Was ist ein gerechter Lohn: betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Sichtweise

 

Auf die Frage, ob das Gesundheitspersonal nicht doch mehr verdient hätte als nur Applaus, sagt Fredy Greuter, Mediensprecher des Arbeitgeberverbands: „Wenn es die betriebswirtschaftliche Situation zulässt, wäre es angebracht, dass die Mitarbeitenden einen Zustupf erhalten würden.“ Wie viele noch so berechtigte Forderungen nach Lohnerhöhungen sind schon mit dem Hinweis auf die so genannte „betriebswirtschaftliche“ Realität abgewürgt worden! Weshalb ist eigentlich noch niemand auf die Idee gekommen, zwischen finanzstärkeren und finanzschwächeren Branchen so etwas wie einen Finanzausgleich einzuführen, so wie dies beim interkantonalen Finanzausgleich zwischen finanzstärkeren und finanzschwächeren Kantonen schon seit Jahrzehnten gang und gäbe ist? Angesichts der eklatanten Lohnunterschiede von Branche zu Branche wäre es höchste Zeit, die betriebswirtschaftliche Logik durch eine volkswirtschaftliche Logik zu ersetzen. Dies würde in letzter Konsequenz zu einem landesweiten Einheitslohn führen, etwas, was zwar auf den ersten Blick völlig utopisch und unrealistisch erscheinen mag, tatsächlich aber das einzig wirklich gerechte Lohnmodell wäre, tragen doch alle von der Krankenpflegerin über den Buschauffeur bis zum Vermögensverwalter das jeweils Beste in ihren Kräften und Möglichkeiten Liegende zum Wohlergehen des Ganzen bei und müssten deshalb logischerweise auch alle gleichberechtigt am Erfolg des Ganzen teilhaben können. Mit der Einführung eines Einheitslohns hätte auch das ganze Gerangel um Aufstieg und Abstieg ein Ende und allen käme unabhängig von der beruflichen Tätigkeit, die sie ausüben, das genau gleiche Mass an gesellschaftlicher Anerkennung und Wertschätzung zuteil. Das Totschlagargument indessen, dass eine geforderte Lohnerhöhung in diesem oder jenem Berufszweig aus „betriebswirtschaftlichen“ Gründen beim besten Willen nicht drin liege, gehörte somit endlich der Vergangenheit an…

Impfaktionen in grossem Stil angelaufen – Beweis für kapitalistisches Erfolgsmodell?

 

„Kapitalismus hilft“, schreibt die „NZZ am Sonntag“ vom 27. Dezember 2020. Gemeint ist der Impfstoff gegen das Coronavirus, der nun in viel grösserer Menge und viel früher als erwartet zur Verfügung steht. Doch was wird sich ein indischer Reisbauer oder eine brasilianische Krankenpflegerin wohl denken, wenn sie das hören? Kapitalismus hilft, ja, das stimmt. Aber leider immer nur denen, die sowieso schon vorher auf der Sonnenseite standen. Während in den reichen Ländern des Nordens schon eifrig geimpft wird, mussten sich die Menschen in den armen Ländern des Südens zynischerweise bestenfalls damit abfinden, sich gegen ein dringend benötigtes kleines Entgelt als Testpersonen für den Impfstoff zur Verfügung zu stellen. Wenigstens sollen die ärmeren Länder nicht gänzlich leer ausgehen. Dafür sorgt eine Initiative der WHO, dank der für 2021 insgesamt rund zwei Milliarden Impfstoffdosen für arme Länder gesichert werden konnten, finanziert durch Länder, Firmen und Private. Wer nun erwartet hätte, die Schweiz als reichstes Land der Welt wäre bei den Geberländern ganz vorne mit dabei, sieht sich arg getäuscht: Der finanzielle Beitrag der Schweiz ist alles andere als grosszügig. Ja, es kommt eben immer drauf an, von welcher Seite her man den Kapitalismus anschaut, ob man ihn gut findet oder schlecht, ob er ein Segen ist oder ein Fluch, ob er hilft oder nicht…

Eine Gesellschaft gleichberechtigter Bürgerinnen und Bürger? Die Realität sieht anders aus…

