DIE GOTTE, DER GÖTTI: DAMIT ES NIE SO WEIT KOMMT
Am 14. Mai 2025 wurde in der Nähe von Berikon AG ein 15jähriges Mädchen von einem 14jährigen Mädchen erstochen. „Die genauen Umstände sowie mögliche Motive der Tat“, liest man in der Zeitung, „sind noch unklar.“ Eines steht wohl fest: Bis es zu einer so unglaublich schlimmen Tat kommen kann, muss zuvor über längere Zeit unvorstellbar viel Schlimmes geschehen sein und sich immer mehr und mehr aufgestaut haben. Eine 14Jährige bringt nicht einfach so, aus heiterem Himmel, eine 15Jährige um, und erst recht nicht, wenn es sich dabei um eine enge Freundin handelt, die zur gleichen Klasse ging und mit der sich die Täterin stets gut verstanden hatte. „Es ist denkbar“, so Leonardo Vertone, Chefpsychologe des Zentrums für Kinder- und Jugendforensik der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, „dass das Mädchen über längere Zeit hinweg unter erheblichem emotionalem Druck stand. Etwa in Bezug auf ihre Persönlichkeit, eine mögliche psychische Erkrankung, familiäre Verhältnisse, das soziale Umfeld, Freizeitgestaltung, die Schule oder die Ausbildung.“… In meinem Buch „Die Schule neu erfinden – damit das Lernen wieder Freude macht“ postuliere ich die Abschaffung der Jahrgangsklassen- und Lehrplanschule und plädiere für freies, individuelles, selbstbestimmtes Lernen analog zum Lernen der ersten Lebensjahre. In Anbetracht der Tatsache, dass einzelne Kinder oder Jugendliche durch ein so offenes, kaum strukturiertes Lernsystem allenfalls überfordert sein könnten, schlage ich vor, dass jedes Kind von dem Moment an, da es den Kindergarten verlässt, einen „Götti“ bzw. eine „Gotte“ zur Seite gestellt bekommt, als fixe pädagogische Vertrauens- und Bezugsperson für mindestens den Zeitraum bis zum Beginn einer Berufsausbildung. Die Idee einer „Gotte“ oder eines „Götti“ als zuverlässige, stets abrufbare Bezugsperson könnte man aber auch schon im heutigen Schulsystem einführen. Dann könnten möglicherweise dermassen dramatische Entwicklungen wie der Fall von Berikon rechtzeitig gestoppt bzw. in konstruktive Bahnen gelenkt werden. Auch andere, weniger drastische „Fehlentwicklungen“ könnten auf diese Weise vermutlich rechtzeitig aufgefangen werden. An wen sonst soll sich eine 14Jährige melden, die sich hoffnungslos in einem schwarzen Loch verfangen hat, aus dem sie keinen Ausweg mehr zu finden vermag? Die Eltern sind in solchen schwierigen Lebensphasen leider oft genau die falschen Ansprechpersonen, leiden sie doch oft selber unter massiven Beziehungsproblemen, finanziellen Lasten oder Zukunftsängsten, begegnen den eigenen Kindern häufig moralisierend, belehrend oder vorwurfsvoll und verstärken geradezu bereits vorhandene Schuldgefühle. Dem Lehrer, der – fordernd, kontrollierend, prüfend und manchmal sogar strafend – eher als Feind denn als Freund wahrgenommen wird, wird sich die 14Jährige – wie auch Umfragen unter Jugendlichen immer weder bestätigen – ebenfalls wohl kaum anvertrauen. Auch die Psychologin, der Sozialarbeiter, die Jugendberaterin oder der Psychiater wird meist nicht als Teil der eigenen Lebenswelt wahrgenommen, dem die 14Jährige ihr ganzes Herz ausschütten möchte, umso mehr, als es sich dabei ja um eine fremde Person handelt, zu der im Augenblick der grössten Not ja noch keinerlei Vertrauensverhältnis besteht – ganz abgesehen davon, dass es für einen Gesprächstermin oder gar für einen Therapieplatz meist wochen-, wenn nicht monatelange Wartelisten gibt. Bleiben also nur die Gleichaltrigen, aber die haben oft selber genug Probleme am Hals und sind ebenfalls hoffnungslos überfordert. Zu einem „Götti“ bzw. einer „Gotte“ als professionell agierender, von Empathie und Zuwendung getragener Lebensbegleiterin kann man sich kaum eine bessere Alternative vorstellen…
