Von der Lohnpyramide zum Einheitslohn: ein längst fälliger Schritt zur Gleichberechtigung in der Berufswelt

 

Unsere Gesellschaft gleicht einer Pyramide. Zuunterst sind die vielen Unentbehrlichen, die das System tragen, dann von Stufe zu Stufe wird die Last leichter. Die Entlöhnung folgt aber gerade einem umgekehrten Schema. Je weniger systemrelevant, desto besser bezahlt. Hedge-Funds-Manager, Anwälte, Werbefachleute sind nicht systemrelevant, aber oft Spitzenverdiener…

(Paul Widmer, Publizist, in: NZZ am Sonntag, 13. September 2020)

 

Eine geradezu revolutionäre Aussage, und dies mitten in der NZZ am Sonntag! Konkret würde das bedeuten, dass ein Bauarbeiter oder eine Krankenpflegerin eigentlich mehr verdienen müssten als der CEO eines multinationalen Konzerns oder eine Rechtsanwältin. Man könnte aber auch ein bisschen weniger weit gehen und den Blick auf die gesamte Gesellschaft und die gesamte Arbeitswelt werfen: Damit eine Gesellschaft als Ganzes funktionieren kann, braucht es eben alle, die Verkäuferin ebenso wie den Erntehelfer, die Köchin und den Stadtpräsidenten, die Lehrerin ebenso wie den Zahnarzt, die Physiotherapeutin und den Unternehmer, die Putzfrau ebenso wie den Fahrradmechaniker, den Psychotherapeuten und die Coiffeuse. Man kann nun tausend Gründe ins Feld führen, weshalb der eine mehr oder weniger viel verdienen sollte als die andere. Das versperrt nur den Blick auf die Tatsache, dass für das Funktionieren des Ganzen eben sämtliche Berufe unentbehrlich sind und das ganze Gebäude augenblicklich in sich zusammenbrechen würde, wollte man auch nur einen von ihnen weglassen. Deshalb besteht das einzige wirklich hieb- und stichfeste Postulat darin, dass sämtliche Berufstätige genau gleich viel verdienen müssten, denn jeder und jede gibt ja auf ihrem jeweiligen Arbeitsgebiet das in ihren Kräften Stehende Beste zum Gelingen des Ganzen. Ein Einheitslohn also. Dieser würde in der Schweiz gegenwärtig bei rund 6500 Franken liegen. Man stelle sich das einmal vor: Für all jene, die sich heute mit Löhnen von 4000 Franken oder noch weniger zufriedengeben müssen, wäre es das Paradies. Und für all jene, die heute mehr als 6500 Franken verdienen, wäre es zwar eine mehr oder weniger staatliche Lohneinbusse, mit der sie aber dennoch gut leben könnten, auch wenn sie auf das eine oder andere verzichten müssten. Der gleiche Lohn würde zugleich bedeuten, dass auch das gesellschaftliche Ansehen sämtlicher Berufe den gleichen Stellenwert hätte, niemand mehr auf andere hinunter- oder hinaufschauen müsste und so etwas wie Berufskarrieren bloss um des Geldes willen der Vergangenheit angehören würden: Nicht mehr das Geld, sondern die Freude, die Begeisterung und die Leidenschaft für eine bestimmte Tätigkeit wären die Schlüssel dazu, genau diesen und nicht einen anderen Beruf auszuüben. Und vor allem: Nicht nur das Geld auf dem Lohnkonto würde stimmen, sondern vor allem auch die persönliche Zufriedenheit, das allgemeine Wohlbefinden und die gegenseitige Wertschätzung.

