159 Millionen Pakete und der Trugschluss eines unbegrenzten Wachstums

 

Gemäss „St. Galler Tagblatt“ vom 11. Dezember 2020 wurden bis am 30. November 2020 159 Millionen Pakete von der Post transportiert, 11 Millionen mehr als während des ganzen Jahres 2019, und da ist die Weihnachtspost grösstenteils noch nicht einmal dabei. Ein Teil der Zunahme ist zweifellos mit der Coronakrise und den vermehrten Onlinebestellungen zu erklären. Aber eben nur ein Teil. Denn die Paketflut hat schon lange vorher von Jahr zu Jahr zugenommen: 2010 wurden 108 Millionen Pakete transportiert, zwei Jahre später waren es schon 111, weitere drei Jahre später 115, 2016 waren es bereits 122, im folgenden Jahr 129, dann 138 und im Jahr 2019 bereits 148! So grosse Mehrbelastungen gehen an den Angestellten nicht spurlos vorbei. Gemäss einer aktuellen Umfrage der Gewerkschaft Syndicom beklagen sich rund 70 Prozent der Angestellten, dass sie das hohe Paketvolumen „eher fest“ oder „sehr fest“ belaste. Besonders viele klagen über Rückenbeschwerden. Ein grosses Problem bildet auch das Gewicht der Sendungen: Obwohl die Suva ein Höchstgewicht von 25 Kilo empfiehlt – nach Alter und Geschlecht des Angestellten abgestuft -, gibt es immer häufiger Pakete, die 30 oder sogar 40 Kilo schwer sind und oft über weite Wege und Treppen bis zur Haustür geschafft werden müssen. Zwar empfiehlt die Post ihren Paketboten, sich gegenseitig zu helfen, auf der anderen Seite aber gibt es für schnell arbeitende Angestellte Leistungsprämien, weshalb dann niemand ein Interesse hat, seinem Kollegen zu Hilfe zu kommen und dafür auf die Leistungsprämie verzichten zu müssen. Alle sind am Anschlag, auch die Versandhäuser: „Wenn die Post die Pakete nicht mehr verarbeiten kann“, sagt Patrick Kessler, Präsident des Schweizer Handelsverbands, „kommt es bei den Händlern zu Paketstaus. Das würde in einem Dominoeffekt enden und schliesslich das gesamte System zum Einsturz bringen.“… Doch es ist ja nicht nur die Menge transportierter Pakete, die von Jahr zu Jahr wächst. Wäre nicht die Coronapandemie dazwischen gekommen, dann hätte man ähnliche Wachstumskurven auch in unzähligen anderen Segmenten feststellen können, in Fortsetzung einer seit Jahrzehnten ungebrochenen Entwicklung: immer mehr Autos auf unseren Strassen, immer mehr zurückgelegte Flugkilometer, immer mehr Neubauten, immer mehr Modeartikel, immer mehr und in immer kürzeren Abständen verkaufte Elektronikgeräte, ein immer höherer Verbrauch von Rohstoffen, Bodenschätzen und Edelmetallen, immer höhere Abfallberge. Und es gibt wenige Anzeichen dafür, dass sich daran, wenn die Coronapandemie erst einmal überstanden ist, grundsätzlich etwas ändern wird. Doch Hand aufs Herz: Unbegrenzt kann dies doch nicht einfach immer so weitergehen. Eines Tages werden auch noch die stärksten Postangestellten angesichts einer unbeschränkt wachsenden Paketflut zusammenbrechen. Eines Tages werden auch noch die aller letzten Quadratmeter unbebauten Bodens von Häusern und Strassen zugepflastert sein. Eines Tages werden auch die letzten seltenen Metalle zur Herstellung von Computern und Handy aufgebraucht sein. Unbegrenztes Wachstum in einer begrenzten Welt ist schlicht und einfach nicht möglich und muss, wenn wir uns nicht eines Besseren besinnen, früher oder später zu einer ungeahnten Katastrophe führen, die sich mit nichts vergleichen lässt. Das Beispiel der jährlich wachsenden Paketflut zeigt, dass es nicht nur die kapitalistischen Unternehmen sind, welche mit der Produktion von Waren den unersättlichen Wachstumsmotor antreiben, nein, es sind wir alle, die diesen Wachstumsmotor zusätzlich antreiben, indem wir diese Waren in immer grösserer Menge kaufen, obwohl wir das meiste davon gar nicht unbedingt nötig haben. Könnte die Coronakrise der Anlass dafür sein, dies alles kritisch zu überdenken? Zu wünschen wäre es, dringender denn je… 

