Die deutschen Grünen auf dem Weg zur Macht – doch welches ist der Preis?

 

Die deutschen Grünen wittern Morgenluft. Sie wollen ihre bisherige Rolle als Opposition aufgeben und ab 2021 Regierungsverantwortung übernehmen. Zu diesem Zweck, so der „Tages-Anzeiger“ vom 23. November 2020, haben sie sich ein neues Grundsatzprogramm verpasst, mit dem sie „aus der früheren Ökonische in die Mitte der Gesellschaft“ gelangen möchten. Hätten die grünen „Fundis der Vergangenheit“ noch Radikalopposition betrieben, so spielten die Grünen heute eine ganz andere „Melodie“: „Das neue Programm lobt die Märkte für ihre Innovationskraft über den grünen Klee.“ Gleichzeitig wird nicht einmal mehr am Pariser Klimaabkommens festgehalten und die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad nicht mehr als Ziel, sondern nur noch als „Pfad“ formuliert, was jegliche umweltpolitische Beliebigkeit und Dehnbarkeit ermöglicht. Denn die Forderungen der Klimajugend seien ausserhalb ihres Kreises „nicht mehrheitsfähig und aus Sicht der Partei nur dazu angetan, Wähler in Massen zu vertreiben.“ Doch Halt. War es nicht gerade die Klimabewegung, welche mit dem Aufmarsch Hunderttausender Jugendlicher über Monate hinweg die Bevölkerung erst so richtig wachgerüttelt und zweifellos zum Vormarsch der Grünen wesentlich beigetragen hat? Und jetzt distanzieren sich die Grünen ausgerechnet von all jenen, die ihren Aufstieg ermöglichten? Wie könnte man das nennen? Ist das der Preis, den man zahlen muss, wenn man „mehrheitsfähig“ werden und sich an der Macht beteiligen will? Ist es Vernunft? Sind es die Gesetze der „Realpolitik“? Oder ist es nicht ganz einfach und brutal gesagt: Verrat? Verrat an den eigenen ursprünglichen Idealen, Verrat an all denen, die bei jedem Wetter und allen Anfeindungen zum Trotz auf den Strassen gekämpft haben, Verrat an all jenen Wählern und Wählerinnen, die ihre Stimmen immer wieder grünen Politikern und Politikerinnen gegeben haben in der Hoffnung, diese würden auch weiterhin und allen Anfeindungen zum Trotz die ursprünglichen Ziele der Klimabewegung nicht aus den Augen verlieren. „In der Mitte der Gesellschaft angekommen“: Wie gut das tönt, fast so gut wie die neue „Melodie“, die auf die Kräfte der Marktwirtschaft gesungen wird. Doch könnte man es nicht anders sehen? Die „Mitte der Gesellschaft“ ist nämlich nichts anderes als die „Mitte des kapitalistischen Monsters“. Schön, da sind jetzt die Grünen endlich angekommen, wie die Spinne, die sich in ihrem eigenen Netz verwickelt hat und nicht mehr herausfindet. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet veröffentlichte im Januar 2020 die internationale Kommunikationsagentur Edelmann das Ergebnis einer weltweiten Befragung. Daraus geht hervor, dass 56 Prozent der Deutschen davon überzeugt sind, dass „der Kapitalismus mehr schadet als nützt“. Würden sich die Grünen – mit allen damit verbundenen Konsequenzen – als antikapitalistische politische Kraft präsentieren, so hätten sie also bereits ganz alleine die Mehrheit der Bevölkerung auf ihrer Seite und wären dann tatsächlich „in der Mitte der Gesellschaft“ angelangt. Weshalb diese Ängstlichkeit, dieser Kleinmut, diese Aufgabe der ursprünglichen Ideale, dieses Anpassertum?  Ja, wir brauchen eine neue Melodie. Aber nicht die Melodie des Kapitalismus, diese hat genug Schaden angerichtet. Es braucht eine neue Melodie, eine Melodie des Friedens und der Gerechtigkeit jenseits von Machtspielen, von selbstzerstörerischem Wachstumswahn und der Ausbeutung von Mensch und Natur. Genau die Melodie, die von den Klimajugendlichen auf den Strassen gesungen wurde und hoffentlich schon bald wieder zu hören sein wird. Denn wie sagte schon wieder der berühmte Urwalddoktor Albert Schweitzer: „Im Jugendidealismus erschaut der Mensch die Wahrheit. In ihm erschaut er einen Schatz, den er um nichts in der Welt austauschen soll.“  

Die Klimabewegung: Es braucht nicht nur technische, sondern auch philosophische Debatten

Reduktion der Treibhausgasemissionen und der Erderwärmung. CO2-Steuern. Förderung erneuerbarer Energieproduktion. Ausstieg aus dem Kohleabbau. Emissionsarme Verkehrssysteme. Elektromobile statt mit Benzin angetriebene Autos. Wirksamere Gebäudeisolationen. Dies einige der zentralen Forderungen der Klimabewegung.

