Im Juni 2025 hatte sich R.M., nachdem sie Ihre Ausbildung zur Lehrerin an der Pädagogischen Hochschule erfolgreich absolviert und eine mündliche Zusicherung der Schulbehörde von Eschenbach SG zur Übernahme einer Klasse im kommenden Schuljahr bekommen hatte, bereits intensiv auf ihre zukünftige Tätigkeit als Primarlehrerin vorbereitet. Doch es kam ganz anders. Unter den Eltern ihrer zukünftigen Schülerinnen und Schüler regte sich Widerstand gegen R.M. Nicht weil ihre durchwegs hervorragenden Qualifikationen in Zweifel gezogen wurden, sondern einzig und allein aus dem Grund, dass sie als gläubige Muslimin ein Kopftuch trägt. Dieser Widerstand wurde schliesslich so stark, dass die Schulbehörde einknickte und R.M. trotz der bereits mündlich erfolgten Zusicherung eine Absage erteilte. „Als wir zum ersten Mal das Bild der Lehrerin sahen“, so eine der Mütter, die sich gegen die Anstellung von R.M. gewehrt hatte, „waren wir schon etwas schockiert. Wir sind absolut keine Rassisten. Aber es gibt nun einmal kulturelle Unterschiede, und wenn man sein kleines Kind jemandem in Obhut gibt, muss man dieser Person zu 100 Prozent vertrauen können.“ Die Lehrerin selber nahm zunächst keine Stellung, erst in einem Interview mit dem „Blick“ sagte sie, sie sei einfach nur traurig: „Das ist das einzige Gefühl. Ich habe drei Jahre studiert, um als Lehrperson arbeiten zu können. Es war ein Traum von mir seit der dritten Klasse, selbst einmal als Lehrerin vor einer Klasse zu stehen. Das Bild, das sich die Leute von mir machen, verletzt mich. Auch stimmt es nicht, dass ich ein Kopftuch trage, das bis zu den Beinen reicht, wie offenbar eine Mutter behauptet hat, ohne mich kennengelernt zu haben.“ R.M. bedauert, dass niemand mit ihr das Gespräch gesucht habe. Am Ende würden ihr die Kinder leid tun. „Aktuell sitzen sie am 11. August in einem Schulzimmer ohne Lehrperson. Ich kenne niemanden, der jetzt noch eine Stelle sucht.“
Im „St. Galler Tagblatt“ vom 27. August 2025 verteidigt Bernhard Hauser, ehemaliger Professor an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen, SP-Kantonsrat und Schulratspräsident von Sargans, in einem längeren Gastbeitrag mit dem Titel „Kopftuch verneint offene Gesellschaft“ den Entscheid der Eschenbacher Schulbehörden. Das Kopftuch der muslimischen Frau bezeichnet er als „Symbol, das dem Grundverständnis offener Gesellschaften diametral widerspricht und deshalb auf keinen Fall auf den Kopf einer Lehrerin gehört. Denn mit dem Kopftuch trägt die Frau ihr Bekenntnis offensiv in die Klasse, als heimlichen Lehrplan des konservativen und frauenfeindlichen Islam. Gleichstellung und offene Gesellschaft sind wichtiger als die Religionsfreiheit.“
Am 30. August folgt, ebenfalls im Rahmen eines Gastbeitrags im „St. Galler Tagblatt“, eine Replik von Ann-Katrin Gässlein, katholische Theologin und ehemalige Präsidentin Runder Tisch der Religionen St. Gallen und Umgebung. „Hausers Interpretation des Kopftuchs“, schreibt sie unter anderem, „spiegelt – freilich polemisch verzerrt – mehr die traditionellen Herleitungen als die heutigen Beweggründe muslimischer Frauen in der Schweiz. Studienergebnisse, zum Beispiel vom Institut für Religionsforschung der Universität Luzern, zeigen: Es sind vielschichtige und höchst individuelle Motive, die eine Frau im Laufe ihres Lebens zum Tragen oder Ablegen eines Kopftuchs bewegen. Wer im interreligiösen Kontakt das Vertrauen der Menschen gewinnt, erfährt, welch schmerzhafter Spagat bisweilen von Menschen verlangt wird, die ihre Talente für die Bildung von Kindern einsetzen zum Wohl einer Gesellschaft, die sich für ihre individuelle Frömmigkeit nicht interessiert, aber ihnen pauschal Zustimmung zu Gleichstellung und offener Gesellschaft abspricht. Offen ist so etwas nicht.“
Es sind genau diese „vielschichtigen und höchst individuellen Motive“, welche in einer öffentlichen Debatte, wie sie nun durch den Fall Eschenbach ausgelöst wurde, total untergehen. So entsteht Raum für jegliche Art von noch so abstrusen Feindbildern und Vorurteilen über Menschen, die man persönlich gar nicht kennt, dennoch aber sich das Recht herausnimmt, genau zu wissen, wie sie denken und welche Motive ihren Einstellungen und Verhaltensweisen zugrunde liegen.
