Die folgende Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Allerdings sind die Namen der beteiligten Personen geändert und die Geschichte wurde in ein anderes, aber weitgehend vergleichbares gesellschaftliches und berufsbezogenes Umfeld verlegt.
Es sind seither zwar fast 40 Jahre vergangen, doch für Christella ist alles damals Erlebte noch so nahe, als wären diese 40 Jahre in dem Moment, da sie ihre Geschichte zu erzählen beginnt, augenblicklich in nichts zerschmolzen…
Christella, aufgewachsen in einer Kleinstadt in Norddeutschland, ist 15, als sich ihre Eltern mit Penelope und Gustav befreunden, einem Ehepaar, das in der Folge eine zunehmend wichtigere Rolle in Christellas Leben spielen wird. Denn im Gegensatz zu ihrem überaus konservativ eingestellten Vater und der eher ängstlichen, konfliktscheuen Mutter verkörpern Penelope und Gustave für Christella so etwas wie das Tor zur grossen, weiten Welt der Freiheiten und der Abenteuer. Gustav ist ein bekannter Kunsthändler, die von ihm veranstalteten Auktionen sind in der Fachwelt geradezu Kult und gehören zum Pflichtprogramm all derer, denen es nicht bloss darum geht, sich ein neues Kunstwerk zu erstehen, sondern mindestens so sehr, neue Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten zu knüpfen und sich auf dem Weg zu Ehre und Ruhm möglichst viele weitere Vorteile zu verschaffen. Penelope ihrerseits ist weitherum bekannt für ihr karitatives Engagement als Präsidentin einer Organisation, die sich vor allem des Schicksals von Kindern aus ärmlichen Verhältnisse annimmt, welche dringend medizinischer Hilfe bedürfen. Auch sie ist eine Dame „von Welt“ und auch die von ihr organisierten Veranstaltungen sind glanzvolle Höhepunkte im gesellschaftlichen Leben der Stadt. Zudem ist sie für ihr soziales Engagement bereits mit einem renommierten Ehrenpreis der Stadt ausgezeichnet worden.
Als Penelope eines Tages Christella, die soeben eine Ausbildung zur Erzieherin in Angriff genommen hat, ermuntert, stattdessen doch gescheiter das Abitur zu machen und eine akademische Karriere ins Auge zu fassen, ist der Teufel los. Christellas Vater rastet aus und spricht mit seiner Tochter drei Tage lang kein Wort mehr. Und da sich fast zur gleichen Zeit Gustav dafür entschieden hat, für ein halbes Jahr seinen Wohnsitz in die Schweiz zu verlegen, um zusätzliche Verbindungen zum dortigen Kunstmarkt aufzubauen, packt die nunmehr 18jährige Christella die Gelegenheit beim Schopf. Sie bricht ihre Ausbildung zur Erzieherin ab, entflieht Hals über Kopf ihrer Familie und wird nun für längere Zeit bei Gustav und Penelope leben, die inzwischen für sie so etwas wie ihre zweiten Eltern geworden sind. Für Penelope wiederum kommt die Anwesenheit von Christella wie gerufen, ist sie doch, in Anbetracht ihrer weiteren zeitaufwendigen karitativen Tätigkeit, noch so froh, jemanden zur Seite zu haben, die sich während dieser Zeit um ihre dreijährige Tochter und um den Haushalt kümmert.
Aber auch Gustav nutzt die Gelegenheit. Da Christella neben dem Kinderhüten und dem Erledigen von Arbeiten im Haushalt noch genügend freie Zeit bleibt, dient ihm die attraktive 18Jährige ab nun immer öfters als perfekte Assistentin, wenn es darum geht, sich mit wichtigen Leuten zu treffen, bei Einladungen Kaffee und Kuchen zu servieren und eine sympathische Atmosphäre zu verbreiten. Doch nicht nur das. Nach und nach wird die Assistentin zur Sekretärin, erledigt Telefonate, vereinbart Termine, reserviert die Räume für Sitzungen. Und eines Tages bekommt sie auch zum ersten Mal den Auftrag, Dokumente zu bearbeiten, von denen sie zunächst keine Ahnung hat, worum es geht. Sie folgt einfach den Anweisungen von Gustav. Erst viel später wird sie erfahren, dass es sich um gefälschte Zertifikate von Kunstwerken handelt, die sich bis 1933 in jüdischem Besitz befanden und dann von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden und nach denen seither gefahndet wird, damit sie ihren ursprünglichen Besitzern bzw. ihren Nachfahren zurückgegeben werden können. Gustav ist, was Christella nicht wissen kann, ein mit allen Wassern gewaschener Geschäftsmann im Graubereich zwischen Legalität und Illegalität, immer hart an der Grenze dazwischen, so, dass auf keinen Fall jemals etwas auffliegen oder sein gesellschaftliches Ansehen auch nur ansatzweise in Gefahr geraten könnte. Mit ihrem Charme und ihrer persönlichen Ausstrahlungskraft ist Christella zu Gustavs willkommenem Instrument geworden, seine Geschäfte noch weitaus müheloser und weniger riskant abwickeln zu lassen, ohne dass sie selber auch nicht Entferntesten ahnt, was mit ihr geschieht.