Und ja: Wenn sich dies alles im Rahmen der demokratischen Meinungsbildung und Gesetzgebung mithilfe der nötigen politischen Mehrheiten nicht realisieren lasse, dann müsste man, so die offizielle Position der Klimabewegung, über einen Systemwechsel nachdenken, einen „System Change“. Was aber, wenn es dann bereits zu spät wäre? Müsste man über den „System Change“ nicht besser jetzt schon nachdenken, die Reihenfolge sozusagen umkehren: Zuerst der „System Change“, dann, darauf aufbauend, die sich daraus ergebenden umweltpolitischen, sozialen und technologischen Konsequenzen? Oder noch besser: Beides zugleich, sich gegenseitig ergänzend, das eine auf dem anderen aufbauend.

Ja, es braucht, neben der technischen, unbedingt auch eine „philosophische“ Debatte, und zwar von Anfang an: Wie soll die Welt aussehen, in der wir in zehn, zwanzig Jahren leben werden? Kann es uns gelingen, eine Wirtschaft, die auf immerwährendes Wachstum ausgerichtet ist, so zu transformieren, dass sie sich nur noch in sich selber regulierenden Kreisläufen bewegt? Braucht es in Zukunft noch Waffen und Armeen oder könnten die Länder nicht lernen, ihre Konflikte auf friedliche Art zu lösen? Soll Geld weiterhin dazu dienen, über andere Menschen Macht auszuüben, oder sollte es nicht vielmehr wieder ganz und gar auf seine ursprüngliche Funktion als Tauschmittel zurückgeführt werden? Wie könnte es gelingen, die Reichtümer und Güter der Erde gerecht unter allen Menschen zu verteilen und gleichzeitig die Gesetze der Erde, der Natur und der Zukunft zu beachten? Wie wäre Arbeit zukünftig zu organisieren, dass sie die Menschen nicht mehr krankmacht? Was ist ein gutes Leben und was müsste unternommen werden, um es allen Menschen dieser Erde möglich zu machen, ganz unabhängig davon, wo sie geboren wurden?

Alles hängt mit allem zusammen, und die Klimaerwärmung ist nur die Spitze von alledem, wenn auch wohl die bedrohlichste. Das ist die grosse Hoffnung, die tiefste Sehnsucht aller Menschen, die nicht endenwollende Suche nach dem Paradies: Dass eine andere Welt möglich ist. Und dass wir uns gerade an jenem historischen Punkt befinden, den Anfang dieser neuen Zeit zu erleben…

Armenien und Aserbaidschan: In solchen Momenten beginne ich zu träumen…

Dank seiner gesteigerten militärischen Schlagkraft und mithilfe der Türkei hat es Aserbaidschan im jahrzehntelangen Zwist mit Armenien unlängst in wochenlangen schweren Kämpfen mit Hunderten von Toten geschafft, weite Teile der Region Karabach zurückzuerobern und Armenien eine vernichtende Niederlage beizubringen. Zwischen 75’000 und 100’000 Menschen, davon 90 Prozent Frauen und Kinder, mussten aus den umkämpften Gebieten Bergkarabachs fliehen und eine unbekannte Anzahl aserbaidschanischer Zivilisten mussten ebenfalls ihre frontnahen Dörfer verlassen. Verbrannte Dörfer, von Streubomben zerfetzte Männer, Frauen und Kinder, Hunger und Verzweiflung, und das alles mitten im nahenden Winter. Zwei Länder, Seite an Seite, sie könnten gute Nachbarn sein, aber nein, sie fügen sich gegenseitig jegliches Leid zu, das man sich nur vorstellen kann.