Die Coronapandemie und die Frage nach der Zukunft des Kapitalismus

 

Die Coronapandemie, so Nikolaus Piper im heutigen Tages-Anzeiger vom 10. Dezember 2020, liefere keine Argumente gegen den Kapitalismus. Im Gegenteil: Nur die Milliarden, über welche die Staaten dank ihrer kapitalistischen Wirtschaft verfügten, hätten das Schlimmste verhindert. Und schliesslich hätten die G-20-Staaten beschlossen, die Impfdosen weltweit möglichst gerecht zu verteilen. Man könne nur hoffen, so Piper, dass es durch die Coronapandemie nicht zu einer Abkehr vom Kapitalismus komme. Was Piper hier vertritt, ist eine sehr einseitige Sicht der Dinge. Logisch, dass ein Bewohner jenes Landes, das von der Globalisierung und dem weltweiten kapitalistischen System dermassen profitiert wie die Schweiz, mit der Idee einer Abkehr vom Kapitalismus kaum etwas anfangen kann. Würden wir aber einen indischen Landarbeiter, eine brasilianische Köchin oder einen afrikanischen Minenarbeiter fragen, dann wäre die Antwort wohl eine ganz andere. Der gleiche Kapitalismus, der bei uns viel Wohlstand, eine hohe Lebensqualität und eben auch ein hervorragendes Gesundheitssystem ermöglicht hat, dieser gleiche Kapitalismus hat eine umso schmerzlichere und leidvollere Kehrseite: Armut, Hunger und Elend in weiten Teilen der südlichen Länder – und eben auch viel schlechtere Gesundheitssysteme, was dazu führt, dass beispielsweise ganze afrikanische Länder mit mehreren Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen nicht einmal über ein einziges Beatmungsgerät verfügen. Und wenn Piper die gerechte Verteilung der Impfstoffe erwähnt, so mag dies ja eine begrüssenswerte Absichtserklärung der G-20-Staaten sein. Tatsächlich aber haben sich die wohlhabenden Länder des Nordens längst so grosse Mengen an Impfstoff unter den Nagel gerissen, dass für die ärmeren Länder nicht mehr viel übrig bleibt, ganz abgesehen davon, dass die Verteilung der Impfdosen mittels Kühlketten von minus 70 Grad in unwegsamem Gelände über Hunderte von Kilometern fast ein Ding der Unmöglichkeit ist. Tatsache ist: Der Reichtum der reichen Länder und die Armut der armen hängen aufs Engste zusammen. Am Beispiel der Schweiz lässt sich dies auf besonders eindrückliche Weise zeigen: Ein Land, das sich nur zur Hälfte aus eigener Erde ernähren kann und über keinerlei Bodenschätze verfügt, ist dennoch das reichste Land der Welt. Während mit dem Kaufen und Verkaufen von Erdöl und andere Rohstoffen und Bodenschätzen Milliardengewinne gemacht werden, verharren die Länder, aus deren Erde diese Rohstoffe und Bodenschätze stammen, nach wie vor in bitterster Armut. Das Gleiche gilt für Kaffee, Kakao, tropische Früchten und viele andere Produkte, mit denen Lebensmittelkonzerne und Supermärkte ihre Gewinne erzielen, während all die Arbeiterinnen und Arbeiter, welche in den südlichen Ländern diese Produkte herstellen, kaum genug zum Leben haben. Rohstoffe billig einkaufen und zu teuren Fertigprodukten verarbeiten – diese Devise hat der Schweiz und den anderen kapitalistischen Ländern des Nordens über Jahrhunderte jenen Reichtum verschafft, auf den sie heute so stolz sind. Kann es ein Ziel sein, dass die Welt so bleibt, wie sie ist? Oder müsste uns nicht im Gegenteil genau die Coronapandemie die Augen dafür öffnen, dass die Welt eben gerade nicht so bleiben sollte, wie sie ist? Wäre es nicht höchste Zeit für ein Wirtschaftssystem, das nicht mehr auf Ausbeutung beruht, sondern auf einer gerechten Verteilung aller Güter und einem guten Leben für alle, ganz unabhängig davon, ob sie in Mali, Bangladesch oder eben in der Schweiz geboren wurden?