 

Abend für Abend stehen Hunderte von Menschen in Zürich, Basel, Lausanne, Genf, Biel, Bern und anderen Städten Schlange, um einen Teller Suppe, etwas Gemüse und ein paar Stücke Brot zu ergattern. Es sind Menschen, die durch die Coronakrise an den Rand der Gesellschaft und darüber hinaus gespült worden sind: Working Poor, alleinerziehende Mütter, Sans-Papiers, Putzfrauen, Prostituierte, Obdachlose, Junkies, Arbeitslose, Serviceangestellte, Hilfsarbeiterinnen. Über die allererste dieser Hilfsaktionen, Frühling 2020 in Genf, wurde in den Medien noch ausführlich berichtet. Seither hört und sieht man kaum mehr etwas davon, obwohl die Schlangen der Hilfesuchenden in der Zwischenzeit immer zahlreicher und immer länger geworden sind. Offensichtlich hat man sich an das Elend schon so sehr gewöhnt, dass ihm keine besondere öffentliche Erwähnung mehr zuteil wird. Doch man stelle sich einmal vor, nicht Prostituierte, alleinerziehende Mütter und Putzfrauen würden nachts in der Kälte um einen Teller Suppe Schlange stehen, sondern Universitätsdozenten, Chefärztinnen, Bankdirektoren und Rechtsanwältinnen. Was für ein Aufschrei da wohl durchs ganze Land gehen würde! Offensichtlich scheinen in unserem Lande nicht alle Menschen gleich „wichtig“ zu sein. Dass das öffentliche Ansehen und Gewicht einer Person sehr stark von ihrer sozialen Stellung abhängt, zeigte sich auf erschreckende Weise auch in einem Artikel der NZZ am 30. Oktober 2020. In diesem Artikel wurde nämlich die Frage aufgeworfen, ob man, wenn die Intensivplätze in den Spitälern nicht mehr für alle Coronakranken ausreichen würden, nicht „verdienten Mitgliedern der Gesellschaft“ den Vorrang geben müsste. Das wären dann wahrscheinlich Stadtpräsidentinnen, Stararchitekten und Opernhausdirektoren, während eine Putzfrau, ein Gärtner oder eine Verkäuferin auf der Strecke bleiben würden. Welche Menschenverachtung! Während die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts und ihrer sexuellen Orientierung in der breiten Öffentlichkeit immer wieder intensiv diskutiert wird und sich auf dem besten Weg befindet, nach und nach überwunden zu werden, sitzt offensichtlich eine andere Form von Diskriminierung noch immer tief in unseren Köpfen fest und ist weit davon entfernt, öffentlich thematisiert geschweige denn aktiv bekämpft zu werden: die Diskriminierung aufgrund der beruflichen Tätigkeit, der schulischen Bildung und der sozialen Stellung. Noch immer schaut man zu einem Arzt „hinauf“, während man auf eine Verkäuferin „hinunterschaut“. Noch immer spricht man von „gebildeten“ und „ungebildeten“ Menschen und meint damit beinahe ausschliesslich die Anzahl besuchter Schuljahre, nicht aber das Ausmass an Lebenserfahrung und praktischer Intelligenz. Noch immer werden ausgerechnet jene Menschen, welche die anstrengendsten, eintönigsten und gefährlichsten beruflichen Tätigkeiten ausüben, mit der geringsten gesellschaftlichen Wertschätzung und den geringsten Löhnen abgespeist, und dies, obwohl die ganze Gesellschaft, würde niemand diese Arbeiten verrichten, augenblicklich in sich zusammenbrechen würde. Noch immer wird Menschen, die es auf keinen grünen Zweig bringen, den Job verlieren oder von der Sozialhilfe abhängig sind, vorgeworfen, sie seien an ihrer Lage selber Schuld und hätten sich eben bloss mehr anstrengen müssen. Wie heisst es so schön in der Schweizerischen Bundesverfassung: „Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache und der sozialen Stellung.“ Sind Verfassungen nicht dazu da, im Laufe der Zeit auch tatsächlich umgesetzt zu werden? Wie lange müssen die Schlangen vor den Suppenküchen noch werden, bis sich endlich die Erkenntnis durchgesetzt haben wird, dass es in einer solidarischen Gesellschaft nicht „wichtige“ und „unwichtige“ Menschen gibt, sondern alle genau gleich wichtig und wertvoll sind?