 

Coronakrise: Gewinner und Verlierer…

„Auch in der Coronakrise geht es längst nicht ­allen Firmen schlecht. Es gibt Firmen, die in der Krise so viel verdient haben wie nie zuvor, zum Beispiel gewisse Lebensmittel­händler, Onlineshops und Pharmaunternehmen. Wir könnten darüber nach­denken, die Gewinne der Krisengewinner höher zu besteuern – und mit dem Geld die Verlierer der Krise zu unterstützen.“

(Jan-Egbert Sturm, Wirtschaftschef der nationalen Covid-19-Task-Force, www.blick.ch)

Kaum verwunderlich, dass Sturms Idee bei Exponenten der Wirtschaftsverbände und der Arbeitgeberorganisationen auf wenig Gegenliebe stösst. Das Hauptargument: Man könne doch die Tüchtigen, die trotz der Krise ausgezeichnet gewirtschaftet haben, nicht zu Gunsten der anderen bestrafen. Als wären jene, denen es wirtschaftlich schlechter gehe, selber Schuld. Als sei alles nur eine Frage von Tüchtigkeit bzw. Faulheit. Was für eine arrogante Haltung gegenüber Abertausenden von Köchen, Serviceangestellten, Putzfrauen, Näherinnen in Textilfabriken oder Balletttämzerinnen, die sich Tag für Tag mit grösstem Einsatz abmühen und es doch nie auf einen grünen Zweig bringen. Ob man zu den Krisengewinnern gehört oder zu den Krisenverlierern, ist wohl weit weniger eine Frage der Tüchtigkeit als vielmehr eine Frage von Glück oder Pech. Und deshalb ist Sturms Idee von einem Ausgleich zwischen den Glückspilzen und den Pechvögeln nur allzu berechtigt. Nur schade, dass solche innovativen Ideen, die für so manches krisengeschüttelte Unternehmen ein wahrer Segen wären, in der heutigen Realpolitik und dem Selbstverständnis einem auf rein betriebswirtschaftliches Renditedenken ausgerichteten Unternehmertum aller Voraussicht nach nicht die geringste Chance haben werden. Ich würde mich nicht wundern, wenn Sturms Idee ebenso rasch, wie sie publik wurde, wieder in der Versenkung verschwunden sein wird.

Wie Apple-CEO Tim Cook einen historischen Beitrag für die Menschheit leisten will…

„Wenn wir in die Zukunft schauen, von dort zurückblicken und uns die Frage stellen, was der grösste Beitrag von Apple für die Menschheit war, wird es um Gesundheit gehen.“ So kündigte Apple-CEO Tim Cook Anfang 2019 in einem Interview mit dem US-Fernsehsender CNBC seine ganz grossen Visionen an. Und tatsächlich: Bereits kann die Apple Watch ein EGK an der Fingerkuppe erstellen und Stürze erkennen. Die neuste, soeben auf den Markt gekommene Version misst mit speziellen optischen Sensoren den Sauerstoffgehalt im Blut und soll frühzeitig Panikattacken oder erhöhten Stress feststellen. Den Userinnen und Usern dienen jede Menge kleiner Stupser, die sie zu einem gesunden Lebensstil ermuntern sollen: Erinnerungen für kurze Atemübungen, Vibrationen bei zu langem Sitzen oder „personalisiertes Ziel“ täglich verbrauchter Kalorien. Und die für Smartwatches von Fitbit entwickelte App „JalapeNO!“ soll Userinnen und User mithilfe einer kurzen Vibration am Handgelenk davon abhalten, sich ständig ins Gesicht zu fassen…

(Wochenzeitung, 10. September 2020)

