Archiv des Autors: Peter Sutter

Veringenstadt, 8. Juni 1680: Kommunistinnen ihrer Zeit

Dies ist das 6. Kapitel aus meinem Buch PRO MEMORIA – EINE ANDERE GESCHICHTE DES KAPITALISMUS, das voraussichtlich Mitte 2025 erscheinen wird. Eine Geschichte der Schattenseiten des Kapitalismus und der Opfer eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das trotz allem immer noch von vielen als die einzige mögliche und alternativlose Art und Weise angesehen wird, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten organisiert werden kann.

Wenn du in der Suchfunktion PRO MEMORIA eingibst, findest du die weiteren bereits publizierten Kapitel des Buches.

Die 1619 im deutschen Liesen geborene Anna Kramer war in zweiter Ehe mit einem 24 Jahre älteren Mann verheiratet, der sie dermassen grob behandelte, oft verprügelte und sie täglich zusätzlich zur Hausarbeit schwere Feldarbeiten verrichten liess, dass es immer wieder zu heftigen Streitigkeiten kam, selbst auf der Strasse, was Leute in der Nachbarschaft dazu veranlasste, beim städtischen Schultheiss Klage gegen das «Höllenspektakel» einzureichen. Als Ermahnungen, Arrest- und Geldstrafen nichts bewirkten, wandten sich der Schulthess, der Bürgermeister und der Stadtrat an die fürstliche Oberbehörde in Sigmaringen, die aber vorläufig untätig blieb.

Als die häuslichen Streitereien im Laufe der Zeit immer heftiger wurden, verliess Anna des Öftern das Haus und streifte in den benachbarten Orten umher, wo sie kranke Kinder und Frauen besuchte und ihnen mit Kräutern und Heilgetränken zur Genesung verhalf. Dies führte zur Verbreitung von Gerüchten, Anna verfüge über gefährliche Zauberkräfte. Einige behaupteten sogar, wegen ihr eine tödliche Krankheit bekommen zu haben. Anzeigen häuften sich und der Druck auf die Behörden, eine umfassende Untersuchung einzuleiten, wurde immer grösser. Am 15. Juni 1676 fand eine Anhörung sämtlicher Personen statt, die gegen Anna Vorwürfe erhoben hatten. Dabei wurden die bereits bekannten Vorwürfe wiederholt, ohne dass aber stichhaltige Beweise vorgelegt werden konnten. Trotzdem trat niemand für ihre Schuldlosigkeit ein, nicht einmal ihr Mann und der eigene Sohn.

Im April 1680 behauptete Annas nächster Nachbar, der bis anhin stets gesagt hatte, er wisse nichts Unrechtes von ihr, nun auf einmal, Anna hätte seine im März verstorbene Frau und seinen Sohn, der Ende März schwer erkrankt war, verhext. Die Sache ging bis zum Vizekanzler Johannes Kirsinger in Sigmaringen, der schliesslich am 9. Mai kurz nach Mitternacht Anna Kramer festnehmen liess. 

Die Protokolle des Hexenprozesses von Anna Kramer liegen noch heute im Stadtarchiv von Veringenstadt und vermitteln einen erschütternden Einblick in eines der schlimmsten Kapitel in der Geschichte der Menschheit. Diesen Protokollen zufolge begannen die Verhöre am 11. Mai 1680. Am ersten Tag wurde Anna während vier Stunden mit Fragen durchlöchert, mit wem sie wann Kontakt gehabt hätte, ob sie an Gott glaube, ob sie die heiligen Sakramente erhalten hätte und anderes mehr. Ein Stallknecht, der als Zeuge zugegen war, beteuerte, über Anna nur Gutes gehört zu haben, fügte aber hinzu, er hätte, als Anna gefangen genommen worden sei, beim Hauseingang eine Kröte und eine schwarze Katze gesehen.

Am zweiten Verhörtag, dem 15. Mai, wurden zehn Personen, die gegen Anna Anschuldigungen erhoben hatten, befragt. Sie berichteten von allerlei Krankheiten, Beschwerden und seltsamen Vorfällen, die immer dann aufgetreten seien, wenn sie mit Anna Kontakt gehabt hätten: Atemnot, Fieberkrämpfe, Herzbeschwerden, Schwellungen am Hals, schwarze Hautflecken, Lähmungen. Auch Pferde und Kühe seien auf unerklärliche Weise plötzlich verstorben. Anna bekräftigte ihre Unschuld, was aber vom Vorsitzenden zurückgewiesen und worauf sie wieder ins Gefängnis gebracht wurde. Am dritten Verhörtag, dem 16. Mai, wurde ihr Ehemann befragt. Er sagte, Anna sei eine unausstehliche, unverträgliche Person, die ihm immer wieder entlaufen sei und die er deshalb auch immer wieder «wie einen Ochsen» geschlagen habe. Etwas anderes Unrechtes oder Verdächtiges hätte er aber nie bemerkt. Anna wies alle bisher gegen sie erhobenen Vorwürfe zurück, worauf der vorsitzende Richter die beiden Scharfrichter rufen liess und ihnen befahl, Anna in die Folterkammer zu führen und ihr sämtliche Folterwerkzeuge zu zeigen und deren Gebrauch zu erklären. Dennoch beharrte Anna darauf, keine Hexe zu sein.

17. Mai 1680, der vierte Tag des Verhörs. Nachdem Anna erneut ihre Unschuld beteuert hatte, wurde sie von den Scharfrichtern in die Folterkammer geführt, wo ihr die Hände auf dem Rücken zusammengebunden wurden, um sie daran in die Höhe zu ziehen. Zu diesem Zweck befand sich an der Decke über dem Folterstuhl ein Flaschenzug, über den ein Seil lief, an welchem ein eiserner Haken befestigt war und das am anderen Ende auf einer mit einer Kurbel versehenen Walze aufgerollt werden konnte. Nachdem der eine der beiden Scharfrichter den Haken zwischen den zusammengebundenen Händen befestigt hatte, rollte der andere das Seil durch Drehung der Kurbel auf der Walze auf. Dadurch wurde sie an den verdrehten Armen in die Höhe gezogen. Als «sich die Hände auf der Höhe des Kopfes befanden, sich die Schultern abwärts drehten und die Gelenke knackten, stiess sie, noch bevor sie frei in der Luft hing, einen entsetzlichen Schrei aus». Anna flehte die Scharfrichter an, von einem weiteren Hochziehen abzulassen, und sagte: «Ich will eine Hexe sein, wie ihr verlangt». Die Folter wurde unterbrochen, die Schultergelenke wieder eingerenkt und Anna mit Weihwasser besprengt. Als sie zugab, das Schuldbekenntnis nur wegen der unerträglichen Schmerzen abgegeben zu haben, wurde sie sogleich erneut in die Höhe gezogen und «trotz markerschütterndem Schreien drei Vaterunser lang» frei in der Luft hängen gelassen. Wieder unten auf dem Stuhl, wiederholte Anna die vorangegangene Aussage, sie sei tatsächlich eine Hexe und hätte dem Teufel versprochen, ihm zu dienen und dafür Geld zu bekommen. Auf die Frage, wie oft sie es mit dem Teufel getrieben habe, gab sie keine Antwort und wurde sogleich wieder in die Höhe gezogen, dieses Mal «sechs Vaterunser lang». Erst als sie bekannte, es mit dem Teufel getrieben zu haben, wurde sie wieder heruntergelassen. Es folgte eine «höchst schamlose» Untersuchung, mit der die Scharfrichter «diese Unzucht nach allem Detail zu erforschen trachteten». Anna war so verwirrt, dass sie sich bei der folgenden Befragung über die Details der «Unzucht» dermassen in Widersprüche verwickelte, dass sie erneut hochgezogen wurde, diesmal für «eine halbe Viertelstunde». Ohnmächtig geworden, wurde sie für kurze Zeit in Ruhe gelassen. Dann erklärte sie, zu allem bereit zu sein und nur noch sterben zu wollen. Schliesslich wurde sie wieder ins Gefängnis gebracht.

Es folgten zehn weitere Verhörtage, an denen sie wiederum abwechslungsweise gefoltert wurde, Schuldbekenntnisse abgab und diese stets erneut widerrief. Die Zeiten, während denen man sie am Seil hängen liess, wurden von Tag zu Tag verlängert. Am achten Verhörtag band man ihr zusätzlich einen Steinblock von 20 Pfund an beide grossen Zehen und zog sie dann wieder mehrmals hintereinander für längere Zeit in die Höhe.

Unzufrieden mit dem bisherigen Verlauf, wandte sich der vorsitzende Richter sodann an einen auswärtigen Rechtsgelehrten und stellte ihm das gesamte Aktenmaterial zu, um auf diesem Weg zu einem endgültigen und unwiderruflichen Schuldbekenntnis zu gelangen. Am 1. Juni war das Gutachten erstellt. Es besagte, Anna Kramer sei eine «wahre und recht verhärtete Hexe», welche die bisherigen Torturen nur deshalb überlebt hätte, weil sie mit dem Teufel im Bunde stünde. Das Gutachten empfahl, nun «schärfere Torturen» anzuwenden: Schlafberaubung während der Nacht, Aufziehen mit noch schwereren Gewichten, Daumenstock, Beinschrauben, ins Fleisch eindringende Spiesse und Zangen und «Bockspannen», um den Gliedern «unglaubliche» Schmerzen zuzufügen, ohne diese aber auszurenken. Am neunten Verhörtag legte Anna Kramer aufgrund der Androhungen durch diese zusätzlichen und weitergehenden Folterungen ein umfassendes Schuldbekenntnis ab. Den zehnten Verhörtag hält das Protokoll mit folgenden Worten fest: « Heute hat sich die Malefikantin ganz schwach erzeigt; Hunger und Angst während einer vierwöchentlichen strengen Gefangenschaft, die brennenden Schmerzen der verrenkten Glieder und überspannten Sehnen, die quälende Gewalt des zurückgehaltenen Schlafbedürfnisses, die Gewissheit eines baldigen ehrlosen, schmachvollen Todes haben alle Kräfte der 61jährigen Frau gebrochen und sie einer Sterbenden gleichgemacht.»

Am 5. Juni erfolgte die Schlussverhandlung. Hierzu wurden sieben «ehrenhafte und unparteiische» Bürger eingeladen, die mit ihren Unterschriften bestätigten, dass die Angeklagte sämtliche Bekenntnisse des vorangegangenen Verhörtags freiwillig abgegeben hätte, den Pakt mit dem Teufel, das Töten von Vieh mit der Hexensalbe, die Zerstörung von Feldfrüchten durch ein Hagelgewitter, das Verhexen und Ermorden von Kindern, Hexentänze auf Pferden und Kühen. Nach diesem Akt wurde Anna Kramer zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt, ihr aber «gnädigerweise» das Verbrennen bei lebendigem Leibe durch eine vorgängige Enthauptung erlassen.

Am 8. Juni 1680, morgens um acht Uhr, wurde die «Malefikantin» in Begleitung mehrerer Geistlicher, Richter, Schützen, Wächter und einer grossen Volksmenge unter dem Geläute der Kirchenglocken zur Gerichtsstätte geführt. Nach einem gemeinsamen Vaterunser wurde Anna vom Scharfrichter enthauptet, der Leichnam auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Augenzeugen berichteten später, eine «abscheulich dicke Kröte» sei aus dem Haufen herausgekrochen und «sieben Raben» hätten den Ort des Geschehens mehrmals umkreist, bevor sie weiter geflogen seien.

Schätzungsweise gab es, zur Hauptsache zwischen 1450 und 1750, in Europa insgesamt rund drei Millionen Hexenprozesse, die Zahl der zum Tode Verurteilten und Hingerichteten belief sich auf 40‘000 bis 60‘000, drei Viertel davon waren Frauen, nicht selten schon 14- oder 15Jährige. Meistens wurden sie, wie Anna Kramer, so lange gefoltert, bis sie, um den unsäglichen Leiden ein Ende zu setzen, zugaben, eine «Hexe» bzw., wenn es sich um Männer handelte, ein «Hexerich» zu sein.

Eine wesentliche Ursache der Hexenverfolgungen findet man wohl bei den Zeitumständen, die von Krieg – vor allem dem Dreissigjährigen Krieg zwischen 1618 und 1648 –, extremen Unwettern, Hagelstürmen, Missernten, Inflation, Seuchen wie der Pest und apokalyptischen Zukunftsängsten geprägt waren. Nur zu schnell sind in solchen Zeiten Sündenböcke für jedes und alles ausgemacht. Oft genügten, wie auch im Falle von Anna Kramer, schon kleinste Gerüchte, die dann weitererzählt, immer mehr aufgebauscht und mit Legenden aus früheren Zeiten über sündiges Treiben von Hexen im Bunde mit dem Teufel vermischt wurden, sodass auf einmal ganz gewöhnliche Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung zu höchst gefährlichen, bedrohlichen und teuflischen Wesen wurden. Die «geistige» Grundlage für die Hexenprozesse bildete der im Jahre 1486 vom deutschen Theologen Heinrich Kramer verfasste und bis zum Ende des 17. Jahrhunderts in rund 30‘000 Exemplaren verbreitete «Hexenhammer», in dem Frauen als Wesen beschrieben wurden, welche von «sexueller Unersättlichkeit» und einem «Zauber» erfüllt seien, dem Männer meist leichtfertig «zum Opfer» fielen. Weiter beschrieb der «Hexenhammer» im Einzelnen, wie eine Angeklagte zu verhören und unter welchen Voraussetzungen welche Folterpraktiken anzuwenden seien. Eine der häufig angewandten Methoden bestand in der sogenannten «Wasserprobe»: Das Opfer wurde entkleidet, darauf kreuzweise gefesselt, sodass die rechte Hand an die grosse Zehe des linken Fusses und die linke Hand an die grosse Zehe des rechten Fusses so fest geknüpft war, dass es sich nicht rühren konnte. Daraufhin wurde das Opfer an einem Seil in einen Fluss oder Teich bis zu drei Mal hinabgelassen. Wenn es an der Oberfläche blieb – angeblich infolge der ihm vom Teufel verliehenen Leichtigkeit –, wurde es für eine Hexe gehalten, wenn nicht – was in aller Regel den Tod durch Ertrinken zur Folge hatte –, galt es als unschuldig.