Wie sich die Territorien der Reichen auf Kosten der Territorien der Armen immer weiter ausdehnen

Weil die Autos immer breiter werden – seit 1995 um über sieben Zentimeter – müssen, wie die heutige „NZZ am Sonntag“ vom 20. Dezember 2020 berichtet, die Parkplätze in der Schweiz nach und nach verlängert und verbreitert werden. Da die zur Verfügung stehenden Bodenflächen heute schon knapp sind, wird dies mit grösster Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass zum Beispiel Radwege, Fussgängerbereiche und Kinderspielplätze verkleinert werden müssen.

Dies ist nur eines von unzähligen Beispielen, wie sich die Territorien der Reichen auf Kosten der Territorien der Armen immer weiter ausdehnen. Gleiches gilt für das Geld, Symbol für Besitztum und Macht: Während die 64 Prozent der ärmeren Steuerpflichtigen der Schweiz 65 Milliarden Franken besitzen, verfügt das reichste Prozent über 790 Milliarden Franken. Gleiches gilt für den Wohnraum: Während 73 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer davon träumen, eigenes Wohneigentum zu erwerben, sind es nur gerade zehn Prozent, die sich das tatsächlich auch leisten können.

Und all dies ist im globalen Massstab noch viel krasser: Die zehn Reichsten der Welt besitzen über 1000 Milliarden Dollar – 40 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Jede Hektare tropischen Regenwalds, der zwecks Fleischproduktion für die Reichen in Brasilien abgeholzt wird, fehlt den dort lebenden Ureinwohnern als Lebensraum. Alle Flächen, die für den Anbau von Bananen, Kaffee oder Kakao genutzt werden, gehen für die Nahrungsmittelproduktion der ansässigen Bevölkerung verloren. Jedes Gramm Kobalt, Lithium oder seltener Erde, das aus dem Boden geschürft wird, steht zukünftigen Generationen nicht mehr zur Verfügung. Jede Luxusvilla in Mumbai oder Rio de Janeiro zwingt die Armen dazu, sich in den Slums auf noch engerem Raum zusammenzupferchen.

Meist werden solche Meldungen und Zahlen wahrgenommen als Zufälligkeiten, die nichts miteinander zu tun haben. Tatsächlich aber hängt alles mit allem zusammen, von den immer breiteren Autos über den knappen Wohnraum bis zur Zerstörung des brasilianischen Tropenwalds. In einer Welt, in der sich die Territorien der Reichen immer weiter ausdehnen auf Kosten der Territorien der Armen und in der nicht die soziale Gerechtigkeit, sondern die gegenseitige Ausbeutung, Gewinnmaximierung und das Dogma endlosen Wachstums an oberster Stelle stehen. Punktuelle Änderungen und Reformen genügen daher nicht. Es braucht vielmehr eine grundlegende Erneuerung unseres gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, damit das „gute Leben“ nicht nur für privilegierte Minderheiten, sondern für alle Menschen weltweit heute und in Zukunft Wirklichkeit werden kann.

Erste indigene Frau in einer US-Regierung: Doch es gibt noch andere Formen von Diskriminierung…

 