Und dabei ist das noch längst nicht alles. Vitaminpräparate, Schlankheitskuren, Yoga, Säuglingsturnen, Wellnessferien, Ayurvedamassagen, Vorsorgeuntersuchungen, Ernährungsberatung, Fitnessclub, Pilates, Altersturnen, Schönheitsoperationen – wohl zu keiner anderen Zeit und an keinem anderen Ort haben sich die Menschen so intensiv um ihre persönliche Gesundheit und ihr persönliches Wohlergehen gekümmert wie in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren in den wohlhabenden Ländern des Nordens bzw. in jenen Gesellschaftsschichten, die sich alle diese Angebote überhaupt finanziell leisten können. Doch was für ein Gegensatz zwischen solcher persönlicher Gesundheitsvorsorge und dem, was man als „globale“ Gesundheit bezeichnen könnte. Fast scheint es, je extremer sich viele Menschen um ihre persönliche Gesundheit kümmern, umso beharrlicher verschliessen sie die Augen vor jener anderen, viel umfassenderen Gesundheit, welche das Wohlergehen aller Menschen weltweit, das Wohlergehen der Natur, der Tiere, der Erde und der zukünftigen Generationen betrifft. Es ist nachgerade zynisch: Zum Fitnessclub, wo man seinen Körper stählt, fährt man mit dem Auto, verpestet die Umwelt und leistet seinen ganz persönlichen Beitrag zum Untergang der Menschheit. Mit technischen und elektronischen Apparaturen, welche die persönliche Gesundheit rund um die Uhr kontrollieren, beteiligt man sich, wissentlich oder unwissentlich, am Raubbau an seltener Erde und immer mehr zur Neige gehender Rohstoffe. Und selbst einen Flug um die halbe Erde mit all seinen katastrophalen ökologischen Auswirkungen nimmt man in Kauf, um sich an der Südküste von Sri Lanka in den Schatten eines Baumes zu legen, eine Ayurvedamassage zu geniessen und sich dazu köstliche Fruchtsäfte zur Reinigung und Stärkung des Verdauungsapparates servieren zu lassen. Wie wäre es, wenn Apple-CEO Tim Cook sein Versprechen, einen historischen Beitrag zur Gesundheit der Menschheit zu leisten, wirklich ernst nähme? Dann aber müsste er eine von Grund auf andere Apple Watch schaffen. Eine, die mit schrillem Ton jede Erwärmung der Erdatmosphäre um ein Tausendstel Grad signalisiert. Eine, die auf jede unnötige Autofahrt oder jeden unnötigen Flug mit dem Hinweis reagiert, dies alles sei tödlich. Eine, die auf ihrem Display pausenlos Bilder von Waldbränden, von schmelzendem Packeis und von ausgetrockneter, unfruchtbarer Erde zeigt und uns damit ohne Unterlass in Erinnerung ruft, dass Gesundheit nicht nur etwas Persönliches und Individuelles ist, sondern ein Allgemeingut in einer Welt, in der alles mit allem zusammenhängt…

Sandro Brotz zur Diskussion über die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge: „Es sind schon interessante Zeiten.“

In der Arena-Diskussion des Schweizer Fernsehens vom 4. September 2020 ging es um die kommende Abstimmung zur Beschaffung neuer Kampfflugzeuge. Erwin Lempert von der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) machte sich dafür stark, dass man dem Bundesrat keinen Blankocheck ausstellen dürfe, sondern das Stimmvolk wissen müsste, wofür seine Steuergelder ausgegeben würden. Ginge es nach Lempert, so würde die Wahl auf einen leichten Kampfjet fallen, einen Leonardo zum Beispiel, oder einen südkoreanischen KAI FA-50. Der fliege Überschall und könne ein Passagierflugzeug problemlos aufholen. Aber bestimmt nicht 30 bis 40 Stück, sondern 8 bis 12. Brotz hörte indessen fasziniert zu und fand dann: «Es sind schon interessante Zeiten. Ich hätte nicht gedacht, dass ich den Moment mal erlebe, wo ein GSoA-Mitglied sagt, was für einen Kampfjet man kaufen müsse.»

(www.watson.ch)

 

Sandro Brotz ist nicht der Einzige, der sich wundert. Ich wundere mich auch. 1989 scheint in weiter, unerreichbarer Ferne zu liegen. Damals stimmten 35,6 Prozent der Bevölkerung einer GSoA-Initiative zur Abschaffung der Armee zu – ein Schock ging durchs ganze Land, mit einer so hohen Zustimmung, die weit über das traditionelle linke Politlager hinausging, hatte niemand gerechnet, nicht einmal die Initianten selber. Was ist seither geschehen? Weshalb nimmt sich die GSoA nicht die Frauenbewegung zum Vorbild, die ebenfalls über Jahre mehrere Anläufe nehmen musste, bis 1971 das Frauenstimmrecht endlich eine Mehrheit fand? Doch das funktioniert eben nur, wenn das ursprüngliche Ziel nicht aufgegeben und verwässert wird, sondern unverrückbar daran festgehalten wird, ganz so, wie es eben die Frauenbewegung tat. Und genau so, wie man das bei der Frauenbewegung sagen könnte, so könnte man es eben auch mit der Abschaffung der Schweizer Armee sagen: Wenn die Zeit dafür schon 1989 ein bisschen reif gewesen war, so müsste sie es im Jahre 2020 eigentlich erst recht sein…