In solchen Momenten beginne ich zu träumen. Ich träume von einer Welt, in der die Länder nicht von machtgierigen, ruhmsüchtigen und waffenstrotzenden Männern regiert werden, sondern von Frauen und Kindern. Ich träume von einer Welt, in der man Waffen und anderes militärisches Gerät nur noch in den Museen sehen kann. Ich träume von einer Welt, in der Nationalismus für immer der Vergangenheit angehört und das Grundprinzip der Beziehungen zwischen den einzelnen Staaten, wenn es diese denn überhaupt noch gibt, nicht auf gegenseitigem Raubbau und Kampf um Ressourcen beruht, sondern auf geschwisterlichem Tauschen und Teilen. Ich träume von einer Welt, in der es Siege und Niederlagen höchstens noch in Märchen vergangener Zeiten gibt, aber nicht mehr in der Realität. Ich träume von einer Welt, in der das gute Leben nicht einer kleinen Minderheit Privilegierter vorbehalten ist, sondern ausnahmslos jedem einzelnen Menschen, ganz unabhängig davon, wo er geboren wurde. Wie lange wird es wohl noch dauern, bis mein Traum Wirklichkeit sein wird?

Eine „Arena“ zur Coronakrise: „Wenn ich das höre, blutet mir das Herz.“

 

Schweizer Fernsehen, „Arena“ vom 13. November 2020 zum Thema „Corona – wer soll das bezahlen?“ Es diskutieren eine SP-Nationalrätin, ein SVP-Nationalrat, ein Nationalrat der Grünen, der Direktor von Avenir Suisse, ein Ökonom und ein Epidemiologe. Gegenseitig wirft man sich Argumente und Gegenargumente an den Kopf, wie es in der „Arena“ halt so üblich ist, immer nach dem Motto: Ich bin im Recht und du bist im Unrecht, ich habe alles verstanden und du hast nichts verstanden, ich will ja nur das Beste und du hast es nur leider noch nicht gemerkt. Bis nach etwa einer Stunde der Moderator die Expertenrunde verlässt und das Wort einer jungen Frau in der hinteren Sitzreihe übergibt, die bisher mehr oder weniger geduldig zugehört hat. „Wenn ich so Sachen höre, blutet mir das Herz“, sagt die Frau, die in der Gastronomie tätig ist und einen Food Truck betreibt. Sie sei mit viel Herzblut in die Gastroszene eingestiegen, habe es dann noch mit einem Hofladen versucht und arbeite stundenweise in einem Pferdestall, aber alles habe nichts genützt, jetzt stehe sie vor dem Nichts, und nicht nur ihre, sondern auch ganz viele andere Existenzen stünden auf dem Spiel. Ihre Verzweiflung könne sie nur schwer in Worte fassen. Hier in der „Arena“, meint sie, fühle sie sich am falschen Ort und die bisherige Diskussion hätte bloss dazu geführt, dass sie den Durchblick noch ganz verloren hätte. Ja, da fragt man sich dann wirklich, wer den „Durchblick“ verloren hat und wer am „falschen Ort“ ist. Wäre die  „Arena“ nicht das ideale Gefäss, um vor allem den am meisten von der Krise Betroffenen ein Podium zu geben? Weshalb lädt man sechs „Spezialisten“ und „Spezialistinnen“ in die Sendung ein, die alle nicht von der Krise existenziell betroffen sind, aber nur eine einzige tatsächlich Betroffene, und weshalb muss diese eine Stunde lang den „Experten“ und „Expertinnen“ zuhören, bis sie endlich auch einmal etwas sagen darf, aber nur ein paar Minuten lang, bevor das Wort dann wieder an die „Spezialisten“ und „Spezialistinnen“ zurückgeht? Zeugt dies alles nicht von einem weit verbreiteten, tiefsitzenden Vorurteil, wonach alles, was ein Politiker, ein Ökonom oder ein Wissenschaftler zu sagen hat, ungleich viel „wichtiger“, „wertvoller“ und „aussagekräftiger“ ist als all das, was eine Mutter, die Betreiberin eines Hofladens, ein  Koch oder eine Coiffeuse zu sagen hat? Wäre es nicht an der Zeit, genau jenen Menschen, die sich das heute noch nicht zutrauen und die das Gefühl haben, am „falschen Ort“ zu sein und keinen „Durchblick“ zu haben, genau diesen Menschen Mut zu machen, sich politisch und öffentlich für ihre Interessen einzusetzen? Ich träume von einer „Arena“, in der möglichst viele „einfache“ Bürgerinnen und Bürger von ihren Ängsten, ihren Nöten und ihrer Verzweiflung berichten und in der die „Spezialisten“ und „Spezialistinnen“ mindestens eine Stunde lang warten müssen, bis sie dann auch einmal etwas sagen dürfen. Eine „Arena“, in der das Wort einer Floristin, einer Krankenpflegerin oder eines Bauarbeiters genau so viel Gewicht hat wie das Wort eines Universitätsprofessors, einer Politikerin oder eines Wissenschaftlers… 

