Der Kapitalismus belohne jene, die der Geselllschaft nützen: Schön wäre es…

Zürcher Jungunternehmer sind mit Corona-Masken so reich geworden, dass sie sich aus dem Gewinn zwei Bentleys und einen Ferrari für mindestens 2,5 Millionen Franken kaufen konnten. So funktioniert der Kapitalismus: Wer der Gesellschaft nützt, profitiert.

(Edgar Schuler, in: Tages-Anzeiger, 26. Juni 2020)

Man muss schon zwei Mal hinschauen, um es zu glauben. Und es steht ja nicht in irgendeinem Boulevardblatt, sondern im Leitartikel einer der führenden Tageszeitungen unseres Landes: Wer der Gesellschaft nütze, der profitiere – so funktioniere der Kapitalismus. Was müssen sich die hunderttausenden Fabrikarbeiter, Serviceangestellte, Krankenpflegerinnen, Gärtner, Coiffeusen, Bauarbeiter, Köche, Verkäuferinnen, Putzfrauen und  Lastwagenfahrer wohl denken, wenn sie diesen Satz lesen? Sie, die täglich schwerste Arbeit verrichten und dennoch von ihrem Lohn kaum leben können oder sogar so wenig verdienen, dass es nicht einmal für das Allernotwendigste ausreicht. Ist die Arbeit, die sie verrichten, nicht genau so oder vielleicht sogar noch nützlicher als das Geschäft jener Zürcher Unternehmer mit dem Kaufen und Verkaufen von Masken? Und hätten sie dann demzufolge auch Anspruch auf einen Bentley oder einen Ferrari? Dass der Kapitalismus jene belohne, die für die Gesellschaft nützlich sind, diese Behauptung kann nur aufstellen, wer die Augen völlig verschliesst gegenüber der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität. Tatsächlich ist der Kapitalismus jene Gesellschaftsform, in der ausgerechnet jene Menschen, welche die nützlichste und wertvollste Arbeit verrichten und auf deren Schultern das ganze Gebäude lastet, von den Segnungen des Wohlstands, den sie erarbeiten, beinahe gänzlich ausgeschlossen sind. Bis sie alle einen Ferrari oder Bentley besitzen, bis dahin ist noch ein weiter Weg…

Der Fall Tönnies und was wir daraus lernen können

Nach dem massiven Corona-Ausbruch im Schlachtbetrieb Tönnies in Nordrhein-Westfalen, wo 1331 der 6500 Arbeiterinnen und Arbeiter positiv auf Covid-19 getestet wurden,  ist das Vertrauen zwischen den Behörden und der Branche zerrüttet. Nachdem nun auch die Schulen wieder geschlossen und ganze Strassenzüge unter Quarantäne gestellt wurden, haben Politiker und die zuständigen Behörden den Bereich der diplomatischen Formulierungen verlassen. Nun geht es in dem Landkreis um Schadensbegrenzung. Wie es zu dem Corona-Ausbruch kommen konnte, ist eine Frage, die nun Tönnies und die Behörden gleichermassen beantworten müssen. Schliesslich ist es nicht der erste Corona-Vorfall in einem Schlachtbetrieb seit Beginn der Pandemie, und schliesslich ist seit langem bekannt, welch fragwürdige Zustände in Deutschlands grossen Schlachthöfen herrschen: Die Arbeiter kommen überwiegend aus Rumänien, Polen und Bulgarien, werden von Subunternehmen angestellt, leben in Massenunterkünften, wo sich nicht selten drei Arbeiter ein einziges Bett teilen müssen, und schuften unter widrigen Bedingungen zu Billiglöhnen. Auf Kosten des Tierwohls landet Schweinefleisch zu Billigpreisen in den Supermärkten.