Todesfälle bei Influenza und bei Covid19: zweierlei Mass…

Bei jeder Grippewelle fallen in Deutschland auch Kinder den Folgen einer Influenza zum Opfer. Obwohl solche Todesfälle bei jungen Menschen im Vergleich zu alten Menschen sehr selten sind, dürfen Ausbrüche in Krippen, Kindergärten oder Schulen auf keinen Fall auf die leichte Schulter genommen werden. Besonders bedroht sind natürlich Heranwachsende mit chronischen Krankheiten. Ein Fall aus dem vergangenen Winter in Baden-Württemberg zeigt jedoch, dass auch bisher gesunde und normal entwickelte Kinder in kürzester Zeit an Influenza-Komplikationen sterben können.

Insgesamt waren in Baden-Württemberg im vergangenen Winter zwei laborbestätigte Grippetodesfälle bei Kindern registriert worden. Dies ist aber wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. Belastbare Zahlen zu Todesfällen bei Kindern mit Grippe in Deutschland gibt es nicht. Anders in den USA: Dort wurden in den Wintern von 2010/11 bis 2015/16 pro Jahr im Schnitt 113 an Influenza gestorbene Kinder und Jugendliche im Alter unter 18 Jahren gemeldet, dies entspricht einer Rate von 0,15 Todesfällen pro 100’000 Kinder und Jugendliche. Jedes dritte der an Grippe gestorbenen Kinder in den USA war höchstens sechs Monate alt, berichten Forscher um Mei Chang von den Centers for Disease Control and Prevention. Insgesamt 65 Prozent der Betroffenen starben binnen sieben Tagen nach Einsetzen der Symptome, 13 Prozent sogar am ersten Tag. Ursache waren Pneumonie, Sepsis oder akutes Atemnotsyndrom (ARDS).

Die Erkrankungen verliefen völlig unberechenbar: Die Hälfte der Kinder hatte vor der tödlichen Krankheit keinerlei gesundheitliche Beeinträchtigungen gehabt. Die andere Hälfte hatte vor allem neurologische Krankheiten wie Entwicklungsstörungen, Krampfleiden, Chromosomen-Verteilungsstörungen oder Zerebralparesen.

Außerdem häufig waren Lungenleiden wie Asthma und Herzerkrankungen.

(ÄrzteZeitung, 8. Juni 2018)

Geblendet vom Coronavirus, ist uns offensichtlich blitzschnell vergessen gegangen, wie gefährlich auch die ganz „normale“ saisonale Grippe sein kann. Und dies eben nicht nur für ältere Menschen, sondern auch für Kinder und Jugendliche. Allein in den USA gab es also, laut obigem Artikel in der deutschen ÄrzteZeitung, zwischen 2011 und 2016 im Schnitt jährlich 113 an Influenza gestorbene Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, auch in den folgenden Jahren und in anderen Ländern werden es, im Verhältnis zur Bevölkerungszahl, wohl ebenso viele gewesen sein und weiterhin sein. Ich kann mich nicht erinnern, dass auch nur bei einem einzigen dieser Kinder und Jugendlichen die Medien so prominent, so breit und so ausführlich darüber berichtet hätten, wie sie dies bei Kindern und Jugendlichen tun, die dem Coronavirus zum Opfer fallen. Das eine sind die Fakten. Das andere ist das, was die Medien daraus machen. Man tut gut daran, das eine vom andern sorgfältig zu unterscheiden…

Wachsender Güterverkehr quer durch Europa: Kann der Ceneritunnel Abhilfe schaffen?

