Von der Krankenpflegerin bis zum Rechtsanwalt: Was ist ein gerechter Lohn?

Pflegepersonal, Verkäuferinnen und Verkäufer, Landarbeiter und Landarbeiterinnen, Lastwagenfahrer, Reinigungspersonal, Kehrichtmänner, Kitaangestellte: Es brauchte offensichtlich die Coronakrise, um einer breiten Öffentlichkeit bewusst zu machen, wie wichtig und „systemrelevant“ ausgerechnet all jene Berufe sind, welche in aller Regel nur geringes gesellschaftliches Ansehen geniessen und sich trotz zumeist harter Arbeitsbedingungen mit einem vergleichsweise geringen Lohn zufrieden geben müssen.

Dabei gewinnt die Frage, was denn ein „gerechter“ Lohn sei, neue Aktualität: Wie viel mehr oder weniger als eine Krankenpflegerin soll ein Bankangestellter verdienen? Wie viel mehr oder weniger als ein Rechtsanwalt soll ein Landschaftsgärtner verdienen? Und wie viel mehr oder weniger als eine Gymnasiallehrerin soll ein Buschauffeur verdienen?

Für sämtliche Lohnunterschiede können beliebig viele und beliebig mehr oder weniger an den Haaren herbeigezogene Argumente ins Feld geführt werden. Das einzig wirklich Gerechte wäre ein Einheitslohn, tragen doch alle Werktätigen gleichermassen zum Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft bei und könnte man weder auf die einen noch die anderen verzichten, ohne dass das Ganze zusammenbrechen würde. Sämtliche Argumente, mit denen heute höhere Löhne gegenüber niedrigen gerechtfertigt werden, sind nichts anderes als wenig überzeugende Versuche, Privilegien Einzelner auf Kosten anderer zu rechtfertigen. Wer von den Gutverdienenden auch immer nur einen einzigen Tag lang in die Rolle eines Schlechtverdienenden schlüpfen würde, der würde seine Meinung wohl ziemlich schnell ändern. Denn, wie schon Karl Marx sagte: „Die tiefen Löhne beruhen einzig und allein auf der fehlenden gesellschaftlichen Macht der davon Betroffenen, den echten Wert ihrer Arbeit zu ertrotzen.“

Ein Einheitslohn läge gegenwärtig in der Schweiz bei rund 6500 Franken. Alle, die jetzt weniger verdienen, würden jubeln. Und die anderen, die jetzt mehr verdienen, könnten mit ein bisschen mehr Bescheidenheit auch ganz gut damit leben. Und wie man einen Einheitslohn konkret realisieren könnte? Ganz einfach: Alle, die mehr als den Durchschnittslohn verdienen, würden monatlich die Differenz in eine gesamtschweizerische Ausgleichskasse einzahlen, alle anderen bekämen den ihnen zustehenden Fehlbetrag aus eben dieser Kasse wiederum ausbezahlt. Dann wären wir wieder dort, wo die afrikanischen Ureinwohner schon vor tausend Jahren waren: Alle Männer des Dorfes gingen auf die Jagd. Einige erledigten mehrere Tiere, andere weniger, wieder andere gar keine. Aber am Abend, wenn alle wieder in ihr Dorf zurückkehrten, wurde alles gleichmässig unter alle verteilt…

Wenn die Coronaepidemie überwunden sein wird, dann beginnt die Arbeit erst ganz von vorne…

Der neunköpfige Klimarat, in welchem nebst der Alt-Nationalrätin Kathy Riklin (CVP) acht Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verschiedener Schweizer Hochschulen sitzen, wurde eigens ins Leben gerufen, um den Bundesrat in Sachen Klima und Klimaschutzmassnahmen zu beraten und zu unterstützen. In seiner neuesten Stellungnahme fordert der Klimarat den Bundesrat zu einem „umfassenden Diskurs“ auf, der die Gesellschaft sensibilisieren solle, „die notwendige Neuausrichtung des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems als Chance zu erkennen.“

(www.infosperber.ch)