Argentinien führt Reichtumssteuer ein – und die Schweiz?

 

Argentinien hat als erstes Land der Welt eine Vermögensabgabe eingeführt, um die Folgen der Coronakrise zu bewältigen. Durch die Abgabe der 12’000 Reichsten Argentiniens werden 3,5 Milliarden Euro generiert. Wenn das eines der ärmeren Länder der Welt kann, weshalb sollte es das reichste Land der Welt nicht können? Immerhin besitzen gemäss des Wirtschaftsmagazins „Bilanz“ die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer nicht weniger als 709 Milliarden Franken, eine Summe, welche sogar die gesamte jährliche Wirtschaftsleistung der Schweiz übertrifft. Beruft sich die schweizerische Bundesverfassung nicht auf das Christentum? Wird nicht Sonntag für Sonntag landauf landab in den Kirchen die Nächstenliebe gepredigt? Wurde uns nicht schon als kleinen Kindern die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt, der einem bedürftigen Mann am Wegrand die Hälfte seines Mantels überliess? Ich würde ja nichts sagen, wenn diese 709 Milliarden Franken allesamt die Frucht härtester Arbeit und grösster Entbehrungen wären. Aber nein, das Allermeiste davon ist zustande gekommen durch Erbschaften, durch Besitz, der sich von selber vermehrt, durch Kaufen und Verkaufen von fremden Gütern, durch Zins-, Börsen- und Kursschwankungen, durch Aktien und Unternehmensgewinne, die letztlich nur dem Umstand zu verdanken sind, dass Abertausende Werktätige weniger verdienen, als ihre Arbeit eigentlich wert gewesen wäre. Es wäre nur selbstverständlich, einen Teil des Geldes, das in guten Zeiten gehortet wurde, jetzt in schlechten Zeiten jenen zurückzugeben, welche am dringendsten darauf angewiesen sind.

Die Frage der Gerechtigkeit nicht unter den Tisch wischen

 

Essen in einem Restaurant. Übernachten in einem Hotel. Skiferien in Davos oder St. Moritz. Golfspielen oder Tennisspielen. Ein Konzert-, Theater- oder Kinobesuch. Eine Reise auf die Kanarischen Inseln. Ja, wir müssen, in Zeiten von Corona, auf viel Liebgewonnenes verzichten. Nur zu leicht vergessen wir dabei aber, dass alle diese Vergnügungen einem grossen Teil der Bevölkerung nicht erst seit Corona, sondern auch zuvor schon versagt gewesen waren: Nicht weniger als 660’000 in der Schweiz lebende Menschen waren gemäss einer Erhebung von Caritas bereits im Jahre 2018 von Armut betroffen, eine armutsbetroffene Einzelperson hatte gerade mal monatlich durchschnittlich 2’286 Franken zur Verfügung – für alles, was es zum Leben braucht, inklusive Wohnungsmiete und Krankenkassenprämie. Da konnte man vom Essen im Restaurant, von Skiferien in Davos und erst recht von einer Reise auf die Kanarischen Inseln nicht einmal träumen. Wenn heute breit und ausführlich darüber diskutiert wird, ob man die Skigebiete über Weihnachten öffnen soll, wie viele Personen im Restaurant am gleichen Tisch sitzen dürfen und ob Kinos, Theater und Konzertsäle in Betrieb bleiben sollen, dann hat dies alles freilich grösste Berechtigung, geht es doch nicht nur um die Bedürfnisse von Gästen, Kunden und Kundinnen, sondern vor allem auch um die Existenzfrage für Abertausende Angestellte, Kulturschaffende, Restaurantbesitzer und zahllose Kleinbetriebe. Trotz aller dieser Diskussionen sollten wir aber die Frage, in was für einer Schweiz wir zukünftig leben wollen, nicht unter den Tisch wischen. Jetzt, wo alles aufgerüttelt und durcheinandergewirbelt wird, sollte auch die Frage der Gerechtigkeit aufgerüttelt und durcheinandergewirbelt werden. Damit wir, wenn dann alles einmal überstanden ist, nicht mehr in einem Land leben, wo die reichsten 300 Menschen mehr als 700 Milliarden Franken besitzen, während über 650’000 Menschen Abend für Abend jeden Rappen zwei Mal umdrehen müssen, um überhaupt noch etwas Essbares auf dem Tisch zu haben.