Mit der Eröffnung des Ceneri-Basistunnels erhält die Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene neuen Schub. Doch um das Ziel, das in der Verfassung steht – nämlich, dass jährlich maximal 650’000 Lastwagen durch die Alpen fahren dürfen – zu erreichen, wird auch der Ceneri-Basistunnel allein nicht genügen. Letztes Jahr betrug die Zahl der alpenquerenden Lastwagen 900’000. Und es werden immer mehr…

(www.srf.ch)

Mit anderen Worten: Wir können noch so viele Strassen und Eisenbahnlinien und Tunnels bauen, bei alledem ändert sich nichts daran, dass die Menge quer durch Europa transportierter Güter unaufhörlich wächst und wächst. Ein Beispiel: Holz aus Finnland, das nach Italien transportiert und dort zu Möbeln verarbeitet wird, die dann wiederum nach Deutschland gebracht und dort verkauft werden – unzählige weitere Beispiele liessen sich anführen, welche die zunehmende Menge an europaweit hin- und hergekarrten Gütern erklären, denn der gegenseitige Konkurrenzkampf zwischen den Unternehmen zwingt diese zu einer immer knapperen Kostenoptimierung, sodass dann eben schon der geringste Lohnunterschied oder der kleinste Unterschied bei Energiepreisen oder Steuersätzen von Land zu Land den Ausschlag geben kann, um eine grössere – und letztlich viel zu billige – Strecke zwischen Herkunfts-, Verarbeitungs- und Verkaufsorten in Kauf zu nehmen. Es wäre durch eine internationale Angleichung von Löhnen, Arbeitsbedingungen, Steuern und weiteren Kostenfaktoren eigentlich ein Leichtes, die immer weiter wachsende Menge an Gütern nicht nur von der Strasse auf die Schiene zu bringen, sondern vor allem auch zu reduzieren. Ganz abgesehen davon, dass sehr viele Güter viel zu billig sind und auch dann gekauft werden, wenn man sie gar nicht wirklich braucht, Waren, die nicht selten über kurz oder lang wieder im Müll landen. Doch offensichtlich investiert man Energie und finanzielle Mittel, statt sich mit den eigentlichen Ursachen des Problems zu beschäftigen, lieber in Technik und Infrastrukturen und baut für 23 Milliarden Franken einen 15,4 Kilometer langen Tunnel, obwohl man gleichzeitig weiss, dass das eigentliche Problem damit ganz und gar nicht gelöst werden kann, sondern von Jahr zu Jahr immer nur noch grösser und grösser wird.

Mattea Meyer und Cédric Wermuth auf dem Weg zum SP-Parteipräsidium: Blumen anstelle von Kapitalismuskritik

Mattea Meyer und Cédric Wermuth, die sich für die Co-Leitung der SP Schweiz bewerben, haben sich in Lausanne einem Hearing von rund 20 Genossinnen und Genossen gestellt. Nachdem im Vorfeld seitens 24 Parteimitglieder Kritik an der linken Ausrichtung von Wermuth und Meyer geäussert worden war, machten die beiden anlässlich dieses Hearings klar, dass die parteiinternen Differenzen längst aus der Welt diskutiert worden seien, wenn sie denn überhaupt je existiert hätten. Die Erinnerung an die von den ehemaligen Jusos vor Jahren ausgerufene Doktrin, der Kapitalismus müsse überwunden werden, mochte anlässlich des Hearings niemand auffrischen. Der Umgang war handzahm. Bevor Cédric Wermuth am Ende selbst eine Rose bekam, verteilte er Blumen ins Publikum.

(Tages-Anzeiger, 4. September 2020)