Mit der 60jährigen Deb Haaland aus New Mexiko nominiert Joe Biden zum ersten Mal in der Geschichte der USA eine Frau mit indigenen Wurzeln als Regierungsmitglied. Ein Meilenstein. Auch bei der Auswahl der übrigen Regierungsmitglieder hat Joe Biden bezüglich Alter, Geschlecht, Hautfarbe und ethnischer Zugehörigkeit auf eine möglichst ausgewogene Zusammensetzung geachtet. Bei alledem geht aber nur zu leicht vergessen, dass es noch eine ganz andere Form von Diskriminierung gibt, an die man sich aber offensichtlich schon so sehr gewöhnt hat, dass sich niemand mehr darüber aufzuregen scheint. Es ist die Diskriminierung zwischen so genannt „Gebildeten“ und so genannt „Ungebildeten“. Wie Michael J. Sandel in seinem Buch „Vom Ende des Gemeinwohls“ nachweist, hatten im Jahre 2000 95 Prozent der Abgeordneten im US-Kongress einen akademischen Grad, im Senat sogar 100 Prozent. Und dies, obwohl zwei Drittel der erwachsenen Amerikanerinnen und Amerikaner keinen Universitätsabschluss besitzen. Das war nicht immer so: 1960 hatten etwa ein Viertel der Senatorinnen und Senatoren und ebenfalls ein Viertel der Kongressabgeordneten keinen akademischen Abschluss. Die Kluft zwischen „Gebildeten“ und „Ungebildeten“ hat sich also seither immer mehr vertieft. Oben die, die es geschafft haben und dafür mit höherem Ansehen, mehr Macht und grösserem Einkommen belohnt werden. Unten die, die es nicht geschafft haben, sich mit einem Knochenjob abfinden müssen und erst noch mit geringerem Ansehen, kleinerem Einkommen und schlechteren Lebensverhältnissen auskommen müssen. Geradezu zynisch wird es, wenn sich dann, wie das oft der Fall ist, die „Gebildeten“ sogar noch als etwas Besseres fühlen, auf die „Ungebildeten“ hinabschauen oder sie sogar verachten, obwohl sie ihre „Sonnenplätze“ an der Spitze der gesellschaftlichen Machtpyramide genau denen verdanken, die unten, an der Basis, all jene unentbehrlichen Arbeiten verrichten, ohne welche die ganze Gesellschaft augenblicklich in sich zusammenbrechen würde. Die Diskriminierung, die der „Ungebildete“ erfährt, ist nicht kleiner als jene, welche ein Schwarzer oder eine Latina erfährt, wenn ihr die Fähigkeit zu einer höheren gesellschaftlichen Aufgabe zum vornherein abgesprochen wird. Sagte man früher einem Schwarzen, er wäre zu dumm für ein höheres politisches Amt, so sagt man dies heute, freilich ohne es offen auszusprechen, einem „Ungebildeten“ genau so unmissverständlich mitten ins Gesicht. Dabei sagt die so genannte „Bildung“ genau so wenig wie die Hautfarbe etwas Wesentliches über die Fähigkeiten eines Menschen aus. Sandel zeigt in seinem bereits erwähnten Buch auf, dass es in früheren amerikanischen Regierungen immer wieder Nichtakademiker gab und sich diese nicht selten durch besonders hervorragende Leistungen auszeichneten. Die Spaltung eines Volkes in „Gebildete“ und „Ungebildete“ ist ein ebenso grosses Unrecht wie die Diskriminierung von Frauen oder Menschen anderer Hautfarbe. Und sie ist vor allem einer echten Demokratie in höchstem Grade unwürdig. Übrigens, auch Deb Haaland verfügt über einen Universitätsabschluss, wie könnte es auch anders sein…

Mehr Wohlstand durch mehr Klimaschutz? Ein Widerspruch in sich selber…

 