Hier Frieden, dort Krieg: die zerstörerischen Gesetze der Globalisierung

 

Da kann ich ja nicht einmal mehr an einer Socar-Tankstelle ein Gipfeli kaufen, ohne den Krieg Aserbaidschans gegen Armenien mitzufinanzieren. Socar, so berichtet der Tages-Anzeiger am 3. Dezember 2020, besitzt in der Schweiz zwei wichtige Tochtergesellschaften: Die Socar Energy Switzerland GmhH mit Sitz in Zürich, welche sämtliche frühere Esso-Tankstellen sowie 56 Tankstellenshops betreibt, und die Socar Trading SA in Genf, die mit Öl und Gas handelt. Beide Tochterfirmen befinden sich zu 100 Prozent im Besitz des Mutterkonzerns, der wiederum dem Staat Aserbaidschan gehört. Sämtliche Gewinne aus der Schweiz fliessen also direkt nach Baku. Im Krieg gegen Armenien waren die Milliarden, die Aserbaidschan mit Öl und Gas verdient, entscheidend. Modernste Waffensysteme wurden mehr oder weniger direkt aus den Öleinnahmen finanziert, 57 Prozent des Staatsbudgets kommen aus dem Ölgeschäft und rund 6 Prozent davon direkt von Socar. Socar Energy Switzerland, so Geschäftsführer Edgar Bachmann, sei eine „sehr schweizerische Firma“, nur sei ihr Aktionär eben international. Und auch SVP-Nationalrat Yves Nidegger, der Vertreter jener Partei, die bei jeder Gelegenheit schweizerische Eigenständigkeit und schweizerische Werte an ihre Fahne heftet, meint, er sähe keinen Grund, weshalb eine solche Firma in der Schweiz nicht willkommen sein solle. Schöne neue Welt und alle scheinen sich einig sein: hier die Gipfeli, dort der Krieg. Fein säuberlich beides voneinander getrennt, so dass die Täter nicht die Opfer sehen und die Ofer auch nicht die Täter. Die beiden Kehrseiten der kapitalistischen Münze: Hier Frieden, dort Krieg, hier Reichtum, dort Armut, hier der bekömmliche Sonntagsbraten, dort abgebrannte Wälder und verwüstete Länder, hier das glitzernde Spielzeug unter dem Weihnachtsbaum, dort zu Tode geschundene Arbeiterinnen in chinesischen Fabriken. Höchste Zeit, dass auf die wirtschaftliche Globalisierung, die immer gnadenloser und rücksichtsloser über den Erdball fegt, endlich ebenso systematisch und kompromisslos eine Globalisierung des Friedens, der Demokratie, der Menschenrechte und des guten Lebens für alle folgt. Damit Gerechtigkeit und Frieden weltweit nicht mehr seltene Ausnahmen sind, sondern die allgemein gültige Regel und ich nicht nur mein Gipfeli, sondern auch die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum, meine Rente und das Gemüse auf meinem Teller geniessen kann, ohne dabei ein schlechtes Gewissen haben zu müssen…

Krasse Misstände bei der Migros-Tochter Saviva – und doch alles andere als ein Einzelfall

 