Wo es Opfer gibt, da gibt es immer auch Profiteure. Was für die betroffenen Frauen ein Weg durch die Hölle war, verschaffte anderen – bezeichnenderweise ausschliesslich Männern – unverhofften Reichtum. «Eine ganze Schar von Rechtsgelehrten, Advokaten, Richtern und Räten», so Maria Mies in ihrem 1986 erschienenen und 2015 neu aufgelegten Buch «Patriarchat und Kapital», «kamen zu viel Geld. Sie waren durch ihre komplizierten und gelehrten Textinterpretationen in der Lage, die Prozesse so zu verlängern, dass die Kosten dafür stiegen. Es gab auch eine enge Beziehung zwischen den weltlichen Autoritäten, der Kirche, den Herrschern der kleinen Feudalstaaten und den Rechtsanwälten. Die Tatsache, dass die Hexenjagd eine so lukrative Geldquelle war, führte in gewissen Gebieten sogar zur Einrichtung besonderer Kommissionen, die die Aufgabe hatten, noch mehr Menschen als Hexen oder Zauberer zu denunzieren. Wenn die Angeklagten für schuldig befunden wurden, mussten sie und ihre Familien sämtliche Prozesskosten tragen, angefangen bei den Rechnungen für Speise und Alkohol für die Hexenkommission bis zu den Kosten des Holzes für den Scheiterhaufen. Eine weitere Geldquelle waren die Summen, welche reichere Familien den gelehrten Richtern und Anwälten bezahlten, um eines ihrer Mitglieder von der Verfolgung zu befreien, deshalb gab es unter den Hexen fast nur arme und nur selten reiche Frauen. Im Weiteren zogen auch die sich bekriegenden europäischen Fürsten, vor allem zur Zeit des Dreissigjährigen Kriegs zwischen 1618 und 1648, finanziellen Nutzen aus den Hexenverfolgungen, um ihre Kriege zu finanzieren. Gewisse Fürsten organisierten sogar gezielt Hexenjagden, um den Besitz ihrer Untertanen konfiszieren zu können.»

Entgegen der landläufig weit verbreiteten Meinung, Hexenverfolgungen seien vor allem durch die von traditioneller Frauenfeindlichkeit geprägte katholische Kirche vorangetrieben worden, waren die Hexenverfolgungen in protestantischen Gebieten mindestens so, wenn nicht sogar noch weiter verbreitet. Die meisten Hexenprozesse fanden in Deutschland statt, in ausschliesslich katholischen Ländern wie Spanien und Portugal gab es fast keine Fälle, viel weniger als etwa in der Schweiz. Männer, die als heldenhafte Erneuerer eines erstarrten kirchlichen Machtsystems in die Geschichte eingegangen sind, gehörten sogar zu den vehementesten Befürwortern der Hexenverfolgungen. So etwa der deutsche Reformator Martin Luther, der von der Möglichkeit eines Teufelspaktes überzeugt war und in einer Predigt am 6. Mai 1526 unter anderem folgende Äusserungen von sich gab: Es sei ein «überaus gerechtes Gesetz, Zauberinnen zu töten», denn sie «richten viel Schaden an», können «Kinder verzaubern», «geheimnisvolle Krankheiten» erzeugen und stünden oft «im Bunde mit dem Teufel». Auch der Genfer Reformator Johannes Calvin befürwortete die Verfolgung und Hinrichtung von Hexen, behauptete, Gott selber hätte die Todesstrafe für Hexen festgesetzt und war davon überzeugt, die Pest, von der Genf drei Jahre lang schwer befallen war, sei von «Zauberkünsten» ausgelöst worden, in der Folge kam es in Genf zwischen 1520 und 1660 zu insgesamt 65 Hexenverbrennungen. Auch in Zürich: Ein Jahr nach dem Amtsantritt des Reformators Huldrych Zwingli als Pfarrer am Grossmünster wurde im Jahre 1520 auch in der für die damaligen Verhältnisse als «modern» geltenden Stadt erstmals eine «Hexe» zum Tode verurteilt. Protestanten, welche sich offen gegen die Hexenverfolgungen ausgesprochen hätten, so der Zürcher «Kirchenbote» am 4. Oktober 2018, «muss man mit der Lupe suchen». Auch Anna Göldi, die «letzte Hexe Europas», wurde im Jahre 1782 in Glarus nicht von einem katholischen Gremium, sondern vom kantonalen Evangelischen Landrat zum Tode verurteilt. Und es war auch ein reformierter Pfarrer, nämlich Johannes Zollikofer aus dem appenzellischen Herisau, der Ende 17. Jahrhundert nach der Hinrichtung dreier Frauen in seiner Predigt die Frage aufwarf, ob man nicht vorsichtshalber auch die Kinder der drei Frauen hätte töten sollen.

Die Vermutung liegt nahe, dass die Hexenverfolgungen nicht nur oder vielleicht sogar nicht einmal in erster Linie eine Folge von Aberglauben und religiösem Fanatismus waren, sondern mindestens so sehr eine Folge der aufkommenden Neuzeit und damit auch der sich immer stärker durchsetzenden Prinzipien kapitalistischen Fortschrittsglaubens. Die Hexenverfolgungen fanden ja nicht im «dumpfen» Mittelalter statt, sondern in einer Zeit der «Aufklärung», der zunehmenden Bedeutung der Wissenschaften und bahnbrechender Erfindungen wie dem Buchdruck durch Johannes Gutenberg im Jahre 1450. Auch gab es offensichtlich Bezüge zwischen der mit Puritanismus und strenger Arbeitsmoral verbundenen Ausrichtung der Reformation, insbesondere des Calvinismus, und den Grundprinzipien des Kapitalismus. Bezeichnend ist auch, dass es innerhalb der orthodoxen Kirche Osteuropas praktisch keine Hexenverfolgungen gab, ausser in Russland, und dies erst im Zuge einer von Zar Peter vorangetriebenen und auf Zentraleuropa ausgerichteten «Modernisierung» nach kapitalistischem Muster. Schliesslich ist nicht zu übersehen, dass die Hexenprozesse grösstenteils nicht von kirchlichen, sondern von weltlichen Gerichten durchgeführt wurden und die weltlichen Gerichte meist viel schärfere Urteile fällten als die kirchlichen. In höchstem Grade kapitalistisch war auch die Praxis der weltlichen Gerichte, Zeugen für ihre Aussagen Geld zu geben – man kann sich vorstellen, wie viele Falschaussagen dies zur Folge hatte.  

Und damit sind wir bei Silvia Federici, Professorin für Philosophie und internationale feministische Studien sowie Autorin mehrerer Bücher zu den historischen Hintergründen der Hexenverfolgungen. Der Kapitalismus, so argumentiert Federici, konnte sich als Produktionsweise, welche die Industrie als Hauptquelle der Akkumulation etablierte, nur durchsetzen, wenn es gelingen würde, eine neue gesellschaftliche Disziplin zu schaffen, mit der die produktive Kapazität der Arbeitskraft massiv erhöht werden konnte. Das bedeutete, dass alles, was der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft Grenzen setzte, ausgetilgt werden musste, und damit eben auch die Macht der Frauen mit ihrem Bezug zu den Geheimnissen der Natur und ihrer Fähigkeit, ihren Lebensunterhalt aus eigenen, «nichtkapitalistischen» Kräften zu bestreiten, so wie Anna Kramer dies tat, indem sie sich nicht von ihrem Mann unterkriegen liess, nicht davor zurückschreckte, sich ihm selbst im öffentlichen Raum offen entgegenzustellen und, ausserhalb des Hauses und der ehelichen Gewalt, ihren eigenen, selbstbestimmten Weg zu gehen, also genau das zu verkörpern, was wir heute unter einer «emanzipierten» Frau verstehen.

«Die Rationalisierung der Welt», so Federici, «vollzog sich durch die Zerstörung der Hexe. Die unaussprechlichen Qualen, denen die angeklagten Frauen ausgesetzt waren, bildeten nichts anderes als eine Form von Exorzismus gegen ihre natürlichen Kräfte. Die Beschreibung der weiblichen Sexualität als etwas Teuflisches war für die Definition von Hexerei zentral. Denn aus der Sicht der neuen kapitalistischen Elite war die weibliche Sexualität eine eigenständige, mächtige wirtschaftliche Gegenkraft». Deshalb musste die weibliche Sexualität und alles, was an Eros, Lust und Anziehungskraft mit ihr verbunden war, verteufelt und bekämpft werden. Die weibliche Sexualität sollte fortan nur noch der Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse des Mannes und der Erzeugung eines möglichst reichlichen Nachschubs an Arbeitskräften dienen. «Jenseits der Ehe», so Federici, «stellte die weibliche Sexualität für die Kapitalisten nichts anderes dar als eine Bedrohung der Arbeiterdisziplin, eine unheimliche Macht über andere und ein Hindernis für die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Hierarchien und insgesamt der Klassengesellschaft. Die Hexenjagd als extremste Form dieser Gewalt war ein eigentliches Terrorregime gegen alle Frauen, für die es nun keinen anderen Weg mehr gab, als sich gehorsam und unterwürfig der männlichen Ordnung anzupassen. Die Hexe war die Kommunistin ihrer Zeit, die Hexenjagd das Mittel, mit dem die Frauen in Europa für ihre neue soziale Rolle im Dienste der kapitalistischen Gesellschaft erzogen wurden. Auf dem Scheiterhaufen wurden nicht nur die Körper dieser Frauen vernichtet, sondern auch eine ganze Welt sozialer Beziehungen und ein riesiger Wissensschatz über Kräuter, Magie oder Mittel zur Empfängnisverhütung, den Frauen im Laufe der Generationen von den Müttern zu den Töchtern weitergegeben hatten.»

Doch Frauen wurden nicht nur als Hexen beschuldigt, verfolgt, gefoltert und verbrannt, sondern auch auf vielerlei andere Weise unterjocht, gedemütigt und zu willfährigen Dienerinnen ihrer Männer erzogen. So etwa war in den meisten französischen Städten des 14. Jahrhunderts die Gruppenvergewaltigung proletarischer Frauen weit verbreitet. Oft brachen die Vergewaltiger in Gruppen von zwei bis fünfzehn Männern mitten in der Nacht in die Wohnungen ihrer Opfer ein oder schleppten die Frauen durch die Strasse, ohne jeglichen Versuch, sich zu verstecken oder ihre Identität zu verbergen. Unter den Tätern befanden sich oft junge Handwerksgesellen, bessergestellte Hausdiener oder Söhne wohlhabender Familien, die Opfer waren meist Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen. Einmal vergewaltigt, blieben sie meist lebenslang stigmatisiert und landeten oft in der Prostitution. Im 16. Jahrhundert wurden, insbesondere in Spanien und England, Prostituierte, die auf der Strasse arbeiteten, durch Verbannung, Prügelstrafe oder andere grausame Formen der Züchtigung bestraft, so etwa mittels des berüchtigten «Tauchstuhls»: Das Opfer wurde gefesselt, manchmal auch in einen Käfig gesperrt, und dann wiederholt in einen Fluss oder Teich getaucht, bis es beinahe ertrank. In Madrid war es Vagabundinnen und Prostituierten nicht erlaubt, auf der Strasse oder vor den Stadttoren zu schlafen. Wurden sie dort aufgefunden, gab es zur Strafe hundert Peitschenhiebe und die Verbannung aus der Stadt für sechs Jahre, ausserdem wurden ihre Kopfhaare und Augenbrauen geschoren. Die zunehmende Diskriminierung der Frau als «minderwertiges» Wesen nahm sogar – um nur ein Beispiel zu nennen – in England ein derart extremes Mass an, dass dort im 17. Jahrhundert Gesetze eingeführt wurden, wonach sich Frauen nicht alleine im öffentlichen Raum bewegen durften und solche, die man der «Zankhaftigkeit» beschuldigte, mit Maulkörben durch die Strassen geführt wurden.

Massiv veränderte sich auch der Zugang der Frauen zur Arbeitswelt. Waren sie im Mittelalter noch in zahlreichen handwerklichen Berufen tätig gewesen und hatten ihr eigenes Geld verdienen können, so wurde ihnen nun um aufkommenden kapitalistischen Zeitalter der Zugang zu einer wachsenden Zahl von Berufen verwehrt und sie dadurch immer weiter in die Abhängigkeit von ihren Ehemännern gebracht, es begann die bis in unsere Tage bestehende zunehmende Feminisierung der Armut und die Reduktion der Frau auf nichtbezahlte Haus- und Familienarbeit.

