Ein Klimarat auch für die Schweiz?

Die «Convention Citoyenne pour le Climat» wurde im vergangenen Jahr vom französischen Präsidenten Emanuel Macron einberufen. Das temporäre Gremium besteht aus 150 zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern. Dabei wurde auf eine demografisch möglichst repräsentative Auswahl von Jungen und Alten, Männern und Frauen, urbanen und nicht-urbanen Bürgern sowie Mitgliedern verschiedener Bildungs- und Vermögensstände und Migrationshintergründe geachtet. 

Seit Oktober 2019 haben die Mitglieder des Rats an sieben Wochenenden getagt, sich Fachvorträge angehört und sich mit bestehenden Gesetzen beschäftigt und wurden dabei von Expertinnen und Experten unterstützt – eine Arbeit, wie sie sonst Politikerinnen und Politiker machen. Die erarbeiteten Massnahmen sollen den CO2-Ausstoss Frankreichs bis 2030 um 40 Prozent reduzieren. Das 500 Seiten starke Bürgergutachten enthält dazu überraschend radikale Vorschläge in den Bereichen Konsum, Verkehr, Wohnen, Produktion, Landwirtschaft und Ernährung. Die Ratsmitglieder sind beispielsweise dafür, das Tempo auf den Autobahnen auf 110 Kilometer pro Stunde zu limitieren, eine Kerosinsteuer zu erheben und den Neu- und Ausbau von Flughäfen zu verbieten. Inlandflüge soll es ab 2025 nur noch geben, wenn es auf der betreffenden Strecke keine Alternativen gibt.

Die private Nutzung von Autos soll durch Anreize reduziert werden, alle Gebäude sollen bis 2040 energetisch saniert sein. Werbung für klimaschädlichere Produkte wie SUVs oder Fleisch soll untersagt werden. In Kantinen soll nur noch vegetarisches Essen angeboten werden. Produkte, die in Frankreich verkauft werden, sollen zwingend reparierbar sein und Plastik schon ab 2023 umfassend recycelt werden. Firmen, die hohe Dividenden ausschütten, sollen künftig einen Teil davon zum Klimaschutz abtreten. Die vielleicht grössten Änderungen: Der Schutz der Umwelt soll in der französischen Verfassung verankert werden. Der Rat möchte dazu zusätzlich den Straftatbestand des «Ökozids» einführen. Zu beidem sollen in Frankreich Referenden abgehalten werden. Der Bürgerrat empfiehlt ausserdem das Wirtschafts- und Handelsabkommen CETA der EU mit Fokus auf Umweltziele neu zu verhandeln. Ähnliche Ansätze für Gremien aus einer demografisch repräsentativen Gruppe zufällig ausgewählter Bürger gibt es in ganz Europa, beispielsweise in Grossbritannien, Deutschland und Österreich. Der erste Bürgerrat, der sehr weitreichende Ideen auf den Weg brachte, war eine «Citizens Assembly» in Irland.

(www.infosperber.ch)

 

Ein ermutigendes Signal, dass ökologische Anliegen in der breiten Bevölkerung offensichtlich doch viel weiter verbreitet sind, als hinlänglich angenommen. Wer greift den Ball auf und führt auch in der Schweiz einen Klimarat ein? Auf dessen Beschlüsse dürfte man mehr als gespannt sein…

Warum keine Openair-Partys?

Die Nachtclubs werden wohl nach und nach schliessen müssen. Doch die Menschen wollen Spass haben, sich vergnügen. Weshalb veranstaltet man nicht auf grossen Plätzen, zum Beispiel in Zürich auf dem Sechseläutenplatz oder in Bern auf dem Bundesplatz, grosse Openair-Partys? Dort könnten die Abstände besser eingehalten werden und die Ansteckungsgefahr wäre, weil es im Freien stattfinden würde, erst noch viel kleiner…

Die Freie Marktwirtschaft als Erfolgsmodell für alle Ewigkeit?

Der Skandal rund um den insolventen Zahlungsdienstleiter Wirecard und all die Betrügereien, die nun nach und nach ans Tageslicht gelangen, kann man nicht der freien Marktwirtschaft in die Schuhe schieben. Nein, die freie Marktwirtschaft hat die Welt über Jahrzehnte besser gemacht, sie hat technischen Fortschritt ermöglicht und soziale Errungenschaften finanziert, und besonders gut hat sie dort funktioniert, wo die Wirtschaftsordnung einen gesetzlichen Rahmen bekommen hat. Die freie Marktwirtschaft ist, bei allen Fehlern, der kongeniale Begleiter der politischen Freiheit.

