären, sondern das Gemeinwohl, die soziale Gerechtigkeit und das gute Leben für alle.

Die Ereignisse vom 6. Januar 2021: Der Verführer und die Verführten

 

Zweifellos wird der 6. Januar 2021 in die Geschichte der USA eingehen. Der Tag, an dem Hunderte von Anhängern des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump gewaltsam das Capitol stürmten, die Kongressabgeordneten in die Flucht schlugen, Türen, Fenster und Möbel zertrümmerten und sich in den Büros und Sitzungszimmern breitmachten, ohne dass die völlig überrumpelten und überforderten Sicherheitskräfte auch nur die geringste Chance gehabt hätten, dies zu verhindern. Keine Frage, dass Donald Trump, der seine Anhänger über Wochen aufstachelte und sich lügenhaft als wahren Sieger der Präsidentschaftswahlen ausgab, für die Ereignisse vom 6. Januar die Hauptverantwortung zu tragen hat. Mit allen Mitteln der Demagogie hat er einen Teil seiner Anhängerschaft zu einer durch und durch fanatisierten Gefolgschaft zu formen vermocht, die vor nichts zurückschreckt und bereit ist, für ihr Idol über Leichen zu gehen. Doch das ist nur die eine Seite der Wahrheit. Die andere Seite ist: dass es nicht nur einen Verführer braucht, sondern auch Menschen, die sich verführen lassen. Schaut man sich die Anhängerschaft und die Wählerinnen und Wähler Trumps genauer an, dann gehören zu ihnen in grosser Anzahl Menschen, die auf die eine oder andere Weise zu kurz gekommen sind, ihre Lebensträume nicht verwirklichen konnten, keinen Zugang zu Sozialleistungen haben, ihren Job infolge Schliessung ganzer Industriezweige verloren haben oder mit ansehen müssen, wie andere reich geworden sind, während sie selber fast nicht über die Runden kommen. Demagogen und Verführer wie Donald Trump schöpfen ihren ganzen Erfolg aus der Unzufriedenheit und den Hoffnungen von Menschen, die sich benachteiligt und vernachlässigt fühlen und daher nur allzu empfänglich sind für einen Politiker, der ihnen verspricht, dass er, und nur er, alles zum Besseren wenden wird. Wenn man nun also Donald Trump und seine fanatisierte Anhängerschaft verurteilt, dann muss man gleichzeitig auch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse verurteilen, welche den Nährboden bilden sowohl für den Demagogen wie auch für seine Anhängerschaft. Das war im Deutschland der Dreissigerjahre nicht anders: Auch Hitler hatte nur deshalb Erfolg, weil es den Deutschen zu jener Zeit wirtschaftlich so schlecht ging und sie daher empfänglich waren für einen „Heilsbringer“, der ihnen eine goldene Zukunft versprach. Es wird daher nicht genügen, Donald Trump durch Joe Biden zu ersetzen. Mindestens so wichtig ist eine radikale Erneuerung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse: mehr soziale Gerechtigkeit, ein grundlegendes Recht auf Arbeit, gleichberechtigter Zugang zu sozialen Leistungen, Schulen und Universitäten, Wertschätzung und faire Löhne für all jene Menschen, die an den untersten Rändern der Gesellschaft all jene schweren, mühsamen und anstrengenden Arbeiten verrichten, die als Basis für die gesamte Wirtschaft unentbehrlich sind, und, vor allem: das Ende jener verheerenden kapitalistischen Umverteilung, welche die Reichen jeden Tag ein bisschen reicher und die Armen jeden Tag ein bisschen ärmer macht. Nur wenn es dem neuen Präsidenten gelingt, solche tiefgreifenden Reformen voranzubringen, dürfen wir hoffen, dass Demagogen wie Donald Trump und Ereignisse, wie wir sie am 6. Januar 2021 gesehen haben, endgültig der Vergangenheit angehören. 