Wie sehr dabei die Vorurteile und das Feindbilddenken auf der einen Seite, die Realität auf der anderen Seite auseinanderklaffen, mögen folgende Beispiele bewusst machen. Es handelt sich um reale Personen, wie wir ihnen alle in unserem Alltag früher oder später begegnen könnten. Und wahrscheinlich kommen dem einen oder der anderen beim Lesen Menschen in den Sinn, die diesen vier im Folgenden beschriebenen Personen durchaus ziemlich nahe kommen.
Bahira ist eine Muslimin, die aus ihrer Heimat fliehen musste, als dort ein fürchterlicher Bürgerkrieg ausbrach. Sie lebt mit ihrem Mann Ahmad und ihren drei Kindern, von denen mittlerweile einer erwachsen ist, seit 13 Jahren in der Schweiz. In ihrer Heimat war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Universitätsinstitut tätig gewesen, ihr Mann hatte als Pfleger in einem Spital gearbeitet. Bahira trägt regelmässig ein Kopftuch, auch in der eigenen Wohnung, so, wie sie sich das von klein auf gewohnt ist. Das Zusammenleben von Bahira und Ahmad ist in jeglicher Hinsicht von Respekt und gegenseitiger Achtung geprägt, alle wichtigen Entscheide, sei es für private Angelegenheiten, Stellenbewerbungen, Dialog mit der Schule oder in Bezug auf den Umgang mit Behörden, werden gemeinsam diskutiert und gemeinsam getroffen, auch unter Einbezug der Kinder. In ihrem Wohnzimmer hängt ein grosses, von einem der Kinder gemaltes Bild, auf dem sich viele Menschen unterschiedlicher Grösse und Hautfarbe und mit ganz unterschiedlichen Kleidern und Frisuren gegenseitig an den Händen halten und miteinander tanzen.
Erich ist ein Schweizer und ist bei einer grösseren Immobilienfirma als Buchhalter angestellt. Seine Frau Franziska arbeitet teilzeitmässig als Kindergärtnerin. Dass sie den allergrössten Teil der Haushaltarbeit erledigt, täglich zum Einkaufen geht, kocht, putzt, die Kleider für die ganze Familie wäscht, den Kindern bei den Hausaufgaben hilft, sämtliche privaten Einladungen, Geburtstagspartys und Familienfeste organisiert, ist für ihn selbstverständlich. Seinen politischen Ansichten, die ihr oft viel zu hart und wenig einfühlsam gegenüber weniger privilegierten Menschen erscheinen, steht sie häufig mehr oder weniger skeptisch gegenüber, kontroverse Diskussionen sind aber eher selten, da Erich sehr gut und häufig auch mit besonders lauter Stimme zu argumentieren pflegt, gerne auch der ist, der am Schluss Recht haben will, und zudem über ein immenses Wissen verfügt, was dann bei Franziska immer wieder dazu führt, dass sie ihre eigene Meinung lieber für sich selber behält und bloss noch darauf wartet, bis seine Belehrungen ein Ende finden. Am schlimmsten ist es, wenn Erich einen seiner besten Arbeitskollegen nach Hause bringt und sich die beiden dann in ihren – häufig auch krass frauenfeindlichen Sprüchen – gegenseitig bestärken.
Der kritische Leser und die kritische Leserin mögen an dieser Stelle einwenden, dies seien zwei völlig überspitzte und konstruierte Beispiele, um auf diese Weise weit verbreitete Vorurteile, in diesem Falle insbesondere gegenüber kopftuchtragenden Musliminnen, in Frage zu stellen. Die Realität ist aber: Es gibt diese Menschen tatsächlich, und nicht einmal in so geringer Zahl. Es hängt freilich auch davon ab, in welchen gesellschaftlichen Kreisen man sich bewegt, zu welchen Menschen man näheren Kontakt hat und zu welchen nicht, welche man näher kennt und welche einem fremd bleiben. Wie Bahira einmal sagte: Wenn sie am Morgen die Wohnung verlässt und ihren Nachbarn grüsst, dann schaut dieser bloss an ihr vorbei. Als würde er sie gar nicht sehen, bloss, weil sie ein Kopftuch trägt. Und als ich eine andere Nachbarin einmal fragte, ob sie mit Bahira schon einmal gesprochen hätte oder ob sie sie näher kenne, da sagte diese bloss, sie wolle diese Frau gar nicht kennenlernen.
Aber das wirklich Interessante kommt erst jetzt. Während nämlich die muslimische Lehrerin, die nun ihren Traumjob nicht ausüben darf, zunächst schweigt und sich dann dahingehend äussert, dass sie „traurig“ sei und sich „verletzt“ fühle und auch Bahira nicht wütend oder hasserfüllt, sondern nur traurig ist, wenn der Nachbar sie am Morgen nicht grüsst, ist es bei Erich so ziemlich anders. Sobald das Gespräch auf muslimische Frauen kommt, auf das Kopftuch oder ganz allgemein über den Islam, wird seine Stimme noch lauter, als sie sonst schon ist. Es ist etwas ganz anderes als Traurigkeit, sogar fast das Gegenteil: Hass. Ja, er verbreitet Hass gegen Menschen, die er gar nicht kennt und mit denen er noch nie gesprochen hat.
