„In New Orleans“, so ist in den Mittagsnachrichten des Schweizer Radios SRF1 am 1. Januar 2025 zu hören, „ist ein Autofahrer mit seinem Fahrzeug in eine Menschenmenge gerast, mitten auf der beliebten Ausgehmeile Burban Street. Die Behörden melden zehn Tote und 30 Verletzte. Der Mann sei wild entschlossen gewesen, so viel Schaden wie möglich anzurichten, sagt die Polizeichefin. Er habe nach seiner Fahrt aus dem Auto heraus auf die Polizei geschossen. Präsident Joe Biden hat den Verletzten und den Hinterbliebenen sein Mitgefühl ausgedrückt. Es gäbe, so Biden, keine Rechtfertigung für jegliche Art von Gewalt. Und weiter: Die Bundespolizei stufe das Ereignis als terroristischen Akt ein und werde die nötigen Untersuchungen einleiten.“
Gleichentags hat ein Amokläufer im montenegrinischen Cetinje sechs Menschen erschossen, darunter zwei Kinder. Und es ist erst zwölf Tage her, da raste an einem Weihnachtsmarkt in der Magdeburger Innenstadt ein Autofahrer in eine Menschenmenge, fünf Menschen – vier Frauen und ein neunjähriges Kind – starben, weitere 200 wurden verletzt, 41 von ihnen schwer. Der Täter, ein 50jähriger Saudi-Arabier, der 2006 nach Deutschland kam und im Jahre 2016 als politisch Verfolgter das Asylrecht erhielt, habe, so Bundesinnenministerin Nancy Faser, „unfassbar grausam und brutal gehandelt“. Der Anschlag löste in Deutschland eine immense politische Debatte mit dermassen massiven gegenseitigen Schuldzuweisungen aus, dass ein paar Tage später nicht nur die AfD, sondern auch die CDU massive Verschärfungen des geltenden Asylrechts forderte, so etwa den Entzug des Aufenthaltsstatus für straffällige Flüchtlinge. Auch solle das Sicherheitspaket, das bereits nach dem Anschlag in Solingen vom 23. August 2024, bei dem ein syrischer Asylbewerber auf einem Volksfest drei Menschen niedergestochen hatte, verabschiedet worden war und unter anderem eine biometrische Gesichtserkennung und die Speicherung von IP-Adressen vorsieht, nun endlich rigoros umgesetzt werden. Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder forderte sogar eine „Zeitenwende für die innere Sicherheit“.
Doch während sich halb Europa über drei Attentate mit insgesamt 21 Toten und 230 Verletzten ereifert, beläuft sich die Zahl der Todesopfer im Gazastreifen durch die israelischen Bombardierungen seit dem 7. Oktober 2023 sowie der dadurch verursachten Zerstörungen mittlerweile auf bald Hunderttausend, weitere über Hunderttausend leiden unter zum Teil schweren Verletzungen, ohne auch nur annähernd ausreichende ärztliche Versorgung zu bekommen. Mit der von der israelischen Armeeführung verfügten Schliessung des Kamal-Adwan-Spitals am 29. Dezember 2024 ist nun auch noch das letzte Spital in Nordgaza ausser Betrieb. Rund eine Million palästinensische Männer, Frauen und Kinder harren in notdürftig zusammengebauten Zelten aus, Tausende werden, abgeschnitten von Hilfslieferungen und medizinischer Versorgung, voraussichtlich den Winter nicht überleben. Bereits sind, in den letzten Tagen des abgelaufenen Jahrs, sechs Kleinkinder an Unterkühlung gestorben.
