Archiv des Autors: Peter Sutter

Ein Königreich aus Holz

Meine Enkelkinder haben aus den simplen Holzbauklötzen, die noch aus dem letzten Jahrtausend stammen, ein wunderbares Königreich gebaut und dazu eine riesige Rahmengeschichte erfunden. Kein noch so ausgeklügeltes Techno-Spielgerät, kein noch so raffiniertes Lego-Set, nichts, womit sich die Spielzeugindustrie ihre goldenen Nasen verdient, hätte ihre Kreativität nur annähernd so wunderbar anregen können…

Gesellschaftliche Werte vermitteln im Klassenzimmer: Kinder lernen nicht vor allem aus dem, was man ihnen mit Worten zu vermitteln versucht, sondern aus dem, was ihnen vorgelebt wird

„Das moralische Klassenzimmer“ – so der Titel eines Artikels in der „NZZ am Sonntag“ vom 14. Januar 2024, in dem auf aktuelle Tendenzen hingewiesen wird, Kinder und Jugendliche in den Schulen von klein auf zu möglichst „politisch korrektem Verhalten“ zu erziehen, was unter anderem dazu führen könne, dass sich – je nach Umfrage – etwa ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler „ausgegrenzt“ und „benachteiligt“ fühlten, weil sie sozusagen eine „falsche Werthaltung“ an den Tag legten.

Diese Kritik ist, wenn sie oft auch weit übers Ziel hinausschiesst, im Grunde doch nicht gänzlich unberechtigt. Denn zu frühes Moralisieren im Klassenzimmer kann das Gegenteil der guten Absicht bewirken. Kinder lernen nicht vor allem aus dem, was man ihnen mit Worten zu vermitteln versucht, sondern aus dem, was man ihnen vorlebt. Statt über alle möglichen Themen vom Konsumverzicht über Rassismus bis zum Klimawandel zu debattieren, sollte sich die Schule vielmehr zum Ziel setzen, Kindern und Jugendlichen eine Umgebung voller Lebensfreude, Humor und gegenseitiger Wertschätzung zu bieten, in der sich ein jedes Kind geliebt und verstanden fühlt, ganz unabhängig von seiner „Werthaltung“, die sich ja in diesem Alter ohnehin noch in stetiger Entwicklung und Veränderung befindet. Denn geliebte, in ihrer individuellen Einzigartigkeit wahrgenommene Kinder werden in aller Regel zu Erwachsenen, die ihren Mitmenschen und ihrer ganzen Lebensumgebung den gleichen Respekt und die gleiche Sorgfalt entgegen bringen, welche sie selber als Kinder erfahren durften.

Leider bewirkt das traditionelle Schulsystem, in dem die Kinder bei ihrem Lernen stets miteinander verglichen und bewertet werden und viele von ihnen dadurch ihr ursprüngliches Selbstvertrauen verlieren, genau das Gegenteil jener Grundhaltung der Liebe, auf die alle Kinder das gleiche Recht haben. Deshalb müsste man eigentlich viel eher die Lehrkräfte, die Eltern und am besten auch das ganze Bildungssystem in die Schule schicken, den Kindern selber aber bei ihrem Lernen und bei der Entfaltung ihrer Persönlichkeit so viel Freiheit und Selbstbestimmung zugestehen als nur irgend möglich. Schon Johann Heinrich Pestalozzi warnte vor über 250 Jahren davor, im Umgang mit Kindern zu früh mit den „Wörtern“, diesen „gefährlichen Zeichen des Guten und des Bösen“, die geistige Entwicklung in eine bestimmte Richtung lenken zu wollen, obwohl die hierfür notwendige Lebenserfahrung des Kindes auf der Ebene des Erlebens und des Emotionalen noch gar nicht vorhanden sei.

Von der „Kriegspolitik“ zur „Friedenspolitik“: Glücklicherweise gibt es noch Menschen, die von einer anderen Welt träumen

In der Diskussionssendung „Arena“ des Schweizer Fernsehens SRF1 vom 12. Januar 2024 wurde schwerpunktmässig über die zukünftige schweizerische „Sicherheitspolitik“ diskutiert. Eingeladen war, nebst den Parteispitzen der Bundesratsparteien, auch Bundesrätin Viola Amherd, die Vorsteherin des VBS, des Bundesamts für „Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport“, die Chefin jenes Ministeriums also, das in den meisten Ländern als „Verteidigungsministerium“ bezeichnet wird. Dementsprechend ging es dann in der Diskussion fast ausschliesslich um Fragen militärpolitischer Natur: Ob der für die Schweizer Armee vorgesehene Prozentsatz der jährlichen Bundesausgaben für die Aufrechterhaltung der „Sicherheit“ in einer „schwieriger gewordenen Zeit“ immer noch genüge, ob es für die Gewährleistung der „Sicherheit“ vor allem eine möglichst grosse Anzahl von Panzern oder Kampfflugzeugen brauche oder doch eher mehr Investitionen in die „Cybersicherheit“, ob die Schweiz stärker als bisher mit der Nato zusammenarbeiten oder doch eher auf ihrem „neutralen“ Status beharren müsste, und so weiter…