(Marc Beise, in: Tages-Anzeiger, 6. Juli 2020)

Marc Beise fällt es wohl nicht schwer, das Loblied auf die freie Marktwirtschaft anzustimmen. Schliesslich lebt er auf der Sonnenseite dieses Systems, das sich dadurch auszeichnet, dass es zwei extrem gegensätzliche Seiten hat: hier Reichtum und Wohlstand, dort Hunger, Armut und Elend. Wenn Beise behauptet, die freie Marktwirtschaft habe die Welt über Jahrzehnte besser gemacht, dann ist das schlicht und einfach falsch. Während etwa eine Milliarde Menschen weltweit in relativ grossem Wohlstand leben und die Zahl der Milliardäre sogar von Jahr zu Jahr ansteigt, müssen sich rund zwei Milliarden Menschen mit einem Tagesverdienst von weniger als einem Dollar zufrieden geben und jeden Tag sterben rund zehntausend Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs, weil sie nicht genug zu essen und zu trinken haben. Auch die Arbeitsbedingungen haben sich nur für einen kleinen Teil der Menschheit im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte verbessert. Immer noch schuften Milliarden von Menschen unter unwürdigen, sklavenartigen Bedingungen zu Hungerlöhnen, von den chinesischen Wanderarbeitern über die Textilarbeiterinnen in Bangladesh und die Minenarbeiter im Kongo bis zu den Plantagenarbeitern in Honduras und Brasilien. Und erst recht was die Zukunft betrifft, weist die freie Marktwirtschaft alles andere als eine Erfolgsbilanz aus, ganz im Gegenteil: Mit dem von ihr verursachten Raubbau an Natur und Erde und dem immensen und laufend nach wachsenden Ausstoss von Schadstoffen in den Boden und in die Luft ist die freie Marktwirtschaft auf dem besten Wege, die gesamte Erde für die Menschen früher oder später unbewohnbar zu machen. Wenn Beise behauptet, die freie Marktwirtschaft sei die kongeniale Begleiterin der politischen Freiheit, dann unterliegt er auch in diesem Punkt einem gewaltigen Irrtum. Wie Reichtum und Wohlstand, so ist auch die Freiheit bloss ein Privileg jener, die auf der Sonnenseite des Systems leben – auf der anderen Seite sind politische Unterdrückung, Unfreiheit, Knechtschaft und Sklaverei weltweit umso erdrückender. Besonders grotesk ist die Feststellung, die freie Marktwirtschaft habe soziale Errungenschaften finanziert. Denn das Geld, mit dem die freie Marktwirtschaft staatliche Aufgaben finanziert, kommt ja letzten Endes aus der konkreten, produktiven Arbeit von Menschen: Keine Firma kann Gewinne generieren, wenn nicht die in ihr tätigen Arbeiterinnen und Arbeiter weniger verdienen als ihre Arbeit eigentlich wert wäre. Und ebenfalls kann auch der beste Staat nur so viel Steuern eintreiben, als zuvor den arbeitenden Menschen abgeknöpft worden ist. Mit anderen Worten: Wenn also die freie Marktwirtschaft soziale Errungenschaften leistet, dann nur mit Geld, das sowieso den Menschen und niemand anderem gehört – hierfür braucht es keine Marktwirtschaft, man hätte das Geld von Anfang an in der Hand der Bevölkerung lassen können. Immerhin räumt Beise ein, dass die freie Marktwirtschaft vor allem dort gut funktioniere, wo sie einen gesetzlichen Rahmen bekommen habe. Heisst das nicht, dass die freie Marktwirtschaft von Natur aus eben doch nicht ganz so gut ist und deshalb eben einen gesetzlichen Rahmen brauche, um nicht zu überborden und der freien Gier nach Geld und Profit freien, ungehinderten Lauf zu lassen.