Bis Christella beim Abstauben auf Gustavs Pult ein Foto entdeckt. Es stammt von einem Empfang bei der deutschen Botschaft. In der Mitte des Bildes Gustav, dicht vor ihm Christella. Sie erschrickt. Dieser Blick von Gustav auf sie, von hinten, den sich ja beim Anlass selber nicht wahrnehmen konnte. Als würde er sie am liebsten mit Haut und Haaren verschlingen. Weiter rechts im Bild, mit gehörigem Abstand, Penelope. Und auch ihr Blick, voller Wut, in Richtung von Christella, spricht Bände.
Das Bild kann Christella nicht vergessen, bei allem, was sie in den kommenden Tagen tut. Christella hier, Christella dort, Kaffee holen, Lächeln, seine Hand auf ihrer Hand, beim Überprüfen der ausgefüllten Zertifikate. Das Mädchen für alles. Jeden Tag. Von früh bis spät. Und bald schon nicht nur am Tag.
Es ist nachts kurz vor elf. Gustav öffnet, ohne anzuklopfen, die Tür zu Christellas Zimmer. Kurz darauf liegt er neben ihr im Bett. „Ich könnte jetzt mit dir alles machen“, sagt er, „wie würdest du reagieren?“ Christella ist sprachlos. Dann kommt ihr in den Sinn, was ihr die Mutter einmal sagte: Falls es jemals geschehen sollte, rede einfach, so lange und so viel du kannst. „Ich habe Angst vor dir“, sagt Christella. Doch die lähmende Ohnmacht bleibt. Es kommen nicht die Worte, die jetzt vielleicht kommen müssten. Und wenn, würden sie wahrscheinlich sowieso im Leeren verhallen. Was sind schon Worte gegen die entfesselten Triebe eines fast doppelt so alten Mannes, der wahrscheinlich schon wochenlang auf nichts anderes gewartet hat als auf diesen Moment. Wahrscheinlich wäre jedes Wort in diesem Augenblick falsch, jedes würde seine Triebe nur noch weiter anstacheln. In diesem Augenblick zischt ein erschreckender Gedanke durch Christellas Kopf. Worte. Sprache. Literatur. Bücher. Sie hat Hunderte von Büchern gelesen, Bücher voller Weisheiten und voller Visionen für eine schönere und friedlichere Welt. Bücher voller Liebe und Zärtlichkeit. Sie kennt Dutzende von Menschen, die Bücher nur so verschlingen. Gebildete Menschen, wie man sagt. Doch ist das alles nur Schein? Ist die gesamte Weltliteratur über Tausende von Jahren einfach wirkungslos und ausgelöscht in dem Augenblick, da ein wild gewordener Mann, der gerade daran ist, seine Hose aufzuknöpfen aufzuknöpfen, nachts um elf neben dir im Bett liegt?
„Du warst wie ein Vater für mich“, sagt sie, „aber ein Vater tut so etwas nicht.“ Er: „Ich liebe dich.“ Sie: „Wenn du mich liebst, dann geh. Ich bin viel schwächer. Das willst du doch mir nicht antun. Und auch nicht deiner Frau.“ Knapp geschafft. Er steht auf und geht.
Am nächsten Abend trifft Christella Freundinnen in der Stadt und erzählt ihnen alles. Diese sind geschockt. Sie übernachten gemeinsam in einer Jugendherberge, Christella hat Angst, die folgende Nacht in ihrem Zimmer zu verbringen.