 

 

Existenzielle Bedrohung durch die Coronamassnahmen: Höchste Zeit für die Einführung einer Reichtumssteuer

 

Der Schweizer Bundesrat hat angesichts der anhaltend hohen Coronafallzahlen beschlossen, die Schliessung der Restaurants sowie der Kultur- Sport- und Freizeitbetriebe um fünf Wochen bis Ende Februar zu verlängern. Aus der Sicht von Casimir Platzer, Präsident von Gastrosuisse, eine absolute Katastrophe, eine existenzielle Bedrohung unzähliger Betriebe der Gastrobranche. Bereits haben auch erste Hotels dichtgemacht. Und nicht besser geht es den Kulturbetrieben, den Theaterveranstaltern, den Kulturschaffenden, der Eventbranche und den Freizeit- und Sportclubs. Gleichzeitig besitzen die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer nicht weniger als 709 Milliarden Franken und sind sogar im Coronajahr 2020 um weitere sieben Milliarden Franken reicher geworden. Um sich die ungeheure Summe, die sich in den Händen einer winzigen Minderheit der Schweizer Bevölkerung befindet, vor Augen zu führen, hier zwei Vergleichszahlen: Die gesamte jährliche Wirtschaftsleistung der Schweiz beläuft sich auf rund 700 Milliarden Franken. Und noch krasser ist es, wenn man sich das jährliche Militärbudget der USA, der mit Abstand grössten Militärmacht der Welt, anschaut: Dieses beträgt umgerechnet 655 Milliarden Franken. Kaum zu glauben, aber wahr: 300 Schweizerinnen und Schweizer haben mehr Geld, als die USA Jahr für Jahr für ihre höchstgerüstete Armee ausgibt. Wäre es nicht an der Zeit, auch in der Schweiz, dem Beispiel Argentiniens folgend, eine Reichtumssteuer einzuführen, damit Betriebe und Erwerbszweige, die über Jahre mit grossem Einsatz und viel Liebe aufgebaut wurden, überleben können und all die Menschen, denen man jetzt den Boden unter den Füssen wegzureissen droht, sich wieder am Leben freuen dürfen und wieder ruhig schlafen können?

Die falsche Frage nach dem „richtigen“ Weg der Klimabewegung

 

„Die jungen Menschen, die sich jetzt für das Klima engagieren“, sagt der SPD-Politiker Franz Müntefering, „wollen das Richtige. Aber dazu müssen sie jetzt in die Parteien und in die Parlamente, sie müssen sich demokratisch durchsetzen wollen. Oder sie müssen eine neue Partei gründen und so Einfluss suchen.“ Zumindest gesteht Müntefering der Klimajugend zu, dass sie „das Richtige wollen“. Indessen greifen seine politischen Ratschläge an eben diese Klimajugend viel zu kurz. Alles, was die Klimajugend an öffentlichem Bewusstsein und ersten klimapolitischen Erfolgen bisher erreicht hat, verdankt sie nicht der Teilhabe am traditionellen politischen Machtapparat, sondern dem bunten, lauten und kreativen Aufmarsch Abertausender auf öffentlichen Strassen und Plätzen, den aufsehenerregenden Aktionen zur Bewahrung von Wäldern und Grünflächen, den unzähligen Diskussionen, welche dies alles in den Schulen, am Arbeitsplatz bis hinein in jede Familie ausgelöst hat. Würde sich die Klimajugend, wie Müntefering vorschlägt, bloss auf die Teilhabe am traditionellen Parlamentsbetrieb beschränken, dann würde dies wohl dazu führen, dass von der riesigen ursprünglichen Energie und den wunderbaren Visionen von einer Welt jenseits von Ausbeutung und Profitgier wohl mit der Zeit nicht mehr viel übrig bliebe – zu gross ist die Gefahr, dass man, als Minderheit in einem Parlament, dazu gezwungen ist, immer wieder Kompromisse einzugehen, sich in zermürbender, endloser Gesetzesarbeit zu erschöpfen und die ursprünglichen Ideale nach und nach zu verlieren. Im schlimmsten Falle wäre das sogar der Tod der Klimabewegung. Aber vielleicht ist ja auch die Frage, welcher Weg der bessere sei, die Tätigkeit innerhalb des Parlaments oder jene ausserhalb davon, gar nicht richtig gestellt. Es zwingt uns ja niemand, uns nur für das eine oder für das andere zu entscheiden. Vielleicht bestünde das beste Rezept gerade darin, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen. Je grösser der Druck von der Strasse, umso mehr Aufwind hätten dadurch die Vertretungen der Klimajugend, die im Parlament sässen. Und je erfolgreicher diese politisierten, umso stärker würde dies auch wiederum all jene beflügeln, die ihre Aktivitäten auf anderen Wegen und an anderen Orten entfalten. Schliesslich würde ein solches „mehrgleisiges“ Vorgehen auch der Vielfalt und der Unterschiedlichkeit der beteiligten Menschen am besten gerecht: Wer sich zum Parlamentsbetrieb hingezogen fühlt, stellt sich für eine klimapolitische Liste zur Verfügung. Wer das bunte und laute Agieren auf der Strasse bevorzugt, findet dort seinen Platz. Wer sich genug stark fühlt, um bei Rettungsaktionen für bedrohte Wälder oder gegen den Bau überflüssiger Autobahnen mitzumachen, kann wiederum auf ganz andere Weise an anderen Orten seinen Beitrag leisten. Andere wiederum schreiben Texte und Lieder, organisieren öffentliche Diskussionen oder versuchen Freunde und Familienangehörige für ihre Ideen zu begeistern. Je vielgestaltiger die Bewegung, umso erfolgreicher wird sie sein. Falsch wäre nur, sich gegenseitig ausspielen, abgrenzen und spalten zu lassen. Letztlich braucht es alle. Letztlich kann man sich nicht den Luxus leisten, auch nur auf einen Einzigen zu verzichten. Denn, wie es schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“   