Während sich der Bundesrat auf seine alljährliche „Schulreise“ begibt, sind die meisten Schulreisen für die Kinder der Volksschule abgesagt worden

Während sich der Bundesrat auf sein alljährliches „Schuelreisli“ begibt, sind die Schulreisen für die Kinder der Volksschule in den meisten Kantonen abgesagt worden, und dies, obwohl sich auf einer Schulreise viel leichter ein genügend grosser Abstand zwischen den Personen einhalten lässt als in einem Schulzimmer und die Ansteckungsgefahr im Freien ohnehin viel geringer ist als im Inneren eines Gebäudes. Selbst die Schulabschlussfeiern sind vielerorts abgeblasen worden. Und auch die meisten Erst-August-Feiern sind gestrichen worden, während sich in den mittlerweile wieder geöffneten Freibädern wohl so viele Menschen dicht aneinandergedrängt tummeln, wie es an keiner noch so gut besuchten Erst-August-Feier der Fall wäre. Gleichzeitig toben sich Hunderte Nachtschwärmer in Bars und Clubs aus, ohne die geringsten Verhaltensregeln aufgrund der Coronakrise auch nur im Entferntesten einzuhalten. Wie wäre es, stattdessen Freiluftdiscos zu veranstalten, zum Beispiel als Grossevent auf dem Berner Bundesplatz? Es ist ja begreiflich, dass die Menschen ihr Vergnügen haben wollen. Nur sollte man dann alles auch mit den gleichen Ellen messen…

Damit der Kapitalismus nicht zum Ende der Geschichte wird

Der amerikanische Wirtschafts-Historiker Brad Delong befasst sich in seinem Blog mit der Frage, weshalb so viele Intellektuelle heute noch dem Marxismus nahe stehen. Er kommt zum Schluss, dass diese Leute ihr Wissen zu stark aus Büchern beziehen und es nicht mehr reflektiert an der Realität messen.

(Alois Krieger in einem Leserkommentar zum NZZ-Leitartikel über Kapitalismus und Sozialismus vom 2. Juli 2020)

 

Und immer wieder diese Unterstellung, mit der man den Kapitalismuskritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen versucht: Sie verstünden eben, heisst es da immer wieder ganz unverblümt, nichts von der tatsächlichen Realität der Wirtschaftswelt und würden sich stattdessen in ihrem Glashaus abgeklärten, lebensfernen Denkens in ihren immer gleichen, unbelehrbaren Theorien suhlen. Dabei ist es doch gerade diese gesunde Distanz von der gegenwärtig herrschenden Wirtschaftsordnung – oder müsste man nicht eher von Wirtschaftsunordnung sprechen -, welche die Chance bietet, grundsätzliche Fragen aufzuwerfen und neue, bessere Wege zu beschreiten. Nicht die Kapitalismuskritiker sind blind gegenüber der Lebensrealität, sondern vielmehr all jene, für die der Kapitalismus trotz aller Zerstörungen, die er schon angerichtet hat und – denken wir an die Folgen des Klimawandels – noch anzurichten droht, noch immer die einzige mögliche Art des Wirtschaftens auf diesem Planeten darstellt. So wie die Befürworter dieses Kapitalismus so sehr in ihm und all seinen Widersprüchen gefangen und verstrickt sind, dass sie vor lauter Bäumen den Wald schon längst nicht mehr sehen, so sehr braucht es all jene kritischen Stimmen, die trotz aller Bäume den Wald, das Ganze, all die Widersprüche zu sehen vermögen. Den Kritikern des Kapitalismus Realitätsferne vorzuwerfen, ist allzu billig und lenkt bloss von den eigenen Unzulänglichkeiten ab. Wer den Blick für das Ganze nicht verlieren will, braucht nicht eine möglichst grosse Nähe, sondern einen möglichst grossen, gesunden Abstand zur herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Nur so besteht die Chance, dass der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte ist, sondern eine Epoche, die allmählich zu Ende geht, um etwas Besserem, Vernünftigerem Platz zu machen.

Sport als „Milieu des Schmerzens“: Ein Karussell, das sich immer schneller dreht…

Immer mehr ehemalige Gymnastinnen, so berichtet die „NZZ“, melden sich, um von missbräuchlichen Methoden leitender Trainerinnen in der Rhythmischen Gymnastik zu berichten. Es geht um Psychoterror, Magerwahn und Rücksichtslosigkeit bei Verletzungen.