(www.nzz.ch)

Als hätte man es vorher nicht gewusst. Es brauchte die Coronaepidemie, um ans Tageslicht zu bringen, unter welchen menschenunwürdigen Bedingungen in den deutschen Schlachthöfen gearbeitet wird, Bedingungen, die man ohne Übertreibung als moderne Sklaverei bezeichnen kann, und das mitten im demokratischen, aufgeklärten, zivilisierten Deutschland. Und sogleich schieben sich alle gegenseitig die Schuld in die Schuhe: Politiker der einen Partei fallen über die Politiker der anderen Partei her, Gesundheitsexperten, Behördenmitglieder und Fleischfabrikanten streiten darüber, wer am Ganzen Schuld sei und wer nicht und weshalb. Dabei gibt es doch nur einen einzigen zweifellos Schuldigen: das Prinzip der freien Marktwirtschaft, der kapitalistische Konkurrenzkampf aller gegen alle, der jeden Einzelnen, der am Ganzen beteiligt ist, dazu zwingt, immer noch ein bisschen schneller und ein bisschen billiger zu sein als alle anderen. Eigentlich hätte niemand das Recht, mit dem Finger auf andere zu zeigen, es ist ein Spiel, das wir alle mitspielen, solange auch wir als Konsumenten und Konsumentinnen immer dem billigsten Häppchen hinterherrennen, ohne uns darüber Gedanken zu machen, welches Ausmass an Leiden hinter all den Produkten, die uns angeboten werden, steckt. Denn es ist nicht nur das Fleisch der Firma Tönnes, es sind auch die Kleider aus den Textilfabriken Bangladeshs. Es sind auch die Spielsachen aus China. Es sind auch die Möbel von Ikea, deren Holz aus dem illegalen Raubbau in Wäldern Rumäniens und der Ukraine stamm. Es sind auch die Smartphones, die nur dank jenen seltenen Metallen funktionieren, die afrikanische Minenarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen aus dem Boden schürfen. Jetzt steht die Firma Tönnes im Rampenlicht. Aber eigentlich müsste man den Kapitalismus ins Rampenlicht stellen. Wir brauchen ein nichtkapitalistisches Wirtschaftssystem, das nicht auf gegenseitiger Ausbeutung beruht, sondern auf Gerechtigkeit, Menschenwürde und Respekt, nicht nur gegenüber den Menschen, sondern auch gegenüber den Tieren und gegenüber der Natur. Alles andere hat keine Zukunft.

 

Die Initiative „Züri autofrei“ – „Rückfall in die verkehrspolitische Steinzeit“?

Die Wirtschafts- und Autoverbände feiern ihren Sieg: Sie haben die Juso-Initiative für eine autofreie Stadt Zürich vor Bundesgericht niedergerungen. Zum Glück hat die oberste juristische Instanz des Landes so entschieden und das unverständliche Urteil des Zürcher Verwaltungsgerichts korrigiert. Sonst hätte der Stadt der Rückfall in die verkehrspolitische Steinzeit gedroht. Bei einem Ja zur mobilitätsfeindlichen, illusorischen Initiative der Jungsozialisten hätte sich Zürich de facto von ihrer Zentrumsfunktion und ihrem Anspruch, Grossstadt zu sein, verabschiedet.

(NZZ, 18. Juni 2020)

