
Morgens um fünf
sind sie gekommen
acht Polizisten
haben den Vater die Mutter und
ihr einjähriges Kind
mitten aus dem Schlaf gerissen
ihre Schreie durchdrangen das
ganze Haus von
oben bis unten und
augenblicklich waren auch
alle anderen
Männer Frauen Kinder
hellwach
Die Frau im Zimmer nebenan
öffnete die Tür einen Spalt breit
äugte auf den Korridor
das Kind am Boden
bebend und schluchzend sein winziger Körper
angsterfüllt
die Mutter kniend daneben
versuchte das Kind zu beruhigen doch
zwei Polizisten
packten sie von hinten
rissen sie an den Haaren
prügelten auf sie ein um sie
ihrem Kind zu entreissen
Sie wissen schon
flehte die Frau einen der Polizisten an
dass wir
nach der Rückkehr in unser Land
fast ganz sicher in einem
Gefängnis landen werden und vielleicht sogar
unser Leben bedroht ist
das
sagte der Polizist
sei nicht sein Problem
Gleichzeitig bäumte sich der Vater mit
all seiner Kraft auf um sich
aus der Umklammerung dreier Polizisten
zu befreien
da warfen sie auch ihn zu Boden
drückten ihm die Arme auf den Rücken
und legten ihm
Handschellen an während
zwei andere Polizisten
von Tür zu Tür alle auf den
Korridor Herausgetretenen in
ihre Zimmer zurückdrängten
Handys beschlagnahmt wurden und
vom Geschehen aufgenommene Bilder
gelöscht
während der achte Polizist einen
kleinen Koffer mit ein paar wenigen
Kleidungsstücken auf den
Korridor hinauswarf wo er
halbgeöffnet
liegen blieb
Die Frau im Zimmer nebenan
übergab sich in diesem Augenblick
kniend an der Toilette
ihre Tochter zitternd am ganzen Körper hatte
die Hände sanft auf ihren Rücken gelegt
Es war der ganz normale Alltag in
einem dieser zwölf schweizerischen Flüchtlingszentren wo
Männer Frauen Kinder
oft über viele Jahre hinweg auf nichts anderes warten müssen
als auf den Tag
frühmorgens zwischen vier und fünf
wenn die allermeisten Schweizerinnen und Schweizer noch schlafen
auf den Tag an dem sie
aus dem Schlaf gerissen und in
Handschellen oder manchmal sogar
am ganzen Körper gefesselt zu
einem Flugzeug gebracht werden
rechtzeitig bevor Geschäftsleute und
in alle Welt Reisende
den Flugplatz bevölkern
Tödliche Stille
jetzt wo das Schreien eines
einjährigen Mädchens
vielleicht für immer
verstummte
Die anderen Kinder im Camp
verkrochen sich wieder in ihren Betten
es ist ihr ganz normaler Alltag in
einer Welt in der sie noch nie
etwas Schönes erleben durften
nicht als sie mitten im Krieg
geboren wurden
nicht als sie kaum je
genug zu essen hatten
nicht als sie
vielleicht schon im Alter von
zwei oder drei Jahren
ihren Vater oder ihre Mutter
verloren hatten
nicht als sie
auf monatelangen Fussmärschen oder
in einem dieser winzigen Schlauchboote
auf stürmischem Meer ohne Nahrung und
zitternd vor Kälte
jenem in fast unerreichbarer Ferne
liegenden Paradies entgegenträumten wo sie
nach allen durchlittenen Qualen
eines Tages trotz alledem
gelandet waren bloss um zu erkennen
dass es nicht das Paradies war sondern nur
eine andere Art von Hölle
Sieben Stunden später an diesem Tag
ertönte schon wieder die
Sirene eines Polizeifahrzeugs und
schon wieder öffneten sich im ganzen Haus die
Türen voller ängstlicher Blicke
Doch es waren
der Vater die Mutter und das schluchzende Kind
wahrscheinlich hatten sie sich beim
Einstieg ins Flugzeug so
verzweifelt gewehrt bis es
einem der Polizisten das
Herz brach und sie wieder zurückgebracht wurden
Laut weinend
halb voller Angst und zugleich
halb voller Erleichterung warf sich die Mutter in die
Arme einer anderen Flüchtlingsfrau
der Vater umklammerte sein Kind wie
einen Schatz den er niemals und nur gegen seinen
eigenen Tod preisgeben würde
doch das war nur ein
letztes Aufbäumen vor einem
endgültigen Zusammenbruch aller
seiner Kräfte
Ein paar andere Männer und Frauen und
viele Kinder waren noch auf dem Hof als
wie ein Blitz aus heiterem Himmel
ein markerschütternder Schrei wohl bis
weit ins Tal hinunter zu hören gewesen sein müsste
Der Vater stach sich mit einem Messer wie ein