Hier unbeschreiblicher Reichtum – dort der Kampf ums nackte Überleben: Als gäbe es zwei verschiedene Welten im gleichen Land

 

Gastronomie und Hotellerie, Künstlerinnen und Künstler, Kulturschaffende, Schausteller und Zirkusse, die ganze Eventbranche, Sportclubs, Reisebüros und Tourismusorganisationen – ihnen allen steht das Wasser bis zum Hals. Wenn ihnen nicht tatkräftig unter die Arme gegriffen wird, werden die meisten von ihnen die Coronazeit wirtschaftlich nicht überleben. Welche finanziellen Mittel wären nötig, um den drohenden finanziellen Kollaps zu verhindern? Eine Milliarde, zwei Milliarden, drei Milliarden? Die Auffassungen und Meinungen darüber, was möglich ist und was nicht, wer das bezahlen könnte und wer nicht, gehen quer durch Verbände, Parteien und politische Entscheidungsträger. Gleichzeitig, als gäbe es zwei verschiedene Welten, besitzen die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer insgesamt über 700 Milliarden Franken. Ein Bruchteil dieses Geldes würde also genügen, um all jene Betriebe, die jetzt um ihr Überleben kämpfen, am Leben zu erhalten. Seltsam, dass niemand auf die Idee kommt, auf diesen schier unvorstellbar vollen Geldtopf privaten Besitztums zurückzugreifen. Es muss in unseren Köpfen so etwas wie eine heilige Mauer existieren, die uns daran hindert, öffentliches und privates Geld in einem gemeinsamen Zusammenhang zu sehen. Dabei besteht ein solcher Zusammenhang sehr wohl. Diese 700 Milliarden Franken im Besitz der 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer sind nämlich nicht zufällig zustande gekommen. Vieles von diesem Geld wurde über Jahrhunderte vererbt und weitervererbt und somit der Öffentlichkeit entzogen. Anderes Geld hat sich dadurch gebildet, dass man durch Firmenbesitz oder als Aktionär reich geworden ist, Geld, das nicht eigentlich erarbeitet wurde, sondern im Gegenteil entstanden ist aus der Arbeit anderer, aus tagtäglicher harter Arbeit, von deren Früchten jene, welche sie leisteten, selber aber ausgeschlossen blieben. Wieder anderes Geld ist entstanden einzig und allein durch gewinnbringendes Hin- und Herschieben von Geld oder Rohstoffen oder Gütern aller Art. Und wieder anderes Geld ist entstanden durch den Besitz von Immobilien, die wiederum gewinnbringend an Menschen, die sich selber kein Wohneigentum leisten können, vermietet wurden. So gesehen kann man privaten Reichtum und öffentliches Geld nicht voneinander trennen. Das wird noch deutlicher, wenn wir uns vor Augen führen, dass jedes Unternehmen, das privaten Gewinn anhäuft, auf Infrastrukturen von den Strassen über die Schulen bis zur Gesundheitsversorgung angewiesen ist, zu deren Kosten selbst die am wenigsten Bemittelten ihren hart erarbeiteten Teil beitragen. Es ist daher wohl nicht übertrieben zu behaupten, Geld in dem phänomenalen Umfang, wie es die Reichen und Reichsten hierzulande besitzen, sei nicht wirklich erarbeitetes, sondern vielmehr – auf was für verschlungenen Wegen auch immer – gestohlenes Geld. Und umso mehr es sich am einen Ort anhäuft, umso schmerzlicher fehlt es an einem anderen Ort. Es wäre daher – im Sinne gutschweizerischer Demokratie und Solidarität – wohl nicht vermessen, einen Beitrag der vermögendsten Schweizer und Schweizerinnen an all jene zu fordern, die hier und heute um ihr nacktes Überleben kämpfen. Denn, wie es schon der bekannte Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

 

Die USA sind nicht nur ein zutiefst gespaltenes, sondern vor allem auch ein zutiefst kapitalistisches Land

 