Im Sudan tobt weiterhin, nahezu unbeachtet von der Weltöffentlichkeit, der derzeit weltweit wohl grausamste und verheerendste Krieg, ausgelöst durch den Machtkampf zweier Generäle, von denen jeder das ganze Land unter seine Gewalt bringen will und nicht zum kleinsten Kompromiss bereit ist. Opfer des Kriegs sind, wie immer, vor allem Frauen und Kinder. „Ein Junge“, so der „Tagesanzeiger“ am 20. November 2024, „hat soeben eine Heuschrecke gefangen. Er hält sie fest wie einen Schatz. Er wird sie sogleich essen. Doch es ist zu wenig, um lange durchzuhalten. Viel zu wenig. Ein paar hundert Meter entfernt kauert eine junge Mutter vor ihrem selbst gebauten Unterschlupf aus Ästen, Zweigen und Stroh. Der Blechtopf zu ihren Füssen ist leer. Im Moment hat sie nicht einmal eine Heuschrecke, die sie ihren Kindern anbieten kann… US-Schätzungen zufolge hat der Krieg im Sudan innerhalb von nunmehr 19 Monaten bis zu 150’000 Todesopfer gefordert. Mehr als elf Millionen Menschen sind auf der Flucht. Es droht eine Katastrophe, wie die Welt sie seit der grossen Hungersnot in Äthiopien 1985 nicht mehr gesehen hat: 25 Millionen Menschen haben zu wenig zu essen, 755’000 sind akut vom Hungertod bedroht. Und ein Ende der Gefechte ist nicht in Sicht… Was macht das mit der jungen Frau, wenn sie nichts tun kann, ausser zuzusehen, wie sich die kleinen Körper, Schritt um Schritt, selbst aufzehren?… Halma, eine Frau Mitte zwanzig, erinnert sich nicht genau, was sie und ihre vier Kinder in den vergangenen Wochen noch zu sich genommen haben. Eine volle Mahlzeit bekamen sie seit ihrer Flucht Ende April jedenfalls nie mehr… Als die Kämpfe ausgebrochen seien, sei Hakima, eine andere junge Mutter, mit ihren Kindern einfach losgerannt. Zehn Tage waren sie unterwegs. Zu Fuss, ohne Essen, ohne Hilfe. Die Mutter erinnert sich noch an ihre erste Begegnung mit Kämpfern der Miliz. Sie packten die Kinder und begannen sie zu verhören. Die Kinder sagten: Unsere Väter haben keine Waffen. Es hagelte Schläge, weil ihnen die Milizen keinen Glauben schenkten. Sie erzählt, wie die Milizen die Männer zu ihren Frauen schleppten und sie dann, vor deren Augen, erschossen. Eine andere Frau sagt: „Sie schlugen mich, bis ich nicht mehr stehen konnte.“ Und: „Sie machen mit dir, was sie wollen. Sie vergewaltigen die Frauen und die Mädchen.“… Bald bricht die Nacht herein. Hakima könnte noch losziehen. Geld hat sie keines, aber vielleicht findet sie jemanden, der mit ihr einen Becher Hirse teilt. Falls nicht, muss sie heute wohl noch auf einen Lalob-Baum klettern. Wenn die Menschen nichts mehr haben, pflücken sie die Blätter dieses Baumes, um sie zu zerkauen… Nach wie vor wird rund um die Nuba-Berge herum erbittert gekämpft, beide Generäle, Hemeti und Burhan, setzen auf Sieg, obwohl alle Experten sagen, dass sich die beiden längst in ein militärisches Patt manövriert haben und es weder für den einen noch für den anderen einen Sieg geben wird.“
Nicht nur im Sudan. Weltweit leidet jedes vierte Kind unter fünf Jahren unter schwerer Ernährungsarmut und jeden Tag sterben rund 10’000 Kinder unter fünf Jahren, weil sie nicht genug zu essen haben. Und wie die Kinder, so gehören auch die Frauen zu den Hauptleidtragenden von Machtkämpfen und Gewalt, nicht nur in jenen rund 60 Ländern, wo zurzeit Kriege wüten, sondern auch in den „friedlichsten“ und „demokratischsten“ Ländern der Welt: Alle zehn Minuten wird, gemäss einem Bericht der UNDOC und der UN-Women, eine Frau oder ein Mädchen getötet, weit mehr als die Hälfte von ihnen durch die Hand ihres Ehemanns oder eines nahen Angehörigen. Vollkommen unschätzbar und von keiner Statistik erfasst dagegen ist die Zahl jener der weltweit insgesamt 49 Millionen Flüchtlinge – die höchste Zahl aller Zeiten -, die auf der Fahrt mit einem der winzigen, schiffbrüchigen, von Schleppern für teures Geld erstandenen Fischerboote das Mittelmeer oder den Ärmelkanal zu überwinden versuchen und dabei den Tod finden, oder aber mit verbundenen Augen von tunesischen Soldaten mit Jeeps in die libysche Wüste transportiert, dort ausgeladen werden und innert weniger Tage elendiglich verdursten.