„Klimaschutz ist wirtschaftlich notwendig“, schreibt Javier Feller Valero im heutigen Tages-Anzeiger vom 19. Dezember 2020, „um unseren Wohlstand zu erhalten und auszubauen.“ Und er rechnet nach: Zwischen 2011 und 2019 sei die Schweizer Wirtschaft um 13 Prozent gewachsen, während gleichzeitig der Energieverbrauch dank technologischem Fortschritt um 2 Prozent gesunken sei. Auf den ersten Blick eindrückliche Zahlen. Nur vergisst Valero zu erwähnen, dass die Schweiz nach wie vor einen ökologischen Fussabdruck von nahezu 3 aufweist, das heisst: Würden weltweit alle Länder so viel Energie und Ressourcen verbrauchen wie die Schweiz, dann bräuchten wir nicht nur eine, sondern drei Erden! Valero weist auch nicht auf die laufend wachsende Unmenge an Waren hin, die mit verheerenden ökologischen Auswirkungen im Ausland hergestellt werden, um dann in die Schweiz importiert und hier konsumiert zu werden. Ebenso wenig erwähnt Valero jene in der Schweiz ansässigen multinationalen Konzerne, die weltweit Raubbau an natürlichen Ressourcen betreiben und denen unser Land einen grossen Teil seines Wohlstands verdankt. Deshalb steht Valeros Behauptung, Klimaschutz sei notwendig, um unseren Wohlstand zu erhalten und auszubauen, auf wackligen Füssen. Es wäre wohl eine Illusion, wir könnten unseren Wohlstand, der heute schon den der allermeisten übrigen Länder der Welt übertrifft, nicht nur erhalten, sondern sogar noch ausbauen. Wollen wir denn noch mehr Güter konsumieren als bisher, wollen wir noch weitere Flugreisen unternehmen, noch mehr Fleisch essen, mit noch mehr und noch grösseren Autos unsere Strassen verstopfen als bisher? Nein. Echter Klimaschutz kann nicht Hand in Hand gehen mit einem grenzenlosen Wachstum des Wohlstands. Vielmehr braucht es eine Besinnung auf das Wesentliche. Vielleicht bringt es eine Klärung, wenn wir, anstelle von „Wohlstand“, die Begriffe des „guten Lebens“ und des „Luxus“ einander gegenüberstellen. Luxus, das ist all das, was sich einzelne Menschen oder Bevölkerungsgruppen nur deshalb leisten können, weil sie mehr Geld haben als andere, Annehmlichkeiten aller Art, auf die man aber auch verzichten könnte und dennoch ein „gutes Leben“ hätte. Das „gute Leben“ könnten wir so definieren, dass es sozusagen den Grundanspruch des Menschen auf ein Leben in Würde, in existenzieller und sozialer Sicherheit erfüllen würde, und zwar weltweit und auch in Bezug auf zukünftige Generationen. Dass sich dieses „gute Leben“ von jenem „Luxus“, an den sich viele von uns über Jahre hinweg gewöhnt haben, deutlich unterscheiden würde, liegt auf der Hand. Ob wir wollen oder nicht: Wohlstand im Sinne von „Luxus“ und grenzenlosem Wirtschaftswachstum ist unvereinbar mit einem Klimaschutz, der diesen Namen auch tatsächlich verdient. Ohne Verzicht, ohne Besinnung auf das Wesentliche, ohne eine grundlegende Debatte über das „gute Leben“, ohne soziale Gerechtigkeit werden wir es nicht schaffen, auch unseren nachfolgenden Generationen eine Erde zu hinterlassen, auf der sich gut, sicher und in Frieden leben lässt.

Freihandelsabkommen mit Indonesien: Wenig Spielraum auf dem Boden „neoliberaler“ Realität…

Am 7. März 2020 stimmt die Schweiz über ein Freihandelsabkommen mit Indonesien ab. Umstritten ist das Abkommen wegen einer der wichtigsten Ressourcen Indonesiens: Palmöl. Dieser Rohstoff versteckt sich in vielen unserer Alltagsprodukte und ist vor allem deshalb umstritten, weil für den Anbau riesige Flächen Urwald abgeholzt werden müssen. Im vorliegenden Freihandelsabkommen sind deshalb die Zollrabatte auf Palmöl an Vorgaben zur Nachhaltigkeit geknüpft worden. Diese Vorgaben gehen aber diversen Umweltorganisationen zu wenig weit und sie haben deshalb gegen das Freihandelsabkommen das Referendum ergriffen. Während die Grünen das Referendum unterstützen, wird es von der GLP und der SP mehrheitlich abgelehnt – „wirtschaftsfreundliche“ und „ökologische“ Positionen gehen also quer durch das linksgrüne Lager.

Einer, der auf der „wirtschaftsfreundlichen“ Seite steht, ist SP-Nationalrat Fabian Molina. Er sagt: „Der Neoliberalismus ist heute eine handelspolitische Realität.“ Und er argumentiert, dass bei einer Ablehnung des Abkommens das Palmöl weiterhin einfach nach den WTO-Regeln in die Schweiz kommen werde. Der „Neoliberalismus“ als „handelspolitische Realität“. Genau so gut könnte man sagen: der Kapitalismus als handelspolitische Realität. Denn im Grunde ist „Neoliberalismus“ nichts anderes als ein anderes Wort für Kapitalismus. Noch beschönigender wird oft von der „Freien Marktwirtschaft“ gesprochen, aber auch das ist nur ein anderes Wort für Kapitalismus.