Alle Kommentatorinnen und Kommentatoren der US-Präsidentschaftswahlen sind sich einig: Die USA sind ein zutiefst gespaltenes Land, so sehr, dass man zeitweise das Gefühl hat, die Anhängerinnen und Anhänger der Republikaner und jene der Demokraten lebten in zwei verschiedenen Welten, in zwei verschiedenen Sprachen, in zwei verschiedenen Arten des Denkens. Dabei geht leicht vergessen, dass die USA nicht nur ein zutiefst gespaltenes Land sind, sondern, ebenso deutlich, auch ein zutiefst kapitalistisches Land. Ein Land, in dem die Kluft zwischen Arm und Reich grösser ist denn je. Ein Land, in dem die reichsten Menschen der Welt leben und sich gleichzeitig Millionen von Menschen mit zwei oder drei Jobs pro Tag zu Tode schuften müssen und dennoch kaum genug Geld haben, um davon einigermassen anständig leben zu können. Ein Land, in dem die Schulen nicht vor allem dazu da sind, dass die Kinder möglichst viel lernen, sondern dazu, dass jene Kinder, die aus privilegierten Verhältnissen stammen, auch als Erwachsene wieder zu den Privilegierten gehören werden. Ein Land, in dem permanentes Wirtschaftswachstum nach wie vor einen der wichtigsten, geradezu heiligen Glaubenssätze bildet – allen damit verbundenen ökologischen Zerstörungen und Folgekosten zum Trotz. Ein Land, das sich immer noch damit rühmt, über die grösste und bestgerüstete Armee der Welt zu verfügen. Joe Biden hat versprochen, sein gespaltenes Land zu einen, die Gräben zwischen den unterschiedlichen Lebenswelten zuzuschütten. Doch das wird nicht genügen. Um das Land tatsächlich von Grund auf zu erneuern und die jahrzehntealten sozialen Missstände zu überwinden, wird es unumgänglich sein, nicht nur an der Oberfläche des kapitalistischen Systems zu kratzen, sondern dieses von Grund auf in Frage zu stellen und durch einen radikal neuen Gesellschaftsvertrag zu ersetzen, mit dem jede Form von Ausbeutung, sozialer Ungerechtigkeit, Raubbau an der Erde und an der Natur sowie militärischer Aufrüstung für immer ein Ende haben wird. Noch ist offensichtlich die Zeit dafür noch nicht reif. Doch Millionen von jugendlichen Amerikanern und Amerikanerinnen haben mit ihrer leidenschaftlichen Unterstützung des pointiert antikapitalistisch politisierenden Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders gezeigt, dass es noch ein anderes Amerika geben könnte als das, woran wir uns über so lange Zeit gewöhnt haben. Sie halten die Hoffnung am Leben, dass eines Tages allen Widerwärtigkeiten zum Trotz die Träume und die Visionen von heute zur Wirklichkeit von morgen werden können…

Konzernverantwortungsinitiative: Kein Sonntagsspaziergang, aber umso dringender nötig…

 