Am nächsten Tag jammert Gustav Penelope die Ohren voll, er könne seit Tagen nicht mehr durchschlafen, da die Tochter jede Nacht mehrmals erwache und ständig herum quengele, das würde ihn noch in den Wahnsinn treiben. Penelope zeigt Verständnis. Schliesslich braucht ihr Mann genügend Schlaf, um seinem zeitintensiven Job gerecht zu werden. Gustav zieht aus dem gemeinsamen Schlafzimmer aus und nimmt sich im oberen Stock ein bisher als Arbeitsraum benutztes Zimmer, schräg gegenüber dem Zimmer von Christella. Es wird immer schlimmer. Mehrmals in der Nacht klopft er an ihre verschlossene Tür und jedes Mal hört er erst dann auf, wenn Christella ihm droht, so laut zu schreien, dass es alle Nachbarn hören würden. Tagsüber versucht sie ihm, so weit es möglich ist, aus dem Weg zu gehen.
Es folgen zwei Wochen Urlaub in Frankreich. Wie wenn das für ihn so etwas wie ein lange ersehnter Freipass wäre, wird Gustav immer aufdringlicher, nutzt jede Gelegenheit, sich an Christella heranzumachen, packt sie auch mal an den Schultern, küsst sie, immer und immer wieder. Schliesslich macht er ihr einen Heiratsantrag. Er hätte sich dafür entschieden, seine Frau und seine Tochter zu verlassen und mit Christella eine neue Familie zu gründen, irgendwo in einem fernen Land, wo ihn niemand kennt. In diesem Augenblick empfindet Christella so etwas wie eine plötzliche, unerwartete Steigerung ihres Selbstwertgefühls, was sie sich bis heute immer noch nicht ganz zu erklären vermag, aber wohl etwas damit zu tun hat, dass sie zu diesem Zeitpunkt noch sehr jung und völlig unerfahren ist und sich dieser „Aufwertung“ ihrer Person kaum gänzlich zu entziehen vermag, obwohl sie ja für Gustav keinerlei Gefühle von Sympathie oder Zuneigung empfindet.
Am folgenden Tag nimmt Christella allen Mut zusammen, stellt Gustav zur Rede und konfrontiert ihn mit der Frage, ob er allen Ernstes seine Familie zerstören wolle. Für einen kurzen Augenblick scheint sich Gustav der Tragweite und der möglichen Konsequenzen seines Verhaltens bewusst geworden zu sein. Gleichzeitig aber nimmt sie seine totale Unfähigkeit wahr auch nur zu einer Spur von Reue und Selbsterkenntnis, im Gegenteil: Gustav, sich noch einmal in seiner ganzen fratzenhaften vermeintlichen Männlichkeit aufplusternd, kommt ihr vor wie ein viel zu stark aufgeblasener Ballon, der im nächsten Moment zu zerplatzen droht.
Später in der Nacht schreibt Christella einen Brief an Penelope, fünf ganze Seiten lang, schüttet ihr ganzes Herz aus, konfrontiert sie in allen Einzelheiten mit der Realität, schonungslos, jede noch so tiefe Verletzung dieser von allen so bewunderten und verehrten Frau in Kauf nehmend, die sich mit Leib und Seele seit Jahren so leidenschaftlich dafür einsetzt, das Los kranker Kinder aus minderbemittelten Familien zu lindern. Ein Mensch mit so viel Mitgefühl muss doch auch für ihr Leiden, für das Leiden Christellas, ein offenes Herz haben, diesen Mann zur Rede stellen, ihn mit seinem Fehlverhalten konfrontieren, von ihm verlangen, Farbe zu bekennen und sich zu entscheiden. Kurz nach dem Frühstück, Penelope räumt das Geschirr ab und Gustav hat sich bereits in sein Büro verzogen, steckt Christella Penelope wortlos den Brief zu.
Zutiefst innerlich aufgewühlt und zerrissen blickt Christella dem weiteren Tagesverlauf entgegen. Wie wird Penelope auf den Brief reagieren? Totenstille herrscht in der Wohnung. Nicht einmal vom Kind, das um diese Zeit fast immer am Jammern oder Weinen ist, hört man etwas. Ist das die vielbekannte Ruhe vor dem Sturm? Und was für Folgen wird dieser Sturm haben, wenn er erst einmal losgebrochen ist? Auf einmal bereut Christella zutiefst, was sie getan hat. Quälende Selbstzweifel werden immer stärker. Wäre es nicht gescheiter gewesen, sich einfach mit der Situation abzufinden, statt mit diesem Brief an Penelope möglicherweise etwas auszulösen, was unabsehbare Folgen haben könnte?