wahnsinnig gewordenes Raubtier
unzählige Male hintereinander in die Brust und
das Blut spritzte nach allen Seiten
jetzt
lag das Kind in den Armen seiner Mutter und
beide sahen alles und
auch die anderen Kinder und die
Frauen und Männer auf dem Hof und
eine von ihnen begann zu
taumeln doch bevor sie noch von den daneben Stehenden
aufgehalten werden konnte sank sie um und
knallte mit ihrem Kopf auf den
Pflastersteinboden
Es war wie Krieg doch die
Menschen unten im Tal wussten von nichts
Erst als ein Helikopter über dem Flüchtlingszentrum kreiste
und eine Ambulanz
mit Sirenengeheul den Berg hochraste
wurde da und dort im nahegelegenen Dorf unten im Tal
gemunkelt und gewerweisst
was oben am Berg wohl geschehen sein könnte bei diesen
fremden Menschen die sowieso niemand jemals
wirklich kannte
Beide überlebten
der Mann und die Frau die mit dem Kopf auf die Pflastersteine geknallt war
Doch das war nur einer von tausenden anderen
Tagen des ganz normalen Alltags
oben am Berg
Um fünf Uhr morgens hatte es angefangen
vielleicht hatte das Kind ja
bevor alles begann noch einen
wunderschönen süssen Traum gehabt und
jetzt
wie kann es nur dies alles
überleben
Wenn ein Kind aus der Schweiz
an einem Badestrand irgendwo in einem dieser
Ferienparadiese Sri Lankas
schreiend im Sand liegt weil es
von einer Qualle gebissen wurde
eilen von allen Seiten Einheimische herbei um
das Kind zu trösten und ihm zu helfen
Wenn einem Kind aus Sri Lanka
in der Schweiz die
Seele geraubt wird
will kein einziger Einheimischer von irgendetwas
auch nur das Geringste gewusst haben und alle
schauen weg
als wäre ein Kind aus Sri Lanka in der Schweiz nicht ebenso
wertvoll wie ein Kind aus der Schweiz in Sri Lanka
Es können
wie es scheint
nur Radiowellen Waffen und
profitträchtige Güter von nah und fern sämtliche
Grenzen überschreiten aber nicht die
Liebe und nicht die
Fürsorge
Als das letzte Polizeiauto
das Gelände verlassen hatte und die
letzten Sirenen verklungen waren
senkte sich wieder die Nacht auf die
Seelen zahlloser Namenloser die
niemand kennt und die man behandelt als wären es
Schwerverbrecher obschon doch ihr einziges
Verbrechen darin besteht am
falschen Ort zur
falschen Zeit geboren zu sein
Tagsüber geht es ja noch aber auf jeden Tag folgt
immer eine Nacht und
dann
während unten im Tal schon alle Menschen friedlich schlafen
beginnt die Angst ganz allmählich immer weiter in den
Himmel zu wachsen je näher sich die Zeiger der Uhren gegen
vier oder fünf Uhr zubewegen und jeder
neue Morgen noch
viel schlimmer werden kann als
alle anderen
je zuvor.
Dieses Gedicht beruht auf einer wahren Begebenheit am 4. September 2025 in einem der zwölf schweizerischen Ausschaffungszentren für Flüchtlinge mit negativem Asylentscheid, die entweder freiwillig in ihre Herkunftsländer zurückkehren oder, wenn sie dazu nicht bereit sind, früher oder später mit Gewalt dorthin zurückgeschafft werden. Jeden Tag werden durchschnittlich zwölf Flüchtlinge aus der Schweiz gegen ihren Willen in ihre Herkunftsländer zurückgeschafft. Dabei gibt es vier Stufen der Polizeigewalt: Bei den ersten drei Stufen kommt es immer wieder vor, dass die Betroffenen sich, wenn sie sich genug stark wehren, der Ausschaffung zu widersetzen vermögen. Von der vierten Stufe ist noch nie jemand zurückgekehrt. Denn dann werden die Menschen am ganzen Körper gefesselt, sodass jeglicher Widerstand unmöglich ist. Am 20. Januar 2025 sagte der für das Asylwesen zuständige schweizerische Bundesrat Beat Jans: „Wir sind in verschiedenen Bereichen den europäischen Ländern deutlich voraus. Mit einer Rückführungsquote von annähernd 60 Prozent steht die Schweiz in Europa an der Spitze. Das SEM macht eine hervorragende Arbeit. Wir sind auf dem richtigen Weg. Doch wir sind noch nicht zufrieden. Der immer noch zu grosse Pendenzenberg muss rascher abgebaut werden.“
Bertolt Brecht: „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“