Schade. Dabei wäre das doch der ideale Zeitpunkt für einen wahrhaft historischen Moment gewesen: Statt es totzuschweigen, hätten Mattea Meyer und Cédric Wermuth ganz im Gegenteil das Postulat einer Überwindung des Kapitalismus ihren Genossinnen und Genossen unverblümt in Erinnerung rufen können. Schliesslich steht diese Forderung ganz offiziell im Programm der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, demokratisch von einer Mehrheit der Parteimitglieder auf Antrag der Jusos beschlossen, am SP-Parteitag vom Oktober 2010. Mattea Meyer und Cédric Wermuth hätten an diesem Hearing, kurz vor ihrer Wahl ins Parteipräsidium, darlegen können, dass alle noch so gut gemeinten politischen Bemühungen und Vorstösse, sei es im Bereich des Sozialen, der Umwelt oder der Wirtschaft, so lange Flickwerk bleiben müssen, als nicht parallel dazu auch an die tieferen Ursachen sämtlicher Missstände und Fehlentwicklungen herangegangen wird, nämlich an die Grundmechanismen des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, an die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich, an das Dogma des unbegrenzten Wachstums in einer begrenzten Welt und an die rücksichtslose Plünderung der Natur und der Rohstoffe, so dass nichts weniger als das Überleben der Menschheit in 50 oder 100 Jahren in Frage gestellt ist. Haben Mattea Meyer und Cédric Wermuth so schnell vergessen, wofür sie ein paar Jahre zuvor noch so vehement gekämpft haben? Was hat sie dazu gebracht, vor jenen Genossinnen und Genossen, die ihnen eine zu „linke Gesinnung“ vorwarfen, so schnell zu kuschen? Werden die Visionen, welche die Bewegung der Jungsozialisten und Jungsozialistinnen eben noch so hoffnungsvoll beseelt haben, so schnell auf dem Altar der „Realpolitik“ geopfert? Mattea Meyer und Cédric Wermuth werden zweifellos ein hervorragendes Parteileitungsduo bilden. Zu hoffen bleibt nur, dass ihre ursprünglichen Ideale und Visionen nicht auf der Strecke bleiben. Denn, wie schon der bekannte Urwalddoktor Albert Schweitzer sagte: „Im Jugendidealismus erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt austauschen sollte.“

Fragwürdige Vereinfachung: Als gäbe es zwischen Jungsozialisten und Putinanhängern, zwischen Klimabewegten und Reichsbürgern keinen wesentlichen Unterschied

Ein Gespenst geht um in Europa. Das Gespenst einer sich anbahnenden Revolution – oder zumindest die Sehnsucht danach. Nebst den Bewegungen gegen den Klimawandel, gegen Rassismus und gegen die Coronamassnahmen melden sich auch Anhänger von Marxismus und Kommunismus zu Wort. So schreibt die Schriftstellerin Sibylle Berg in ihrer „Spiegel“-Kolumne vom „wunderbaren Traum“, dass sich „Proletarier aller Länder“ vereinigen. Und die Schweizer Juso-Chefin Ronja Jansen fordert in einem Diskussionsbeitrag zur Zukunft des Service public einen Paradigmenwechsel, weg von der „Kapitalverwertungslogik“ hin zum Gemeinwohl aller Menschen. Der Denkfehler solcher Forderungen liegt darin, dass die ersehnte Lösung durch Marxismus sich auch nicht so sehr von den Lösungen von Reichsbürgern, Qanon- und Putinanhängern unterscheidet. Mit ihrer Forderung nach totaler Revolution reden sie letztlich einem Totalitarismus das Wort. Auch wenn diese Revolution einen vermeintlich guten Zweck verfolgt, nämlich eine gerechtere Welt zu schaffen.

(Michèle Binswanger, Tages-Anzeiger, 2. September 2020)

