„Schock“, „Demütigung“, „Tritt in die Magengegend“ – mit solchen und ähnlichen Schlagzeilen kommentierten die Medien die von US-Präsident Donald Trump der Schweiz ausgerechnet am 1. August, ihrem Nationalfeiertag, aufgebrummten Zölle von 39 Prozent. Nur ein paar wenige Länder, unter anderem Brasilien, bedachte Trump mit noch höheren Zöllen. Niemals hätte die Schweiz, bisher eines der kapitalistischen Lieblingskinder der USA, damit gerechnet, dermassen hart bestraft zu werden. Es war wie ein jähes Erwachen aus einem jahrzehntelangen Traum, in dem fast immer nur Milch und Honig geflossen waren. Und da vermochten nicht einmal mehr zwei unmittelbar nach diesem Entscheid nach Washington ausgeflogene schweizerische Regierungsmitglieder etwas daran zu ändern. Die ganze Titelseite einer der meistgelesenen Schweizer Tageszeitungen, des „Blicks“, war von oben bis unten schwarz, darin riesengross die Zahl 39. Einige sagten sogar, es sei der schwärzeste Tag gewesen in der Geschichte unseres Landes. Etwas Vergleichbares hatte es noch nie gegeben. Nicht einmal der Untergang eines ganzen Dorfes vor wenigen Wochen unter einer gigantischen Schuttlawine hatte einen so grossen schweizweiten Schock ausgelöst…
Dabei ist, bei Lichte besehen, das, was der Schweiz durch den Trumpschen Zollhammer widerfahren ist, nur ein winziger Teil dessen, was für andere Länder oder ganze Kontinente der ganz alltägliche „Normalfall“ ist, und dies oft schon seit Jahrhunderten. Für all jene nicht oder wenig industrialisierten Länder des Globalen Südens etwa, die seit Jahrhunderten gezwungen sind, ihre wertvollen Bodenschätze und Rohstoffe für wenig Geld zu verscherbeln, um sich zu einem ungleich viel höheren Preis aus den reichen Ländern des Nordens die für ihre eigene Entwicklung notwendigen Industrieprodukte zu beschaffen, was zwangsläufig dazu führt, dass diese Länder darauf angewiesen sind, immer wieder Kredite vom IWF, von der Weltbank oder anderen Finanzinstituten aufzunehmen, die sie wiederum mit hohen Zinsen zurückzahlen müssen, worauf ihre Verschuldung noch weiter ansteigt und ihre Abhängigkeit von den jeweiligen Geldgebern noch weiter zunimmt, weil sie, um jeweils wieder weitere Kredite zu bekommen, laufend noch drastischere Sparprogramme umsetzen müssen, von welcher in erster Linie die sowieso schon am meisten benachteiligten Bevölkerungsschichten am allermeisten betroffen sind, was wiederum dazu führt, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich sowohl innerhalb jedes einzelnen der davon betroffenen Länder, aber auch zwischen den Industrieländern des Nordens und den Agrarländern des Südens insgesamt immer noch weiter und weiter vertieft. Wie „erfolgreich“ die Schweiz an vorderster Front an diesem Geschäft permanenter Bereicherung der Reichen durch Verarmung der Armen beteiligt ist, zeigt sich aufgrund einer Expertise der Entwicklungsorganisation Oxfam, die ausgerechnet hat, dass die Schweiz im Handel mit sogenannten „Entwicklungsländern“ mehr als 50 Mal höhere Profite erwirtschaftet, als sie diesen Ländern in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückgibt. Da diese Zahl schon ein paar Jahre zurückliegt, dürfte sie heute, nachdem die Schweiz die Gelder für die „Entwicklungshilfe“ noch weiter reduziert hat, sogar noch um einiges höher liegen.
Doch das ist längst noch nicht alles. Ausgerechnet viele der benachteiligten und unterprivilegierten Länder des Südens sind zudem häufig Opfer von Wirtschaftssanktionen, welche an vorderster Front von den USA gegenüber missliebigen Regierungen verfügt werden und an denen sich in aller Regel auch die übrigen westlichen Länder inklusive die Schweiz beteiligen, so etwa, um nur einige wenige zu nennen, gegenüber Kuba, Venezuela, dem Iran, Syrien oder dem Irak, wo allein zwischen 1991 und 1995 als Folge US-Wirtschaftssanktionen über eine halbe Million Kinder sterben mussten, was die damalige US-Aussenministerin Madeleine Albright in einem Interview mit einem TV-Reporter mit einer Aussage kommentierte, die zynischer nicht sein könnte. Auf die Frage nämlich, was sie zum Tod dieser halben Million Kinder meine, sagte sie, der Tod dieser Kinder habe sich gelohnt, weil er dazu beigetragen habe, die politischen und wirtschaftlichen Ziele der US-Aussenpolitik gegenüber dem Irak erfolgreich durchzusetzen.