Fadenscheinige Argumente gegen einen Mindestlohn

Im Kanton Genf gilt seit der Volksabstimmung vom September 2020 der höchste Mindestlohn der Welt. Er beträgt 23 Franken pro Stunde. Wahrlich kein fürstlicher Lohn, wenn man ihn zum Beispiel mit dem Lohn eines Lehrers, einer Zahnärztin oder eines Rechtsanwalts vergleicht. Und doch geht selbst dieser bescheidene Mindestansatz zahlreichen bürgerlichen Politikern und Politikerinnen zu weit: SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr und CVP-Ständerat Erich Ettlin, unterstützt von prominenten Vertreterinnen und Vertreter der SVP, der FDP und der Mitte, haben zwei gleichlautende Motionen gegen die Durchsetzung von Mindestlöhnen eingereicht. Begründet wird das Anliegen unter anderem mit dem Beispiel eines Ostschweizer Bauunternehmens, das einen Auftrag auf einer Genfer Baustelle ausübe. Um sicherzustellen, dass alle ihre Angestellten den Mindestlohn verdienten, müsste die Firma erst „aufwendige Abklärungen treffen“, bevor sie überhaupt mit der Arbeit beginnen könnte. Fadenscheiniger geht es nun wirklich nicht mehr. Muss diese Firma nicht so oder so, bevor sie den Auftrag ausführen kann, „aufwendige Abklärungen treffen“? Muss sie nicht alle Pläne an das geltende Baugesetz anpassen und peinlichst genau daran achten, dass materielle, technische und ökologische Auflagen eingehalten werden? Muss sie nicht den Baugrund untersuchen, damit das Fundament auch sicher standfest gebaut werden kann? Muss sie nicht beim Einkauf von Geräten, Baumaterialien und Fahrzeugen alle Offerten peinlichst genau überprüfen, um sich sodann für das günstigste Angebot zu entscheiden? Muss sie nicht den Transport von Materialien, Maschinen und Angestellten aus der Ostschweiz bis nach Genf sorgfältigst planen und kalkulieren, damit nicht zu hohe Kosten anfallen? Und da soll dann die Einhaltung der Mindestlöhne so viel schwieriger und komplizierter sein? Da gäbe es wohl eine viel bessere Idee: Man führt den Mindestlohn nicht nur in einzelnen Kantonen, sondern schweizweit ein – dann wären alle anderen Probleme ganz von selber gelöst…

Joe Biden und Donald Trump: Verkehrte Welt

 