Was der Klimarat fordert, ist nichts anderes als das, was auch von weiten Teilen der Klimabewegung gefordert wird: System Change, not Climate Change! Dabei geht es, im Klartext, um nicht mehr und nicht weniger als die Überwindung der kapitalistischen Wachstums- und Profitideologie und die Schaffung eines neuen Wirtschaftssystems auf der Grundlage von Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Das Bemerkenswerte ist, dass ein solches grundlegendes, die gesamte bestehende Ordnung in Frage stellendes Postulat für einmal nicht von ein paar jugendlichen „Träumerinnen“ und „Phantasten“ erhoben wird, sondern von einer ehemaligen bürgerlichen Nationalrätin sowie einer Gruppe von Wissenschaftlern und Wissenschaftlern, die durch ihre berufliche Tätigkeit mit beiden Beinen mitten im bestehenden System verankert sind. Wäre das nicht eine ganz fette Schlagzeile wert? Müsste da nicht ein gewaltiger Ruck durch die gesamte Schweizer Politlandschaft gehen? Weit gefehlt. Viel lieber beschäftigt man sich mit der Frage, wie das bestehende Wirtschaftssystem nach der Coronakrise so schnell wie möglich wieder auf Touren gebracht werden kann. Das ist verständlich. Aber es sollte uns nicht davon abhalten, den Blick noch ein bisschen weiter in die Zukunft zu werfen. Wenn die Coronaepidemie überwunden sein wird, dann ist nämlich noch längst nicht alles wieder in Ordnung. Wenn die Coronaepidemie überwunden sein wird, dann werden weiterhin weltweit jeden Tag rund zehntausend Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs an Hunger oder Durst sterben. Wenn die Coronaepidemie überwunden sein wird, dann werden immer noch weltweit ein paar Tausende Multimilliardäre mehr besitzen als die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Wenn die Coronaepidemie überwunden sein wird, dann werden immer noch Abertausende von Atomwaffen, in den Händen sich gegenseitig gefährlich rivalisierender Grossmächte, die Zukunft der Menschheit bedrohen. Wenn die Coronaepidemie überwunden sein wird, dann werden veränderte klimatische Bedingungen auf diesem Planeten dazu führen, dass die Heimat von Millionen von Menschen nach und nach unbewohnbar geworden sein wird. Wenn die Coronaepidemie überwunden sein wird, dann ist noch längst nicht Zeit zum Ausruhen. Wenn die Coronaepidemie überwunden sein wird, dann beginnt die Arbeit erst ganz von vorne…

Faktisches Demonstrationsverbot: Ist das die „neue Normalität“?

Die Kantone sollen keine Demonstrationen bewilligen, wenn das öffentliche Interesse am Thema gross ist, empfiehlt die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren. Da es sehr schwierig sei, abzuschätzen, ob an einer Demonstration höchstens 300 Personen teilnehmen, sollen im Zweifelsfalle keine Bewilligungen für Kundgebungen erteilt werden.

(www.srf.ch)