Die NZZ, die Wirtschafts- und Autoverbände frohlocken zusammen mit den bürgerlichen Parteien über den Entscheid des Bundesgerichts, die Juso-Initiative „Züri autofrei“ abzulehnen und somit der Stimmbevölkerung der Stadt Zürich das demokratische Recht abzusprechen, in eigener Kompetenz über diese Vorlage zu befinden. Ob diejenigen, die nun ihren „Sieg“ feiern, nicht zur Kenntnis genommen haben, dass sich unlängst Wien zur autofreien Stadt erklärt hat und auch andere europäische Städte ähnliche Bestrebungen verfolgen? Werden diese Städte alle ihre „Zentrumsfunktion“ verlieren und sich von ihrem Anspruch, Grossstadt zu sein, „verabschieden“? Die Frage, wer nun in der Steinzeit lebe und wer nicht, kann man unterschiedlich interpretieren. Wer, als Fussgänger, an einer vielbefahrenen Strasse steht und ein Auto ums andere an sich vorbeiziehen sieht, meist nur mit einer einzigen Person besetzt, sieht das Ganze wahrscheinlich ein bisschen anders als jene, die selber in den Autos sitzen. Und erst recht kommt man ins Grübeln, wenn man sich vorstellt, was für eine Masse an Stahl und Blech mit was für einem riesen Aufwand an Rohstoffen und Energie und mit was für einer Platzverschwendung da in Bewegung gesetzt wird, bloss um ein kleines Menschlein von A nach B zu bringen, das diesen Weg ebenso gut mit einem Tram, auf einem Velo oder zu Fuss hätte zurücklegen können. Käme hier und heute ein Wesen von einem anderen Planeten auf die Erde, empfände es dies alles als hellen Wahnsinn, umso mehr, als diese Vehikel ja an vorderster Front dafür verantwortlich sind, dass sich unser Klima immer mehr erwärmt und die Erde als Folge davon früher oder später im schlimmsten Falle unbewohnbar geworden sein wird. Nur weil wir Autos schon von klein auf gesehen und weil die meisten von uns als Kinder nicht nur mit Puppen, sondern vor allem auch mit kleinen Autos gespielt haben, ist das Auto sozusagen als etwas „Normales“ in unser Bewusstsein eingedrungen, von allem Anfang an, schon mit der Muttermilch sozusagen. Ja mehr noch: Viele von uns vergöttern das Auto geradezu, sehen es als Ausdruck von Reichtum und Wohlstand, fühlen sich darin fast so heimisch wie in ihrem Wohnzimmer, wenden Stunden dafür auf, es jeden Sonntag immer wieder auf Hochglanz zu bringen, lassen ihre Motoren aufheulen und gefallen sich darin, auf der Autobahn möglichst viele andere Autos zu überholen. Heute noch frohlocken die Gegner autofreier Städte und bezeichnen ein Fahrverbot in der Stadt als „Rückfall in eine verkehrspolitische Steinzeit“. Doch möglicherweise haben sie zu früh frohlockt, denn wahrscheinlich kommt schon bald eine Zeit, in der sich die Menschen an das private Automobil ebenso ungläubig erinnern werden wie wir heutigen Menschen an die Dinosaurier. Dann, im Rückblick, werden politische Bewegungen wie die Initiative „Züri autofrei“ nicht so sehr Zeichen eines historischen Rückfalls gewesen sein, sondern, ganz im Gegenteil, erste Vorboten eines neuen Zeitalters, in dem mit der Erde, den Rohstoffen, dem vorhandenen Boden, der Mobilität und der Energie so umgegangen wird, dass es auch in tausend Jahren noch genug von alledem gibt…

Die Diskussion rund um den Mohrenkopf und wie sie weitergehen müsste…

Die Diskussion, ob der Mohrenkopf weiterhin Mohrenkopf heissen soll, mag ja durchaus ihre Berechtigung haben. Doch der wirkliche Skandal ist ja nicht, dass der Mohrenkopf Mohrenkopf heisst. Der wirkliche Skandal besteht darin, dass auch heute noch die Pflückerinnen und Pflücker der Kakaobohnen, aus denen die Schokolade hergestellt wird, nur einen winzigen Bruchteil dessen verdienen, was die in der Schweiz ansässigen Fabrikanten, Händler und Verkäufer der Schokolade an Gewinn einheimsen.

Und das ist nur eines von zahllosen Beispielen, wie sich die Ausbeutung und das Elend des Südens in den Luxus und in das Gold des Nordens verwandeln: die beiden Kehrseiten der kapitalistischen Münze, welche die einen, obwohl sie immer härter arbeiten, dennoch immer ärmer macht, während sie die anderen, obwohl sie sich gar nicht so sehr anzustrengen brauchen, dennoch immer reicher werden lässt. Es ist gut, wenn man dem Mohrenkopf einen neuen Namen gibt. Und es ist auch gut, wenn man darüber diskutiert, ob die Statuen und Denkmäler früherer Sklavenhändler weiterhin öffentlich ausgestellt bleiben sollen. Aber noch viel wichtiger wäre es, die Geschichte von 500 Jahren kolonialer Ausbeutung bis in unsere Gegenwart hier und heute aufzuarbeiten. Und noch wichtiger wäre es, eine zukünftige Wirtschaftsordnung aufzubauen, die nicht mehr auf Ausbeutung und der himmelschreienden Ungleichheit zwischen Arm und Reich aufbaut, sondern auf fairen Tausch- und Handelsbeziehungen und dem elementaren Recht auf ein gutes Leben nicht für eine wohlhabende Minderheit der Weltbevölkerung, sondern für alle Bewohner und Bewohnerinnen der Erde hier, heute und in Zukunft…