Der Unterschied ist: Während westliche Medien jedes Mal laut aufheulen und in aller Ausführlichkeit darüber berichten, wenn Amokläufer oder andere Fanatiker in Schulen, auf Weihnachtsmärkten oder in Einkaufsmeilen drei oder zwanzig Menschen töten, und dann wochenlang in der breiten politischen Öffentlichkeit über ganz und gar nichts anderes mehr debattiert wird, bleibt das tägliche Leiden und der tägliche Tod von Millionen Menschen fast gänzlich unsichtbar, als hätte man sich bereits so sehr daran gewöhnt, dass es gar keiner Schlagzeile mehr wert ist. Man kommt wohl kaum umhin, nicht nur das dermassen einseitige und willkürliche Medieninteresse als überaus zynisch und menschenverachtend zu bezeichnen, sondern auch die gesamte damit verbundene Rhetorik. Der gleiche Joe Biden, der gegenüber den Verletzten und Überlebenden des Attentats in New Orleans beteuert, es gäbe „keine Rechtfertigung für irgendeine Form von Gewalt“, hat nicht die Grösse, die gleichen Worte gegenüber dem Präsidenten eines befreundeten Staates aufzubringen, der mittlerweile rund hunderttausend Tote und eine noch höhere Zahl an Verletzten auf dem Gewissen hat. Worte wie jene der deutschen Innenministerin, wonach der Autofahrer, der in Magdeburg fünf Menschen tödlich verletzte, „unfassbar grausam und brutal gehandelt“ hätte, habe ich in dieser Deutlichkeit bisher noch von keinem europäischen Politiker gehört, wenn es darum ging, die Kriegspolitik Netanyahus zu beschreiben. Und der Begriff „Terrorist“ scheint nur einzelnen Amokläufern und durchgebrannten Autorasern vorbehalten zu sein, während man tunlichst vermeidet, diesen Begriff ebenso auf Staatsmänner anzuwenden, die, wie Ronald Reagan, George W. Bush oder Benjamin Netanyahu, insgesamt Millionen von Menschen auf dem Gewissen haben, oder etwa auf Männer, die ihre eigenen Frauen über Jahre hinweg quälen, prügeln, würgen und zu Tode foltern.