Während man wieder schön gediegen auswärts essen, sich in die Diskothek oder den Nachtclub stürzen, ins Kino gehen und bald auch schon wieder nach Italien oder Kroatien in die Ferien fahren darf, werden grössere politische Kundgebungen schon gleich mal prophylaktisch verboten, und dies mit der geradezu zynischen Begründung, das öffentliche Interesse könnte zu gross sein und die Teilnehmerzahl könnte daher jene 300 Personen, die zurzeit als oberste Limite gelten, übersteigen. Ist das die „neue Normalität“? Politische Kundgebungen also sollen einzig und allein aus dem Grunde verboten werden, weil es zu viele Menschen gibt, welche sich für das betreffende Thema interessieren könnten. So ist bei allen anderen Aktivitäten, die nun wieder erlaubt sind, nie argumentiert worden. Im Gegenteil: Wo Bedürfnisse angemeldet werden, werden keine Mühen gescheut, alle nur erdenklichen Massnahmen vorzunehmen, um diese zu ermöglichen. In den Restaurants werden die Tische auseinandergerückt oder es werden Plexiglaswände dazwischen aufgebaut. In den Nachtclubs und Diskotheken werden Gästelisten geführt. Kinos werden so umorganisiert, dass sich die ein- und austretenden Besucherinnen und Besucher nicht in die Nähe kommen. Schulen stellen ihre ganzen Stundenpläne und Pausenordnungen auf den Kopf, damit es zwischen den Schülerinnen und Schülern zu möglichst wenigen Begegnungen kommt. Freilichttheaterbühnen werden mit riesigem Aufwand umgebaut, damit die Abstände zwischen den einzelnen Zuschauerinnen und Zuschauern eingehalten werden können. Weshalb wird für politische Kundgebungen nicht ein ebenso grosser Aufwand betrieben, statt sie einfach zu verbieten? Dabei wäre es so einfach und nicht einmal besonders teuer. Man könnte zum Beispiel die Bewilligung für eine Kundgebung mit einer Maskenpflicht verknüpfen. Oder man könnte dafür sorgen, dass eine grössere Kundgebung in Untergruppen von maximal 300 Personen aufgelöst würde und dies nicht etwa durch Polizeigewalt, sondern durch einvernehmliche Kooperation mit den Organisatoren und Organisatorinnen, die dafür sorgen würden, dass zwischen den einzelnen Gruppen zu je 300 Personen ein stets genug grosser Abstand zur nächstfolgenden Gruppe eingehalten würde. Ganz abgesehen davon, dass die Ansteckungsgefahr durch das Coronavirus erwiesenermassen in geschlossenen Räumen unvergleichlich grösser ist als im Freien. Wenn so viel Aufwand betrieben wird, dass die „neue Normalität“ in Restaurants, Nachtclubs, Kinos und auf Ferienreisen möglichst schnell wieder Einzug hält, dann müsste auch alles getan werden, um jene urdemokratische Normalität, welche am 28. September 2019 auf dem Bundesplatz in Bern mit 100’000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Klimabewegung ihren Höhepunkt fand, wieder voll aufleben zu lassen, wie auch der aktuellen weltweiten Bewegung gegen Rassismus und Polizeigewalt auch hierzulande den nötigen Raum zu gewähren… 

Coronakrise: Belgien und Schweden, da stimmt doch etwas nicht

Schwedens relativ lockerer Umgang mit der Coronapandemie sowie der Verzicht auf einen Lockdown und auf die Schliessung der Schulen stösst in der internationalen Fachwelt auf teils heftige Kritik. Dabei wird stets auf die relativ hohe Zahl der Todesfälle – insbesondere im Vergleich mit Schwedens Nachbarländern – hingewiesen. Doch ein Urteil kann man sich nur bilden, wenn man nicht bloss die absoluten Zahlen anschaut, sondern die Anzahl Todesfälle pro Einwohner und Einwohnerin: Pro 100’000 Einwohnerinnen und Einwohner sind in Belgien bisher 83 Personen am Coronavirus verstorben, in Spanien 59, in Grossbritannien 58, in Italien 56. Erst an fünfter Stelle folgt Schweden zusammen mit Frankreich, je 44 Todesfälle. Weshalb ist das Land mit den meisten Todesfällen pro Kopf der Bevölkerung, nämlich Belgien, noch nie ins Fadenkreuz internationaler Kritik gelangt? Schiesst man sich lieber auf das lebenslustige Schweden ein, mit dem mahnenden Drohfinger auf die vermeintliche schwedische „Katastrophe“ hinweisend, um der jeweils eigenen Bevölkerung drakonischere Massnahmen wie Lockdowns, Ausgangssperren und dergleichen schmackhaft zu machen? Höchst interessant ist ja auch, dass man zwar das Öffnen von Schulen, Läden und Restaurants jeweils höchst kontrovers diskutiert, während auf der anderen Seite Ausgangssperren nie auch nur ansatzweise kritisch hinterfragt werden, und dies, obwohl mit Belgien, Spanien, Grossbritannien und Italien ausgerechnet vier Länder die Spitzenplätze bei der Anzahl der Coronatodesfälle einnehmen, welche allesamt über kürzere oder längere Zeit Ausgangssperren verhängt haben. Dass Ausgangssperren so selten hinterfragt werden, ist umso erstaunlicher, als schon längst erwiesen ist, dass die Gefahr einer Ansteckung durch das Coronavirus im Inneren von Räumen ungleich viel grösser ist als im Freien. Wenn also weiterhin munter gegen das freimütige Schweden gewettert wird, während kein Mensch vom eigentlichen „Spitzenreiter“ Belgien spricht und gleichzeitig Ausgangssperren von den betroffenen Bevölkerungen hingenommen werden, als handle es sich dabei um etwas Gottgegebenes, dann muss man sich nicht wundern, wenn sich der eine oder andere Bürger, die eine oder andere Bürgerin allzu einseitig informiert, um nicht zu sagen hintergangen und verschaukelt fühlt…