Ich bin kein Psychologe, aber ich glaube, das ist ziemlich einfach zu erklären und ist schon seit Jahrhunderten so: Fühlt man sich mit eigenen Widersprüchen konfrontiert, ist man mit sich selber nicht im Reinen und auch nicht bereit, sich selber kritisch zu hinterfragen, dann ist es am einfachsten, das eigene Ungenügen oder das eigene Unvermögen auf jemand anderen abzuwälzen bzw. zu projizieren, und hierfür eignet sich nun mal am besten eine bereits stigmatisierte Gruppe von Menschen, in diesem Falle kopftuchtragende Musliminnen. Wie früher die Juden, denen man das Vergiften von Brunnenwasser in die Schuhe schob, oder die „Hexen“, von denen man behauptete, sie stünden mit dem Teufel in Verbindung.
Die eigentlich Unterdrückte in unserer Geschichte ist nämlich nicht Bahira, sondern Franziska. Und der eigentliche Patriarch ist nicht Ahmad, sondern Erich. In dem Augenblick aber, indem Erich das, wofür er selber gerade stehen müsste, anderen zum Vorwurf macht, muss er sich nicht mehr mit seiner eigenen Rolle auseinandersetzen, er hat sein eigenes Problem sozusagen „ausgelagert“. Und statt auf ihn zeigt man jetzt auf den „patriarchalen“ Moslem und sein vermeintliches Opfer. Das hat auch viel mit der Macht der Gewohnheit zu tun. Dass Frauen in den westlichen Kulturen immer noch weitaus länger arbeiten als Männer und dennoch weniger verdienen und erst noch weitaus weniger gesellschaftliche Wertschätzung geniessen, daran haben wir uns über Jahrhunderte so sehr gewöhnt und es so tief verinnerlicht, dass es uns schon gar nicht mehr besonders auffällt. Was uns auffällt, ist nur das Neue, das Andere, das Ungewohnte, das Fremde, eben zum Beispiel das Kopftuch. Zur Macht der Gewohnheit kommt noch die Macht der Sprache dazu, wird doch die westliche Konsumgesellschaft, auch wenn sie in vielem noch so starke und prägende patriarchale Züge aufweist, grundsätzlich – vor allem auch in Abgrenzung zu anderen Kulturen – als „offen“ bezeichnet, wie dies auch Bernhard Hauser in seinem Gastbeitrag getan hat. „Offen“ tönt zwar immer gut. Aber was bedeutet das Wort in der Realität? Offen wofür? Offen wozu? Offen für wen? Und was kann man alles in dieses Wort hineinprojizieren und auf diese Weise glorifizieren? Ist auch Fremdenhass ein Merkmal für eine „offene“ Gesellschaft?
Es ist ja dann sogar geradezu zynisch, wenn ausgerechnet extrem patriarchal eingestellte Männer aus „westlichen“ Kulturen, die sich über „extreme Frauenrechtlerinnen“ in ihrem eigenen „westlichen“ Umfeld aufregen und diese als sogenannte „Emanzen“ ins Lächerliche ziehen, sich gleichzeitig als Anwälte für die Rechte muslimischer Frauen aufspielen – so wie etwa, um das denkbar extremste Beispiel zu nennen, der israelische Ministerpräsident Netanyahu, der allen Ernstes die Bombardierung des Iran damit begründete, dass auf diese Weise die iranischen Frauen endlich von der Unterdrückung durch die dort herrschenden Mullahs und ihre Sittenwächter befreit werden könnten.
Das blockiert den gesellschaftlichen Fortschritt gleich doppelt. Auf der einen Seite werden , wie Ann-Katrin Gässlein treffend feststellt, selbst jene kopftuchtragenden muslimischen Frauen als Opfer patriarchaler Unterdrückung dargestellt, die mit einer solchen Rolle ganz und gar nichts am Hut haben, und auch jenen muslimischen Männern patriarchales und unterdrückerisches Verhalten zur Last gelegt, die ihren Frauen durchaus auf gleicher Augenhöhe begegnen. Auf der anderen Seite wird das eigentliche patriarchale Machtsystem, das sich unabhängig von einzelnen Kulturen oder Religionen über alle Länder und Kontinente hinweg zieht, kaum je einer tiefgehenden kritischen Analyse unterzogen. Alle elf Tage – Tendenz steigend – wird in der Schweiz eine Frau von ihrem eigenen Lebenspartner umgebracht. Die wenigsten der Täter sind Moslems, die wenigsten der Opfer tragen ein Kopftuch. Aber statt die tieferen Ursachen der allgemein verbreiteten Männergewalt und ihre Verknüpfungen mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem aufzudecken, hackt man lieber auf kopftuchtragenden Musliminnen herum und kann auf diese Weise bequem vom eigentlichen Grundproblem ablenken. Anderen die Schuld der Probleme in die Schuhe zu schieben, statt sich an der eigenen Nase zu nehmen, war und ist halt immer noch das Einfachste und Bequemste.
Vor allem, wenn man dann dafür noch so grossen öffentlichen Applaus erhält.