Wundert sich da noch jemand? Es ist ja logisch: Je länger sich die jungen Frauen international gegenseitig zu übertrumpfen suchen, umso mehr müssen sie an die Grenze des gerade noch Aushaltbaren gehen, oder besser noch über diese Grenze hinaus. Das ist das Wesen des Konkurrenzprinzips, das die „NZZ“ in einem anderen Artikel kürzlich auch als „Milieu der Schmerzen“ bezeichnete. Und das ist ja beileibe nicht nur in der Rhythmischen Sportgymnastik so. Auch im Tennis, wo jeder Schlag, den der eine Spieler bietet, von seinem Gegenspieler mit einem umso härteren Gegenschlag gekontert werden muss, bis jeder Spieler, der überhaupt noch mit der Spitze mithalten will, am Ende, obwohl er einmal kerngesund gewesen war, körperlich zerbrochen vom Feld humpelt. Und auch im Skirennsport, wo jeder Fahrer, der im Höllentempo zu Tale rast, seine Konkurrenten dazu zwingt, noch ein paar Tausendstel Sekunden höllischer sein Leben zu riskieren, bis dann kein Einziger mehr übrig bleibt, der im Verlaufe seiner Karriere als Spitzensportler nicht mindestens drei Kreuzbandrisse, zwei Schlüsselbeinbrüche und ein Schädelhirntrauma aufzuweisen hätte.

Doch das ist noch längst nicht alles. Das Konkurrenzprinzip dominiert nicht nur die Welt des Sports, sondern auch die Welt der Wirtschaft, des Arbeitslebens, der ganzen Gesellschaft: Grösser, schneller, billiger, stärker zu sein als der andere, zu welchen Kosten auch immer, das ist die Devise. Nicht nur in der Schule, wo der Konkurrenzkampf um die guten Noten dazu führt, dass immer mehr, die mit der Spitze nicht mitzuhalten vermögen, auf der Strecke bleiben. Auch in der Arbeitswelt, wo es einer immer grösseren Anstrengung bedarf, um mit den Besten und Tüchtigsten mithalten zu können. Und ebenso in der Konsum- und Warenwelt, wo alle stets nur dem billigsten und schnellsten Produkt hinterherrennen und auf diese Weise dazu beitragen, dass ausgerechnet jene Firmen, welche für  die schlechtesten Produktions- und Arbeitsbedingungen bekannt sind, die höchsten Gewinne einfahren. Höchste Zeit, das Konkurrenzprinzip ganz grundsätzlich zu hinterfragen und einer breiten gesellschaftlichen Debatte Raum zu geben, in deren Mitte die Frage stehen müsste, wie denn eine Welt, die nicht vom Konkurrenzkampf, sondern vom Miteinander und von der Kooperation geprägt wäre, aussehen könnte.

Gesellschaftliche Ursachen steigender Jugendgewalt und Jugendkriminalität

Seit 2015 nimmt die Jugendkriminalität in der Schweiz von Jahr zu Jahr zu. Vor allem die Zahl der Gewaltstrafen steigt an. „Es setzt sich unter den Jugendlichen zunehmend eine Kultur der Wertschätzung von Gewalt durch“, so Dirk Baier, Professor ZHAW. „Was auffällt“, so Baier: „Unter den Delinquenten befinden sich überdurchschnittlich viele Migranten.“

Dass die Jugendkriminalität und die Jugendgewalt von Jahr zu Jahr zunehmen, kann nicht Zufall sein, sondern muss gesellschaftliche Ursachen haben. Und das ist relativ einfach zu erklären: Seit Jahren nehmen der Konkurrenzkampf, der Leistungsdruck am Arbeitsplatz und die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes kontinuierlich zu. Gestresste, erschöpfte, frustrierte Männer und Frauen kommen am Abend von der Arbeit nach Hause, alle sind einem permanenten Aufstiegs- und Abstiegskampf ausgeliefert. Diesen Druck, diese Ängste und Frustrationen nehmen die Kinder und Jugendlichen als empfindlichste Glieder der Gesellschaft am stärksten wahr, gleichsam als Seismographen, als Spiegelbilder jener Gesellschaft, in der sich ihre Eltern Tag für Tag abkämpfen und in denen viele von ihnen Tag für Tag weit über die Grenzen ihrer natürlichen Belastbarkeit hinaus gefordert sind. Die Gewalt des Wirtschaftssystems, dem ihre Eltern ausgeliefert sind, wird zur potenziellen Gewalt, die sich in den Kindern und Jugendlichen aufstaut und bei vielen von ihnen eines Tages dann als manifeste verbale oder körperliche Gewalt zutage tritt. Es ist daher auch kein Zufall, dass Jugendgewalt bei Migranten und Migrantinnen besonders häufig auftritt: Es ist jene gesellschaftliche Gruppe, die dem Arbeitsdruck, aber auch den Zukunftsängsten in ganz besonders hohem Masse ausgesetzt ist.