Fadenscheinige Argumente zur Verschiebung der Weltklimakonferenz: Es lebe die Klimabewegung!

Die wegen der Coronaviruspandemie verschobene UNO-Klimakonferenz in Glasgow soll Anfang November 2021 stattfinden. Dies teilte die britische Regierung mit. Eigentlich war die Konferenz für diesen November geplant.

(www.srf.ch)

Die Verschiebung der Weltklimakonferenz um ein Jahr ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht der globalen Klimabewegung. Sie ist vor allem ein Schlag ins Gesicht aller zukünftiger Generationen, die von den Folgen des Klimawandels noch weit dramatischer betroffen sein werden als wir heutigen Menschen von der Coronapandemie. Das Argument, dass ein grosser Teil der Fluglinien, welche von den rund 20’000 Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Konferenz benützt würden, höchstwahrscheinlich auch im November noch nicht in Betrieb sein würden, ist mehr als lächerlich. Noch nie etwas von Videokonferenzen gehört? Was man schon den kleinen Kindern mit Homeschooling und Lernen mit Internet zugemutet hat, mutet man den ach so gebildeten Politikern und Umweltspezialisten nicht zu? Es wäre ja geradezu die Chance, den Tatbeweis zu erbringen, dass internationale Konferenzen auch ohne das Fliegen über Tausende von Kilometern möglich wären. Was wir daraus lernen können? Dass wir nicht mehr länger auf die hohen Herren und Damen der Politik mit all ihren Ausflüchten, all ihrer Hinhaltetaktik und all ihren beschönigenden Versprechen warten dürfen, sondern das Heft hier und jetzt, von der Basis her, in die eigene Hand nehmen müssen. Das Zeitalter der kapitalistischen Dinosaurier ist vorbei. Es lebe die Klimabewegung!

Nicht der Stillstand ist die Alternative zum immerwährenden Wachstum, sondern das Gleichgewicht

Unter Klimaaktivisten gilt es als ausgemacht, dass wir das Wirtschaftswachstum stoppen müssen, um den Planeten zu retten. Greta Thunberg sagte es in ihrer Rede vor der UNO so: „Alles, worüber ihr reden könnt, ist Geld und das Märchen eines ewig anhaltenden wirtschaftlichen Wachstums.“ Auch Schweizer Klimaaktivisten fordern: „Systemwechsel statt Klimawandel“. Doch Corona bietet jetzt eine Vorahnung davon, was ein Stillstand der Wirtschaft für Arbeit, soziale Sicherheit und Wohlbefinden heisst, weltweit und in der Schweiz. Wir erleben gerade, wie viel Stress, Arbeitslosigkeit, Leid und verpasste Lebenschancen schon zwei Monate wirtschaftlicher Stillstand verursachen. Über die drohende Verelendung freut sich niemand, auch kein Klimaaktivist.