Ja, es macht schon einen Unterschied, ob man zu den Siegern oder zu den Verlierern des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems gehört, die Welt sieht dann, je nachdem, ob man von oben nach unten schaut oder von unten nach oben, schon ganz gehörig anders aus. So gesehen könnte man den von US-Präsident Trump über die Schweiz verfügten Zollhammer auch als so etwas wie einen heilsamen Schock sehen, der die bisher so verwöhnte, sich stets auf der Seite der Sieger befindliche Schweiz ein ganz klein wenig aufwachen und spüren lassen könnte, wie sich das Leben auf der gegenüberliegenden Seite dieses Grabens anfühlen muss und wie schmerzlich es sein kann, der Machtdemonstration eines Stärkeren mehr oder weniger ohnmächtig ausgeliefert zu sein.
Ein heilsamer Schock, der Anlass dazu sein könnte, für einmal darüber nachzudenken, warum ausgerechnet die Schweiz, einer der an Bodenschätzen und Rohstoffen ärmsten Flecken der Erde, dennoch das reichste Land der Welt geworden ist. Was hat die Schweiz so reich gemacht? Zum Beispiel Schokolade. Zum Beispiel Kaffee. Zum Beispiel Baumwolle. Zum Beispiel Erdöl. Zum Beispiel Gold, Eisen, Kupfer, Lithium, Kobalt. Zum Beispiel Diamanten. Alles Rohstoffe und Bodenschätze, von denen kein einziges Gramm und kein einziger Tropfen aus Schweizer Boden stammt, mit deren Kaufen, „Veredeln“, „Transformieren“ und Weiterverkaufen aber die Schweiz bzw. hier ansässige Rohstoff- und Nahrungsmittelkonzerne grössere Gewinne erzielen als fast alle anderen Länder der Welt. Nicht harte Arbeit und übermenschlicher Fleiss ist es. Vielmehr die Kunst, aus möglichst wenig möglichst viel zu machen und so reich zu werden dadurch, dass andere im Elend versinken. Ausgerechnet Länder wie Nigeria und Libyen, aus deren Böden jährlich jene Millionen Tonnen Erdöl herausgepresst werden, welche schweizerische Geldtöpfe bis zum Bersten füllen, verwandeln sich mehr und mehr in Zonen des Todes, wo nur schon das nackte Überleben zum puren Luxus geworden ist. Von den elf Franken, die man bei Starbucks in Zürich oder Basel für einen Crème Brulée Brown Sugar Frappuccino bezahlt, bekommt die Kaffeebäuerin, die sich von früh bis spät auf irgendeiner fernen Kaffeeplantage in Costa Rica oder Äthiopien bei weit über 40 Grad in der prallen Sonne von früh bis spät fast zu Tode schuftet, bloss gerade mal, wenn es gut kommt, fünf Rappen. Allein in den ersten eineinhalb Monaten des Jahres 2025 sind im Ostkongo, wo Rebellenverbände, Söldnertruppen und Mörderbanden als Vorhut der hinter ihnen im Unsichtbaren agierenden Regierungen und Konzerne im gegenseitigen Konkurrenzkampfe um die Aneignung besonders gewinnbringender Bodenschätze gegeneinander kämpfen, rund 7000 Menschen getötet worden, 450’000 Menschen sind obdachlose Binnenflüchtlinge im eigenen Land und 2,8 Millionen Menschen haben bereits ihre ursprünglichen Wohngebiete verlassen müssen, doch kein einziger Schweizer, der sich beim Morgenkaffee die neuesten Börsenkurse zu Gemüte führt, erfährt jemals, wie viele Menschen geopfert wurden, damit er, ohne einen Finger zu rühren, über Nacht um 2000 oder 5000 Franken reicher geworden ist. Ja, wenn man sich das alles vor Augen führt und noch dazu kommt, dass die Schweiz immer noch einer der weltweit wichtigsten Finanzplätze ist und bekanntlich nichts so hilfreich ist, um Reichtum zu schaffen, als schon möglichst viel davon zu besitzen, dann verwundert es eigentlich nicht mehr besonders, dass der Genfer Soziologe und Schriftsteller Jean Ziegler schon vor vielen Jahren in einem seiner Bücher die Schweiz als das „Gehirn des kapitalistischen Monsters“ bezeichnet hat. Vielleicht verstehen viele, die damals darüber bloss den Kopf geschüttelt haben, heute immer besser, dass das nicht übertrieben war, sondern die reine Wahrheit.