Wer versteht mehr von der Wirtschaft: Mattea Meyer und die bürgerlichen Besserwisser

Anlässlich der ausserordentlichen Session des Schweizer Parlaments im Mai brachte Mattea Meyer (SP) eine Motion ein, welche ein Dividendenverbot für all jene Firmen forderte, die Kurzarbeit beantragt hatten. Während der Nationalrat der Motion überraschenderweise zustimmte, scheiterte sie dann aber im Ständerat. Bürgerliche Männer warfen Mattea Meyer vor, „von Wirtschaft nichts zu verstehen.“

(Tages-Anzeiger, 16. Juni 2020)

Das beliebte Totschlagargument: Wer von der Sache nichts verstehe, dürfe sich dazu auch nicht äussern. Folgerichtig dürften dann also nur noch Ökonomen, Finanzspezialisten und Bankiers mitreden, wenn es um Wirtschaftsfragen geht, alle anderen hätten gefälligst zu schweigen, da sie ohnehin von der Sache nichts verstünden. Das wäre so ziemlich genau das Gegenteil von Demokratie. Denn Demokratie baut genau darauf auf, dass unterschiedlichste Sichtweisen und Aspekte in politische Prozesse – und damit letztlich auch in Wirtschaftsfragen – einfliessen. Gerade der Blick von aussen, von Menschen, die noch nicht durch und durch Bestandteil des bestehenden Systems sind und sich noch nicht an all dessen Widersprüche und Absurditäten gewöhnt haben, sind unerlässlich für den gesellschaftlichen – und damit letztlich auch wirtschaftlichen – Fortschritt. Es ist wie bei dem immer wieder zitierten Vergleich vom Wald und von den Bäumen: Wer voll und ganz ins bestehende Wirtschaftssystem eingebunden ist und dessen Logik und dessen Denkweisen ganz und gar verinnerlicht hat, sieht zwar die einzelnen Bäume, nicht aber mehr den gesamten Wald. Wer das Ganze hingegen aus einer gewissen Distanz anschaut, erkennt den Wald als Ganzes und kann auch dessen Widersprüche und Ungereimtheiten viel deutlicher erkennen. Und genau diese Sichtweise braucht es, damit sich Bestehendes verändern und Neuem, Besserem Platz machen kann. Denn wo wir hinkommen, wenn wir die Wirtschaft nur denen überlassen, die angeblich etwas davon verstehen, das wissen wir mittlerweile nur zur Genüge, wenn wir uns all die weltweit verheerenden sozialen und ökologischen Folgen eines Wirtschaftssystems vor Augen führen, das immer noch unbeirrt am Dogma eines unbegrenzten Wachstums festhält.

Absurde Argumente gegen die Einführung eines Mindestlohns von 4000 Franken

Morgen, so berichtet der „Tagesanzeiger“ am 16. Juni 2020, lanciert eine Allianz aus Gewerkschaften, Grünen, SP, AL und mehreren Hilfswerken eine Volksinitiative für die Einführung eines Mindestlohns von 4000 Franken in den Städten Zürich, Winterthur und Kloten. Aus Sicht der Allianz sind 4000 Franken im Monat das absolute Minimum, um in Zürcher Städten finanziell durchzukommen. Vertreter der betroffenen Branchen – Gastronomie, Reinigung und Detailhandel – halten davon wenig. Dank Gesamtarbeitsverträgen würden die meisten bereits heute genug verdienen. Zudem gebe es unkomplizierte Weiterbildungen.