Wie die TV-Sendung „Kassensturz“ des Schweizer Fernsehens vom 1. Dezember 2020 berichtet, herrschen bei der Migros-Tochter Saviva krasse Missstände. Saviva ist ein Transportunternehmen und beliefert im Auftrag der Migros Restaurants, Spitäler und Altersheime mit Lebensmitteln. Die  Chauffeure der Saviva klagen über haarsträubende Arbeitsbedingungen: Sie sind bis zu 13 Stunden unterwegs, meist in der Nacht und fast immer ohne Pause. Um dennoch die gesetzlichen Vorschriften einzuhalten, deklarieren sie die Zeit, die sie fürs Aus- und Aufladen benötigen, als Pausenzeit. Wie wenn das alles nicht schon genug wäre, wurden anfangs 2020 die Nachtzuschläge gestrichen und die Spesen gekürzt, so dass sich der monatliche Lohn um nicht weniger als 1000 Franken reduzierte. Ein Vertreter der Gewerkschaft Unia bezeichnet das Ganze im Gespräch mit dem „Kassensturz“ als „Missmanagement“. Dann bricht die Reportage ab. Aber eigentlich müsste sie doch jetzt erst so richtig anfangen. Denn die Firma Saviva ist ja nicht irgendein exotischer Einzelfall. Saviva steht stellvertretend für unzählige andere, kleinere und grössere Firmen, von der Reinigungsbranche über die Hotellerie bis zum Bau- und Gesundheitswesen, wo die arbeitenden Menschen unter einem stetig wachsenden Druck stehen, unter sich laufend verschlechternden Bedingungen immer grössere Leistungen zu erbringen. Und weshalb? Nicht weil alle diese Firmen schlecht geführt werden und auch nicht, weil die Firmenbesitzer, die Manager und die Chefs so schlechte Menschen wären. Sondern, ganz einfach: Weil wir im Kapitalismus leben, einem Wirtschaftssystem, das auf Wettbewerb und gegenseitigem Konkurrenzdruck beruht und, wie in einem Wettrennen, die arbeitenden Menschen dazu zwingt, immer noch schneller und besser zu arbeiten als die anderen – um im gegenseitigen Wettkampf nicht unterzugehen. Wenn, um auf den Bericht des „Kassensturz“ zurückzukommen, die Firma Saviva nicht das Letzte aus ihren Angestellten herauspresst, dann wird ihre Kundschaft keinen Moment zögern, ihre Aufträge dem nächstbesten Konkurrenten von Saviva, der noch billiger und noch schneller liefert, zuzuschanzen. Das Ganze gleicht einer riesigen Maschine, die sich immer schneller dreht und in der jeder nur darauf wartet, dass dem anderen der Schnauf ausgeht, bevor er ihm selber ausgeht. Eine Maschine, in der jeder Einzelne nur ein winziges Rädchen ist, das, wenn es aussteigen oder sich etwas langsamer bewegen möchte oder ganz einfach die ganze Belastung nicht mehr aushält, sogleich durch ein anderes Rädchen ersetzt wird, nur damit die ganze Maschine auch keinen einzigen Augenblick stillsteht. Die Lösung kann nicht darin bestehen, einzelne Rädchen auszuwechseln. Sie kann nur darin bestehen, eine von Grund auf neue Maschine zu bauen, die nicht mehr auf gegenseitiger Ausbeutung, endlosem Wachstum und nicht enden wollender Profitmaximierung beruht, sondern auf Gerechtigkeit, Lebensqualität und Fairness gegenüber jeglicher beruflicher Tätigkeit, kurz: einem „guten Leben“ für alle. Ob in einer der nächsten „Kassensturz“-Sendungen davon etwas zu hören sein wird? Schön wäre es…

Die Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative: ein Zeichen der Hoffnung

 