Nun, was bedeutet das alles? Es heisst doch nichts anderes, als dass wir anscheinend in so etwas wie einer gottgegebenen Ordnung leben, in einer „Realität“, die unser tägliches Leben, unsere Wirtschaft, unsere Arbeitswelt und unser soziales Zusammenleben so tief durchdringt, dass wir offensichtlich nicht mehr wirklich etwas daran ändern können. Eine Realität, die unter anderem darin besteht, dass ganze Länder zwecks reiner Profitmaximierung multinationaler Konzerne ihrer gesamten natürlichen Lebensgrundlagen beraubt werden.

Wie weit wir auf diesem Weg schon zurechtgeschliffen worden sind, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass selbst ein ehemaliger Juso wie Fabian Molina, der dereinst noch wie viele andere von der Überwindung des Kapitalismus träumte, eben diesen Kapitalismus nun als eine Realität hinstellt, die wir letztlich zu akzeptieren hätten. Das Tragische dabei ist, dass die Gegner eines Referendums gegen das Freihandelsabkommen mit Indonesien in gewisser Weise sogar recht haben: Wenn das Abkommen abgelehnt wird, dann träten nicht einmal jene minimalen Verbesserungen in Kraft, die das geplante Abkommen vorsieht. Die einzige Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen können, besteht darin, diesen „Neoliberalismus“, diesen „Kapitalismus“, diese „Freie Marktwirtschaft“ eben nicht mehr länger als jene göttliche Ordnung zu akzeptieren, vor der sich alle beugen.

Fabian Molina und all die andern hatten eben schon recht, von der Überwindung des Kapitalismus zu träumen. Der Fehler bestand nicht darin, diesen Traum zu haben. Der Fehler bestand darin, ihn im Verlaufe des Älterwerdens zu vergessen oder zu verdrängen. Denn, wie schon der bekannte Urwalddoktor Albert Schweitzer sagte: „Im Jugendidealismus erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt eintauschen soll.“

Brexit: Man schlägt den Sack und meint den Esel

 