Die heutige „NZZ am Sonntag“ vom 8. November 2020 versucht am Beispiel einer Zementfabrik des Schweizer Konzerns Holcim im Libanon aufzuzeigen, dass sich die Konzernverantwortungsinitiative gar nicht so umsetzen liesse, wie die Initianten und Initiantinnen sich dies vorstellten. Zwar wird eingeräumt, dass die Menschen, welche in der Nähe der Zementfabrik und der Steinbrüche leben, überdurchschnittlich häufig von Atemwegserkrankungen betroffen seien und die Rate der Krebserkrankungen weit über jener der Durchschnittsbevölkerung liege. Schuld seien die Emissionen der Fabriken, der Feinstaub aus den Steinbrüchen und die fossilen Brennstoffe, die zur Betreibung der Generatoren verbrannt werden. Eigentlich ein Paradebeispiel dafür, dass die Konzernverantwortungsinitiative dringend nötig ist, hat doch die heutige gesetzliche Grundlage offensichtlich nicht genügt, um solche Missstände in den Griff zu bekommen. Doch erstaunlicherweise gelangt die „NZZ am Sonntag“ genau zum gegenteiligen Schluss: „Der Fall Holcim Liban zeigt das ganze Dilemma der Initiative. Ein Schweizer Gericht müsste ein mögliches Fehlverhalten einer Firma in einem anderen Land beurteilen, in dem erstens korrupte Politiker an der Macht sind, zweitens Normen gelten, die zwar internationale Vorgaben missachten, aber dennoch geltendes Landesrecht sind, drittens die eigene Bevölkerung Gesetze umgeht, und viertens seriöse Messungen fehlen oder nicht zugänglich sind.“ Eine Argumentation, die nun tatsächlich schon fast ans Absurde grenzt. Damit könnte man auch hierzulande alle möglichen Strafverfahren schon zum Vornherein aufs Eis legen, nur weil früher oder später ein angesehener Politiker betroffen sein könnte, weil wichtige Daten fehlen oder weil jemand behauptet, er würde sich grundsätzlich nicht an international vereinbarte Menschenrechte halten. Man könnte auch jegliche juristische Massnahmen gegen die sizilianische Mafia von heute auf morgen abblasen, weil da möglicherweise eine Verbindung zu irgendwelchen Lokal- oder Regionalpolitikern auffliegen könnte. Und man müsste auch nicht mehr gegen den internationalen Drogenhandel, gegen die sexuelle Ausbeutung von Frauen oder gegen die Machenschaften von Schlepperorganisationen vorgehen, weil sich die alle auf eigene Gesetze berufen würden, welche nicht den internationalen Normen entsprechen. Obwohl das offensichtlich nicht in ihrer Absicht lag: Bessere Argumente für die Konzernverantwortungsinitiative als in ihrem Bericht über das Zementunternehmen der Holcim im Libanon hätte die „NZZ am Sonntag“ wohl kaum veröffentlichen können. Denn eines ist sicher: Wenn die Initiative abgelehnt wird, dann werden sich zahllose korrupte Politiker ins Fäustchen lachen, wichtige Daten werden weiterhin unter dem Tisch bleiben und viele der Menschen, die in der Nähe der libanesischen Zementfabriken und Steinbrüche leben, werden weiterhin frühzeitig infolge einer Krebserkrankung sterben…   

Die Kriegsgeschäfteinitiative und der Traum von einer Welt ohne Waffen und Armeen

 

Die Kriegsgeschäfteinitiative, über die in der Schweiz am 29. November 2020 abgestimmt wird, verlangt, dass Investitionen der Schweizerischen Nationalbank, von Schweizer Stiftungen, von der AHV/IV und von den Schweizer Pensionskassen in internationale Kriegsmaterialproduzenten, die beispielsweise Atomwaffen, Panzer oder Kleinwaffen herstellen, verboten werden. Keine Frage: Wem die Verwicklung der Schweiz in internationale Rüstungsgeschäfte schon lange ein Dorn im Auge war und wer sich dafür einsetzen möchte, dass die Schweiz ihrem Ruf als neutralem und friedensförderndem Land mehr als bisher gerecht werden will, wird dieser Initiative aus voller Überzeugung zustimmen. Doch auch wenn diese Initiative angenommen wird, wäre dies bloss ein erster winziger Schritt auf einem schier unendlich langen Weg, der noch vor uns liegt. Auf diesem langen Weg würden wieder all jene Fragen auftauchen, die in pazifistischen Bewegungen früherer Jahrhunderte von unzähligen Menschen auf die Strassen, in die Studierstuben bis hin in Parteiprogramme und ganze Regierungen getragen wurden, Fragen, die seltsamerweise in der heutigen Zeit, da die Welt von Waffen mit aller nur erdenklichen Zerstörungsgewalt mehr als je zuvor nur so strotzt, kaum mehr irgendwo zu hören sind. Selbst die GSoA, die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee, trägt ihr ursprüngliches Ziel nur noch in ihrem Namen – wenn ihr, wie zum Beispiel im Zusammenhang mit der von ihr lancierten Kriegsgeschäfteinitiative vorgeworfen wird, es ginge ihr doch letztlich bloss um die Abschaffung der Armee, dann beeilen sich ihre Vertreter und Vertreterinnen sogleich mit der Erklärung, nein, darum ginge es nicht und die Kriegsgeschäfteinitiative hätte nichts, aber auch gar nichts mit der Abschaffung der Armee zu tun. Weshalb diese Ängstlichkeit? Natürlich hat das eine mit dem anderen zu tun. Und davon müsste sich die GSoA nicht distanzieren, sondern könnte sogar im Gegenteil sehr stolz darauf sein. Denn was für eine Vision wäre dringender und erstrebenswerter als eine Welt gänzlich ohne Waffen und Armeen! Dass die bisher zur Abstimmung gelangten Armeeabschaffungsinitiativen Schiffbruch erlitten haben, heisst ja nicht, dass die Idee falsch gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Auch über das Frauenstimmrecht musste mehrmals abgestimmt werden, bis es endlich eine Mehrheit fand, und heute könnte sich niemand mehr vorstellen, es wieder abzuschaffen. Welches Land, wenn nicht die neutrale Schweiz mit ihrer humanitären Tradition, wäre befugter, mit dem guten Beispiel voranzugehen und seine Armee ins Museum zu verbannen. Man stelle sich vor, was weltweit mit den horrenden Summen, die für Waffen und Armeen verschleudert werden, so viel Nützlicheres angefangen werden könnte. Eine Welt ohne Waffen und Armeen würde aber eine neue globale Ordnung voraussetzen, in der die einzelnen Länder nicht mehr gegenseitige Konkurrenten wären, sondern Partner. Eine Welt, in der alle Güter gerecht verteilt wären. Eine Welt, in der es nicht mehr mächtige und weniger mächtige Staaten gäbe. Eine Welt ohne gegenseitige Ausbeutung zwischen den Ländern, den Menschen und der Natur. Wenn diese Welt in einer hoffentlich nicht allzu fernen Zukunft Wirklichkeit geworden sein wird, dann wird man sich wohl so ungläubig an die Zeit der Waffen und Armeen zurückerinnern, wie wir heutigen Menschen uns an die Zeiten der Hexenverbrennungen und des Sklavenhandels zurückerinnern…