50,7 Prozent der Schweizer Bevölkerung haben der Konzernverantwortungsinitiative, mit der Schweizer Konzerne für Verletzungen von Menschenrechten und Umweltstandards auch ausserhalb der Schweiz hätten haftbar gemacht werden sollen, zugestimmt. Auch wenn die Vorlage schliesslich am Ständemehr gescheitert ist, können die Initianten und Initiantinnen doch für sich in Anspruch nehmen, eine Mehrheit der Bevölkerung von ihrem Anliegen überzeugt zu haben. Und das wird wohl seine Spuren hinterlassen und sich auch auf zukünftige Vorstösse mit ähnlicher Thematik positiv auswirken. Doch das Ganze hat einen grossen Haken. Denn an dieser Abstimmung teilnehmen durfte ausschliesslich die Schweizer Bevölkerung. Die Bevölkerung jenes Landes also, das eigentlich nur die „Schokoladenseite“ jener Handels-, Wirtschafts- und Finanzbeziehungen kennt, an deren anderem Ende sich Minenarbeiter Hunderte von Metern unter dem Boden zu Tode schuften, Kinder an vergiftetem Wasser sterben und Familien gezwungen sind, in Wolken von Staub und schädlichen Abgasen aufs engstem Raum zusammenzuleben. Doch dieses „andere Ende“ ist noch viel grösser, weltumspannender. Es sind auch endlose Kakao- und Kaffeeplantagen in Afrika und Lateinamerika, wo Arbeiterinnen und Arbeiter während zwölf oder mehr Stunden pro Tag in sengender Hitze all jene Produkte dem Boden abringen, die wir, am anderen, am goldenen Ende der Kette, pünktlich wiederum in unseren Supermärkten und auf unseren Tischen vorfinden. Es sind auch jene Textilfabriken in Indien und Bangladesh, wo Abertausende von Frauen zu Hungerlöhnen und oft unter Schlägen ihrer Aufseher jene Kleider anfertigen, die wir dann zu Billigstpreisen in unseren Modegeschäften kaufen können. Und es sind auch all die Verwüstungen durch den Klimawandel, der zur Hauptsache von den reichen Ländern verursacht wird, von dessen Folgen aber hauptsächlich die armen Länder betroffen sind. Wenn die Schweiz über die Konzernverantwortungsinitiative abstimmt, dann ist das, wie wenn der König darüber abstimmen würde, ob er seine Sklaven und Sklavinnen begnadigen möchte oder nicht – zweifellos würde er ein dickes Nein in die Urne legen, weil damit nämlich seine ganze Macht und sein ganzes Wohlergehen in sich zusammenbrechen würden. So gesehen ist es eigentlich sensationell, dass die Schweizer Bevölkerung mehrheitlich der Konzernverantwortungsinitiative zugestimmt hat. Aber das ist längst noch nicht genug. Eigentlich hätten all die Männer, Frauen und Kinder, die weltweit in Schweizer Konzernen arbeiten, ebenfalls über diese Initiative abstimmen sollen, denn sie sind ja – im Gegensatz zur Schweizer Bevölkerung – die eigentlich Hauptbetroffenen des Ganzen. Und eigentlich müssten nicht nur diese Frauen, Männer und Kinder, sondern weltweit alle Menschen darüber abstimmen können, ob Ausbeutung, endloses Wirtschaftswachstum und Umweltzerstörung weiterhin die Grundpfeiler der Weltwirtschaft bleiben sollen oder ob nicht an deren Stelle ein von Grund auf anderes, neues Wirtschaftssystem aufgebaut werden müsste, das auf Gerechtigkeit, Frieden und dem Respekt nicht nur gegenüber den Menschen, sondern auch gegenüber der Natur beruhen würde. Eigentlich ist es ein grandioser Anachronismus, dass sich die kapitalistischen Wirtschaftsmächte längst über alle Grenzen hinweg global ausgebreitet und vernetzt haben, während die Demokratie – als angebliche Schwester des Kapitalismus – immer noch nur innerhalb der jeweiligen Landesgrenze stattfindet. Denn auf diese Weise können ausgerechnet jene Länder, die am meisten vom weltwirtschaftlichen Ausbeutungssystem profitieren und zugleich am meisten Macht haben, gleichzeitig auf „demokratische“ Weise am erfolgreichsten verhindern, dass sich am weltweiten Machtsystem grundsätzlich etwas ändert. Die Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative ist immerhin ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass es dem „König“ offensichtlich in seiner Haut nicht mehr ganz so wohl ist und vielleicht sogar er insgeheim von jener Welt träumt, die das „gute Leben“ nicht mehr nur für eine kleine Minderheit, sondern für alle Menschen möglich machen würde. Hoffen wir es.