Im Klartext: Du kannst dich ja weiterbilden, um mehr zu verdienen. Und wenn du das nicht tust, dann bist du halt selber Schuld, wenn du zu wenig verdienst, um davon zu leben zu können. – Was für eine Botschaft! Erstens kann man sich nur schwer vorstellen, dass eine Detailhandelsangestellte oder eine Servicefachangestellte, bloss weil sie einen Weiterbildungskurs besucht hat, dann von einem Tag auf den anderen so viel mehr verdienen wird als bisher. Zweitens hat nicht jede und jeder, der weniger als 4000 Franken verdient, die Möglichkeit, einen Weiterbildungskurs zu besuchen, sei es, dass es die finanziellen Verhältnisse nicht zulassen, sei es, dass im betreffenden Kurs zu hohe Anforderungen gestellt werden, sei es, dass die zeitliche Belastung durch Familie, Haushalt und Arbeit – insbesondere bei Alleinerziehenden – dies gar nicht erst zulässt. Drittens ist es nachgerade zynisch, einem Arbeitnehmer oder einer Arbeitnehmerinnen den Besuch eines Weiterbildungskurses zu empfehlen, um auf einen existenzsichernden Lohn zu kommen. Das heisst ja, anders gesagt, dass jemand, der „nur“ eine ganz gewöhnliche Verkäuferin, „nur“ eine ganz gewöhnliche Coiffeuse oder „nur“ ein ganz gewöhnlicher Koch ist, kein Anrecht auf einen Lohn haben soll, von dem er oder sie anständig leben können.

Unglaublich, mit was für absurden Argumenten Arbeitgeber und Arbeitgeber etwas zu bekämpfen versuchen, was eigentlich die logischste und selbstverständlichste Sache der Welt sein müsste, nämlich, dass jemand, der einer vollen Erwerbsarbeit nachgeht, auch genug verdienen müsste, um für sich und seine Familie den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Wenn man bedenkt, dass der schweizerische Durchschnittslohn gegenwärtig bei rund 6500 Franken liegt, dann ist ja die Forderung nach einem Mindestlohn von 4000 Franken mehr als bescheiden…

Frauenstreik: Noch ein weiter Weg bis zum Ende aller Ungerechtigkeit

In wenigen Wochen schwärmen die Orangenpflückerinnen und Orangenpflücker wieder aus: Auf den fruchtbaren Böden im Norden von São Paulo beginnt im Juli die Ernte. Rund 200’000 Familien leben vom Pflücken der saftig-süssen Früchte, die später zu Orangensaft verarbeitet werden. Sie holen sie von Hand von den Bäumen. Es ist eine harte Arbeit, bei grosser Hitze und hohem Druck. Denn ein Arbeiter oder eine Arbeiterin muss rund 3000 Kilogramm pro Tag ernten – das entspricht mehr als 70 Kisten. Die Schweizer Nichtregierungsorganisation Public Eye hat zusammen mit der brasilianischen Organisation Reporter Brasil die Arbeitsbedingungen untersucht. Gestossen sind sie auf zahlreiche teils schwerwiegende Männer. So wurden in den letzten zehn Jahren rund 200 Verstösse gegen das Arbeitsgesetz aufgedeckt. Die Hälfte davon betreffe die Gesundheit und Sicherheit der Arbeiterinnen und Arbeiter. Laut Public Eye wurde dem Unternehmen einmal eine Strafe von 120’000 Franken aufgebrummt, weil 34 Arbeiter in einem einstigen Hühnerstall untergebracht worden waren.

(Tages-Anzeiger, 15. Juni 2020)