So einfach also kann man es sich machen! Man wirft unterschiedlichste gesellschaftliche und politische Strömungen und Bewegungen von den Reichsbürgern über die Klimabewegten bis zu den Marxisten unbesehen in den gleichen Topf und spricht ihnen somit gleich in globo sämtliche Legitimation ab. Wäre es, ganz im Gegenteil, nicht die Aufgabe eines seriösen Journalismus, die unterschiedlichen Stossrichtungen der einzelnen Bewegungen aufzudecken und sie sorgfältig gegenseitig voneinander abzugrenzen? Denn es kann ja wohl nicht sein, dass man zwischen den Sympathisanten des russischen Präsidenten Putin und der Klimajugend oder zwischen rechtsradikalen Anhängern des Nationalsozialismus und den Demonstranten gegen Rassismus und Polizeigewalt keinen erkennbaren Unterschied wahrzunehmen vermag. Wenn sich die Klimajugend dafür einsetzt, dass auch zukünftige Generationen auf dieser Erde eine Überlebenschance haben, wenn die Anhänger der „Black Lives Matter“-Bewegung für eine Welt kämpfen, in der niemand aufgrund seiner ethnischen Herkunft diskriminiert werden darf, und wenn die Schweizer Juso-Chefin Ronja Jansen politische Veränderungen hin zu einem „Gemeinwohl aller Menschen“ fordert, dann hat dies alles wohl nicht im Geringsten mit Totalitarismus zu tun, sondern ganz im Gegenteil mit der Vision einer Zukunft, die von jeglichem Totalitarismus und jeglicher Unterdrückung von Menschen durch andere Menschen befreit ist. Und damit sind wir beim springenden Punkt. Etwas Zentrales nämlich hat Michèle Binswanger in ihrem Artikel vergessen: Dass nämlich der Kapitalismus selber höchst totalitäre Züge trägt. Man wird nun sogleich einwenden, der Kapitalismus hätte der Menschheit doch nie da gewesenen technischen Fortschritt, Wohlstand und individuelle Freiheit beschert. Das stimmt, aber es stimmt eben nur für eine Minderheit der Weltbevölkerung. Während tatsächlich etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung mehr oder weniger grossen Wohlstand geniesst, lebt ein anderer Fünftel in bitterster Armut und sterben jeden Tag weltweit zehntausend Kinder, weil sie nicht genug zu essen und zu trinken haben. Aber wir müssen nicht einmal so weit gehen. Auch hierzulande, im reichsten Land der Welt, sieht es nicht viel anders aus: Während die reichsten 300 Schweizer und Schweizerinnen über ein Gesamtvermögen von über 700 Milliarden Franken verfügen, können rund 500’000 Menschen von ihrem Lohn, den sie bei voller Erwerbstätigkeit verdienen, nicht einmal anständig leben. Bei allen Errungenschaften, die dank dem Kapitalismus möglich geworden sind, etwas vom Grundlegendsten hat er nicht erreicht: soziale Gerechtigkeit. Zugespitzt formuliert ist der Kapitalismus somit durchaus ein totalitäres System, ein System der institutionalisierten sozialen Ungerechtigkeit, das sich nur deshalb so lange an der Macht halten konnte, weil jene, die davon profitieren, zugleich auch jene sind, welche sämtliche politische Machtpositionen einnehmen und alles daran setzen, dass sich an den herrschenden Machtverhältnissen nur ja nicht grundlegend etwas ändert. So gesehen sind die Forderungen von Sibylle Berg, Ronja Jansen und anderen, die man gerne in die Schublade des Marxismus wirft, alles andere als totalitär: Im Gegenteil, sie stellen alles Totalitäre in Frage und öffnen auf hoffnungsvolle Weise den Blick in eine Zukunft, in der alle Menschen über alle Grenzen hinweg frei, gleichberechtigt und ohne gegenseitige Unterdrückung leben können.

Klimaerwärmung: Eine gut investierte Viertelstunde pro Tag…

„Ewiger Frost“ nennen es die Jakuten im östlichen Sibirien, sie haben ihr Leben darauf eingerichtet. Doch wenn der Boden, als Folge der Klimaerwärmung, zu weit in die Tiefe hinein taut, dann gerät hier alles aus dem Gleichgewicht. Es beginnt unter der Oberfläche. Dort zieht sich das Eis durch den Boden, wie Venen. Wo es taut und flüssig wird, sackt die Erde dann metertief ein. Ein Netz aus Gräben, dazwischen bleiben Hügel. Wenn sich dann Wasser in den Gräben sammelt, taut der Boden noch schneller, irgendwann verschwinden selbst die Hügel in einem See. Das geschmolzene Eis hinterlässt riesige Hohlräume. Manchmal fallen hier sogar Kühe in Löcher hinein, ganze Dörfer rutschen weg, Schienen verbiegen sich, Minen werden geflutet, Felder verderben. Dazu kommt, dass infolge immer längerer und trockenerer Sommer auch die Zahl der Waldbrände jährlich zunimmt.