(Tages-Anzeiger, 23. Mai 2020)

Gibt es also nur die Alternative zwischen einem ewigen Wachstum, das Sicherheit und Wohlstand verspricht, und einem Stillstand, der in unermessliches Elend und Chaos führt? Wer so argumentiert, der verkennt, dass dieser goldene Wohlstand, von dem wir bisher profitiert haben, ein Wohlstand auf tönernen Füssen war. Ein Wohlstand nämlich, von dem nur eine Minderheit der Weltbevölkerung profitiert hat und der für Milliarden von Menschen schon bisher nichts anderes bedeutet hat als namenloses Elend und Chaos: für jene Milliarde Menschen, die von weniger als einem Dollar pro Tag leben müssen, für jene zehntausend Kinder, die weltweit jeden Tag vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahres sterben, weil sie nicht genug zu essen oder kein sauberes Trinkwasser haben, für jene Abermillionen von Menschen, die unter sklavenartigen Zuständen auf Erdbeer- und Kakaoplantagen, in Bergwerken oder in Spielzeug- und Textilfabriken Schwerstarbeit zu geringster Entlohnung leisten müssen. Die Alternative lautet nicht: Wachstum oder Stillstand. Die Alternative lautet: Wachstum oder Gleichgewicht. Die unbeirrbaren Befürworter eines ewigen Wirtschaftswachstums machen es sich zu einfach, wenn sie jetzt auf die Folgen der Coronakrise zeigen und den Teufel einer nicht an Wachstum orientierten Wirtschaft an die Wand malen. Kein Klimaaktivist und auch nicht Greta Thunberg fordern einen Stillstand der Wirtschaft. Was sie aber fordern, ist eine Wirtschaft, die sich im Gleichgewicht befindet sowohl mit den Bedürfnissen der Menschen, wie auch mit den Bedürfnissen der Natur und der Lebensqualität und dem Wohlbefinden zukünftiger Generationen. Eine Wirtschaft, die sich nicht an Wachstumszielen, Dividenden und Börsenkursen orientiert, sondern an der Bereitstellung all jener Güter, welche die Menschen weltweit tatsächlich zur Erfüllung ihrer elementaren Lebensbedürfnisse benötigen. Eine Wirtschaft, die von der Natur immer nur gerade so viel nimmt, wie sie ihr dann auch wieder zurückgibt. Eine Wirtschaft, in der Einkommen und Arbeit gerecht auf alle verteilt sind und nicht mehr die einen sich zu Hungerlöhnen zu Tode schuften müssen, während andere, praktisch ohne etwas dafür leisten zu müssen, in sagenhaftem Wohlstand prassen. Und genau deshalb, dass es nicht beim immerwährenden Wachstum bleibt und auch nicht zum tödliche Stillstand kommt, sondern sich allen in Richtung eines Gleichgewichts bewegt, genau deshalb braucht es die Klimabewegung heute und in Zukunft dringender denn je.

SRF: Zuerst Aeschbacher. Dann Schawinski. Und jetzt auch noch Karpiczenko.

Eine einzige Satiresendung leistet sich das SRF im Fernsehen noch – und jetzt verliert auch die ihren Headwriter und Sidekick. Weil SRF „substantielle Kürzungen“ plant, tritt Patrick Karpiczenko alias Karpi bei „SRF Deville“ ab. SRF habe dem Team bereits das Büro gestrichen und wolle nun Kürzungen im „zweistelligen Prozentbereich“ des Budgets umsetzen.

(Tages-Anzeiger, 19. Mai 2020)

Zuerst Aeschbacher. Dann Schawinski. Und jetzt auch noch Karpiczenko. Was geht hier eigentlich ab? Wird hier einfach gespart, damit gespart wird? Oder gibt es sonst irgendeinen plausiblen Grund dafür? Der letzte demokratische Entscheid, auf den man sich abstützen kann, war die Abstimmung über die No-Billag-Initiative am 4. März 2018. Diese Initiative, welche eine Reduktion der jährlichen Radio- und Fernsehgebühren bezweckte, wurde mit 71,6 Prozent und von sämtlichen Kantonen abgelehnt. Das Verdikt hätte deutlicher nicht ausfallen können: Nein, wir wollen keine Gebührenreduktion. Wir sind bereit, die Gebühren im bisherigen Umfang weiter zu bezahlen. Und wir wollen, dass Radio und Fernsehen qualitativ und von ihrem Angebot her so bleiben, wie sie sind. Was hat das SRF bloss dazu angetrieben, sich dermassen über den Volkswillen hinwegzusetzen? Ist die Demokratie bloss noch ein Spielwerk, das man je nach Belieben von Fall zu Fall einfach aushebeln kann? Ist das die Art und Weise, wie man mit den Begabungen und der Kreativität von Menschen umgeht, indem man sie, solange es einem etwas bringt, aussaugt, um sie dann von einem Tag zum andern wie einen faulen Apfel fortzuwerfen? Und wäre der Stellenwert der öffentlich-rechtlichen Kultur- und Informationsvermittlung nicht gerade in der heutigen Zeit, in der die Medien immer mehr zu Oberflächlichkeit und Kurzlebigkeit tendieren, nicht doppelt und dreifach so wichtig?