Bürgenstock am 15. und 16. Juni 2024: Die „Friedenskonferenz“, die in Tat und Wahrheit eine Kriegskonferenz gewesen ist…

Schon ist sie wieder Geschichte, die Bürgenstock-„Friedenskonferenz“. Alle Gäste, Sicherheitsleute, Bedienstete, Journalistinnen und Journalisten wieder in alle Himmelsrichtungen auseinandergestoben, viele von ihnen bereits vor dem offiziellen Ende der Veranstaltung, mitsamt allen extra aus den USA angeflogenen Luxuslimousinen und den von der CIA hochgerüsteten Spezialhelikoptern zum Schutz der Sicherheit von Vizepräsidentin Kamala Harris, die Flugverbotszone wieder aufgehoben, die Absperrgitter entfernt, die Spazierwege rund um das Konferenzgelände wieder freigegeben, Dutzende von Bühnen und Hunderte von Scheinwerfern wieder abgebaut, die mit erlesensten Speisen vollbefrachteten Tische abgeräumt und tonnenweise Abfall entsorgt. Der Spuk ist vorbei, alles nimmt wieder seinen gewohnten Lauf…

Beim folgenden kritischen Rückblick nehme ich Bezug auf die Berichterstattung des schweizerischen „Tagesanzeigers“ vom 17. und 18. Juni, stellvertretend für viele andere westliche Medien, die den Anlass wohl in ähnlicher Weise kommentiert und beurteilt haben.

Am 17. Juni sind drei volle Zeitungsseiten der Bürgenstock-Konferenz gewidmet. Auf der Titelseite prangt das legendäre Gruppenbild, wohl das weltweit am meisten verbreitete Foto der Bürgenstock-Konferenz, auf dem die Vertreterinnen und Vertreter der 92 beteiligten Länder zu sehen sind, im Hintergrund die märchenhafte Landschaft im Herzen der Schweiz, dichtbewaldete Hügel, sanfte Gebirgszüge, darüber ein wolkenverhangener Himmel, im Vordergrund, halbkreisförmig angeordnet, Hunderte von Presseleuten, alle Kameras und Mikrofone auf die Prominentenbühne gerichtet, als stünde dort die weltbeste Rockband oder als handle es sich beim Ganzen um so etwas wie einen Gottesdienst, nur dass dort, wo normalerweise ein Altar oder ein anderes religiöses Symbol steht, jetzt jene Politprominenz versammelt ist, die sich in den folgenden Tagen unablässig als die „Welt“ bezeichnen wird. Was für ein Kontrast zwischen dieser Wohlfühloase in der innerschweizerischen Traumlandschaft und den Schlachtfeldern über 2000 Kilometer östlich davon, wo zur gleichen Zeit, während auf dem Bürgenstock getafelt und gesmalltalkt wurde, wieder ein paar Hundert ukrainische und russische Frauen und Männer getötet oder für den Rest ihres Lebens verstümmelt wurden. Müssten nicht eigentlich sie, die Hauptbetroffenen, auf dem Bürgenstock an den Konferenztischen sitzen und über Krieg oder Frieden verhandeln? Und müsste man nicht eigentlich ehrlicherweise statt dem Gruppenfoto mit der westlichen Politprominenz ein „Gruppenbild“ veröffentlichen, auf dem alle jene ukrainischen und russischen Männer und Frauen zu sehen wären, die jetzt gerade noch leben, aber vielleicht schon in wenigen Tagen oder Wochen tot sein werden?

Ich beneide die Mitarbeitenden der „Tagesanzeiger“-Redaktion ja nicht, welche die Aufgabe hatten, das Nullergebnis der Konferenz zu einem derart langen Artikel über drei Seiten hinweg aufzublasen. Wahrscheinlich wurde deshalb auch mehr als ein Viertel der zur Verfügung stehenden Fläche auf den Seiten zwei und drei für die Veröffentlichung eines weiteren Fotos verwendet, auf dem zwölf der standeshöchsten Vertreterinnen und Vertreter der insgesamt 92 beteiligten Nationen zu sehen sind. Was auffällt: Alle von ihnen, vom lettischen Präsidenten Edgars Rinkevics bis zu Hakan Fidan, dem Aussenminister der Türkei, vom griechischen Premier Kyriakos Mitsotakis und dem litauischen Präsidenten Gitanas Nauseda bis zu Vjosa Osmani, der Präsidentin Kosovos, strahlen übers ganze Gesicht. Was ist wohl der tiefere Grund dieser fröhlichen Überschwänglichkeit inmitten einer Konferenz, bei der es um nicht weniger geht als um Leben oder Tod? Vermutlich liegt er darin, dass sich die teilnehmenden Politiker und Politikerinnen durch das gemeinsame Wohlfühlerlebnis an einem so weit von aller Kriegsrealität abgehobenen Ort, durch das Aneinanderkuscheln, Händedrücken, sich liebevoll freundschaftlich Zulächeln und miteinander verbunden Fühlen, durch gemeinsames Essen und Trinken, stets im Bewusstsein, dass all die anderen genau gleich denken wie sie selber, sich sozusagen gegenseitig immunisieren gegenüber allen unangenehmen Tatsachen und irgendwelchen unbequemen Fragen, die dieses so angenehme gegenseitige Einvernehmen nur unnötig stören würden, vergleichbar mit Priestern, die mit dem Wohlgeruch von Weihrauch und Myrrhe all die bösen Geister zu vertreiben versuchen, die ihr religiös überhöhtes Selbstverständnis in Frage stellen könnten.

Viola Amherd, so lese ich, hätte eine positive Bilanz der Bürgenstock-Konferenz gezogen. Zum ersten Mal, so sagte sie, habe die Weltöffentlichkeit derart intensiv über einen Frieden in der Ukraine diskutiert. Was für eine Anmassung und was für eine Verlogenheit! Wenn zum ersten Mal ernsthaft über einen Frieden diskutiert wurde, dann war das nicht auf dem Bürgenstock im Juni 2024, sondern bereits viel früher, und zwar im März 2022, als durch die türkische Regierung vermittelte Gespräche zwischen einer russischen und einer ukrainischen Delegation beinahe zu einem Friedensvertrag geführt hätten, wenn dieser nicht von westlicher Seite, und insbesondere durch eine Intervention des britischen Premiers Boris Johnson, vereitelt worden wäre. Wie viele Hunderttausende Tote und Verletzte hätten mit diesem Friedensvertrag verhindert werden können! Aber freilich finden solche Fakten keinerlei Eingang in die auf dem Bürgenstock mit allen Mitteln zementierte westliche Sicht, die nicht den geringsten Spielraum offenlässt für irgendwelche ihr widersprechende Tatsachen. Und von wegen „ernsthaft“! Wenn etwas ernsthaft war, dann wohl eher die erwähnten Gespräche zwischen den direkt Betroffenen im März 2022, in kleinen Gruppen und über mehrere Wochen hinweg, aber wohl kaum die Mammutveranstaltung auf dem Bürgenstock, wo pro Votum maximal drei Minuten zur Verfügung standen, Essen und Trinken, Händeschütteln, Smalltalk und gegenseitiges Schulterklopfen den grössten Teil der Zeit in Anspruch nahmen und zahlreiche Delegationen bereits vor dem Abschluss der „Verhandlungen“ wieder abreisten.

„China fehlt. Indien fehlt. Brasilien fehlt. Saudiarabien fehlt. Mexiko ebenfalls. Südafrika auch.“ So der „Tagesanzeiger“. Aber mit keinem Wort wird die Frage aufgeworfen, weshalb sich diese Länder an der Konferenz nicht beteiligt haben. Meist wird einfach unterstellt, diese Länder hätten sich dem Druck Russlands gebeugt und deshalb nicht mitgemacht. Was für eine Arroganz westlicher Sichtweise! Als könnten die Regierungsmitglieder dieser Länder nicht selber denken und nicht aus eigenen, ganz vernünftigen Gründen zum Schluss gekommen sein, bei einer derartig einseitig aufgezogenen Propagandashow nicht mitzumachen.

„Das Papier ist deshalb so bemerkenswert, weil es ausdrücklich Russland die Verantwortung für den Ukrainekonflikt zuweist“, so schreibt der „Tagesanzeiger“. Er hätte auch schreiben können, das Papier sei genau deshalb so „einseitig“ und verbaue gerade deshalb zum Vornherein jeglichen Zugang zu einer echten Friedenslösung. Es braucht schon ein schier unglaubliches Mass an Unverfrorenheit und Geschichtsblindheit, zu behaupten, Russland trage die alleinige Schuld an diesem Konflikt. Jeder auch nur bruchstückhaft informierte Zeitgenosse weiss heute, dass die NATO-Osterweiterung, die über Jahrzehnte von namhaften US-Politikern geforderte „Zerstückelung Russlands“, der Putsch auf dem Maidan 2014, die anhaltende Verfolgung und Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine sowie die Zurückweisung einer von Russland im Dezember 2021 vorgeschlagenen friedlichen Lösung des Konflikts durch die US-Regierung entscheidende Ursachen der heutigen Kriegssituation gewesen sind. Die absolut minimale Voraussetzung für eine echte Friedenslösung bestünde darin, von einseitigen Schuldzuweisungen wegzukommen und auch eigene Schwächen, Irrtümer und Fehlentscheide einzugestehen, um auf diese Weise gemeinsam, und nicht gegeneinander, grundlegend neue, zukunftsgerichtete Wege der Verständigung und der Konfliktlösung zu suchen.

Wie sehr die Bürgenstock-Konferenz eine einseitige Propagandashow war, bei der sich, man kann es nicht anders sagen, Viola Amherd und Ignazio Cassis von dem mit allen Wassern gewaschenen ukrainischen Präsidenten Selenski förmlich über den Tisch ziehen liessen, zeigt sich auch darin, dass Selenski auf dem Bürgenstock eine eigene Pressekonferenz abhielt. Auf dieser „geisselte er“, so der „Tagesanzeiger“, „auf Englisch und Ukrainisch Putins Attacken und warnte vor einer Eskalation des Kriegs, wenn Russland nicht gestoppt werde.“ Einmal mehr wurde das Schreckgespenst einer Eroberung ganz Europas durch Russland an die Wand gemalt, obwohl höchste NATO-Generäle wiederholt zum Schluss gelangt sind, dass es derzeit nicht die geringsten Anzeichen für einen geplanten russischen Angriff auf eines der NATO-Länder gäbe, und selbst der als Hardliner bekannte lettische Präsident Rinkevics einräumt, dass zurzeit „keine direkte militärische Bedrohung durch Russland“ zu erkennen sei. Im Gegensatz zu den Putin unterstellten Provokationen ist es zurzeit vielmehr die westliche Seite, die an allen Ecken und Enden unablässig provoziert: durch eine drohende – selbst von Angela Merkel noch 2008 als „fahrlässige Provokation Russlands“ vehement zurückgewiesene – Aufnahme der Ukraine in die NATO, durch die unlängst mit 90’000 Beteiligten in Nordeuropa durchgeführten grössten NATO-Manöver aller Zeiten, durch die massive Aufrüstung der meisten NATO-Staaten, obwohl deren Gesamtbudget jetzt schon das Zwanzigfache des russischen Militärbudgets beträgt, sowie nicht zuletzt durch die laufende Ausbürgerung Tausender russischsprachiger Bewohnerinnen und Bewohnern aus den baltischen Staaten, die sich weigern, die jeweilige Landessprache zu übernehmen. Doch, wen wunderts, war auf dem Bürgenstock weder vom einen noch vom andern auch nur ansatzweise etwas zu hören…

Wie sehr die Bürgenstock-Konferenz einmal mehr eine von Selenski inszenierte Einmann-Show war, geht auch aus dem Leitartikel von Christof Münger hervor, der unter dem Titel „Frischer Sauerstoff für die Solidarität mit der Ukraine“ Folgendes schreibt: „Der Gipfel wurde deshalb zum Erfolg, weil es nicht in erster Linie um Frieden ging, sondern um die Ukraine. Je länger ein Krieg dauert, desto mehr verschwimmen die Konturen der einfachen Fakten im Nebel des Kriegs aus Propaganda, Täuschung und Fehlinformationen. Selenskis Worte haben gewirkt: Russland sei der Aggressor, die Ukraine das Opfer, sekundierten auch US-Vizepräsidentin Kamala Harris und der französische Präsident Macron. So erhielt die etwas ermattete Solidarität mit der Ukraine in den Schweizer Alpen eine Zufuhr frischen Sauerstoffs, das eindrückliche Gruppenfoto mit den Köpfen aus 92 Ländern zeugt davon. Jetzt ist die Zeit reif, dass die Ukraine nicht nur 15 neue Panzer bekommt, sondern 150 oder noch besser 1500.“ Bedarf es hier noch irgendeines Kommentars? Wohl kaum…

Am folgenden Tag, dem 18. Juni, kippt die „Tagesanzeiger“-Berichterstattung dann vollends in die Welt der Groteske: Wieder ein Gruppenbild, fast den Drittel einer Zeitungsseite einnehmend. Diesmal sind drei hintereinander stehende Reihen von – bis auf zwei Ausnahmen – männlichen Konferenzteilnehmern zu sehen, alle in blauen oder schwarzen Anzügen. Und wieder scheinen die meisten bester Laune zu sein. Ganz besonders Viola Amherd, die, in der Mitte der vordersten Reihe stehend, ihren Kopf frech nach vorne reckt und ihren Blick über die links von ihr stehende Reihe schweifen lässt., wie der Kasperle, der zu Beginn der Vorstellung die Kinder fragt: „Seid ihr alle da? Juhui, dann kann es ja losgehen.“ Dazu die Bildunterschrift: „Der Moment, der bleibt: Viola Amherd während des Family-Fotos auf der Bürgenstock-Konferenz“. Und in fetten Lettern die Überschrift über dem Ganzen: „Sie war die, die den Kopf herausstreckte“. Im nebenstehenden Text erfahren wir dann noch, dass „dieses Bild das Potenzial zur Ikone hat“. Wenigstens das, wenn schon nichts Wesentlicheres, soll also in die Geschichtsbücher eingehen…