Auch beim gestrigen Frauenstreik in Zürich und anderen Städten ging es um Gerechtigkeit und um den Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung. Dabei geht aber nur zu oft vergessen, dass Ungerechtigkeit und Ausbeutung nicht nur Frauen betrifft. Auch Männer können Ausgebeutete sein und Frauen Ausbeuterinnen. Oder ist, um beim Beispiel der brasilianischen Orangenpflückerinnen und Orangenpflücker zu bleiben, die schweizerische oder deutsche Konsumentin, welche sich im Supermarkt zu günstigem Preis einen Orangensaft kauft, nicht auch, in der langen Produktionskette von der gepflückten Frucht bis zum fertigen Süssgetränk, eine Ausbeuterin jener Arbeiterinnen und Arbeiter, welche unter unmenschlichen Bedingungen die Früchte ernten? Und ist Frau Schweizer, die es sich an Bord eines Kreuzfahrtschiffs wohl ergehen lässt, nicht auch eine Ausbeuterin der Köche, die im Bauch des Schiffs in höllischer Hitze und unter gnadenlosem Zeitdruck jene Speisen zubereiten, welche sie und ihr Mann dann lustvoll geniessen? Und sind all die Frauen, die ein Smartphone besitzen, letztlich nicht auch Ausbeuterinnen all jener Abertausender namenloser Minenarbeiter, die unter Lebensgefahr die für die Herstellung der Smartphones notwendigen Rohstoffe aus dem Boden Kongos oder Senegals schürfen? Und sind all die Frauen, welche sich Schuhe, Kleider, Sportgeräte oder andere Luxusartikel kaufen, nicht auch Ausbeuterinnen all jener Lastwagenfahrer, die unter permanentem Zeitdruck zu geringem Lohn all die Waren von den Fabriken zu den Orten transportieren, wo sie dann verkauft werden? Das Geschlecht ist nur einer von vielen Faktoren für Benachteiligung, Diskriminierung und Ausbeutung. Ein anderer, mindestens so wichtiger Faktor ist die Stellung innerhalb der weltweiten kapitalistischen Machtpyramide. „Gegen den Kapitalismus“ stand an der gestrigen Frauendemo in Zürich auf einem der Plakate. Das trifft ins Schwarze. Gerechtigkeit wird noch nicht erreicht sein, wenn die Frauen alle ihre gegenwärtigen Benachteiligungen gegenüber den Männern überwunden haben werden. Gerechtigkeit wird erst dann erreicht sein, wenn der Kapitalismus überwunden sein wird und damit auch jegliche Form von Ausbeutung und Diskriminierung, ganz egal ob Männer oder Frauen, Schwarze oder Weisse, Kinder oder Erwachsene davon betroffen sind.

Rassismus von Weissen gegen Schwarze: Nur eine von unzähligen Formen von Gewalt

In Südafrika gehört es zur bitteren Wahrheit, dass Polizei und Armee ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Apartheid zum grössten Teil aus Schwarzen und Coloureds bestehen, sich aber am brutalen Vorgehen oft wenig geändert hat. Zwar wurde der South African Police das Wort Service hinzugefügt, für viele vor allem ärmere Südafrikaner ist die Polizei aber weiterhin eher Feind als Freund und Helfer.

(Tages-Anzeiger, 13. Juni 2020)