Es gibt keine echte Freiheit ohne soziale Gerechtigkeit

 

Bürgerliche Politiker und Politikerinnen singen gerne das Hohelied der „individuellen Freiheit“ als grösster Errungenschaft westlicher Demokratien – im Gegensatz zu Diktaturen oder „sozialistischen“ Staatsformen. Doch Freiheit im Kapitalismus ist ein trügerischer Begriff… 

Kann der Absolvent eines Gymnasiums aus hundert verschiedenen zukünftigen Ausbildungswegen frei wählen, bleibt dem Jugendlichen aus der „Unterschicht“, der die Schule frühzeitig abbrechen musste, gerade noch die Wahl zwischen einem Handlangerjob auf dem Bau und einem Job bei der Kehrichtabfuhr. Kann die Akademikerfamilie für ihre nächste Ferienreise frei zwischen Bali, Mauritius und den Malediven wählen, so muss die alleinerziehende Verkäuferin schon froh sein, wenn sie sich überhaupt ein Zugbillett nach Zürich oder Bern leisten kann, um dort ihre kranke Mutter zu besuchen. Bietet sich dem Ärzteehepaar als zukünftige Wohnstätte eine Vielzahl an Luxuswohnungen und Villen jeglicher Preiseklasse in der Agglomeration an, so muss die vierköpfige Familie eines Kochs schon dankbar sein, wenn sie sich mitten in der Stadt an einer vielbefahrenen Strasse in eine winzige Dreizimmerwohnung hineinzwängen darf. Kann sich der Geschäftsführer einer Computerfirma am Sonntagmorgen überlegen, ob er den Tag lieber auf seinem Segelboot auf dem Bodensee oder doch lieber auf dem Golfplatz verbringen möchte, wartet das fünfjährige Kind der Arbeiterfamilie immer noch sehnsüchtig auf das schon lange versprochene Dreirad. Können der Gymnasiallehrer und seine Frau, die Rechtsanwältin, mit ihren Kindern im Restaurant aus über 30 verschiedenen Menus das Gewünschte auswählen, samt Vorspeise und Dessert, muss die Putzfrau, die unlängst ihre Stelle verloren hat, ihren Kindern mit aller Mühe beibringen, dass es auch heute wieder nur noch knapp für gerade mal ein Stück Brot oder einen Teller Spaghetti gereicht hat…

Die Freiheit der einen ist eben im Kapitalismus nicht die Freiheit der anderen. Was wir „Freiheit“ nennen, sind in Tat und Wahrheit bloss Privilegien, welche die einen nur deshalb geniessen können, weil die anderen davon ausgeschlossen sind. Echte Freiheit als demokratische Errungenschaft wäre etwas von Grund auf anderes. Echte Freiheit wäre stets nicht nur meine eigene, sondern zugleich immer auch die Freiheit aller anderen. Echte Freiheit ist nur möglich auf der Grundlage sozialer Gerechtigkeit. Erst wenn alles, von den Gütern des täglichen Bedarfs bis zur Entlohnung für geleistete Arbeit, unter alle gerecht verteilt ist, erst dann können wir tatsächlich von Freiheit sprechen. Die Behauptung der bürgerlichen Politiker und Politikerinnen, Freiheit sei das Produkt der marktwirtschaftlichen, kapitalistischen Gesellschaft, geht zurück an den Absender. Wenn wir Freiheit verwirklichen wollen, dann müssen wir zuerst soziale Gerechtigkeit verwirklichen.

Und wieder sind die Reichsten noch reicher geworden – und das mitten in der Corona-Zeit

 