Es genügt daher nicht, in den Schulen Präventionsprogramme gegen Gewalt durchzuführen. Statt bloss die Symptome zu bekämpfen, müssen die Ursachen bekämpft werden: Ziel muss es sein, eine Arbeitswelt und ein Wirtschaftssystem aufzubauen, das nicht von gegenseitigem Konkurrenzkampf geprägt ist, sondern von Kooperation, Sicherheit, fairen Löhnen und einem guten Leben für alle. Verschwindet die Gewalt in der Arbeitswelt, dann wird sie automatisch auch in der Form von Jugendgewalt und Jugendkriminalität verschwinden…

Eine Stunde schneller von Zürich nach München – und dann?

Ab dem kommenden Fahrplanwechsel im Dezember wird die Bahnreise von Zürich nach München nur noch vier statt wie bisher fünf Stunden betragen. Damit sagen SBB und DB ihrer Konkurrenz in der Luft und auf der Strasse den Kampf an. Wählen heute noch 5’000 Reisende pro Woche für diese Strecke den Fernbus, 3’900 die Bahn und 3’700 das Flugzeug, soll die Bahn zukünftig die unbestrittene Nummer eins sein. Doch das hat seinen Preis: 500 Millionen Euro gibt Deutschland aus, um die Strecke zwischen Lindau und München zu elektrifizieren, 50 Millionen steuert die Schweiz bei. Unzählige Signale, Weichen, Stellwerke und Bahnübergänge werden ersetzt, in Lindau entsteht nach zweijähriger Bauzeit ein neuer Durchgangsbahnhof und eine 5300 Tonnen schwere Brücke, die um 13 Meter in ihre Endposition verschoben werden muss, wird gebaut. Allein die zu errichtenden Lärmschutzwände verschlingen ein Fünftel der gesamten Bausumme. Und dies alles, um die Strecke zwischen Zürich und München um eine Stunde schneller zu machen.

Wird das alles genügen, um die Konkurrenten auf der Strasse und in der Luft zu bezwingen?  Werden die Fernbusse und die Luftfahrtgesellschaften nicht alles daran setzen, durch möglichst tiefe Preise so viele Passagiere wieder von der Schiene wegzulocken auf die Strasse und in die Luft? Und was werden sich SBB und DB hernach einfallen lassen, um trotz alledem wieder von neuem die Nummer eins zu sein? Werden sie eine Brücke über den Bodensee bauen oder an all jenen Stellen, wo infolge von Kurven nur langsam gefahren werden kann, Tunnels bauen lassen? Das alles mag absurd klingen, wäre aber nichts anderes als die logische Folge dessen, was vor 50 Jahren auch noch nicht denkbar gewesen wäre, heute aber so normal erscheint, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Doch so kann es nicht endlos weitergehen. Früher oder später werden wir uns von der Vorstellung lösen müssen, das Verkehrssystem sei eine Art Supermarkt, aus dem man stets das billigste und bequemste Produkt frei auswählen könne. Wir brauchen nicht drei oder vier Varianten, um von Zürich nach München reisen zu können, es genügt eine einzige Variante, und diese soll, im Vergleich mit allen anderen, über die beste wirtschaftliche, soziale und ökologische Gesamtbilanz verfügen, egal, ob diese Reise dann vier, fünf oder sechs Stunden dauert. Das bedrohe aber die individuelle Freiheit des Einzelnen, werden Gegner eines solchen integralen Verkehrssystems einwenden. Nun gut, aber soll die Freiheit des Einzelnen tatsächlich so weit führen, dass wir ganze Landschaften zubetonieren, Rohstoffe masslos ausbeuten, die Klimaerwärmung immer noch mehr und noch mehr anheizen und in letzter Konsequenz die Natur und den ganzen Planeten, auf dem wir leben, zerstören?

Lohndiskriminierung besteht nicht nur in unterschiedlichen Löhnen für Frauen und Männer

Die grössten Unternehmen der Schweiz haben ab 1. Juli ein Jahr Zeit, die Löhne ihrer angestellten Männer und Frauen auf Diskriminierung zu untersuchen. Die Unternehmen müssen ihre Analysen innert Jahresfrist vorlegen. Diese müssen anschliessend alle vier Jahre wiederholt werden, wenn die erste Analyse unerklärliche Ungleichheiten bei den Löhnen ergab.