Partymeilen und Anticoronademonstrationen: zweierlei Mass

Während das Partyvolk in der Innenstadt von Basel und Zürich, unbehelligt von der Polizei, dicht aneinandergedrängt feiert und auch viele Seepromenaden schon wieder dicht bevölkert sind, werden die Anticoronademonstrationen in Zürich, Bern und anderen Städten von Polizeikräften sogleich rigoros aufgelöst. Zugegeben, ich bin auch kein Sympathisant von Verschwörungstheoretikern und schon gar nicht von Rechtsextremen. Aber friedliches Demonstrieren für oder gegen etwas gehört nun mal zum Grundrecht in einer Demokratie. Und wenn die beteiligten Personen die erforderlichen Distanzregeln einhalten, dann gibt es keinen ersichtlichen Grund dafür, solche Anlässe zu verbieten bzw. aufzulösen, während man Menschenansammlungen in Partymeilen oder Einkaufsstrassen gewähren lässt. Zumal es unter den an den Anticoronademos Teilnehmenden auch viele verunsicherte, fragende, verängstigte Menschen gibt, die sich im Spannungsfeld zwischen ihren eigenen Gefühlen und den von den Behörden verordneten Massnahmen zerrissen fühlen. Sollen sie ihre Fragen, ihre Unsicherheit, ihre Ängste, ihre Zweifel nicht öffentlich machen dürfen? Soll man nicht mit ihnen sprechen? Soll man sie nicht Ernst nehmen? Ist es besser, sie zu isolieren, zu verdrängen, zu demütigen und sie in ihre Wohnzimmer zu verdrängen, wo ihnen dann gar nichts anderes übrig bleibt, als ihre Frustrationen, ihren Ärger und ihre Wut über das Internet auszulassen, hinaus ins Leere, wo es weder Antworten gibt noch einen Dialog?

Vom Pharmaunternehmen bis zur Dorfbeiz: Alles Geld in den gleichen Topf

Der Gastronomie geht es nicht erst seit der Coronakrise schlecht. Es ging ihr schon vorher nicht gut. Der Grund liegt ganz einfach darin, dass sämtliche Firmen und Unternehmen dem Prinzip der betriebswirtschaftlichen Rentabilität unterworfen sind und dabei in einem permanenten gegenseitigen Überlebenskampf stehen. In diesem Überlebenskampf aber sind die Spiesse höchst ungleich verteilt. Das geht vom Pharmaunternehmen, welches Jahr für Jahr einen so hohen Gewinn erwirtschaftet, dass es sogar einen beträchtlichen Teil davon an seine Aktionäre und Aktionärinnen auszahlen kann, bis eben zur kleinen Dorfbeiz, zum Coiffeursalon oder zum kleinen Handwerksbetrieb, der am Ende des Jahres froh sein muss, wenn er wenigstens einen kleinen bescheidenen Gewinn ausweisen kann, vielleicht aber steht er auch vor einem Schuldenberg und muss allenfalls sogar sein Geschäft aufgeben.