Es gäbe, so der „Tages-Anzeiger“ vom 4. Januar 2020, ernsthafte Gründe für die Annahme, dass Donald Trump 2024 wieder zum US-Präsidenten gewählt werden könnte. Wenn es Biden nicht gelänge, die Lage der Amerikanerinnen und Amerikaner deutlich zu verbessern, dann würden diese nämlich Trumps Vorwürfen Glauben schenken, dass Biden letztlich doch nur ein Vertreter der alten Elite sei, dem das Wohl der hart arbeitenden Amerikanerinnen und Amerikaner doch egal sei. Fürwahr ein Spiel mit falschen Karten. Denn natürlich stehen sich hier nicht in Gestalt von Donald Trump ein Volkstribun und in Gestalt von Joe Biden ein Vertreter der Eliten einander gegenüber. Beide sind Vertreter der Eliten, beide gehören jener auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung reich gewordenen Oberschicht an, welche den „hart arbeitenden Amerikanerinnen und Amerikaner“ ein Dorn im Auge ist. Der Unterschied ist bloss, dass Donald Trump die Rolle eines Volkstribunen, der sich angeblich für das Wohlergehen der arbeitenden Menschen einsetzt, noch etwas geschickter zu spielen vermag als sein demokratischer Kontrahent. Wäre es ihnen mit der Verheissung, sich für das Wohlergehen sämtlicher Bürgerinnen und Bürger ihres Landes einzusetzen, wirklich Ernst, dann müssten sie lieber heute als morgen eine radikale Umgestaltung der herrschenden kapitalistischen Machtverhältnisse in Angriff nehmen – so, wie das von den demokratischen Parteilinken um Bernie Sanders gefordert wird. So lange aber weder Trump noch Biden eine solche radikale Umgestaltung in Angriff nehmen, wird aller Voraussicht nach mehr oder weniger alles beim Alten bleiben und der als Populist getarnte bisher erste Milliardär im Weissen Haus, der erst noch kaum je Steuern bezahlte, wird auch nach seiner Abwahl weiterhin Aufwind haben – umso mehr als Joe Biden höchstwahrscheinlich die Hoffnungen vieler Millionen Menschen, die ihn gewählt haben, früher oder später enttäuschen wird. Die gleiche Entwicklung wie in den USA können wir auch in Deutschland beobachten: Je mehr sich die Sozialdemokratische Partei von ihrer früheren Wählerbasis, der Arbeiterschaft, entfernt hat und selber Teil der herrschenden Machtelite geworden ist, umso mehr Zuspruch hat die „Alternative für Deutschland“, in deren Reihen sich genau jene zu kurz Gekommenen wiederfinden, die früher einer kämpferischeren SPD ihre Stimme gaben. Und nicht anders ist es in der Schweiz, wo viele Menschen aus der „Unterschicht“, deren politische Heimat früher die Sozialdemokratie war, heute in der Wählerschaft der SVP zu finden sind. Das Tragische ist, dass zwar alle Parteien in diesem Spiel um Macht und Einfluss immer wieder grosse Versprechungen abgeben, für die betroffenen Menschen, insbesondere für alle Benachteiligten und Zukurzgekommenen, aber mehr oder weniger alles beim Alten bleibt – solange nicht an den Grundfesten des kapitalistischen Machtsystems gerüttelt wird und der Aufbau einer neuen, nichtkapitalistischen, auf soziale Gerechtigkeit ausgerichteten Ordnung in Angriff genommen wird.

 

Berufe und Arbeitswelt: Sollte nicht jedes Kind seine Zukunftsträume verwirklichen können?

 