Die Lage spitzt sich zu: Nach wie vor können sich Grossbritannien und die EU nicht auf einen Rahmenvertrag einigen, der nach dem „Brexit“ an die Stelle der früheren EU-Mitgliedschaft treten soll. Bereits hat Grossbritannien für den Fall eines No Deal spezielle Notstandsmassnahmen geplant: Vier Fährunternehmen sind angeheuert worden, um das Land im Notfall mit Nahrungsmitteln und Medikamenten zu versorgen. 2000 Grenzbeamte sollen zusätzlich an Zollpunkten eingesetzt werden können. Testläufe zum Freihalten wichtiger Verkehrsadern zum Ärmelkanal haben begonnen. In Whitehall ist eine generalstabsmässige Übung mit Staatsbeamten aus 16 Ministerien geplant. Und es ist sogar schon von „Krieg“ die Rede: Vier Kriegsschiffe sind bereit, um gegen Fischerboote aus EU-Ländern vorzugehen, die in britische Küstengewässer einzudringen versuchen. Doch wie hat das alles eigentlich begonnen? Wer wollte ihn und weshalb und wie kam es dazu, zu diesem bei einem so grossen Teil der britischen Bevölkerung trotz aller damit verbundener Widerwärtigkeiten so populären „Brexit“, in dessen Sog auch Boris Johnson an die Macht katapultiert wurde? Michael J. Sandel gibt dazu in seinem neuen Buch „Vom Ende des Gemeinwohls“ eine interessante Erklärung: „Wie der Triumph des Brexit in Grossbritannien war auch die Wahl Donald Trumps ein wütendes Urteil gegen Jahrzehnte wachsender Ungleichheit und eine Version der Globalisierung, die nur denen dient, die ohnehin an der Spitze stehen, normale Bürger aber mit einem Gefühl von Machtlosigkeit zurücklässt.“ Man könnte hier auch noch die „Alternative für Deutschland“, die „Gelbwesten“ in Frankreich oder populistische Strömungen wie zum Beispiel in Italien erwähnen. Stets geht es um das Gleiche: Bürgerinnen und Bürger, die unter zunehmend schlechteren Bedingungen leben müssen, sind wütend. Und gegen wen richtet sich ihre Wut? Natürlich gegen die „Eliten“, die auch in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten nach wie vor in Saus und Braus leben. Oder, im Falle von Grossbritannien, gegen das „Monster“, als welches die EU in den Augen so vieler Briten und Britinnen erscheint. Es ist ja auch kein Zufall, dass sich vor allem schlecht verdienende und sozial benachteiligte Briten und Britinnen für den Brexit aussprachen, mit dem Brexit erhofften sie sich nicht nur mehr Freiheit und Unabhängigkeit, sondern vor allem auch eine Verbesserung ihrer sozialen Situation. Doch genau dies könnte sich als Bumerang erwiesen. Denn im Grunde geht es nicht um die EU oder um diese oder jene Elite. Im Grunde geht es um den Kapitalismus. Mit oder ohne EU, mit oder ohne Boris Johnson, mit oder ohne Brexit, mit oder ohne Angela Merkel, mit oder ohne Donald Trump, mit oder ohne Joe Biden wird es den Menschen nicht wirklich viel besser oder viel schlechter gehen. Denn wer immer um sich schlägt, wer immer auch wütend ist und seine Fäuste ballt: Er schlägt immer nur den Sack, aber meint eigentlich den Esel. Und dieser Esel, das ist das kapitalistische Wirtschaftssystem mit seiner, wie Sandel sagt, „über Jahrzehnte gewachsenen Ungleichheit und jener Version der Globalisierung, die nur denen dient, die ohnehin an der Spitze stehen, normale Bürger aber mit einem Gefühl von Machtlosigkeit zurücklässt.“ Eigentlich ist es absurd. Das Problem, die Ursache von allem ist – von der wachsenden sozialen Ungleichheit bis zur Klimaerwärmung – der Kapitalismus. Logischerweise müsste das linken, antikapitalistischen politischen Kräften am meisten Auftrieb geben. Stattdessen beherrschen aber populistische Parteien, Bewegungen und Politiker das Feld. Höchste Zeit, dass sich die Linke neu erfindet. Aber nicht, indem sie sich an das herrschende Machtgefüge anpasst. Sondern indem sie deutlicher und klarer denn je glaubwürdige Alternativen zu einem auf reines Macht- und Profitdenken, endlosen Wachstumswahn und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen ausgerichteten Wirtschaftssystem aufzeigt. Dass es genau für eine solche Politik Mehrheiten geben müsste, zeigt eine kürzlich in Deutschland durchgeführte Meinungsumfrage, wonach 56 Prozent der Befragten fanden, der Kapitalismus sei insgesamt eher schädlich als nützlich. Vermutlich käme eine solche Befragung auch dann nicht viel anders heraus, wenn man sie in Grossbritannien, Spanien oder den USA durchführen würde, von Brasilien, Indien oder Mali gar nicht erst zu reden…

Ob die Gesichtscrème noch drinliegt? Armut im Alter mitten in der reichen Schweiz

 