Die Konzernverantwortungsinitiative: ein erster kleiner Tropfen auf einen riesigen heissen Stein…

Die Konzernverantwortungsinitiative, über die in der Schweiz am 29. November 2020 abgestimmt wird, verlangt, dass Konzerne mit Sitz in der Schweiz die Menschenrechte sowie internationale Umweltstandards auch ausserhalb der Schweiz zu respektieren haben. Dazu sollen Konzerne für Menschenrechtsverletzungen und die Missachtung verbindlicher Umweltstandards haftbar gemacht werden, unabhängig davon, wo die entsprechenden Handlungen vonstatten gingen.

Das ist eine so plausible und selbstverständliche Forderung, dass man eigentlich gar nicht darüber diskutieren müsste, ebenso wenig, wie man darüber diskutiert, ob ein Hausbewohner, der seinem Nachbar einen Steinbrocken in den Garten wirft und damit eine Fensterscheibe zertrümmert, für diesen Schaden aufkommen sollte oder nicht. Die Konzernverantwortungsinitiative geht nicht, wie ihre Gegner ihr vorwerfen, zu weit, sondern, im Gegenteil, viel zu wenig weit. Denn skandalös ist nicht nur, Flüsse mit lebensgefährlichen Chemikalien zu vergiften oder Kinder mit zwölf Jahren in eine Kobaltmine zu schicken. Skandalös ist das gesamte Wirtschaftssystem, das dahintersteckt, auf den unersättlichen Raubbau an Mensch und Natur ausgerichtet ist und am einen Ende so viel Profit erzeugt, wie am anderen Ende die Menschen an Armut und Elend dafür zu bezahlen haben. Skandalös ist, dass ausgerechnet jene Länder, in deren Erde die wertvollsten Mineralien und Rohstoffe schlummern, am Profit mit diesen Stoffen den geringsten Anteil haben, während Länder wie die Schweiz, in deren Boden kein Tropfen Öl und kein Gramm seltener Erde vorkommen, durch das Kaufen, Verkaufen und durch den Handel mit diesen Stoffen Milliardengewinne erzielen. Skandalös ist, dass Rohstoffe so billig und Industrieprodukte so teuer sind, dass die eh schon reichen Länder laufend noch reicher und die armen laufend noch ärmer werden. Skandalös ist, dass die gesamte Wertschöpfungskette von den Minen, Plantagen und Fabriken des Südens bis in die multinationalen Konzerne des Nordens darauf aufbaut, dass ganz zuunterst nicht nur die anstrengendste und gefährlichste, sondern zugleich auch die am schlechtesten bezahlte Arbeit verrichtet wird, während ganz zuoberst Aktionäre und Aktionärinnen nicht einmal arbeiten müssen und dennoch sagenhaft reich werden.