In die Geschichtsbücher, in denen, wenn es sie dannzumal überhaupt noch gibt, in 20 oder 50 Jahren zu lesen sein wird, dass am 15. und 16. Juni 2024 im Herzen der Schweiz eine sogenannte „Friedenskonferenz“ stattgefunden hätte, die sich allerdings im Nachhinein als „Kriegskonferenz“ entpuppt hätte, weil die eine Konfliktpartei sich erfolgreich dafür eingesetzt hatte, die andere Konfliktpartei gar nicht erst einzuladen. Dass nicht einmal das absolute Minimalziel, nämlich, Datum und Ort für eine Folgekonferenz unter Beteiligung beider Konfliktparteien zu vereinbaren, erreicht worden war und dass sich sogar später nicht einmal mehr irgendwer daran noch zu erinnern vermochte. Dass dabei, durch unbeirrtes, über Jahrzehnte aufgebautes Festhalten am Zerrbild eines „guten“ Westens und eines „bösen“ Ostens, die vielleicht letzte Chance verpasst und das vielleicht letzte rote Signal für wenigstens einen zaghaften kleinen Friedensversuch überfahren worden war, indem man sich standhaft geweigert hatte, auf einen Vorschlag des russischen Präsidenten zur Einfrierung des Ukrainekonflikts mit nachfolgenden Friedensverhandlungen einzugehen. Dass man unter gar keinen Umständen, und nicht einmal mit dem Ziel, Hunderttausende von Menschenleben zu retten, der Ukraine zumuten wollte, einen Fünftel ihres Territoriums preiszugeben, obwohl man genau das Gleiche 33 Jahre zuvor der Sowjetunion ohne geringstes Zögern und ohne jegliche Bedenken zugemutet hatte, indem sie nämlich ebenfalls einen Fünftel ihres früheren Territoriums aufgeben musste. In diesen zukünftigen Geschichtsbüchern wird dann auch nicht mehr von „Verteidigungsministern“ die Rede sein, sondern nur noch von „Kriegsministern“, und die schweizerische Bundespräsidentin Viola Amherd wird zweifellos als eine ihrer hervorstechendsten Vertreterinnen Erwähnung finden. Denn zwar hatte es niemand wirklich gewollt, aber auch hatte niemand tatsächlich ernsthaft etwas dagegen unternommen. Denn so wenig Krieg einfach „von selber“ geschieht, so wenig auch der Frieden. Man wird beklagen, dass es damals fast keine charismatischen Staatsführer und Staatsführerinnen mehr gab, keine wirklich zutiefst überzeugten Pazifistinnen und Pazifisten, keinen Mahatma Gandhi, keinen Nelson Mandela, keinen Martin Luther King, keinen Michail Gorbatschow – obwohl Persönlichkeiten von ihrem Format in diesen so gefährlichen Zeiten dringender nötig gewesen wären denn je. Und wenn es solche Persönlichkeiten dennoch gab, dann befanden sie sich schon längst nicht mehr an den Schaltheben der wirklichen Macht, von wo sie an allen Ecken und Enden von jenen Kriegstreiberinnen und Kriegstreibern verdrängt worden waren, die den Krieg so lange unbeirrt herbeiredeten, bis er tatsächlich geschah.

Es sei denn, das böse Spiel werde noch rechtzeitig durchschaut und immer mehr Menschen würden sich dafür entscheiden, es nicht mehr mitzumachen. Nie mehr für fremde Herren in den Krieg ziehen. Nie mehr sich mit verkrüppeltem, halbwegs zusammengeflicktem Körper ein zweites oder drittes Mal aufs Schlachtfeld schicken lassen. Nie mehr Bühnen bauen, auf denen sie selber nie stehen und immer nur die anderen reden und sich im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit sonnen werden. Nie mehr Essen kochen, das nur den Reichen und Mächtigen vorbehalten ist. Nie mehr mit hungrigem Magen auf jenen Böden, die früher ihrer eigenen Ernährung dienten, Nahrungsmittel anbauen müssen, mit denen multinationale Konzerne Milliardengewinne scheffeln. Bis nur noch ein winziges, erbärmliches Häufchen ewiggestriger Menschenhasser und Kriegstreiber übrig geblieben ist, das dann seine Machtkämpfe ganz alleine austragen darf, ohne Milliarden andere mit in den Abgrund zu reissen. Das wäre dann aber tatsächlich das Gruppenfoto des Jahrtausends, das selbst in einer noch so dicken Zeitung keinen Platz mehr fände, weil auf ihm Milliarden Menschen über alle Grenzen hinweg versammelt wären, die sich für das Leben und gegen den Tod entschieden haben. Denn, wie der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King so eindringlich sagte: “Entweder werden wir lernen, als Brüder und Schwestern miteinander zu überleben, oder aber wir werden als Narren miteinander untergehen.”

Kantersieg der AfD in den deutschen Europawahlen vom 9. Juni 2024 und die Hoffnungen von Jamie, Lucas und Anke…

Grosse Siegerin der Europawahl in Deutschland ist mit 17 Prozent der Wählerstimmen, auf Platz zwei nach CDU/CSU, die AfD. Insbesondere bei den Jungen – die erstmals schon ab 16 Jahren stimmberechtigt waren – hat sie höchst erfolgreich abgeschnitten: 16 Prozent der bis 24Jährigen, 11 Prozent mehr als 2019, gaben ihr ihre Stimme, während die Grünen in der gleichen Altersgruppe 23 Prozent Wählerstimmen verloren. „Das Kalkül der AfD“, so das schweizerische Nachrichtenmagazin SRF vom 10. Juni, „scheint aufgegangen zu sein. Das Kalkül, konsequent die sozialen Medien mit plakativen, populistischen Schnipseln zu bedienen. AfD-Videos werden auf Tiktok hunderttausendfach angeklickt, die Hälfte der reichweitenstärksten Persönlichkeiten sind AfD-Leute.“ Nicht einmal die ganze Serie von Skandalen, von welchen die Partei in jüngster Zeit erschüttert worden sei, hätten erstaunlicherweise, so SRF, eine erhebliche abschreckende Wirkung erzeugt: „Dass sich die AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah und Petr Bystron wegen Spionage, Betrug und Korruption verantworten müssen und von der Parteileitung praktisch versteckt werden mussten – geschenkt. Dass Bystron für seine Russland-PR Geld genommen haben soll – unwichtig. Dass Krah die Waffen-SS verharmlost – wurscht.“

Doch vielleicht sind es ja nicht nur die Tiktok-Videos, welche so viele deutsche Jugendliche dazu „verführt“ haben, die AfD zu wählen. „Wenn ich an früher denke“, so die 17jährige Jamie in einem Interview mit „20 Minuten“ vom 11. Juni, „wird mir bewusst, wie viel sich durch die Ampelkoalition verschlechtert hat. Wir versinken in einer Wirtschaftskrise. So wie jetzt kann es nicht weitergehen. Besonders kritisch sehe ich die Migrationspolitik. Viele Migranten bekommen mehr Geld als deutsche Rentner.“ Der 22jährige Lucas sagt: „Viele meiner Kollegen haben die AfD gewählt. Die CDU/CSU oder die SPD sind Altparteien – wählt man die, geht es weiter wie bisher.“ Und auch für die 23jährige Anke ist die AfD jene Partei, die „genau die Themen anspricht, die mich bewegen: Unsere Eltern finden kaum noch eine Arbeit. Das deutsche Volk bekommt viel zu wenig Wertschätzung. Nur die AfD gibt mir Hoffnung für die Zukunft.“

Wirtschaftskrise. Migration. CDU, CSU und SPD als „Altparteien“. Arbeitslosigkeit. Fehlende Wertschätzung für die arbeitende Bevölkerung. Viel präziser kann man die heutigen Probleme nicht mehr beschreiben. Statt junge Menschen, die „rechtem“ oder gar „rechtsextremem“ Gedankengut folgen, zu verunglimpfen, zu verurteilen oder ihnen bloss naive Manipulierbarkeit zu unterstellen, täten wir wohl besser daran, ihre Sorgen und Ängste ernst zu nehmen, ihnen zuzuhören, von ihnen zu erfahren, wie sie sich eine schönere und bessere Zukunft vorstellen. Denn die allermeisten Jugendlichen sind wohl viel besser informiert, als wir Älteren meinen. Sie sind weit neugieriger, kommunikativer und gerechtigkeitsliebender als ein grosser Teil der älteren Generation, Seismographen, die noch feinfühliger vorausspüren, wohin sich die Gesellschaft bewegt. Sie haben noch ein ganzes langes Leben vor sich, nicht so wie all jene, die nichts anderes mehr im Kopf haben, als den Rest ihres Lebens im Stil von „Nach mir die Sintflut“ irgendwo auf einem Kreuzfahrtschiff, an einem fernen Meeresstrand oder auf einer Safari in Südafrika zu verprassen.

Das Grundübel ist nicht die AfD. Das Grundübel ist auch nicht eine „fehlgeleitete“ Jugend, die sich ausschliesslich in den sozialen Medien bewegt und jeglichen Kontakt zur Realität verloren hätte. Das eigentliche Grundübel ist der Kapitalismus. Ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das sich nicht am Wohl der Menschen orientiert, sondern am Wohl der unaufhörlichen Geldvermehrung in den Händen jener, die sowieso schon viel zu viel davon haben. Ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das unaufhörlich Arbeit in Kapital verwandelt, durch unendliche Profitgier die Lebensgrundlagen aller zukünftiger Generationen systematisch zerstört und das durch jahrhundertelange und bis in die Gegenwart andauernde Ausbeutung der Länder des Südens durch die Länder des Nordens sowie durch den gleichzeitig dadurch angeheizten Klimawandel auch die Hauptursache bildet für die Flucht einer immer weiter millionenfach wachsenden Zahl von Menschen aus den Zonen des sich immer weiter ausdehnenden Elends in die immer schneller schrumpfenden, noch verbliebenen Zonen des vermeintlichen Paradieses.

Männer und Frauen in Deutschland oder einem anderen europäischen Land, die keine ausreichend entlohnte Arbeit mehr finden und in Armut versinken. Jugendliche, die alle Hoffnung verloren haben und sich nur mit irgendwelchen künstlichen Aufputschmitteln noch einigermassen über Wasser halten. Krankenpflegerinnen, die sich ein Leben lang ihre Rücken kaputtarbeiten müssen und sich dennoch nicht einmal auf einen genussvollen Lebensabend freuen dürfen. Junge Männer aus Tunesien oder Marokko, welche die gefahrvolle Fahrt übers Mittelmeer knapp überlebt haben und nun irgendwo an einem deutschen oder französischen Bahnhof oder in einem Stadtpark fern ihrer Heimat anderen Menschen, die sich wiederum ihrer eigenen Heimat beraubt fühlen, zur Last fallen. Kinder und Jugendliche, die sich gegenseitig verprügeln. Nachbarinnen und Nachbarn, die sich Seite an Seite mit immer mehr Menschen aus anderen Ländern an viel zu dicht befahrenen und viel zu lauten Strassen mit immer mehr Verkehr in viel zu enge Wohnungen zwängen müssen. Von Gewalt oder Armut Vertriebene, fünfzehn Stunden am Tag auf einer Baustelle oder in einem Schlachthof sich Abrackernde, deren fast einziger Lohn darin besteht, von ihren Vorgesetzten von früh bis spät herumgehetzt und beschimpft zu werden. Alleinerziehende Mütter, die bloss für das nackte Überleben Tag und Nacht schuften muss, während ihre Kinder alleine vor dem Fernseher sitzen und mit allem Elend der Welt, ohne mit irgendwem darüber sprechen zu können, bombardiert werden. Sie alle und Abermillionen andere sind Opfer des gleichen weltweit herrschenden kapitalistischen Macht- und Ausbeutungssystem, das sich nur deshalb immer noch an der Macht zu halten vermag, weil die Lüge, dass all die leidenden, kaputtgearbeiteten, verzweifelten und aller Hoffnung beraubten Menschen an ihrem Elend selber schuld seien, immer noch nicht aufgedeckt ist. Sodass die Menschen, statt sich als Opfer des gleichen Systems zu erkennen und sich im gemeinsamen Kampf gegen dieses System zu solidarisieren, alles Üble und Böse bloss in jedem einzelnen anderen Menschen sehen, von dem sie gerade unmittelbar bedroht sind, der ihnen das Leben schwer macht, ihnen im Weg steht oder ihnen etwas vorenthält, worauf sie vermeintlich einen Anspruch haben.

„Was alle angeht“, sagte der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, „können nur alle lösen.“ Reine Symptombekämpfung bringt nichts. Es braucht so etwas wie eine neue Aufklärung. Die Erkenntnis, dass alles mit allem zusammenhängt. Und dass das „Böse“ nicht im einzelnen Menschen liegt, sondern in einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesamtsystem, welches es den Menschen verunmöglicht, so gut zu sein, wie sie von Natur aus eigentlich gedacht wären. Denn, wie der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi schon vor 250 Jahren so treffend sagte: „Der Mensch ist gut und will das Gute. Und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“

Es braucht die Aufklärung. Das Wissen, dass dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das uns allen das Leben so schwer macht und uns dazu bringt, uns gegenseitig zu hassen statt zu lieben, nicht eines Tages vom Himmel gefallen ist, sondern von Menschen aufgrund ganz bestimmter Interessen genau so aufgebaut wurde und deshalb auch jederzeit von Menschen wieder umgebaut, abgebaut und durch etwas radikal anderes ersetzt werden kann. Das wäre eigentlich gar nicht so schwierig, denn die Sehnsucht nach einer friedlichen Welt, in der alles unter alle gerecht verteilt ist, liegt im tiefsten Inneren jedes Menschen verborgen. Es wäre das Paradies auf Erden. Und es ist machbar. Würde es Wirklichkeit, dann würden auch Wut, Hass, Gewalt, künstlich aufgebaute Feindbilder und Kriegstreiberei für immer der Vergangenheit angehören.