Und wieder sind die reichsten Schweizer und Schweizerinnen noch reicher geworden, als sie es schon waren, und das mitten in der Corona-Zeit: Gemäss neuester Ausgabe der Zeitschrift „Bilanz“ hat das Vermögen der 300 Reichsten innerhalb eines Jahres von 702 um 5 auf sage und schreibe 707 Milliarden Franken zugenommen. Woher ist dieses viele Geld gekommen? Das ist ganz einfach: Mit jeder Tafel Schokolade, die wir kaufen, mit jedem Kilometer, den unser Auto fährt, mit jeder Versicherungsprämie und mit jedem Mietzins, den wir zahlen, wandert immer ein kleiner Teil davon in die Taschen der Firmenbesitzer, der Immobilienhändler, der Aktionäre und Aktionärinnen von Grosskonzernen. Diese 707 Milliarden Franken sind nicht eines Tages vom Himmel gefallen, sie stammen auch nicht aus dem Bauch eines versunkenen Schiffs. Nein, sie mussten, Franken für Franken, hart erarbeitet werden, aber nicht von denen, die sie besitzen, sondern von denen, die Nacht für Nacht am Bett eines Kranken oder Sterbenden stehen, von denen, die auch bei grösster Kälte, stärkstem Regen und Sturm unsere Häuser bauen, von denen, die unermüdlich von Tisch zu Tisch Speisen servieren, bis ihre Füsse und ihre Rücken so sehr schmerzen, dass sie nicht mehr schlafen können. Und die alle, von den Köchen und Floristinnen bis zu den Kanalarbeitern und Verkäuferinnen viel weniger verdienen, als ihre Arbeit eigentlich wert wäre – so dass stets unaufhörlich der Reichtum von den Arbeitenden zu den Besitzenden fliesst und sich die Schere zwischen Arm und Reich immer noch weiter und weiter vertieft. Heute wird darüber gestritten, welche Wirtschaftszweige, welche Betriebe und welche selbstständig Arbeitende wie viel Geld bekommen sollen, um die Zeit der Coronaepidemie zu überleben. Dabei würde schätzungsweise wohl nur schon ein Zehntel des Vermögens, welches sich in der Hand der 300 Reichsten befindet, genügen, um all jenen, die infolge der Coronapandemie existenziell bedroht sind, über die Runden zu helfen und ihnen all ihre Ängste und Sorgen im Hinblick auf die Zukunft abzunehmen…

Der „Wettlauf“ um die Impfstoffe und seine Gewinner und Verlierer

 

Die Welt atmet auf – schon bald soll mit Impfungen gegen das Coronavirus begonnen werden. Doch wer ist das, die Welt? Einmal mehr und schärfer denn je tut sich ein unermesslicher Graben zwischen reichen und armen Ländern auf:  Während die reichen Länder bereits 2,6 Milliarden Impfdosen für eine Bevölkerung von einer Milliarde Menschen bestellt haben, was einem Deckungsgrad von 260 Prozent entspricht, soll das gegenwärtige Bestellziel der ärmeren Staaten gerade mal 20 Prozent der Bevölkerung abdecken, was 0,8 Milliarden Impfdosen für 4 Milliarden Menschen entspricht. Doch nicht nur was die Impfstoffe betrifft, sind die ärmeren Länder einmal mehr auf der Verliererseite. Auch die Gesundheitssysteme dieser Länder lassen sich in keinster Weise mit jenen der reichen Länder vergleichen, das heisst, dass die ärmeren Länder sogar noch viel mehr als die reicheren auf eine Impfung angewiesen wären. Und wenn nicht schon dies alles mehr als genug wäre, kommt noch eine weitaus grössere Ungerechtigkeit dazu: Ausgerechnet in jenen Ländern, für die am wenigsten Impfstoff vorhanden ist und deren Gesundheitssysteme in Anbetracht der Coronapandemie hoffnungslos überfordert sind, ausgerechnet in diesen Ländern werden Tür und Tor geöffnet, um Impfstoffe breitflächig zu testen. So zum Beispiel in Brasilien, wo unter anderen das britisch-schwedische Unternehmen AstraZeneca, der US-Konzern Pfizer und das chinesische Unternehmen SinovacBiotech an Tausenden von Menschen Testreihen durchführen. Oder in Indien, wo vor allem der russische Impfstoff Sputnik V erprobt wird. Nicht einmal wenn es um die Gesundheit und das Überleben geht, gibt es so etwas wie länderübergreifende Solidarität. Nein, das Wettrennen zwischen den Nationen um grösstmögliche wirtschaftliche Profite, das schon vor Corona die Welt beherrschte, geht nun, in den Zeiten einer nie dagewesenen Pandemie, erst recht weiter. Und dieser Wettlauf kennt kein Erbarmen. Einmal mehr, buchstäblich tödlicher denn je, gehen die einen als Sieger hervor und die anderen als Verlierer. Ist dies alles nicht mindestens so schlimm wie jener Rassismus, gegen den in den vergangenen Monaten Abertausende Anhänger und Anhängerinnen der „Black Lives Matter“-Bewegung auf die Strassen gegangen sind? Weshalb empören wir uns so sehr über die einen Ungerechtigkeiten, während wir die anderen stillschweigend und gleichgültig hinnehmen?