(Tages-Anzeiger, 29. Juni 2020)

Das sind wichtige und notwendige Massnahmen gegen die nach wie vor vorhandene Ungleichheit zwischen den Löhnen für Frauen und Männer, die schweizweit immer noch bei acht Prozent liegt. Allerdings greifen solche Vergleiche zu kurz. Denn es werden ja nur die Löhne innerhalb des gleichen Berufs und der gleichen Position innerhalb der Firma verglichen. Lohndiskriminierung liegt aber auch vor, wenn eine Coiffeuse vier Mal weniger verdient als der Abteilungsleiter einer Firma. Es wird zwar immer gesagt, vergleichen könne man nur „gleichwertige“ berufliche Tätigkeiten. Was aber heisst „gleichwertig“? Ist die Arbeit der Coiffeuse vier Mal weniger wert als die Arbeit des Abteilungsleiters? Ist die Arbeit einer Krankenpflegerin vier Mal weniger wert als die Arbeit eines Universitätsprofessors? Ist die Arbeit eines Gärtners drei Mal weniger wert als die Arbeit einer Rechtsanwältin? Ist die Arbeit einer Verkäuferin 400 Mal weniger wert als die Arbeit des UBS-Chefs Sergio Ermotti, der jährlich über 12 Millionen „verdient“? Es ist gut und recht, über Lohndiskriminierung der Frauen gegenüber den Männern innerhalb des selben Berufs und der selben Position in der Firma zu diskutieren. Aber die Diskussion müsste weitergehen und sich mit Lohnunterschieden ganz generell befassen. Dass zu viele dies verhindern möchten, weil es für sie zu gefährlich wäre und vieles bisher Selbstverständliche in Frage stellen könnte, versteht sich von selber. Denn vielleicht würde man ja dann eines Tages zum Schluss kommen, dass sämtliche berufliche Tätigkeiten gleich wertvoll sind, weil sie nämlich allesamt für das Funktionieren von Gesellschaft und Wirtschaft unerlässlich sind, und deshalb das einzig wirklich Gerechte ein Einheitslohn wäre, was all jenen, die heute noch weniger als den Durchschnittslohn verdienen, nicht nur grössere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und mehr Wohlstand verschaffen würde, sondern vor allem auch jenes Ansehen und jene Wertschätzung für ihre Arbeit, die sie schon längst mehr als verdient haben.

Bündner Baufirmen an den Pranger gestellt: Als wäre es eine neue Art von Religion

Wiederholte Preisabsprachen zwischen Bündner Baufirmen rufen die Verfechter der „reinen“ Lehre der freien Marktwirtschaft auf den Plan: Die betroffenen Firmen werden gebrandmarkt und es werden ihnen hohe Bussen aufgebrummt. Der Konsens, dass Preisabsprachen zwischen Firmen des Teufels sind, das Prinzip des freien Wettbewerbs über allem stehen müsse und Verstösse dagegen mit aller Härte zu ahnden seien, ist frappant. Man bekommt fast den Eindruck, als handle es sich dabei um eine neue Art von Religion. Auch in Online-Kommentaren zum Thema findet sich keine einzige Stimme, die den betroffenen Baufirmen Verständnis entgegen bringt. Im Gegenteil: Es werden noch viel härtere Strafen verlangt oder, dass man die betreffenden Firmen öffentlich an den Pranger stellen müsse. Ich frage mich: Haben wir uns mit dem uneingeschränkten Prinzip des freien Wettbewerbs nicht ebenso einem Zwangssystem unterworfen, wie das im früheren Sozialismus der Fall war, nur mit umgekehrten Vorzeichen? Ist es denn wirklich erstrebenswert, dass immer nur der Schnellste und Billigste einen Auftrag bekommt, während alle anderen auf der Strecke bleiben? Was ist denn so schlecht daran, wenn sich Firmen gegenseitig absprechen, damit die Aufträge auf möglichst viele und nicht auf möglichst wenige verteilt werden und somit alle eine Überlebenschance haben? Das Prinzip des uneingeschränkten freien Wettbewerbs und des Kampf aller gegen alle hat schon so viele Opfer gefordert, dass es höchste Zeit wäre, es grundsätzlich zu hinterfragen. Dann wären die Bündner Baufirmen nicht mehr Sündenböcke oder gar Kriminelle, sondern Vorboten einer neuen, besseren Zeit, in der nicht mehr jeder gegen jeden kämpft, sondern alle miteinander und füreinander Sorge tragen…