Kritisches Denken auf den kapitalistischen Chefetagen angekommen

Kaum eine Bank steht mehr im Zentrum des weltweiten Kapitalismus als J.P. Morgan Chase. Umso bemerkenswerter, was ihr gegenwärtiger Präsident und Konzernchef Jamie Dimon, unlängst verlauten liess: Es gälte, dem kapitalistischen System wieder mehr Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Kurzfristige Eigeninteressen seien im Interesse das Ganzen zurückzustellen, denn alle seien zu egoistisch geworden. Für die Reichen, zu denen auch er gehört, fordert Dimon sogar höhere Steuern. Und weiter: Auch andere Unternehmensverantwortliche könnten sich nicht mehr um gesellschaftliche Probleme foutieren.

(Tages-Anzeiger, 24. April 2019)

Etwas ist im Fluss. Nicht nur bei Jamie Dimon, auch bei den jungen Amerikanern und Amerikanerinnen quer durch alle sozialen Schichten. Sahen im Jahre 2010 noch 68 Prozent der 18- bis 29Jährigen gemäss einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup den Kapitalismus in positivem Licht, waren es 2018 nur noch 45 Prozent. Leute wie Jamie Dimon scheinen nach und nach die Zeichen der Zeit zu erkennen. Das gibt viel Hoffnung. Nämlich, dass die Profiteure und die Opfer des kapitalistischen Systems nicht in einem «Klassenkampf», der schon bald in Gewalt und Zerstörung ausarten könnte, sondern im gegenseitigen Dialog gemeinsam eine neue Wirtschaftsordnung aufbauen. Dazu müssten, wie Dimon richtig sagt, «alle ihre kurzfristigen Eigeninteressen im Interesse des Ganzen zurückstellen.» Oder, wie es der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt einst formulierte: «Was alle angeht, können nur alle lösen.»