Das Beispiel südafrikanischer schwarzer Polizisten, die sich ebenso brutal verhalten wie ihre weissen Berufskollegen in den USA oder anderswo, zeigt, dass der weisse Rassismus und die weisse Polizeigewalt, die von der Bewegung „Black Lives Matter“ angeprangert werden, bloss die Spitze eines Eisbergs bilden, der sich weltweit in unzähligen mehr oder weniger drastischen Formen manifestiert. Gewalt und Machtmissbrauch findet nicht nur zwischen weissen Polizisten und ihren schwarzen Opfern statt. Gewalt übt auch der Aufseher in einer Textilfabrik Bangladeshs aus, der seine Arbeiterinnen prügelt, ihnen keine Pausen gönnt oder sich sogar an ihnen sexuell vergreift. Gewalt übt auch der multinationale Konzern aus, der aus seinen Fabriken so viele giftige Gase in die Umwelt auslässt, dass die meisten Menschen, die dort leben, von frühzeitigem Tod betroffen sind. Gewalt üben auch staatliche Behörden aus, die einem Flüchtlingsschiff im Mittelmeer die Einreise verweigern und namenlose Männer, Frauen und sogar Kinder skrupellos ihrer unbeschreiblichen Verzweiflung überlassen. Gewalt üben auch jene spanischen Plantagenbesitzer aus, auf deren Feldern sich Männer und Frauen aus Afrika für einen Hungerlohn zu Tode arbeiten müssen. Gewalt üben auch unzählige Männer aus, die Prostituierte oder sogar ihre eigenen Frauen schikanieren oder sogar zu Tode quälen. Gewalt üben auch all jene Firmen aus, welche den dort arbeitenden Frauen immer noch geringere Löhne auszahlen als den Männern. Gewalt üben auch all jene Politiker aus, die immer noch so tun, als wäre der Klimawandel eine Erfindung einiger hysterischer Jugendlicher, Politiker, die mit ihrer Gleichgültigkeit oder sogar aktivem Widerstand das Leben ganzer zukünftiger Generationen aufs Spiel setzen. Die „Black Lives Matter“-Bewegung ist gut und wichtig und hat schon sehr viel in Bewegung gebracht. Aber eigentlich müsste sie ausgeweitet werden zu einer Bewegung gegen jegliche Gewalt und jeglichen Machtmissbrauch weltweit in allen Formen. Denn es nützt nichts, wenn bloss zukünftig weisse Polizisten in den USA schwarze Menschen respektvoll und anständig behandeln, so lange alle übrigen Formen von Gewalt weltweit unvermindert weitergehen. Und dann wäre es nur noch logisch, dass sich die Frauenbewegung und die Klimabewegung und die Bewegung für die Rechte Homosexueller und die „Black Lives Matter“-Bewegung und all die gewerkschaftlichen Bewegungen für gerechte Löhne und faire Arbeitsbedingungen nach und nach miteinander verbinden würden zu einer grossen gemeinsamen Bewegung gegen weltweite Gewalt und weltweiten Machtmissbrauch in allen Formen. Was für eine Vision!

Der Sturm auf die Statuen von Rassisten und Sklavenhaltern: Doch so einfach können wir uns nicht aus der Geschichte davonstehlen

Von den USA über Grossbritannien bis Belgien ist ein nie da gewesener Bildersturm im Gange: Ausgelöst durch die brutale Ermordung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weissen Polizisten, werden allerorten Statuen berühmter Persönlichkeiten, die durch Sklavenhandel und Rassismus reich wurden, besprayt, eingehüllt, geschleift, geköpft oder ins Meer geworfen. Auch in der Schweiz gibt es Bemühungen, Statuen uns Porträts von Profiteuren des rassistischen Kolonialismus aus dem öffentlichen Raum zu verbannen.

Diese Aufarbeitung müsste aber noch viel weiter gehen. Denn die Verbrechen, welche vom britischen Sklavenhändler Edward Colston, vom belgischen König Leopold II, vom Schweizer Bankier David De Pury und ihren zahllosen Gesinnungsgenossen begangen wurden, sind nicht bloss das böse Werk einzelner Übeltäter. Nein, sie bildeten nichts anderes als die Grundlage und die Wurzeln jenes über die Jahrhunderte immer weiter in die Höhe geschossenen kapitalistischen „Baumes“, von deren Früchten wir, die reichen Länder des Nordens, bis heute mit profitieren. Sonst wäre nicht zu erklären, weshalb die Schweiz als Land ohne Rohstoffe und mit einer so kargen Erde, dass sie sich nicht einmal zur Hälfte aus eigener Kraft ernähren kann, heute das reichste Land der Welt ist, während ausgerechnet jene Länder, die über die reichsten Bodenschätze und die fruchtbarste Erde verfügen, zu den ärmsten Ländern der Welt gehören.

Wenn man David de Pury köpfen wollte, dann müsste man eigentlich auch das schweizerische Bankensystem und die multinationalen Konzerne köpfen, ja letztlich uns alle, die wir auch heute noch von all jenen längst vergangenen Verbrechen profitieren. Denn, wie es der Journalist Andreas Tobler so treffend formulierte: „Indem wir Statuen damaliger Sklavenhalter köpfen, können wir uns nicht aus der Geschichte davonstehlen.“ Was vorbei ist, können wir allerdings nicht mehr ändern. Was wir aber können, ist, dafür zu sorgen, dass der kapitalistische Baum nicht noch immer weiter in die Höhe schiesst und immer noch wildere Blüten treibt. Hierzu bedürfte es aber einer tiefgreifenden Umgestaltung unseres bisherigen, von der Macht des Geldes und von der gegenseitigen Ausbeutung bestimmten Wirtschaftssystems. Einer Umgestaltung, die weit radikaler wäre als das Köpfen und ins Meer Werfen längst verstorbener Bösewichte.