In Pharmaunternehmen wird nicht länger, fleissiger oder besser gearbeitet als in Restaurants, Coiffeursalons oder Handwerksbetrieben, ganz im Gegenteil. Und daher ist es, gesamtgesellschaftlich, aber auch volkswirtschaftlich betrachtet, höchst ungerecht, dass die einen aus dem Vollen schöpfen und die anderen fast vor die Hunde gehen. Ändern könnte man das nur, wenn das betriebswirtschaftliche Prinzip durch das volkswirtschaftliche ersetzt wird. Sprich: Die Unternehmen liefern sich nicht mehr einen gegenseitigen Konkurrenz- und Vernichtungskampf, sondern bilden einen gemeinsamen Organismus, in dem die Kooperation an oberster Stelle steht und alles mit allem verbunden ist. Diese Verbundenheit besteht ja im Grunde schon heute, so, um nur ein Beispiel zu nennen, wenn die Dorfbeiz zur Lebensqualität und zum Wohlbefinden all jener Bankangestellten beiträgt, die dort jeweils Mittag essen. Es wäre nur ein logischer Schritt, wenn alles Geld im gleichen Topf wäre und all jene Unternehmen, welche schlechtere Rahmenbedingungen haben, von jenen profitieren könnten, die bessere haben. Das wäre dann so etwas wie ein grosser Brunnen: Oben giessen alle, von der Dorfbeiz bis zum Pharmaunternehmen, so viel Wasser – sprich Geld – hinein, wie sie aus ihrem Betrieb haben herauswirtschafte können. Unten wird dann das Wasser, das herauskommt, auf alle Beteiligten gleichmässig verteilt. Man müsste dann auch keine Angst haben, dass irgendwer aus lauter Faulheit fast nichts oder gar nichts hineingiessen würde, denn je mehr man oben hineingiesst, umso mehr würde – für alle – unten wieder herauskommen. Man mag die ganze Idee als Hirngespinst abtun. Aber es ist den Menschen noch nie leichtgefallen, sich das Gegenteil des Bestehenden vorzustellen. Ich aber bin überzeugt, dass eine Wirtschaft und eine Gesellschaft nach dem volkswirtschaftlichen Prinzip um einiges besser funktionieren würde wie die heutige und die Menschen erst noch sorgenfreier, glücklicher und weniger gestresst wären.

Coronakrise: Was Schlagzeilen macht und was nicht…

„Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen. Aber die weltweiten Zerstörungen der Weltwirtschaft sorgen nach Einschätzung der UNO dafür, dass der daraus entstehende Armutsschock dieses Jahr einer Million Kinder zusätzlich das Leben kostet.“

(Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, Mitglied der Grünen)

Einen riesigen Schrei der Empörung hat diese Aussage Boris Palmers ausgelöst, quer durch alle Parteien, Medien und die Öffentlichkeit hindurch. Dass Menschen bloss aufgrund ihres Alters sozusagen zugunsten der Wirtschaft „geopfert“ werden sollen, ist in der Tat ein verwerflicher Gedanke. Allerdings hat sich Palmer für diese Aussage auch bereits in aller Form entschuldigt. Bezeichnend ist aber, dass offensichtlich niemand vom zweiten Teil von Palmers Statement Notiz genommen hat, nämlich dem möglichen Tod einer Million von Kindern als Folge eines durch die Coronakrise ausgelösten Zusammenbruchs der Weltwirtschaft. Sind es diese Million Kinder nicht wert, auch darüber nur ein klein wenig nachzudenken? Das Beispiel zeigt, in was für einer zersplitterten Welt wir leben: Wenn ein tödliches Virus die reichen Länder des Nordens bedroht, werden alle zur Verfügung stehenden Hebel in Bewegung gesetzt und keine noch so grossen Mittel gescheut, um dieses zu bekämpfen. Wenn hingegen die UNO vor dem möglichen Tod einer Million von Kindern warnt, dann wird dies nicht einmal zur Kenntnis genommen. Ganz abgesehen davon, dass schon lange vor der Coronakrise jeden Tag weltweit rund 10’000 Kinder an Hunger, Armut, Mangel an Medikamenten und sauberem Trinkwasser gestorben sind. Kann sich jemand daran erinnern, dass dies auch nur annähernd so grosse Schlagzeilen machte wie die heutige Coronapandemie?