Fragt man Kinder, was sie später einmal werden möchten, dann stehen Traumvorstellungen wie Pilot, Schauspielerin, Computerspezialistin, Sängerin, Schriftsteller, Tierärztin, Innenarchitektin oder Profifussballer an vorderster Stelle. Kinder, die Kehrichtmänner, Fabrikarbeiter oder Putzfrauen werden möchten, sucht man vergebens. So wäre es zwar eine wunderbare Vorstellung, dass jedes Kind das Recht haben müsste auf eine freie Entfaltung seiner Begabungen und Zukunftsträume. Doch wer, wenn dann alle eines Tages Schauspielerinnen und Tierärzte wären, würde dann noch das Gemüse ernten, das wir täglich auf unserem Teller haben? Wer würde dann noch die Strassen und die Häuser bauen, die wir befahren und in denen wir wohnen? Wer würde dann noch die Toiletten in den Zügen und in den Restaurants putzen, die wir täglich benützen? Wer würde dann noch in den Fabriken arbeiten, um all die Güter herzustellen, die wir täglich brauchen? Die kapitalistische Arbeitswelt geht mit den Zukunftsträumen der Kinder sehr willkürlich um. Sie gesteht einem Teil der Kinder die Möglichkeit zu, jene Berufe zu erlernen, die sie sich schon als Kinder gewünscht haben. Einer viel grösseren Zahl von Kindern aber verweigert sie genau so kategorisch eben dieses Recht und weist ihnen berufliche Tätigkeiten zu, die sie sich niemals gewünscht haben, die sie auch niemals freiwillig ergriffen hätten und die sie nicht mit Freude und Begeisterung verrichten, sondern bloss, weil man ja schliesslich von irgendetwas leben muss. Wäre es nicht viel gerechter, allen Kindern und späteren Erwachsenen das gleiche Recht zuzugestehen? Es wäre ganz einfach. Während der halben Arbeitszeit – täglich halbtags bzw. an zweieinhalb Tagen pro Woche – arbeitet jede und jeder in einem Beruf, der mit den kindlichen Zukunftsträumen und den individuellen Begabungen im Einklang steht, also ein frei gewählter Beruf, der mit Freude und Begeisterung verrichtet wird. Während der übrigen Zeit würde man dann einer beruflichen Tätigkeit nachkommen, die niemand freiwillig verrichten würde, die aber von jemandem erledigt werden muss, wenn Gesellschaft und Wirtschaft als Ganzes funktionieren sollen. So wäre die halbtags als Zahnärztin Tätige während des anderen halben Tages bei der städtischen Kehrichtabfuhr zu finden, der halbtags als Lehrer Tätige würde während des anderen halben Tages die Gestelle im Supermarkt auffüllen und den halbtags als Webdesigner Tätigen sähe man während des anderen halben Tages bei der Beschäftigung und dem Spazierengehen mit Alten und Pflegebedürftigen. Nicht nur, dass auf diese Weise persönliche Erfüllung in einer selbergewählten beruflichen Tätigkeit und der Dienst an der Gemeinschaft für alle Menschen gleichberechtigt im Einklang stünden. Auch würde die heutige Hierarchie in der Berufswelt, in der es so genannt „höhere“, angesehenere und besser bezahlte Tätigkeiten gibt und auf der anderen Seite „niedrigere“, weniger angesehene und schlechter bezahlte Tätigkeiten, mit einem solchen Arbeitsmodell wohl endgültig der Vergangenheit angehören, denn jeder, der eine „höhere“ berufliche Tätigkeit ausüben würde, wäre auch wieder irgendwo beim Verrichten einer „niedrigeren“ beruflichen Tätigkeit anzutreffen, gegenseitige Wertschätzung und Respekt vor der Arbeit, die der andere Mensch verrichtet, würden gleichermassen wachsen. Und das Leben wird insgesamt um vieles bunter und vielfältiger, wenn man nicht Tag für Tag bis zum Überdruss auf dem gleichen Bürostuhl Seite an Seite mit dem immer gleichen Arbeitskollegen sitzt oder Tag für Tag bis zum Überdruss Haare schneidet oder am Fliessband die immer gleichen  Handgriffe verrichtet… 

Dringend notwendige Überwindung des Kapitalismus: Was alle angeht, können nur alle lösen

 