FRANZÖSISCH EIN „HORRORFACH“
Einmal pro Woche kommt der dreizehnjährige Fabian zu mir in die private Lernstunde. Und jedes Mal schlägt er als erstes sein Französischbuch auf: „Diese zwei Seiten Wörtli muss ich auf nächste Woche lernen.“ Und dann geht es los, er liest mir zunächst alle Wörter der Reihe nach vor, dann liest er sie ein zweites Mal, diesmal still, durch. Und schliesslich frage ich sie ihn der Reihe nach ab. Die Wörter, die er noch nicht beherrscht, üben wir dann zusätzlich noch etwas intensiver. Als hätte es noch nie irgendwelche wissenschaftliche Erkenntnisse über sinnvolles und erfolgreiches Lernen gegeben, ist die Reihenfolge der zu lernenden Wörter und Kürzestsätze vollkommen sinnbefreit. Auf „observer“ (beobachten) folgt „j’ai vomi deux fois“ (ich habe zwei Mal erbrochen), auf „la gorge“ (der Hals) folgt „recommander qc. à qn.“ (jemandem etwas empfehlen). Wie um Himmels Willen soll er sich alle diese bunt und ohne jeglichen Zusammenhang durcheinander gewürfelten Wörter in den Kopf bringen? Und wozu all der Aufwand und all die Zeit, wenn man doch schon längstens weiss, dass Wissen, was in dermassen künstlicher, vom Leben gänzlich abgeschnittener Form gelernt wird, bereits nach kurzer Zeit wieder vergessen gegangen sein wird? Ich kenne wirklich keinen anderen Beruf, in dem so unprofessionell gearbeitet wird. Und vor allem nicht einen, der obendrein noch so gut bezahlt wird. Was wird eigentlich an den Pädagogischen Hochschulen gelernt? (Heute habe ich in einem Zeitungsartikel gelesen, Französisch sei für die meisten Schülerinnen und Schüler ein „Horrorfach“, nun überlege man sich, es zu einem Freifach zu machen, welches dann vermutlich von keinem einzigen Kind oder Jugendlichen mehr gewählt wird. Das also haben all die Unsummen von Geld, die seit Jahrzehnten in die Lehrerausbildung, die Lehrerlöhne, den Bau von Schulhäusern und die Entwicklung falscher Lehrmethoden und Lehrbücher investiert wurden, erreicht: Dass eine Sprache, und erst noch eine so schöne wie das Französische, die man eigentlich zutiefst lieben müsste wie alles Lebendige, zum „Horror“ verkommen ist.)
JAHRGANGSKLASSEN ALS HEXENKESSEL
Eigentlich ist es richtig fies. Man wirft 15 oder 20 ungefähr gleich alte Kinder oder Jugendliche in eine Schulklasse und konstruiert dadurch auf widernatürliche Weise einen Hexenkessel, der unweigerlich gegenseitiges „Fehlverhalten“ bis zu unerträglichsten Ausartungen provoziert, ebenso, wie wenn man zu viele Mäuse in einen zu engen Käfig sperrt und sich diese dann gegenseitig zu beissen beginnen. Während man aber bei den Mäusen schon längst zur Einsicht gelangt ist, sie müssten mehr Freiheit bekommen, um sich nicht mehr gegenseitig zu verbeissen, sperrt man die Kinder weiterhin in Jahrgangsklassen und zu kleine Räume voller künstlicher Regeln und Fremdbestimmung ein und beschimpft oder bestraft sie sogar noch für ihr „Fehlverhalten“, das gar nicht ihre Schuld ist, sondern die Schuld von Erwachsenen, die offensichtlich keine Ahnung davon haben, welches die notwendigen Voraussetzungen wären für gutes Lernen.