Der heilsame Schock des Trumpschen Zollhammers könnte daher auch Anlass dazu sein, sich über eine andere Weltwirtschaftsordnung Gedanken zu machen, die nicht mehr auf Ausbeutung, grenzenlosem Wirtschaftswachstum und dem Recht des Stärkeren beruhen würde, sondern auf einer global fairen und gerechten Verteilung der vorhandenen Ressourcen und Güter, auf Gemeinwohl, Frieden und sozialer Gerechtigkeit, auf gegenseitigen Handelsbeziehungen, bei denen alle Beteiligten auf gleicher Augenhöhe miteinander umgehen und über die gleich langen Spiesse verfügen.
Und so weitergedacht, käme man vielleicht auf eine zunächst als ganz verrückt erscheinende Idee, die sich aber bei näherem Hinsehen als durchaus realistisch, vernünftig und zukunftsträchtig erweisen könnte. Nämlich, dass die Schweiz das Lager wechseln und als erstes europäisches Land dem Bündnis der BRICS-Länder beitreten würde. Wie zukunftsträchtig das wäre, wird schnell deutlich, wenn man sich folgende Zahlen anschaut: Betrug im Jahre 1990 der Anteil der G7-Länder am weltweit gemessenen BIP (nach Kaufkraftparität) noch 47%, jener der BRICS-Länder 16%, so lagen die beiden Zahlen zwölf Jahre später bei 43% bzw. 19% und zwanzig Jahre später, nämlich 2022, bei 30% bzw. 32%, mit anderen Worten: Der Anteil aller BRICS-Länder am weltweiten BIP liegt heute bereits über jenem der G7-Länder. Zudem leben 48% der heutigen Weltbevölkerung in BRICS-Staaten – und es werden von Jahr zu Jahr mehr -, während in den G7-Staaten gerade mal 11% der Weltbevölkerung beheimatet sind. Zukunftsträchtig aber vor allem auch deshalb, weil zwar die Wirtschaftsweise der BRICS-Staaten ebenfalls grundsätzlich eine kapitalistische ist, aber viel stärker auf gegenseitige Solidarität zwischen Starken und Schwachen ausgerichtet ist, denn diese Länder haben eine grundsätzlich andere Geschichte, einen grundsätzlich anderen Erfahrungshintergrund, gehörten sie doch während den letzten 500 Jahren kolonialistischer Ausbeutung des Südens durch den Norden – von Brasilien über Südafrika, Äthiopien, Ägypten bis zu Indien und Indonesien – nicht zu den Siegern, sondern stets zu den Verlierern der Weltgeschichte.
Auf keinen Fall, so Remo Reginold, Direktor des Swiss Institute for Global Affairs, dürfe man die BRICS-Staatengruppe unterschätzen, ganz im Gegenteil: „Ich sehe die BRICS als ein Symbol für eine Entwicklung, die ein neues weltpolitisches Zeitalter einläutet.“ Reginold sieht in den BRICS-Staaten ein Konglomerat, eine Zusammenballung verschiedener Materialien unterschiedlicher Struktur, Grösse und Eigenschaften. Ziel der BRICS-Staaten sei es, durch eine Reform der UNO, der Weltbank und des IWF die Interessen des Globalen Südens besser zu repräsentieren. Es solle eine neue Form der internationalen Zusammenarbeit geschaffen werden, die sich nicht am westlichen Regelwerk orientiere. Die Schweiz müsse, so Reginold, genau wie alle anderen Länder des Westens, ihre „westliche Brille“ abnehmen, um die BRICS zu verstehen und ihre Zeichen richtig zu lesen. Stimmen wie eine solche von Remo Reginold sind leider in der schweizerischen Öffentlichkeit kaum je zu hören.
Und ja. Die Schweiz als erstes europäisches BRICS-Mitglied. Es wäre sogar, wenn man es sich recht überlegt, so etwas wie eine Rückkehr und eine Rückbesinnung auf die urschweizerischen Grundwerte von Gemeinschaftsdenken und Solidarität der Stärkeren mit den Schwächeren. Es würde die vom Westen bisher konsequent auf die Spitze getriebenen Fronten zwischen den Siegern und den Verlierern aufbrechen und wäre gerade für die Schweiz eine in ihrer Bedeutung gar nicht genug hoch einzuschätzende Chance, vieles von früher begangenem Unrecht wieder gut zu machen und sich mit all ihren zur Verfügung stehenden Kräften am Aufbau einer neuen, gerechten, friedlichen und ausbeutungsfreien zukünftigen Weltwirtschaftsordnung aktiv zu beteiligen. Es mag noch verrückt klingen und vermutlich noch lange nicht mehrheitsfähig sein. Aber sind nicht gerade die verrücktesten Ideen genau jene , die – wie einst der deutsche Philosoph Schopenhauer sagte – zunächst zwar belächelt werden, eine Zeitlang vielleicht sogar bekämpft, aber früher oder später doch zu einer Selbstverständlichkeit geworden sein werden, bei der man sich nur wundern wird, weshalb man nicht schon früher darauf gekommen ist…