Mehr denn je brauchen gerade in so schweren Zeiten wie der unseren insbesondere junge Menschen mit ihrem unermesslichen Potenzial an Lebenshunger, Kreativität, Phantasie und Sehnsucht nach Liebe und Gerechtigkeit glaubwürdige Visionen und den Glauben an eine Zukunft, die so ganz anderes aussehen würde als unsere Gegenwart. Doch die Gefahr ist gross, dass sich gerade die Hoffnung vieler, die jetzt aus jener Motivation, welche die 23jährige Anke als „Hoffnung für die Zukunft“ bezeichnet hat, ihre Stimme der AfD gegeben haben, schon sehr bald als Illusion erweisen und wie eine Seifenblase zerplatzen könnte. Denn natürlich ist die AfD nur ein vermeintlicher Hoffnungsträger und verdankt ihren Erfolg wiederum bloss der Tatsache, dass sich die „Altparteien“ schon längst von der Idee verabschiedet haben, eine von Grund auf „neue Welt“ zu bauen. Viel näher an der Hoffnung auf etwas echt Neues ist da schon das Bündnis Sahra Wagenknecht. Doch gerade Wagenknechts Position zur Migrationspolitik, welche Hardlinerpositionen anderer Parteien aufgreift, zeigt, dass auch diese Partei weit weg ist von einer radikalen Kapitalismuskritik, würde eine solche doch bedeuten, die Migrationsfrage in einen viel grösseren Zusammenhang zu stellen und demzufolge deren Grundursachen – Kolonialismus, Ausbeutung bis in die Gegenwart, Reichtum der Reichen auf Kosten der Armut der Armen, usw. – ins Zentrum zu stellen und demzufolge nicht reine Symptombekämpfung , etwa durch verschärfte Asylverfahren, sondern einen grundlegenden Systemwandel zu fordern, in dem kein Land ein anderes, kein Kontinent einen anderen wirtschaftlich ausbeuten darf.

Aber wahrscheinlich müssen wir noch ein paar Schritte weitergehen und eine grundlegende Überwindung der „Parteiendemokratie“ andenken. Eine solche ähnelt nämlich in fataler Weise dem kapitalistischen Konkurrenzprinzip: Jede Partei versucht mit ihrem Programm, in permanenter Konkurrenz und im Machtkampf gegen die anderen Parteien, möglichst viele Anhängerinnen und Anhänger bzw. „Konsumentinnen“ und „Konsumenten“ anzulocken. Wem dies am besten gelingt, hat das Spiel „gewonnen“, alle anderen haben es „verloren“. Dabei geht es zwangsläufig nicht in erster Linie um Inhalte, und schon gar nicht um solche, die unbequem sind, mit denen man anecken und mit denen man zu viele potenzielle Wählerinnen und Wähler vergraulen könnte. Somit erscheinen wertvolle, notwendige, aber im Moment noch nicht mehrheitsfähige Ideen und innovative Zukunftslösungen schon gar nicht erst auf dem Tapet – so wie es die 17jährige Jamie meinte, als sie sagte: „So wie jetzt kann es nicht weitergehen.“ Es geht eben immer so weiter, wenn nicht radikal Sand ins Getriebe kommt und sich nicht nur einzelne Rädchen, sondern die ganze Maschine in eine andere Richtung zu bewegen beginnt.

Meine beste Zeit als Politiker hatte ich in der siebenköpfigen Exekutive meiner Stadt. Nur selten gab es eine Abstimmung. In der Regel wurde so lange diskutiert, bis man sich einig war und im besten Falle ein jedes Mitglied einen eigenen Teil zur Lösung beitragen konnte. Oft gab es erstaunliche Überraschungen, zum Beispiel, wenn ein Ratsmitglied eine Idee einbrachte, die bei den anderen zunächst nur Kopfschütteln bewirkte. Dann aber begann der eigentliche Denkprozess, durch Fragen, Einwände, Kritik, Einbringen anderer Lösungen, bis man am Schluss oft dann ganz nahe wieder bei jener Lösung, nun aber im Konsens, angelangt war, die am Anfang nur Kopfschütteln ausgelöst hatte. Übrigens ein uraltes, vorkapitalistisches Demokratiemodell, das schon vor Jahrhunderten in den Dorfgemeinschaften Afrikas praktiziert wurde, in der Form des „Palavers“, das so lange dauerte, bis sich alle einig waren – Demokratie durch gegenseitiges Zuhören, durch Versuch und Irrtum, durch Vertiefung, durch Respekt gegenüber Andersdenkenden, durch gemeinsames sich Bemühen um die beste Lösung für alle.

Wie erbärmlich dagegen die Parteiendemokratie, die ich während meiner schlechtesten Zeit als Politiker erlebte: In einem 200köpfigen Parlament, wo man nur zusammenkam, um sich gegenseitig bereits bis ins Letzte vorbereitete Positionen um die Köpfe zu schlagen. Bevor der nächste Redner ans Pult trat, brach die gegnerische Partei schon in höhnendes Gelächter aus. Niemand hörte einem anderen zu, alle wussten schon von Anfang an, was richtig war und was falsch. Nicht wenige versteckten sich hinter einer Zeitung, hackten pausenlos auf ihrem Handy herum oder verliessen sogar den Saal, nur um nicht andere, ihnen widersprechende Meinungen anhören zu müssen. Null Neugierde, null Zuhören, null Respekt gegenüber Andersdenkenden, null echte Fortschritte, null Lernen. Fast wie im Krieg, wo sich jeder möglichst tief in die Erde eingräbt und der Gegner bloss der ist, den man zu zerstören versucht.

Die „Parteiendemokratie“ ist auch deshalb so fortschrittsfeindlich, weil sie davon ausgeht, dass die Mehrheit immer Recht hat. Dabei läge das grösste Potenzial für echten Fortschritt und gesellschaftliche Weiterentwicklung doch gerade in all jenen neuen, unkonventionellen, noch nie gedachten Ideen, die längst noch nicht mehrheitsfähig sind, aber die grosse Chance bieten, die Dinge ganz neu und anders zu sehen, als man sie bisher gesehen hatte. Auf diesem Weg einen entscheidenden Schritt vorwärtszukommen, würde aber auch bedeuten, die verhängnisvolle Spaltung in sogenannte „Profis“ und „Experten“ auf der einen Seite und das gewöhnliche „Volk“ auf der anderen Seite, das angeblich sowieso von allem nichts versteht, zu überwinden. Echte Demokratie ist entweder Basisdemokratie oder sonst gar nichts. Denn Jamie, Lucas und Anke haben nicht schlechtere Ideen und sind nicht weniger gescheit als all die sich selber gegenseitig hochgezüchteten und von der tatsächlichen Lebensrealität der meisten Menschen unendlich weit abgehobenen Kaste bestbezahlter und mehr oder weniger machtbesessener „Expertinnen“ und „Experten“, die trotz einem Riesenaufwand an Zeit und Geld bisher noch erschreckend wenig wirklich Brauchbares zustand gebracht haben.

Wenn Rechthaberei, Intoleranz, Feindbilder und gegenseitige Beschimpfungen in der heutigen Zeit immer krassere Formen annehmen, dann ist das auf den ersten Blick zwar höchst erschreckend und desillusionierend. Auf den zweiten Blick aber ist es nur ein Zeichen dafür, dass sich ein Zeitalter mehr und mehr seinem Ende entgegen neigt. Unter den zerfallenden Trümmern des Bisherigen wartet schon das Neue, voller Ungeduld. Vielleicht Jamie, Lucas und Anke. Und wahrscheinlich noch viele Millionen andere, die es kaum erwarten können…

Nach der Ablehnung der Prämienentlastungsinitiative: „SP zurück auf dem Boden der Realität“ – auf dem Boden welcher Realität?

Mit der Ablehnung der Prämienentlastungsinitiative, so lese ich im „Tagblatt“ vom 10. Juni, habe die SP „einen Wirkungstreffer kassiert“. Als „Wirkungstreffer“ bezeichnet man gemäss Wikipedia „insbesondere beim Boxen Schläge, deren Wirkung den Gegner körperlich und geistig sichtbar beeinträchtigen“. Ist es also den Gegnern der Prämienentlastungsinitiative bloss darum gegangen, der Linken eine vernichtende Niederlage zuzufügen? Fast scheint es so, wenn man jetzt überall die triumphierenden Kommentare der „Sieger“ vom vergangenen Wochenende sieht und hört.

Ein Sieg aber mit überaus bitterem Nachgeschmack. Denn „gesiegt“ haben vor allem all jene Gutverdienenden, für die eine Deckelung der Krankenkassenprämie auf zehn Prozent des Einkommens kaum einen Vorteil bringt, da sie sowieso einen viel kleineren Prozentsatz ihres Einkommens für die Prämie aufbringen müssen. Verloren haben dagegen all jene, die so wenig verdienen, dass sie bis zu 20 Prozent ihres Einkommens für die Prämie hinblättern müssen. Die Abstimmungsanalyse zeigt daher auch deutlich: Je höher das Einkommen, umso geringer die Zustimmung zur Initiative. So funktioniert eine „Demokratie“, die nicht auf Solidarität und Gemeinsinn gegründet ist, sondern auf purem Egoismus.

Einmal mehr ist die Rechnung jener, welche immer wieder Initiativen von grösster gesellschaftspolitischer Dringlichkeit mit allen Mitteln bodigen wollen, aufgegangen: Betrug die Zustimmung zur Initiative in den ersten Meinungsumfragen noch rund 60 Prozent, was ihre breite Akzeptanz bei der Bevölkerung bewies, so nahm sie darnach kontinuierlich ab, bloss weil von ihren Gegnern Angst geschürt wurde, man könnte die entstehenden Mehrkosten nicht bezahlen. Wenn man aber in Betracht zieht, dass diese Mehrkosten 18 Mal geringer gewesen wären als die Gesamtheit aller jährlichen, unversteuerten Erbschaften, dann wird deutlich, wie weit hergeholt diese Argumentation gewesen ist.

„SP zurück auf dem Boden der Realität“ – so lautet der Titel des erwähnten Artikels im W&O. Lieber wäre mir, die FDP und alle anderen, welche die Initiative erfolgreich gebodigt haben, würden endlich auf dem Boden der Realität ankommen. Auf jenem Boden der Realität nämlich, auf der sich, zusammen mit Abertausenden anderen, jene 20Jährige befindet, die mir just dieser Tage erzählte, sie könne sich nach ihrem schweren Autounfall die dringend nötige Rückenoperation nicht leisten, da sie, weil sie die Krankenkassenprämie nicht mehr hätte bezahlen können, auf eine schwarze Liste gesetzt worden sei und deshalb nur noch bei Notfallbehandlungen finanzielle Unterstützung bekomme. So wird sie wohl zeitlebens unter Schmerzen leiden und in ihrer beruflichen Tätigkeit stark eingeschränkt bleiben. Der „Wirkungstreffer“ hat voll ins Schwarze getroffen!

Sevim Dagdelen: Die NATO – eine Abrechnung mit dem Wertebündnis

75 Jahre nach ihrer Gründung scheint die NATO auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Eine blutige Spur sowie drei grosse Mythen ziehen sich durch die Geschichte des „Wertebündnisses“ von seiner Gründung bis in die Gegenwart. Die NATO setzt auf Eskalation, vom Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine über soziale Verwerfungen durch exzessives Hochrüsten bis zur Einkreisung Chinas. Mit ihrer expansiven Geopolitik treibt die NATO die Welt näher an den Rand eines dritten Weltkriegs als jemals zuvor. Es ist Zeit für eine Abrechnung. ISBN 978-3-86489-467-1.

Gut und Böse

Blumen. Bäume. Regenwürmer. Kolibris. Kinder. Sterne. Wind. Regen. Wasser. Kunstwerke. Musik. Die Liebe. Alles Wahre ist weder gut noch böse, es ist einfach. Braucht es überhaupt die Kategorien von „gut“ und „böse“ und was bewirken sie?

Ukraine-„Friedenskonferenz“ auf dem schweizerischen Bürgenstock: Die Tischordnung und das leibliche Wohl der Gäste als die wichtigsten Knackpunkte…

Der grösste Knackpunkt bei den Vorbereitungen zu der am 15. Juni beginnenden Ukraine-Friedenskonferenz auf dem schweizerischen Bürgenstock, so Protokollchef Terence Billeter, sei derzeit die Tischordnung beim gemeinsamen Abendessen der rund 70 Delegationen, so berichtete das „Tagblatt“ am 3. Juni 2024. Man wisse nämlich wahrscheinlich bis zuletzt nicht genau, welchen Rang die jeweiligen Vertreterinnen und Vertreter der teilnehmenden Staaten bekleiden würden, und genau dies sei eben massgebend für die Tischordnung. Das Menu hingegen stehe mittlerweile fest. Man habe sich für ein saisongerechtes Essen mit lokalen Zutaten entschieden, mit einem „Swiss Touch“. Das Dinner, so Billeter, sei für die Atmosphäre einer Konferenz „extrem wichtig“, denn es bilde für die Staats- und Regierungschefs die einmalige Chance, einmal „unter sich“ zu sein und sich „ungestört auszutauschen“. Die Stimmung sei dabei meistens „erstaunlich herzlich“. Und das sei wichtig. Denn wenn man sich über schlechtes Essen ärgern müsse, sei man „nicht fokussiert auf den Inhalt der Konferenz“. Deshalb habe er, Billeter, höchstpersönlich am Testessen teilgenommen, „eine der schönen Seiten des Jobs“, es sei „fein“ gewesen. Auch hätte man bereits anlässlich eines Rundgangs mit den Botschafterinnen und Botschaftern der Teilnehmerstaaten durch die Konferenzräume und Hotelanlagen des Resorts sämtliche Spezialwünsche der Gäste entgegengenommen – welche das seien, könne Billeter allerdings aus „Sicherheitsgründen“ nicht verraten. Nur eines könne er sagen: Auf keinen Fall dürfe es vorkommen, dass irgendwo eines der mitgebrachten Gepäckstücke verloren gehen würde, das würde die Stimmung zu stark beeinträchtigen.