(Tages-Anzeiger, 29. August 2020)

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einem längeren Artikel im heutigen „Tages-Anzeiger“ über die Auswirkungen der Klimaerwärmung im Nordosten Sibiriens. Die Lektüre des ganzen Artikels nimmt eine gute Viertelstunde in Anspruch. Ich würde eine Wette eingehen, dass alle, welche diesen Artikel aufmerksam und vorurteilsfrei gelesen haben, nicht mehr einfach so sang- und klanglos zur Tagesordnung übergehen könnten, ausser, sie würden es schaffen, das Gelesene sogleich wieder zu verdrängen oder zu vergessen oder sich so schnell wie möglich in eine andere Aktivität zu stürzen. Würde aber dennoch etwas davon an ihnen hängenbleiben und würden sie vielleicht in den folgenden Tagen immer wieder ähnliche Artikel lesen, dann müssten sie, wenn sie nicht gänzlich unempfindlich wären, sich wohl früher oder später über den Termin der nächsten Klimademonstration erkundigen, um sich daran zu beteiligen. Das Problem ist nur: Wer liest heute noch Artikel, deren Lektüre eine Viertelstunde in Anspruch nimmt? Viel lieber zappen wir doch von Meldung zu Meldung am Fernsehen oder im Internet und verscheuchen jeden Anflug eines tiefergehenden Gedankens sofort wieder durch den nächsten. Seltsam, für das Training im Fitnessclub, für die Sauna, für das Joggen oder für die Yogastunde reservieren wir uns gut und gerne noch so viel Zeit, in der dann alles andere keinen Platz mehr hat und wir in unser Innerstes abtauchen. Wie wäre es, wenn wir uns täglich auch die gebührende Zeit nähmen, um solche Berichte wie jenen über die Jakuten im östlichen Sibirien zu lesen? Das mag im Augenblick schmerzvoller und unangenehmer sein, letztlich aber umso heilvoller, weil es zu einer Haltung und zu einem Engagement führen kann, das weit über jenen persönlichen „Seelenfrieden“ hinausgeht, den uns das Joggen oder eine Yogastunde bescheren.

Bettelnde Menschen in Basel und anderswo: Sie klopfen an unsere Türen und unser schlechtes Gewissen

Bettelnde Männer, Frauen und Kinder aus Rumänien und Bulgarien mitten in einem der reichsten Länder der Welt. Doch dass die Reichen reich sind und die Armen arm, das ist kein Zufall. Man nennt es Kapitalismus. Aber eigentlich ist es ein immenser Raubbau, ein unermesslicher Diebstahl. Wenn die Schweiz als eines der rohstoffärmsten Länder der Welt dennoch eines der reichsten Länder der Welt ist, dann ist solcher Reichtum nur dadurch möglich, dass an anderen Orten und in anderen Ländern der Welt umso grössere Armut herrscht. Der Kuchen wird nicht einfach grösser, indem sich jeder auf Kosten der anderen zu bereichern versucht. Wer sich ein grösseres Stück abschneidet, als ihm zusteht, ist dafür verantwortlich, dass für die anderen nur noch umso kleinere Stücke übrig bleiben. Und so versuchen sich all die Flüchtlinge und all die Bettler, die an unsere Türen klopfen, nichts anderes, als sich ein kleines Stück von dem, was wir ihnen zuvor gestohlen haben, wieder zurückzuholen. Die Empörung derer, die sich davon bedroht fühlen, ist nur zu leicht erklärbar. Es ist letztlich nichts anderes als ihr schlechtes Gewissen. Weder das „Problem“ mit den Flüchtlingen, noch das „Problem“ mit den Bettlern werden wir lösen können, indem wir es zu verbieten, zu verdrängen oder unsichtbar zu machen versuchen. Lösen können wir es nur, wenn wir von der Konkurrenzwirtschaft, in der jeder den anderen auszustechen und zu übertrumpfen versucht, wegkommen hin zu einer am Gemeinwohl und an gerechter Teilhabe orientierten Form von Wirtschaft, in welcher der ganze Kuchen gleichmässig auf alle verteilt ist. Denn, wie schon Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“