„Wir müssen nicht runter mit den Löhnen, sondern die anderen Länder müssen rauf mit den Löhnen. In Europa erkennt man langsam, dass ein reiner Preiskampf alle nur ärmer macht.“ Das sagte nicht etwa ein Gewerkschafter oder eine Sozialdemokratin, sondern Hansuli Loosli, Verwaltungsratspräsident von Coop und Swisscom. Ein kapitalistischer Unternehmer stellt also eines der zentralen Prinzipien des kapitalistischen Wirtschaftssystems, nämlich den freien Konkurrenzkampf auf dem offenen, möglichst uneingeschränkten Feld der freien Marktwirtschaft in Frage. Ist er somit ein verkappter Linker oder gar ein heimlicher Antikapitalist? Natürlich nicht. Und doch zeigt uns dieses Beispiel, dass das Unbehagen über die Exzesse des kapitalistischen Wirtschaftssystems weit über jene paar linken „Utopisten“ und Weltveränderer hinausgeht, die man in der Regel als „Antikapitalisten“ zu bezeichnen pflegt. Bestätigt wird diese Beobachtung durch eine kürzlich in Deutschland durchgeführte Umfrage, wonach 56 Prozent der Befragten die Meinung vertrat, der Kapitalismus richte mehr Schaden als Nutzen an. Es sind eben nicht nur die Fliessbandarbeiter in den Schlachthöfen, die Lastwagenfahrer, die zehn Stunden hintereinander ohne Pause am Steuer sitzen, und die Zimmermädchen in den Hotels, die im Zehnminutentakt ein Zimmer nach dem andern auf Hochglanz zu bringen haben, es sind nicht nur sie alle und viele, viele mehr, die unter dem kapitalistischen Wettbewerbsdruck und gegenseitigen Konkurrenzkampf leiden. Es sind auch die Firmenchefs, Unternehmer und Betriebsleiter, die laufend höhere Umsätze auszuweisen haben und sich im Wettbewerb mit ihren Konkurrenten jeden Millimeter erkämpfen müssen, um ihre Produkte gewinnbringend abzusetzen. Es ist auch jener Personalchef, an den ich mich gut erinnere und der über Wochen hinweg nicht mehr richtig schlafen konnte, weil er im Zuge von Sparmassnahmen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen entlassen musste, mit denen er freundschaftlich verbunden war. Es gibt eben im Kapitalismus nicht die „bösen“ Ausbeuter und die „armen“ Ausgebeuteten. Alle werden auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmass ausgebeutet. Alle werden auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmass krank, das Rückenleiden der Amazonarbeiterin und das Burnout des IT-Managers sind bloss Symptome der alleinigen und gleichen Krankheit genannt Kapitalismus. Doch so lange die Menschen dies nicht erkennen und immer noch die Meinung vorherrscht, dieser Kapitalismus wäre gleichsam etwas Natürliches, Gottgegebenes, so lange kann sich nicht grundsätzlich etwas ändern. Die Unzufriedenheit des Arbeiters staut sich an zur Wut gegen seinen Vorgesetzten. Dieser wiederum sammelt seine Wut gegen den Firmenchef. Und jeder richtet seine Wut wiederum gegen alle seine Konkurrenten am Arbeitsplatz. Alle diese verpuffte Wut aber müsste sich nicht gegenseitig gegen Menschen richten, sondern gegen das System als Ganzes. Gleiches lässt sich zur Klimabewegung sagen: Es nützt nichts, die Wut gegen jene „bösen“ Unternehmen zu richten, die mit der Gewinnung von Kohle, Erdgas und Öl ihre Profite erwirtschaften. Denn auch diese wiederum sind nur einzelne Rädchen in diesem weltweiten kapitalistischen Ausbeutungssystem, unter dem nicht nur die Menschen, sondern eben auch die Natur unsäglich leidet. „Böse“ ist nicht dieser oder jener Mensch, dieses oder jenes Unternehmen. Böse ist, wenn schon, das System als Ganzes. Und deshalb kann sich nur dann dauerhaft etwas verändern, wenn wir damit aufhören, uns gegenseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben, statt gemeinsam diese unerlässliche Aufgabe einer Überwindung des Kapitalismus und des Aufbaues einer neuen, sowohl menschen- wie auch naturgerechten Wirtschaftsordnung in Angriff zu nehmen. Denn, wie schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Die Überwindung des Kapitalismus – Illusion oder existenzielle Notwendigkeit?

 

„Allerdings“, schreibt der ehemalige SP-Nationalrat Rudolf Strahm im Tages-Anzeiger vom 29. Dezember 2020, „unterliege ich nicht der Illusion, die aktuelle Zeitenwende so radikal zu interpretieren wie jene Gesellschaftsutopisten, die nun gleich das ersehnte „Nullwachstum“, die „Klimarevolution“ oder gar die „Überwindung des Kapitalismus“ herbeibeschwören. Insofern hat Rudolf Strahm zwar Recht, als „Nullwachstum“, „Klimarevolution“ und „Überwindung des Kapitalismus“ sich nicht einfach von selber, als Folge der Coronakrise, einstellen werden. Es könnte auch ganz anders herauskommen, Chaos oder das Aufkommen populistischer Bewegungen sind ebenso denkbar wie eine baldige Rückkehr zur kapitalistischen „Normalität“. Nein, Nullwachstum, Klimarevolution und Überwindung des Kapitalismus kommen nicht von selber, man muss sie wollen, man muss für sie kämpfen, man muss für sie Mehrheiten finden. Und insofern haben die von Strahm erwähnten „Gesellschaftsutopisten“ eben doch Recht. Ihr Traum von einer anderen, besseren Welt ist aktueller und existenziell notwendiger denn je. Oder wünscht sich Rudolf Strahm allen Ernstes eine Zukunft, in der möglichst alles so weitergeht wie bisher? Sind das unbegrenzte Wirtschaftswachstum, die immer grössere Kluft zwischen Arm und Reich und der drohende Klimakollaps nicht die viel grösseren und gefährlicheren Illusionen als der Traum von einer friedlichen und gerechten Welt, in der Mensch und Natur im Einklang sind und alle Menschen, egal wo sie geboren wurden, ein gutes Leben haben?