Doch nicht nur um das Wohlbefinden der Gäste kümmert man sich akribisch, sondern auch um deren Sicherheit. US-Vizepräsidentin Kemala Harris, welche ihr Land an der Bürgenstockkonferenz vertreten wird, geniesst dabei ganz besondere Beachtung. Sie steht unter dem Schutz des Secret Service, dessen Agenten schon mehrere Tage vor dem Konferenzbeginn eine Delegation entsenden werden, um alles vorzubereiten. Unter anderem werden die Agenten Fluchtrouten und Zufluchtsgelegenheiten vorbereiten, die im Notfall zur Evakuation dienen. Das Essen für die amerikanische Aussenministerin wird eingeflogen, die Zubereitung weiterer Mahlzeiten, die nicht eingeflogen werden können, wird von amerikanischen Sicherheitsleuten überwacht werden, diese werden sie auch auftragen. Anreisen wird Kemala Harris in einer Spezialversion der Boeing 747, ausgerüstet mit speziellen Kommunikations- und Abwehrtechnologien. Sollte Harris mit Helikoptern in der Schweiz unterwegs sein, werden diese von einer Eliteeinheit der US-Marines eingeflogen. Dasselbe gilt für alle Motorfahrzeuge, welche die Vizepräsidentin transportieren. Dem Tross der Vizepräsidentin, welcher rund ein Dutzend Fahrzeuge zählt, fahren stets Pilotfahrzeuge und Motorräder lokaler Sicherheitskräfte voraus. Ihnen folgt eine Reihe von schwarzen SUVs mit Autonummern des „US Government“. Zwei der Autos sind jeweils identische schwarze Geländewagen des Typs Chevrolet Suburban mit dem Emblem der Vizepräsidentin, damit nicht klar ist, in welchem der zwei Wagen sie selbst sitzt. Zum Tross gehören auch Geländewagen mit Geheimdienstagenten der National Security Agency. Dieser führt eine Reihe von gesicherten Kommunikationskanälen und Störsendern, etwa für Handynetze, mit, um allfällige Versuche von Angriffen auf die Vizepräsidentin zu erkennen und zu verhindern. Auch ein bis zwei Ambulanzfahrzeuge fahren mit. Stets dabei ist auch ein Bus mit Journalisten, Fotografen und Kameraleuten, die über alle Amtshandlungen Bericht erstatten.

Gleichzeitig stehen ukrainische Soldatinnen und Soldaten schon seit über zwei Jahren in den Schützengräben an der Front, viele von ihnen, ohne jemals eine Pause gehabt zu haben, fern ihrer Liebsten, schlecht ausgerüstet und insbesondere über die Wintermonate extrem tiefen Temperaturen beinahe schutzlos ausgeliefert, nur knapp mit Lebensmitteln versorgt und der ständigen Angst vor dem nächsten Bombenhagel ausgesetzt, während ihre Angehörigen Tag und Nacht zittern müssen, ob sie den geliebten Bruder, die geliebte Schwester oder den geliebten Sohn jemals wieder in die Arme schliessen können. Schwerverletzte werden so schnell wie möglich zusammengeflickt und wieder an die Front geschickt, selbst nach der Amputation eines Körperteils. Junge Männer, die dem Kriegsdienst zu entfliehen versuchen, werden niedergeknüppelt und ins nächste Militärfahrzeug verfrachtet. Was für Gedanken würden ihnen allen wohl durch den Kopf gehen, wenn sie hören würden, dass der grösste Knackpunkt an einer internationalen Konferenz in der Schweiz, bei der es angeblich um Krieg und Frieden in der Ukraine gehe, die Tischordnung beim abendlichen Festessen sei? Man fühlt sich unwillkürlich an jene Zeiten erinnert, vor vielen hundert Jahren, als in sicherer Distanz zu den kämpfenden, niedergemetzelten und auf dem Schlachtfeld verblutenden Soldaten die prunkvoll beflaggten Zelte der Feldherren und ihrer Entourage aufgepflanzt waren, in denen auf mit schneeweissen Tüchern gedeckten Tischen die erlesensten Speisen angerichtet wurden, meist von ehemaligen Soldaten gekocht und serviert, die dermassen übel zugerichtet waren, dass man sie auf dem Schlachtfeld schlicht und einfach nicht mehr brauchen konnte. Nur dass sich die prassenden Herren und die verzweifelt um ihr Überleben Kämpfenden wenigstens noch einigermassen in Sichtweite befanden, während die nun schon bald auf dem Bürgenstock Tagenden auch nicht das Geringste vom Leiden, von den Schmerzen, von der Angst, von der Verzweiflung und von der Trauer der Überlebenden im Kriegsgebiet mitbekommen werden und auch nie Angst zu haben brauchen, jemals selber an die Front gehen zu müssen. Denn, wie Jean-Paul Sartre sagte: „Wenn die Reichen Krieg führen, dann sterben die Armen.“

Die zweifellos lächerlichste Rolle in dieser Tragödie spielt die Schweiz. Dieses Land, das weltweit dank einer Vielzahl von Spitzendiplomatinnen und Spitzendiplomaten über Jahrzehnte höchsten Weltruhm genoss und als neutrales Land in vielen Konflikten die letzte Hoffnung war für friedliche Lösungen, bei denen jeweils die Interessen beider Seiten angemessen berücksichtigt und miteinander in Einklang gebracht werden konnten. Auch im Ukrainekonflikt hätte die Schweiz in Anbetracht ihrer humanitären Tradition eine vielleicht sogar historisch einmalige Rolle übernehmen können. Aber nein, über Nacht wurde alles über Bord geworfen und die vielbewährte Neutralität einfach so, ohne dass sich das Volk jemals demokratisch dazu hätte äussern können, ausgehebelt. Nahezu euphorisch begrüsste Aussenminister Cassis schon gleich zu Beginn des Kriegs vor einer vieltausendköpfigen Menge auf dem Bundesplatz in Bern inmitten eines Meers ukrainischer Flaggen den auf einer Riesenleinwand erscheinenden ukrainischen Präsidenten Selenski herzlichst als „my Dear Friend“, während Putin schon von Anfang an, nicht nur von den meisten Spitzenpolitikern, sondern auch von den allermeisten Medien, als Inbegriff des Bösen in Szene gesetzt und die Vorgeschichte des Konflikts mit sämtlichen Verwicklungen, Machtinteressen und der Mitverantwortung von NATO und US-Imperialismus systematisch ausgeblendet wurden. Die prachtvolle Vase von Neutralität, Diplomatie und Friedensstiftung war in tausend Stücke zersplittert und fast alle klatschten eifrig mit.

Dennoch hätte, als Selenski am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos im Januar 2024 die Schweizer Verteidigungsministerin Viola Amherd mit der Idee einer in der Schweiz zur Durchführung gelangenden Ukraine-Friedenskonferenz überraschte, die Möglichkeit bestanden, dieses Ansinnen, bei dem es für Selenski von Anfang an einzig und allein um die Durchsetzung seiner bzw. der US- und NATO-Interessen und nicht um eine gemeinsame Lösung mit möglichen beiderseitigen Kompromissen ging, entweder zurückzuweisen oder aber an die Bedingung zu knüpfen, Russland als gleichberechtigten Verhandlungspartner einzubeziehen. Doch nichts dergleichen geschah. Offensichtlich gebauchpinselt nahm Viola Amherd Selenskis Charmeoffensive auf und zerbrach auch noch die letzten verbliebenen Scherben von Neutralität und Friedensstiftung in weitere tausend Stücke. Jetzt war die Schweiz endgültig vor den Karren der einen der beiden Konfliktparteien gespannt und das Gegenteil dessen war geschaffen, was die Vorbedingung für eine echte Friedenslösung sein müsste, in der nicht die eine Seite der anderen schon von Anfang die Lösung diktiert. Die Folge: Eine gespaltene Welt und eine Vertiefung und gefährliche Zuspitzung des Konflikts, Aufrüstung statt Abrüstung, gegenseitige Drohgebärden und Beschuldigungen anstelle des Versuchs, wenigstens zaghafte Schritte in Richtung einer gemeinsamen Konfliktlösung zu wagen. Und so ist nun halt notgedrungen auf dem Bürgenstock bereits im Vorfeld weit und breit nicht mehr die Rede davon, welche Voraussetzungen für eine konstruktive Friedenslösung am geeignetsten wären, sondern nur, welche Voraussetzungen nötig sind, damit sich die anwesenden Gäste möglichst wohl fühlen, sich nicht über schlechtes Essen oder verlorenes Gepäck ärgern müssen, in herzlicher Atmosphäre Smalltalk mit möglichst wenigen kontroversen Themen betrieben werden kann, und ja, vor allem, dass bei der Tischordnung keiner der Gäste in seiner Würde verletzt wird. Kostenpunkt dieser Selbstinszenierung: Rund 15 Millionen Franken.

Dabei wäre sogar in diesen Tagen noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, eine echte Friedenslösung in Griffweite gelegen. Doch Putins Vorschlag, den Konflikt „einzufrieren“ und Verhandlungen aufzunehmen, wurde vom Westen in Bausch und Bogen verworfen und als reiner Propagandatrick abgetan. Dabei wäre „Einfrieren“ in Anbetracht eines so gefährlichen Flächenbrands doch gar keine so schlechte Idee. Wenigstens hätte dann das sinnlose gegenseitige Morden endlich ein Ende gehabt und es hätte die Chance zu einer Denkpause möglich gemacht, um im besten Fall tatsächlich Verhandlungen aufzunehmen. Doch lieber betonen die westlichen Regierungen die „Kriegstüchtigkeit“ ihrer Länder, stecken noch mehr Geld in die Rüstung und halten blindlings am Ziel einer Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete fest, was sich, wenn überhaupt, nur durch eine derart massive Intensivierung der Kampfmassnahmen bis hin zum Einsatz von NATO-Truppen verschiedener Länder erreichen lassen würde, welche unweigerlich eine Reaktion Russlands zur Folge haben muss, deren schlimmstmögliches Ausmass bis hin zu einem dritten Weltkrieg man sich gar nicht vorzustellen wagt. Und dies alles aufgrund der einmal in die Welt gesetzten und seither nicht mehr hinterfragten Behauptung westlicher Regierungen, wonach die Ukraine für Putin nur der erste Schritt sei, und er, sollte er die Ukraine erobert haben, dann unweigerlich zur Eroberung weiterer europäischer Länder übergehen würde. Eine Vorstellung, die begreiflicherweise bei den betroffenen Bevölkerungen genug Angst auslöst, um damit jegliche Erhöhungen von Militärbudgets mehrheitsfähig und „demokratisch“ abzusichern – obwohl alles auf einer reinen Fiktion basiert, sagte doch, wie die „Berliner Zeitung“ am 31. März berichtete, NATO-Admiral Rob Bauer, immerhin Vorsitzender des NATO-Militärausschusses: „Es gibt keine Anzeichen, dass Russland eine Invasion in ein NATO-Land plant.“ Doch wer liest schon die „Berliner Zeitung“. Und in welcher anderen Zeitung wäre so etwas, was die alles beherrschende Fiktion augenblicklich entlarven würde, schon zu lesen…

Blenden wir ins Jahr 1999 zurück. Aufgrund anhaltender ethnischer Spannungen und Machtkämpfe in der serbischen Provinz Kosovo schalteten sich die USA und weitere NATO-Staaten in den Konflikt ein und ergriffen einseitig Partei für die antiserbische Befreiungsarmee UCK – nichts anderes als das, was Russland ab 2014 in Anbetracht der zunehmenden Spannungen zwischen der ukrainischen Staatsmacht und Autonomiebestrebungen der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine tat. Schliesslich erfolgte am 24. März 1999 der völkerrechtswidrige militärische Angriff der NATO auf die Bundesrepublik Jugoslawien – wiederum absolut vergleichbar mit dem ebenfalls völkerrechtswidrigen Angriff Russlands am 24. Februar 2022 auf die Ukraine. 78 Tage und Nächte lang bombardierte die NATO Ziele in Serbien, bis die jugoslawische Regierung in den Abzug ihrer Truppen aus dem Kosovo einwilligte, um eine weitere Zerstörung ihres Landes zu verhindern. Die ehemals serbische Provinz Kosovo erklärte sich sodann zur unabhängigen Republik und Jugoslawien hatte auf einen Schlag rund einen Zehntel seines Territoriums verloren – absolut vergleichbar damit, dass sich die Ostukraine zur unabhängigen Republik erklären würde und die Ukraine dadurch etwa einen Fünftel ihres Territoriums verlieren würde. Mit anderen Worten: Würde der Westen den Ukrainekonflikt mit dem gleichen Massstab messen, mit dem er den Kosovokonflikt 1999 gemessen hatte, dann müsste er einer Loslösung der Ostukraine ebenso zustimmen, wie er einer Loslösung Kosovos von Jugoslawien 1999 nicht nur zugestimmt, sondern diese sogar durch einen völkerrechtswidrigen Krieg erzwungen hatte. Doch Logik scheint nicht die besondere Stärke des westlichen Militärbündnisses zu sein. Diese besteht offensichtlich viel mehr darin, unter dem Deckmantel von „Demokratie“ und „Menschenrechten“ eine Politik der Expansion, der Aggression, des Machtstrebens, des Schürens von Feindbildern und des Spiels mit dem Feuer eines alles vernichtenden Weltkriegs zu betreiben und damit ausgerechnet all das zu tun, was man dem vermeintlich „bösen“ und „teuflischen“ Gegner in die Schuhe schiebt.