1:1-LERNEN ALS DIE EINZIGE SICH VOLLKOMMEN MIT DEN INNERSTEN LERNBEDÜRFNISSEN DES INDIVIDUUMS IM EINKLANG BEFINDLICHE FORM VON LERNEN
Seit meiner Pensionierung erteile ich individuellen „Nachhilfeunterricht“. Allerdings geht das, was in diesen Stunden an ganzheitlichem Lernen geschieht, dermassen weit über traditionelles schulisches Lernen hinaus, dass man statt von „Nachhilfeunterricht“ eher von „Lernstunden“ oder „Entwicklungsstunden“ sprechen müsste. Das beginnt meist so, dass ich das Kind, den Jugendlichen oder die erwachsene Person, wenn sie zum ersten Mal zu mir kommt, frage, was sie denn in diesen Stunden bei mir lernen möchte. Und weil die Menschen so unendlich verschieden sind und sich auch ihre Lernwege und Biografien gänzlich voneinander unterscheiden, gleichen sich denn auch diese Lernstunden in keinster Weise. Ein 15Jähriger, der in Mexiko geboren wurde und aufgewachsen ist und seit vier Jahren in der Schweiz lebt, hat einfach das Bedürfnis, eine Stunde lang mit mir zu „quatschen“, über alles, was ihn gerade beschäftigt, von seinen Gefühlen des „Fremdseins“ in einem „fremden“ Land über seine Ansichten betreffend Geschlechterrollen bis hin zu all dem, was er in seiner Kindheit in Mexiko auf der Strasse an Gewalt und Machtmissbrauch gesehen und erlebt hat. Eine 45Jährige, aus dem Kosovo stammende Sozialarbeiterin, die fliessend Deutsch spricht, aber beim Abfassen schriftlicher Texte immer noch gewisse Mühe bekundet, wünscht sich von mir praktikable Regeln, um ihre diesbezüglichen Fertigkeiten zu verbessern. Ein 24jähriger Syrier, der erst seit einem halben Jahr in der Schweiz lebt, braucht Unterstützung bezüglich Umgang mit Behörden, dem Ausfüllen von Formularen sowie dem Umgang mit Erwartungen, Gepflogenheiten und Umgangsformen in seiner neuen Lebenswelt, die ihn immer wieder verunsichern. In den 1:1-Lernstunden bin ich immer zu 100 Prozent punktgenau dort, wo sich auf individuellen Lern- und Lebenswegen gerade ein Hindernis befindet, das wir dann miteinander wegzuräumen versuchen. Die handelnden, bestimmenden Personen sind stets die Lernenden selber, mir selber kommt die Rolle eines „Werkzeugs“ zu, das sie immer dann, wenn sie selber nicht mehr weiterkommen, zu Rate ziehen können. Vielleicht ist der Begriff des „Entwicklungshelfers“ die zutreffendste Beschreibung einer solchen Rolle. Denn entwickeln kann sich ein Mensch einzig und allein aufgrund seines eigenen, ihm tief eingeschriebenen Lern- und Lebensplans. Eigentlich bräuchten Menschen gar keine Lehrer, denn jedes Kind weiss schon von Geburt an, wie es am erfolgreichsten lernen kann, sonst würde es beispielsweise den in ihrer Komplexität fast alles übrige Lernen weit übertreffenden Erwerb der Muttersprache wohl kaum aus eigener Kraft bewältigen können. Aber es kann sein, dass es trotzdem hie und da ein bisschen Hilfe und Unterstützung von aussen braucht. Und hierfür bietet sich eben die 1:1-Lernstunde als das mit Abstand beste Werkzeug an, können doch die Lernwege, die einzelnen Lernschritte, die Methoden, das Lernmaterial und alle weiteren Hilfsmittel haargenau den individuellen Lernbedürfnissen angepasst werden. Wenn ich das mit dem „Lernen“ vergleiche, das in einer Schulklasse stattfindet – und ich habe das in meiner 38jährigen Tätigkeit als Oberstufenlehrer Tag für Tag ganz konkret erlebt -, dann liegen dazwischen Welten. Ich würde so weit gehen und behaupten, dass das 1:1-Lernen um ein mindestens Zehnfaches effizienter ist als alles, was an Lernen innerhalb einer Schulklasse im gleichen Zeitraum möglich ist, selbst dann, wenn sich die betreffende Lehrperson alle Beine ausreisst, um einen möglichst „guten“ Unterricht zu machen. Eine Kollegin, die ebenfalls private Lernstunden anbietet, hat mir sogar erzählt, sie hätte mit einer 14Jährigen innerhalb von bloss drei Wochen den gesamten Schulstoff nachgearbeitet, den diese während eines ganzen Schuljahrs aufgrund massiver persönlicher, familiärer und schulischer Konflikte und Probleme versäumt hatte. Insgesamt, da bin ich mir fast ganz sicher, würde in einem offenen System in Form einer Kombination von kleinen, mehr oder weniger strukturierten „Lerninseln“ und einem darum herum wogenden „Meer“ millionenfacher Facetten an freiem Lernen insgesamt weitaus mehr, besser und erst noch mit viel mehr Freude und Begeisterung gelernt als in den allermeisten heutigen Schulen, wo bei fast allen Kindern und Jugendlichen infolge von viel zu viel Fremdbestimmung und viel zu enger Vorgaben die ursprüngliche Lernfreude – und damit auch der Lernerfolg – nach und nach förmlich erstickt wird.