Als wäre es ein gewaltiges, global inszeniertes Ablenkungsmanöver. Denn so lange die „bösen“ Autoraser, Messerstecher und Amokläufer im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen und die Aufmerksamkeit eines von Sensation zu Sensation hastenden Weltpublikums von in Sekundenschnelle sich gegenseitig jagenden Schreckensbildern Tag und Nacht absorbiert wird, kommt schon gar niemand dazu, sich darüber Gedanken zu machen, wer und weshalb überhaupt ein Interesse daran haben könnte, dass auf diesem Planeten, wo das Leben so schön sein könnte, immer noch über 60 Kriege wüten, mehr denn je seit über 70 Jahren. Niemand kommt dazu, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie weit 500 Jahre koloniale Ausbeutung des Südens und damit verbundene künstliche Grenzziehungen wesentliche Ursachen sind für heutige Kriege wie jene im Sudan und in anderen Ländern des globalen Südens. Niemand kommt dazu, ernsthaft darüber nachzudenken, wie und weshalb und im Interesse wessen die UNO im Laufe von Jahrzehnten dermassen geschwächt wurde, dass sie bei allen diesen Konflikten, zu deren friedlicher Lösung sie doch einst geschaffen wurde, nur noch hilf- und machtlos zuschauen kann. Keine tiefschürfende Analyse des kapitalistischen Wirtschaftssystems wird in Angriff genommen, um endlich jenen Wahnsinn zu entlarven, dass in einer Welt, wo insgesamt für die Ernährung der gesamten Menschheit mehr als genügend Nahrungsmittel zur Verfügung stehen würden, dennoch eine Milliarde Menschen hungern und 49 Millionen Menschen – mehr denn je zuvor – ihre Heimat verlassen mussten und unter permanenter Lebensgefahr eine neue Heimat suchen, weil die Lebensbedingungen zwischen den Ländern, wo sich Reichtum in immer grösserem Umfang anhäuft, und den Ländern, die als Quelle dieses Reichtums missbraucht und bis aufs Letzte ausgeblutet wurden, immer weiter auseinanderklafft. Auch die tägliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen wird nur in Form einzelner Schreckensmeldungen wahrgenommen und nicht als Spitze eines gewaltigen Eisbergs in Form einer patriarchalen Weltherrschaft, die sich durch jede noch so kleine Facette des täglichen Lebens gnadenlos hindurchzieht. Und nicht einmal die Klimakrise findet jene Beachtung, die sie doch eigentlich haben müsste, wenn man bedenkt, dass es dabei doch früher oder später um nichts anderes geht als um das Überleben der gesamten Menschheit. Auf geradezu absurde Weise geniessen die in ihrer Auswirkung geringsten Ereignisse den grössten Platz in der medialen Berichterstattung, in nichts damit vergleichbare Katastrophen wie der Krieg im Sudan kommen nur ganz am Rande vor und die existenziell weitaus gefährlichsten Bedrohungen wie der Klimawandel sind fast gänzlich aus dem Scheinwerferlicht der Medien verschwunden.
Individualgewalt und Systemgewalt. Mücken und Elefanten. Man muss nur genug beharrlich auf den Taten einzelner individueller „Bösewichte“ herumhacken und die Illusion am Leben erhalten, dass die ganze Welt gut und friedlich wäre, hätte man diese Übeltäter endlich unschädlich gemacht – um so den Blick zu versperren auf die wahren Übeltäter und Bösewichte in Form der herrschenden kapitalistischen und patriarchalen Machtsysteme, die man in ihrem ganzen historischen Ausmass von der Auslöschung der amerikanischen Urbevölkerung über den Sklavenhandel und alle im Namen von Kolonialismus und Imperialismus begangenen Verbrechen bis hin zur systematischen Zerstörung sämtlicher Lebensgrundlagen ehrlicherweise als das tatsächlich verheerendste und zerstörerischste terroristische Netzwerk aller Zeiten bezeichnen müsste, das in seiner Profitgier und dem verrückten Glauben an ein immerwährendes Wirtschaftswachstum auf Kosten der natürlichen Ressourcen nicht einmal davor zurückschreckt, selbst das Leben jener Generationen auszulöschen, die noch nicht einmal geboren wurden.
Damit diese systematischen täglichen Ablenkungsmanöver weiterhin wirkungsvoll bleiben, hoffen zweifellos all jene, die kein Interesse an der Aufdeckung der wahren Machtverhältnisse und einem daraus folgenden Verlust ihrer Privilegien haben, wohl stets sehnlichst darauf, dass möglichst bald wieder irgendein Verrückter austickt und alle mit dem Finger auf ihn zeigen können. Damit man weiterhin auf den Mücken herumtrampeln kann und die Elefanten möglichst lange unsichtbar bleiben…