Doch der Sturm bleibt aus. Stattdessen: Tödliche Stille. Den ganzen Tag lang kein einziges Wort, weder von Penelope, noch von Gustav. Als wäre Christella unsichtbar. Als hätte sie für Penelope und Gustav aufgehört zu existieren.
Am folgenden Tag werden die Koffer gepackt. Wieder fällt kein Wort. Versteinerte Mienen. Leere Blicke. In Basel, beim Hauptbahnhof, wird Christella ausgeladen. Abgestellt. Weggeworfen. Ausgemustert. Entsorgt. Gustav drückt ihr einen Fahrschein in die Hand. Christellas Mutter wurde informiert, dass die Tochter um 16.09 Uhr zuhause ankommen würde. Kein Handschlag. Kein Wort. Kein Dankeschön. Nichts.
Seither lebt jede der beiden Familien wieder in ihrer eigenen Welt. Nur einmal noch hört Christella etwas von Penelope, ganze sieben Jahre später. Sie stösst auf einen von Penelope verfassten Artikel, der in einer Frauenzeitschrift veröffentlicht wurde. Penelope und Gustav sind immer noch zusammen, haben inzwischen drei Kinder. Sie leben nun dauerhaft in der Schweiz. Nebst ihrer karitativen Tätigkeit engagiert sich Penelope zunehmend auch für Frauenrechte. Im besagten Artikel schreibt sie: „Im Vergleich zwischen Deutschland und der Schweiz fällt mir auf, dass die Frauen hierzulande weitaus häufiger an einer herkömmlichen Frauenrolle festhalten. Es scheint ihnen vor allem wichtig zu sein, was andere von ihnen denken. Es fällt mir in meiner neuen Heimat schwer, gleichgesinnte Frauen zu finden, die sich wie ich für die Rechte von Frauen und ganz allgemein für Politik interessieren. Manchmal fühle ich mich ein bisschen wie ins 19. Jahrhundert zurückversetzt.“
„Gerne möchte ich dir diese Geschichte erzählen“, hatte mir Christella vor rund drei Wochen geschrieben, „es ist die wahre Begebenheit einer jungen Frau, die ich selbst bin. Sie lauert immer wieder in meinem Leben auf. Manchmal sass ich schon im Auto und wollte los fahren, dorthin, wo es geschah, um auf all die Fragen eine Antwort zu finden, die ich bis heute nicht beantworten konnte. Aber noch nach über 40 Jahren stülpt sich die damals 20jährige Frau über mich und will sich der Konfrontation partout nicht stellen, es fühlt sich zu widerlich an. Immer wenn ich diese Geschichte erzähle, sagt man mir, Gott sei Dank sei ich da ja noch früh genug rausgekommen und von meiner Familie so gut aufgefangen worden. Das stimmt zwar, dennoch aber wurde meine Seele fallen gelassen. Je älter und weiser ich werde, als umso unerträglicher empfinde ich das Geschehene. Denn kein Mensch darf der Besitz eines anderen sein. Wer versuchte, von mir Besitz zu ergreifen und einen Teil meiner Seele besitzen zu wollen, muss sich selber ein totales Vergessen verordnet haben, sonst könnte er dieses Unrecht nicht ertragen. Ich bin nicht die Einzige mit einer solchen Erfahrung. Millionen von Menschen erleben das tagtäglich und die Spuren bleiben wohl lebenslang unauslöschlich. Das Bild, das die Täter von sich selber machen und laufend schönreden, um jeden Morgen in ein Spiegelbild schauen zu können, das für sie erträglich ist, verwandelt sich in den Augen und in der Erinnerung ihrer Opfer ins pure Gegenteil, in eine zutiefst hässliche Fratze, die sie lebenslang begleiten wird. Gerne würde ich dir diese Geschichte erzählen. Es würde zwar meine Fragen nicht beantworten, aber ich könnte etwas Dreck von meiner Seele schmeissen, indem andere erfahren, was mir widerfahren ist.“
„Die Frau“, so die britische Schriftstellerin und Feministin Virginia Woolf, „hat Jahrhunderte lang als Lupe gedient, welche die magische und köstliche Fähigkeit besass, den Mann doppelt so gross zu zeigen, wie er von Natur aus ist.“