Und wie wenn mit dem Ende der humanitären Tradition und den Scherben zersplitterter Neutralität nicht schon genug Unheil angerichtet worden wäre, beschloss der Schweizer Ständerat vor wenigen Tagen eine Erhöhung des Militärbudgets bis 2030 um vier Milliarden Franken, ein Betrag, der ausgerechnet bei der Entwicklungshilfe für die am meisten unter Hunger und den Folgen des Klimawandels leidenden Länder des Südens eingespart werden soll. Aber selbst damit noch nicht genug: Am 5. Juni, zehn Tage vor dem Beginn der Bürgenstockkonferenz, wurde eine Militärübung ganz besonderer Art durchgeführt: Auf einem Autobahnabschnitt zwischen Payerne und Avenches, der zu diesem Zweck für einen ganzen Tag lang für den Autoverkehr gesperrt wurde und wo 860 Pfosten sowie unzählige Mittelleitplanken entfernt, schadhafte Stellen im Strassenbelag repariert und Teile des nahe gelegenen Militärflugplatzes auf die Autobahn hatten gezügelt werden müssen, landeten Schweizer Kampfjets des Typs F/A-18, eine Aktion, die in dieser Form letztmals vor 33 Jahren, unmittelbar am Ende des Kalten Kriegs, durchgeführt worden war. Die Luftwaffenshow wurde live vom Fernsehen übertragen, ohne jeglichen kritischen Kommentar. Und die Tageszeitungen übersprudelten sich am folgenden Tag gegenseitig mit seitenlangen Berichten und riesigen Schlagzeilen über das Ereignis, das offensichtlich ganz besonders auch dem Zweck diente, potentielle militärische Gegner der Schweiz zu beindrucken. „Ein Helikopter fliegt über die Autobahnstrecke“, schreibt der „Tagesanzeiger“ am 6. Juni, „kontrolliert, ob auch wirklich keine Gegenstände im Weg stehen. Und noch mal. Und nochmal. Bis – WRUUMMM!!!! – der erste Jet aus Osten angedüst kommt und über die Menge fliegt. Die Kameras klicken wie wild, die ersten Ellbögen werden ausgefahren, denn der spannende Teil kommt erst noch: Gleich landet die F/A-18 auf der Autobahn. Zehn Minuten später landet der zweite Kampfjet, dann der nächste und schliesslich der vierte. Den Hintergrund der Übung erklärt Christian Oppliger, stellvertretender Kommandant der Luftwaffe, damit, dass Russland mit dem militärischen Angriff auf die Ukraine die Grundlage für eine regelbasierte Friedensordnung in Europa zerstört, sich die Sicherheitslage insgesamt verschlechtert habe und ganz Europa nun seine Verteidigung hochfahre, darum müsse auch die Schweiz für den Ernstfall üben.“ Im gleichen Artikel des „Tagesanzeigers“ erfährt man auch, dass die Idee, Autobahnen als Landepisten für Kampfflugzeuge zu brauchen, ursprünglich von den Nazis gekommen sei: „Weil ihre Flugpisten im Zweiten Weltkrieg komplett zerstört worden waren, funktionierten sie Auto- zu Flugbahnen um. Mehrere Staaten, darunter die Schweiz, übernahmen diese Idee. Als in den 60er-Jahren ein flächendeckendes Autobahnnetz gebaut wurde, nahm die Armee direkt Einfluss auf die Planung. Deshalb verwendete man panzerfeste Beläge und sorgte für möglichst viele schnurgerade Abschnitte.“ Auch das „Tagblatt“ ist des Lobes voll und insbesondere von der Idee begeistert, dass die an der Übung beteiligten Armeeangehörigen für diese „einzigartige Mission“ eine Extra-Autobahnvignette als Badge bekommen hätten. Unter den geladenen Gästen auf der Ehrentribüne, so das „Tagblatt“, seien zahlreiche Verteidigungsattachés und hochrangige Offiziere von anderen Ländern gewesen, unter ihnen auch der US-amerikanische Colonel Gonzales, der für seine Begeisterung fast keine Worte gefunden hätte. „That’s insane“, schwärmte Gonzales, „everything in Switzerland is so small and tiny und you still land the jets on this small highway.“

Die immer weiter um sich greifende Kriegseuphorie macht auch nicht vor der kleinen Stadt Halt, in der ich wohne. Morgen Samstag wird im Rahmen eines Strassenfests, zu dem die ganze Bevölkerung eingeladen ist, unter anderem ein Piranha-Panzer zur Schau gestellt, um Jung und Alt einen Einblick in die „Wehrhaftigkeit“ unseres Landes zu vermitteln. Der Protest gegen diese Aktion aus Teilen der Bevölkerung, der sich in gut einem Dutzend Leserbriefen manifestierte, wurde schlicht und einfach ignoriert, die Organisatoren befanden es nicht einmal für nötig, offiziell dazu Stellung zu nehmen. Der Initiant der Aktion weigert sich bis heute, seinen Namen bekannt zu geben. Er möchte nicht ins Schussfeld der Diskussion geraten. Als einer jener, die bei jeder Gelegenheit von der Wehrhaftigkeit und Kriegstüchtigkeit unseres Landes schwärmen und von der Notwendigkeit, sich im Falle eines Krieges dem Feind mutig entgegenzustellen, bringt er selber nicht einmal den minimalen Mut auf, sich öffentlich zu seinem Ansinnen zu bekennen. Aber das scheint in so kriegsbegeisterten Zeiten wie der jetzigen ja auch gar nicht nötig zu sein, ist doch der Panzer offensichtlich in den Köpfen vieler Menschen schon fast so etwas Normales und Alltägliches wie das Kinderkarussell und der Zuckerwattenstand, die links und rechts von ihm für ein vergnügliches Fest für Gross und Klein sorgen werden.

Als Ali aus Afghanistan, seit einer Woche mein neuer Mitbewohner hier in der Schweiz, aus seiner Heimat fliehen musste, war sein zweiter Sohn noch nicht geboren. Als nun Alis Frau und die beiden Buben, nachdem sie eine Zeitlang im Iran Unterschlupf gefunden hatten, letzte Woche ebenfalls in der Schweiz eintrafen, sah Ali seinen inzwischen eineinhalbjährigen jüngeren Sohn zum ersten Mal. Wenn Ali vom Krieg in Afghanistan erzählt, von der Flucht vor den Taliban zusammen mit seinem Vater in einem Auto und sie so schnell fahren mussten, dass das Auto schliesslich an einer Felswand zerschellte und sie zu Fuss weiter in den Iran fliehen mussten, wo sein Vater wenig später, geschwächt durch all die Strapazen, im Alter von 55 Jahren verstarb, wenn er davon erzählt, wie viele gute Freunde und Verwandte er durch den Krieg verloren hat und wenn ihn dann immer wieder die Trauer darüber überkommt, dass er seine Mutter und seine drei Geschwister, die immer noch im Iran leben, vielleicht nie mehr sehen wird, dann wird mir so richtig bewusst, wie unendlich wertvoll Frieden ist und dass wir alles, aber auch alles Erdenklich daran setzen müssen, ihn nicht zu verlieren und ihn unter gar keinen Umständen einem unsichtbaren und anonymen Kriegsgott, der sich immer wieder in unser Denken einzumischen versucht, zu opfern. Er sei zu 100’000 Prozent Pazifist, sagt Ali, und er muss es wissen. Es ist zu befürchten, dass solche Stimmen, und sie wären die allerwichtigsten überhaupt, im zunehmenden Lärm der Kriegstrommeln unserer Tage kaum mehr zu hören sein werden. Offensichtlich unternimmt man lieber alles, um die bestehenden, kriegsschürenden Feindbilder am Leben zu erhalten und sich in erster Linie um das seelische und körperliche Wohl der Gäste auf einer „Friedenskonferenz“ fern aller Realität zu kümmern, statt ernsthaft über eine Welt nachzudenken, in der Waffen und Kriege für immer geächtet sind und nie mehr Menschen ohne Mitgefühl so viel Macht erringen können, dass sie nicht nur Millionen andere, Unschuldige, sondern in letzter Konsequenz auch sich selber dem Untergang zu weihen vermögen. „Sieger“, sagte Michail Gorbatschow, der letzte Präsident der Sowjetunion, „wird man nicht auf dem Schlachtfeld, sondern dadurch, dass man Frieden schafft.“

(Nachtrag am 11. Juni: „Wer in Obbürgen wohnt, das direkt unter dem Hotel liegt“, so „20 Minuten“ am 11. Juni, „muss sich bei jeder Rückkehr nach Hause ausweisen. Jeder Bürger und jede Bürgerin müssen sich bis Donnerstagmittag im Akkreditierungszentrum in der Sporthalle von Obbürgen melden und mit einem Ausweis eine Zugangskarte abholen. Ausgenommen sind lediglich Kinder unter 12 Jahren. Auch Autos müssen akkreditiert werden. Jedes Auto und jeder Lastwagen wird komplett durchleuchtet. Und auf dem nahen Heliport wird mit sogenannten Abrollstrassen, die aus Metallplatten bestehen, auf einer Wiese unterhalb des Bürgenstocks ein temporärer Flugplatz mit fünf Start- und Landepisten eingerichtet. Rund um den Bürgenstock wird zudem eine grossräumige Flugverbotszone eingerichtet. Diese gilt auch für die Drohnen, welche von Landwirten eingesetzt werden, die dringend ihre Wiesen mähen müssen und sie zuvor jeweils mit Drohnen abfliegen, um Rehkitze zu finden, die sich im Gras verstecken. Eine Ausnahmebewilligung für die Drohnen wurde von Bundesrätin Viola Amherd ausgeschlossen.“)

„Friedenskonferenz“ auf dem Bürgenstock: Die lächerlichste Rolle in der ganzen Tragödie spielt die Schweiz…

Bei den Vorbereitungen der Ukraine-Konferenz gehe es, so Protokollchef Billeter, darum, die vielen Spezialwünsche der Delegationen zu erfüllen, damit sich alle möglichst „wohlfühlen“ könnten. Für das Abendessen sei ein reichhaltiges Menu mit lokalen Spezialitäten geplant. Billeter sei beim Testessen dabei gewesen, „eine der schönen Seiten meines Jobs“, wie er meint.

Gleichzeitig stehen ukrainische Soldatinnen und Soldaten schon seit über zwei Jahren in den Schützengräben an der Front, fern ihrer Liebsten, nur knapp mit Lebensmitteln versorgt und der ständigen Angst vor dem nächsten Bombenhagel ausgesetzt. Schwerverletzte werden so schnell wie möglich zusammengeflickt und wieder an die Front geschickt. Junge Männer, die dem Kriegsdienst zu entfliehen versuchen, werden niedergeknüppelt und ins nächste Militärfahrzeug verfrachtet.

Es gehe bei der Ukraine-Konferenz um die Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten? Ginge es tatsächlich darum, müsste man den Krieg so schnell wie möglich beenden und die betroffene Bevölkerung in eine demokratisch abgestimmte zukünftige Friedenslösung einbeziehen. Das würde sogar weniger kosten als die 15 Millionen Franken, welche das Stelldichein der internationalen Politprominenz auf dem Bürgenstock verschlingt, und zudem all jenen, die unter den Folgen dieses Konflikts schon mehr als genug gelitten haben, jenes „Wohlbefinden“ verschaffen, das jetzt nur einigen wenigen sowieso schon im Übermass Privilegierten vorbehalten ist.

Im Alter von acht Jahren veröffentlichte ich meine erste kleine, selbergeschriebene Zeitung. Niemand hatte sie lektoriert. Und das war gut so.

Die kleine Zeitschrift, die ich im Alter von 8 Jahren zu schreiben begann und bis zum 16. Lebensjahr einmal pro Monat herausgab, hiess zunächst „Famo-Cini“ – keine Ahnung, wie ich auf diesen Namen gekommen war. Später benannte ich sie in „Ihr Lesekameraden“ um. Da ich die Hefte bis heute aufbewahrt habe und gelegentlich mal jemandem zeige, ist mir kürzlich aufgefallen, dass ich den Titel im Alter von neun Jahren korrekt schrieb: „Ihr Lesekameraden“. Aus irgendwelchen, mir unerfindlichen Gründen hiess sie dann aber etwa ein halbes Jahr später plötzlich „Ihr Lesekamerate“. Und ein paar weitere Monate später sogar: „Ihr Lessekameratte“ – nicht wie man erwarten könnte, hatte sich in diesem Zeitraum meine Rechtschreibung verbessert, im Gegenteil, sie hatte sich massiv verschlechtert, es waren immer mehr Fehler dazu gekommen.