Die Schweiz als sicherstes Land in der Coronakrise – und was ist mit dem Rest der Welt?

In keinem Land ist man derzeit sicherer vor Corona als in der Schweiz. Knapp dahinter landet Deutschland auf dem zweiten Platz. Die USA müssen sich mit dem 58. Rang begnügen. Das ist das Ergebnis einer weltweiten Studie der Deep Knowledge Group, einem Konsortium von Unternehmen und gemeinnützigen Organisationen, wie die Zeitschrift «Forbes» berichtet. Die Analyse umfasst 200 Länder. Dafür wurden öffentlich zugängliche Daten verwendet und 130 Kriterien verglichen, die für das Resultat ausschlaggebend waren. Besonderes Augenmerk galt natürlich dem Gesundheitssystem. Analysiert wurde, wie die Überwachung und Erkennung der Corona-Infizierten funktioniert. Aber nicht nur. Ebenso unter die Lupe wurden die Massnahmen der Regierung genommen. Und das Ergebnis ist eindeutig: Switzerland First!

(www.blick.ch)

Es ist ja schön, im sichersten Land der Welt zu leben. Aber heisst es nicht immer wieder, die Bedrohung durch das Coronavirus führe dazu, dass mehr Solidarität entstehe und die Menschen näher zusammenrückten? Gilt das nur für die Nachbarschaftshilfe im eigenen Wohnquartier, nicht aber für die Beziehungen der Menschen von Land zu Land? Kann es uns wirklich gleichgültig sein, was die Coronakrise für die Menschen in Indien, in Peru oder in Südafrika bedeutet? Können wir uns guten Gewissens damit zufrieden geben, im „sichersten Land“ der Welt zu leben und den Rest der Welt sich selber überlassen? Nein, denn echte Solidarität ist nicht an Grenzen gebunden. Dies umso mehr, als die Schweiz ihren einzigartigen Reichtum – und damit auch ihre gute Gesundheitsversorgung – nicht zuletzt ihren internationalen Wirtschaftsbeziehungen verdankt – man denke nur an die Handelsüberschüsse zwischen billig importierten Rohstoffen und teuer exportierten Fertigprodukten sowie an die Gewinne aus dem Finanzplatz und aus dem Handel mit Erdöl und anderen Rohstoffen. So gesehen sind der Reichtum hierzulande und die Armut in zahlreichen Ländern des Südens die Kehrseiten der gleichen Münze. Umso mehr hätten wir die moralische Pflicht, gerade in diesen Zeiten existenzieller Bedrohungen auch an all jene zu denken, die schon lange und jetzt erst recht auf der Schattenseite der Geschichte stehen. Nehmen wir uns ein Beispiel an Kuba, das Ärzte und Pflegepersonal zur Bekämpfung des Coronavirus in rund 60 arme Länder geschickt hat. Oder China, das vielen Ländern Schutzmaterial geliefert und Ärzteequipen nach Norditalien entsandt hat. Gut, die Schweiz hat ein paar Betten auf den Intensivstationen für Coronapatienten aus dem grenznahen Elsass freigehalten, aber damit war auch schon genug. Und während Kuba sein medizinisches Personal in 60 Länder schickte, schickte die Schweiz ihr unbeschäftigtes Spitalpersonal in die Kurzarbeit! Dabei könnte schon mit einem vergleichsweise geringen Aufwand überaus wertvolle Arbeit geleistet werden. So etwa würde zum Beispiel nur schon weniger als ein Zehntel (!) jener 702 Milliarden Franken, die sich im Besitz der reichsten 300 Schweizerinnen und Schweizer befinden, genügen, um über eine Million Beatmungsgeräte für die ärmsten Länder der Welt zur Verfügung zu stellen…