Die weltweite Ausbeutung der Armen durch die Reichen im Dienste endloser Profitmaximierung ist so allumfassend, dass die Konzernverantwortungsinitiative nicht mehr wäre als ein erster, aber umso notwendiger Tropfen auf einen heissen Stein, ein Tropfen, dem schon möglichst bald viele, viele weitere folgen müssten und der erst dann sein Ziel erreicht hätte, wenn die gesamte Weltwirtschaft nicht mehr auf Ausbeutung und Profitmaximierung ausgerichtet wäre, sondern auf das Wohlergehen aller Menschen, auf eine gerechte Verteilung aller Güter und auf den Respekt gegenüber Natur und Erde. Denn auch mit einer Annahme der Konzernverantwortungsinitiative wäre die Welt noch längst nicht in Ordnung. Vor uns liegt noch ein weiter Weg, aber jeder noch so weite Weg beginnt bekanntlich mit einem ersten Schritt. Und genau dieser erste kleine Schritt muss am 29. November Wirklichkeit werden!

Schweiz: Besitz- und Vermögensverhältnisse wie zur Zeit der Französischen Revolution…

Gemäss neuster Vermögensstatistik des Bundes besitzen alle Schweizer Steuerpflichtigen zusammen ein Reinvermögen von 1994 Milliarden Franken. Davon befinden sich gerade mal 1,4 Prozent in den Händen der ärmeren Hälfte der Schweizer Bevölkerung, während die reichere Hälfte 98,6 Prozent dieser Summe besitzt. Die reichsten 0,3 Prozent der Bevölkerung verfügen sogar über 32 Prozent des gesamten Reinvermögens.

Dass solche Eigentumsverhältnisse nicht schon längst zu einer Revolution geführt haben, ist das reinste Wunder. Denn die heutige Vermögensverteilung in der Schweiz entspricht ungefähr der Vermögensverteilung in Frankreich im 18. Jahrhundert, und dort kam es als Folge davon im Jahre 1789 immerhin zu einer Revolution, die das gesamte frühere Regierungssystem und die herrschenden Besitzverhältnisse auf den Kopf stellte.

Nun, dass die Revolution hierzulande immer noch auf sich warten lässt, hat vermutlich vor allem zwei Gründe. Erstens sind unser Lebensstandard und unsere sozialen Sicherheitsnetze insgesamt auf einem genug hohen Niveau, so dass, im Gegensatz zum damaligen Frankreich, vorläufig noch niemand verhungern muss und sich selbst die Ärmsten unter Aufbietung aller Kräfte bis zu körperlicher und psychischer Erschöpfung gerade noch knapp über Wasser halten können. Der zweite Grund ist das Märchen, das uns einmal erzählt wurde und an das wir, ob Reich oder Arm, auf wundersame Weise immer noch alle glauben. Dieses Märchen besagt, dass alle, die reich sind, dies auch redlich verdient hätten, während demzufolge all jene, die arm sind, an ihrer Armut selber Schuld seien. Tatsächlich aber trifft das Gegenteil zu: Wer viel arbeitet, wird deswegen nicht reich. Sonst müssten nämlich alle Köche, Serviceangestellte, Bauarbeiter, Putzfrauen, Coiffeusen und Krankenpflegerinnen Millionäre und Millionäre sein. Die Wahrheit ist: Reich wird nicht, wer viel arbeitet, reich wird, einfach gesagt, wer viel besitzt. Sei es in Form einer Erbschaft, sei es in Form gewinnbringender Obligationen, Aktien oder anderer Wertpapiere, sei es in Form von Immobilien, die in Form von Mieten nicht selten horrende Gewinne abwerfen, sei es durch Handeln, Kaufen und Verkaufen von Geld und Gütern mit Riesenprofiten, ohne dass dafür ein Finger gekrümmt werden muss, sei es in Form von Löhnen auf den obersten Etagen der kapitalistischen Machtpyramide, die jeglichem gesunden Menschenverstand spotten.

Aber es geht noch viel weiter: Wenn die Reichen ihren Reichtum immer grösser anwachsen lassen, dann müssen andere dafür umso grössere Opfer erbringen: all jene Menschen, die Tag für Tag hart arbeiten und dennoch einen viel zu geringen Lohn bekommen, der weit unter dem liegt, was ihre Arbeit eigentlich Wert wäre. Die permanente Umverteilung von unten nach oben. Oder, anders gesagt: Der permanente Raubzug der Reichen gegen die Armen. Wie lange kann das so weitergehen, bis es dann vielleicht doch noch eines Tages zur Revolution kommt?