Es brauchte fast ein weiteres halbes Jahr, bis meine Zeitschrift dann wieder korrekt „Ihr Lesekameraden“ hiess. Seither habe ich das Wort nie mehr „falsch“ geschrieben. Natürliche Lernprozesse brauchen Zeit, aber früher oder später setzt sich das Richtige durch, wie bei den kleinen Kindern, die im Alter von zwei oder drei Jahren ein Wort zuerst tausendmal „falsch“ sagen, bis es dann eines Tages plötzlich richtig ist. So entsteht die Perfektion nach und nach auf natürliche Weise. Die erste Ausgabe meiner Zeitung im Alter von acht Jahren war voller Fehler, in der letzten Ausgabe, die ich im Alter von 16 Jahren schrieb, findet sich kein einziger Fehler mehr. Learning by Doing. Lernen durch Versuch und Irrtum. Niemand hatte jemals meine kleine Zeitschrift lektoriert, im Gegenteil, die meisten Leserinnen und Leser fanden die Fehler geradezu amüsant. Auch heute noch, wenn ich die frühen Ausgaben meiner Zeitschrift lese, sind die „Fehler“ das Lustigste, das, worüber ich am meisten schmunzeln muss – das Salz in der Suppe, die sonst fad und eintönig wäre. Fehler sollte man möglichst lange machen dürfen und nicht so früh wie möglich auszumerzen versuchen. Und schon gar nicht bekämpfen. Und erst recht nicht Kinder dafür bestrafen, wenn sie Fehler machen. Denn, wie ein uraltes afrikanisches Sprichwort sagt: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“

Ich bin fast ganz sicher: Würden wir diese Geduld, diese Gelassenheit und die Zuversicht, dass es am Ende schon gut herauskommt, in genügendem Masse aufbringen, dann würde kein Erwachsener jemals auch nur noch einen einzigen Rechtschreibefehler machen, ebenso wenig, wie er auch beim Sprechen und in der mündlichen Kommunikation irgendwelche „Fehler“ macht, ganz einfach deshalb, weil er genug lange so viele Fehler wie nur möglich machen durfte, um dann eines Tages zur höchsten Perfektion zu gelangen.

Da würde selbst die 68Jährige noch ein Gewehr packen und an die Front gehen: Wenn Feindbilder auch noch den letzten Rest Verstand rauben…

Selbstverständlich ist jedes ukrainische Kind, das von einer russischen Bombe getötet wird, eines zu viel. Und selbstverständlich gibt es auch für alle anderen Formen von Gewalt, die im Verlaufe eines Krieges verübt werden, egal von welcher der Kriegsparteien, nicht die geringste Rechtfertigung, wie auch nicht für alle anderen Formen von Gewalt, die nicht nur zu Kriegszeiten verübt werden. Aber wenn man sich dann die Empörung westlicher Politiker und Medien über die von russischer Seite im Ukrainekrieg begangenen Gewalttaten vor Augen führt und dieses bis auf die äusserste Spitze getriebene Feindbild in Gestalt des russischen Präsidenten Putin, der nicht selten sogar mit Hitler oder gar mit dem Teufel verglichen wird, dann muss man sich schon fragen: Wo war denn diese Empörung, als US-Präsident Bush im März 2003 den Irak überfiel, aufgrund einer reinen Lügenpropaganda, mit welcher der Welt weisgemacht werden sollte, dass es im Interesse der gesamten Menschheit liege, diesem gefährlichen Diktator Saddam Hussein so schnell wie möglich ein Ende zu bereiten, und so ein Krieg in Gang gesetzt wurde, dem schliesslich über eine halbe Million Menschen zum Opfer fallen sollten. Wo ist die Empörung über das unbeschreibliche Leiden jener Tag für Tag zehntausend Kinder, die weltweit vor ihrem fünften Lebensjahr qualvoll sterben, weil sie nicht genug zu essen haben – als unmittelbare Folge eines Wirtschaftssystems, in dem die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo sich damit am meisten Geld verdienen lässt, was eigentlich bedeutet, dass man all die Nutzniesser dieses Geschäfts von den Rohstoff- und Nahrungsmittelkonzernen bis zu jedem einzelnen ihrer Aktionäre und Aktionärinnen mit gutem Recht ebenso an den Pranger stellen müsste wie irgendeinen diktatorischen Machthaber, der sich auf Kosten seines Volks masslos bereichert. Wo ist die Empörung über all jene Politiker und Ökonomen, die blindlings am kapitalistischen Wachstumswahn festhalten und dadurch unmittelbar verantwortlich sind für Klimawandel, Umweltzerstörung und die Vernichtung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen. Und wo ist die Empörung über all die unsägliche Gewalt, die täglich von Männern an Frauen verübt wird, mitten in den „freiesten“ und „demokratischsten“ Ländern der Welt.

Die Empörung, die uns von den Medien in Gestalt von hochgeschaukelten Prototypen wie Strack-Zimmermann, Röttgen, Kiesewetter, Roth, Baerbock, Gabriel, Hofreiter, Pistorius, Cameron, Stoltenberg und all ihren kleineren und grösseren Nachahmungstätern tagtäglich entgegengeschleudert wird, muss daher noch einen anderen Grund haben als bloss ihr ehrliches Mitfühlen mit dem Leiden anderer – sonst müsste sich, wie gesagt, ihre Empörung auch angesichts zahlreicher anderer, mindestens so schlimmer Verbrechen ebenso wutschnaubend manifestieren. Dieser andere Grund ist wohl unverkennbar ein gezieltes Schüren von Hass auf ein ganz bestimmtes und definierbares Feindbild, das sich in diesem Falle – in der Gestalt von Putin – mit einfachsten Mitteln der Propaganda zurechtzimmern lässt und leicht eine Massenwirkung erzeugen kann, indem nämlich die in den meisten Menschen schlummernde Tendenz, für alles Üble und Schlimme einen Hauptschuldigen zu suchen und sich selber, im Gegensatz zu einer Welt des „Bösen“, als Teil der Welt des „Guten“ zu fühlen, wirksam angefacht und vervielfacht werden kann. Weil das alleine aber noch nicht genügt und von zu vielen durchschaut werden könnte, wird dann kräftig nachgeholfen, indem man zum Beispiel Begriffe wie „Putler“ erfindet, auf den Titelseiten von Hochglanzmagazinen fratzenhaft entstellte Porträts dieses Inbegriffs alles Bösen erscheinen lässt und fast ausschliesslich nur solche Fakten, Aussagen oder Zitate weiterverbreitet, die dem gewünschten Feindbild dienen, alle anderen aber, die es in Frage stellen könnten, entweder verschweigt oder als „Lügen“ oder „Propaganda“ zu diffamieren versucht. Vielleicht ist es den „Feindbildschürern“ nicht einmal bewusst, was sie in letzter Konsequenz damit bewirken. Tatsache aber ist, wie es der Buchautor Thomas Pfitzer so treffend formuliert: „Der Aufbau von Feindbildern ist die wirksamste Methode zur Manipulation der Massen.“

Das höchst Gefährliche am Aufbau von Feindbildern ist, dass sie nach und nach den Verstand zu verdrängen oder gar auszulöschen drohen. Offenbar lösen sie in den tieferen Schichten der Psyche so urgewaltige Reaktionen aus, dass diese immer um einen Tick schneller sind als das vernünftige und logische Denken. Um es an ein paar konkreten Beispielen, die ich im Verlaufe der vergangenen zwei Jahre immer wieder erlebt habe, zu verdeutlichen: Jemand verglich Putin mit Hitler. Dann müsste man aber ehrlicherweise, so meine Gegenfrage, auch all jene US-Präsidenten, die für den Vietnamkrieg, für die verdeckten Militäroperationen und unterirdischen Folterzentren in Zentralamerika mit Zehntausenden Toten oder für den völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak verantwortlich waren, mit Hitler vergleichen. Noch nie hat jemand dieser Gegenfrage widersprochen, alle haben gesagt: Eigentlich hast du Recht. Schnell haben sie die Denkschlaufe wieder hingekriegt, wären alleine aber offensichtlich nicht darauf gekommen, so tief hatte das Feindbild Putin bereits von ihrem Denken Besitz ergriffen und alles andere ausgelöscht. Ähnliche Reaktionen zeigen sich jeweils bei der Gegenfrage, weshalb man denn konsequenterweise, analog zum Boykott einer russischen Opernsängerin am KKL Luzern, nicht anlässlich völkerrechtswidriger Kriege in früheren Jahren auch eine amerikanische Opernsängerin hätte boykottieren müssen, oder, wenn es um die Osterweiterung der NATO geht und ich die Frage stelle, wie wohl die USA reagieren würden, wenn sich Kanada oder Mexiko einem Militärbündnis mit Russland anschliessen würden. Immer ist die Reaktion: Ja, eigentlich hast du Recht, das habe ich mir noch gar nie überlegt. Ein weiteres Beispiel betrifft einen Zeitungsartikel über das Referat eines in Gaza gebürtigen und heute in der Schweiz lebenden Kinderarztes, den ich kürzlich für die Lokalzeitung geschrieben habe. In seinem Referat hatte er die Attacken der Hamas vom 7. Oktober 2023 mit klaren Worten verurteilt, was ich im betreffenden Artikel auch erwähnte, und zwar gleich an zwei Stellen. Allen Ernstes meldete sich ein Leser dieses Artikel bei mir und teilte mir sein Befremden darüber mit, dass sich der palästinensische Kinderarzt nicht eindeutig von den Hamasattacken distanziert hätte. Als ich ihm vorschlug, den Artikel noch einmal zu lesen, musste er feststellen, dass er die betreffende Stelle offensichtlich schlicht und einfach überlesen hatte, und dies sogar zwei Mal. Hat sich das Feindbild erst einmal festgesetzt, scheint es also sogar die Lese- und Aufnahmefähigkeit zu beeinträchtigen. Ein besonders krasses Beispiel war die Diskussion mit einer 68jährigen Bekannten, die auf meine vorsichtigen Relativierungen des Putin-Feindbildes dermassen enerviert reagierte, dass sie allen Ernstes beteuerte, eigenhändig zum Gewehr zu greifen und an die Front zu gehen, sollte sich Putin getrauen, auch nur einen Schritt in Richtung unserer Grenze zu wagen – Feindbild und Wut im tiefsten Inneren müssen so stark gewesen sein, dass sie ihr auch noch den letzten Rest Verstand geraubt hatten.

Und das hat schon eine ziemlich lange Vorgeschichte. Die Geschichte der „Russophobie“. Die Geschichte, dass alles, was aus dem Osten kommt, des Teufels ist. Als Ronald Reagan die Sowjetunion als das „Reich des Bösen“ zu bezeichnen pflegte, ging es vor allem noch um den Kommunismus – das Feindbild war perfekt. Schwieriger wurde es nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und damit dem Verschwinden dieses Feindbilds. Rasch musste ein neues Feindbild her. Vorübergehend sprang der sogenannte islamische Terrorismus in die Lücke. Doch mit dem Ukrainekrieg bot sich die Gelegenheit, das alte Russland-Feindbild neu aufzuwärmen. Nun ist es nicht mehr der „böse“ Kommunismus, sondern der „böse“ Putin – und die Welt ist wieder in Ordnung. Wie sehr dieser latente Rassismus gegenüber „östlichen“ Völkern immer noch wirksam ist, zeigt sich auch darin, wie – gerade auch in der Schweiz – mit Flüchtlingen umgegangen wird: Sind es, wie 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei oder 2022 in der Ukraine, Opfer des „bösen“ Ostens bzw. Russlands, werden sie mit weit offenen Armen empfangen, landesweit werden eifrigst Kleider und Lebensmittelpakete gesammelt. Sind es hingegen Opfer des eigenen kapitalistischen Macht- und Ausbeutungssystems wie etwa die Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, Afghanistan oder Nordafrika, dann schmilzt die Grosszügigkeit und Aufnahmebereitschaft schon schnell einmal gegen Null, und dies erst noch trotz einer ungleich viel grösseren Mitschuld an den Ursachen dieser Flüchtlingsbewegungen. Latenter Rassimus gegenüber denen „aus dem Osten“ zeigt sich auch besonders drastisch, wiederum nicht zuletzt in der Schweiz, im Umgang mit Migrantinnen und Migranten aus den Balkanländern, die gerne abfällig als „Jugos“ bezeichnet werden und bis heute – ganz im Gegensatz etwa zu den Expats aus den USA oder westeuropäischen Ländern – vielfach politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt sind. In noch schärferem Ausmass zeigt sich dieser latente Rassismus etwa auch im Verhalten gegenüber Sinti, Roma und anderen Völkern „aus dem Osten“. Unweigerlich erinnert man sich an den von Hitler geprägten Begriff der „Untermenschen“. Hitler hätte wohl seine helle Freude daran, dass wir sein Gedankengut auch heute noch, 90 Jahre später, nicht aus unseren Köpfen verloren haben…

Zurück zum Feindbild Putin. „Die Entbindung vom Nachdenken“, so die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, „ist der erste, gefährlichste Schritt in den Totalitarismus.“ Und im „Netzwerk der Friedenskooperative“ lesen wir: „Der Abbau von Feindbildern ist die unerlässliche Voraussetzung für Frieden. Denn Feindbilder haben die zentrale Funktion, Rüstung und Kriege zu rechtfertigen. Darüber hinaus stabilisieren sie Herrschaftssysteme, da sie von eigenen Problemen und Unzulänglichkeiten ablenken oder deren Ursachen dem vermeintlichen Feind in die Schuhe schieben. Indem der Feind als minderwertig oder gefährlich dargestellt wird, wird automatisch das Selbstbild erhöht. Die Feindbilder können zur Eskalation eines Konflikts führen bis hin zu einem Krieg.“

Es ist die alles entscheidende Frage über Leben oder Tod. Ob die Menschheit auf der Entwicklungsstufe von Rassismus und Feindbilddenken verharren und ihr eigenes Überleben aufs Spiel setzen will. Oder ob wir es schaffen, einen nächsten Entwicklungsschritt zu bewältigen, uns von Rassismus und Feindbilddenken zu befreien, unseren Verstand zu gebrauchen und damit den Weg zu öffnen hin zu einer Welt, in der nicht mehr das Gegeneinander dominiert, sondern das Miteinander, und in der dann in letzter Konsequenz auch alle Waffen und Armeen überflüssig geworden sein werden.