A.T., die über ein Monatseinkommen von 2670 Franken verfügt, hat sich, wie die „NZZ am Sonntag“ in ihrer heutigen Ausgabe vom 13. Dezember 2020 berichtet, bisher stets als seltenen Luxus eine Gesichtscrème aus dem Globus geleistet; nun aber zögert die Rentnerin, ob sie die leere Dose ersetzen soll. Laut Schätzungen der Pro Senectute haben in der Schweiz 200’000 Personen im Pensionsalter finanzielle Probleme. Das ärmste Fünftel der Alleinstehenden kommt auf ein monatliches Einkommen von gerade mal 2300 Franken, während die reichsten 20 Prozent viermal so viel erhalten, nämlich 9500 Franken. Hauptgrund für diese grosse Differenz ist die berufliche Tätigkeit, die jemand ausgeübt hat – wer eine Arbeit mit tiefem Lohn ausgeübt hat, erhält im Alter eine entsprechend tiefere Rente. Deshalb ist es kein Zufall, dass Frauen von Armut im Alter überproportional betroffen sind. Laut einer Analyse des Gewerkschaftsbundes zahlt Gastrosocial, die Pensionskasse des Gastgewerbes, ihren Pensionierten im Schnitt 600 Franken pro Monat. In der Coiffeur- und Kosmetikbranche liegt der Beitrag mit 800 Franken nur unwesentlich höher. Und auch das Verkaufspersonal ist für den Ruhestand schlecht abgesichert… Zahlen, die zu denken geben, vor allem dann, wenn wir uns daran erinnern, dass nicht nur die Renten der Schlechtverdienenden, sondern auch ihre Lebenserwartung statistisch deutlich tiefer liegt als jene der Gutverdienenden und akademisch Gebildeten. Damit nicht genug: Schlechtverdienende verrichten zumeist besonders monotone, anstrengende und oft auch gefährliche berufliche Tätigkeiten. Zusammengefasst können wir also sagen, dass ausgerechnet jene Menschen, die besonders hart arbeiten und besonders wenig verdienen und während einer längeren Zeit ihres Lebens berufstätig sind – weil sie einerseits weniger lange zur Schule gingen und sich anderseits eine Frühpensionierung gar nicht leisten könnten – sowie zu alledem noch weniger lange leben, im Alter dann sozusagen noch damit „bestraft“ werden, dass sie sich mit einer kleineren Rente zufrieden geben müssen und unter Umständen gar von Armut betroffen sind. Dies alles zeigt, dass die Schweiz weit davon ist, ein wirklicher Sozialstaat zu sein. Denn wenn schon unterschiedliche Renten, dann müsste man eigentlich all jenen, die überdurchschnittlich lange und hart gearbeitet und trotzdem wenig verdient haben und mit einer geringeren Lebenserwartung rechnen müssen, eher eine überdurchschnittlich hohe Rente ausrichten, damit sie wenigstens im Alter jene Früchte geniessen könnten, für deren Gedeihen sie sich ein Leben lang abgerackert haben. Oder noch sozialer: Es gibt, über alle Berufe hinweg, einen Einheitslohn. Und dann logischerweise auch über alle Berufe hinweg eine Einheitsrente, so dass kein Mensch im Alter in Armut leben müsste…

„Eigentlich verdiene ich mehr, als ich bräuchte, um in dieser Gesellschaft in Würde leben zu können.“

 

„Mit 6900 Euro brutto monatlich“, sagt der an der Universität Dortmund lehrende Philosophieprofessor Christian Neuhäuser im Tages-Anzeiger vom 12. Dezember 2020, „bekomme ich deutlich mehr Geld, als ich bräuchte, um in dieser Gesellschaft in Würde leben zu können.“ Endlich sagt es mal einer – im Gegensatz zu Millionen seiner Artgenossen, die sich entweder gar nicht getrauen, ihr Einkommen publik zu machen, oder die abertausende noch so absurde Argumente ins Feld führen, um ihre hohen Löhne zu rechtfertigen. Wie aber klingt wohl eine solche Aussage, wie sie Christian Neuhäuser machte, in den Ohren einer alleinerziehenden Mutter, die monatlich gerade mal 2500 Franken zur Verfügung hat, für das Essen, die Miete, die Kleider, die Krankenkassenprämie, für alles? Hat sie nicht genau das gleiche Recht, „in dieser Gesellschaft in Würde leben zu können“? Christian Neuhäuser hat mit seiner Aussage einen ersten, kleinen, aber sehr wichtigen Schritt getan. Doch wie viele Jahrzehnte vermehrten kritischen Bewusstseins, wachsender Solidarität und wachsenden Gerechtigkeitsempfindens wird es wohl noch brauchen, bis Einkommen und Vermögen gerecht verteilt sind, entweder ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt ist oder, noch besser, ein Einheitslohn, und nicht mehr nur einige wenige, sondern alle Menschen auf diesem Planeten „in Würde leben können?“