Ich sehe die dem Erdboden gleichgemachten Wohnquartiere im Gazastreifen und die Menschen, die zwischen den Trümmern verzweifelt nach Verschütteten suchen. Ich höre die Schreie der Kinder, die, mangels Medikamenten, in palästinensischen Spitälern ohne Narkose operiert werden müssen. Und auch die verzweifelten und angstvollen Gesichter ukrainischer und russischer Soldaten in den Schützengräben der Ostukraine bei Temperaturen von bis zu minus 15 Grad gehen mir nicht aus dem Kopf. Von alledem war während der eineinhalb Stunden Arena-Diskussion in behaglicher Atmosphäre nicht annähernd etwas zu spüren.

Müsste man nicht endlich damit aufhören, über die „optimale“ Vorbereitung auf einen möglichen zukünftigen Krieg zu diskutieren, und sich stattdessen voll und ganz auf die Frage konzentrieren, wie Kriege als so ziemlich das Absurdeste, was Menschen sich gegenseitig antun können, für immer aus der Welt zu schaffen wären? Um „Sicherheit“ nicht mehr bloss als etwas zu verstehen, was sich ein einzelnes Land gegenüber anderen Ländern sichern bzw. sich leisten kann, sondern als etwas, was für alle gleichermassen und jederzeit Gültigkeit haben muss. Als etwas, was erst dann endgültig Wirklichkeit wäre, wenn es keinen einzigen Krieg mehr gäbe und niemand mehr vor irgendwem Angst haben müsste. Als etwas, was allen nur Vorteile brächte und niemandem einen Nachteil.

Was für eine wunderbare Chance böte sich damit doch gerade der Schweiz, diesem Mikrokosmos gelebter direkter Demokratie, eines ausgeklügelten föderalistischen Staatssystems, strikter Neutralität, friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Sprachen, so langer humanitärer Tradition und so vielfältiger Erfahrungen im Bereich von Mediation, Diplomatie, Völkerverständigung und Konfliktlösung durch Kompromisse. Es kann doch nicht sein, dass alle diese Errungenschaften ausgerechnet in einer Zeit, da sie dringender gefragt wären denn je, nach und nach unter den Tisch gewischt werden und sich die Schweiz immer stärker einem globalen Mainstream anzupassen beginnt, mit dem an allen Ecken und Enden auch noch die verrücktesten Feindbilder aufgebaut und noch die verrücktesten Argumente hergeholt werden, um militärische Aufrüstung und das Führen „guter“ Kriege zu rechtfertigen. Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt genug Negatives, was man der Schweiz vorwerfen könnte, ihre oft fragwürdige Rolle als globaler Finanzplatz zum Beispiel, ihren Anteil an kolonialer Ausbeutung bis in die Gegenwart, ihre oft menschenfeindliche Haltung gegenüber Ausländerinnen und Ausländern, die einerseits ökonomisch ausgebeutet, gleichzeitig aber in vielerlei Hinsicht diskriminiert werden, und noch vieles mehr. Aber das sollte uns nicht die Augen vor dem riesigen Potenzial verschliessen, mit dem die Schweiz eine noch viel aktivere und mutigere Rolle bei der internationalen Konfliktlösung und Friedensförderung spielen könnte, als sie dies bis anhin getan hat.

Kriege kann man nicht abschaffen, indem man sie, einfach gesagt, verbietet. Es geht vielmehr darum, weltweit so gute Voraussetzungen für die Lebensbedingungen der Menschen wie auch für das Zusammenleben von Völkern und Staaten zu schaffen, dass Kriege eines Tages sozusagen überflüssig werden und immer die schlechteste aller möglichen Alternativen wären. Und da ist an allen Ecken und Enden Handlungsbedarf. Es geht zum Beispiel um eine gerechte Verteilung der Ressourcen, um soziale Gerechtigkeit, um die Bekämpfung von Armut und Hunger, um den Kampf gegen Umweltzerstörung, Ressourcenverschleiss und Klimawandel, um die Förderung von Selbstbestimmung und Basisdemokratie und die Überwindung von ausbeuterischen, patriarchalen, rassistischen Machtstrukturen und imperialen Grossmachtphantasien, aber etwa auch um Völkerverständigung durch möglichst viele zwischenmenschliche Begegnungen und gemeinsame länderübergreifende Kulturprojekte sowie eine dringend notwendige Stärkung der UNO, die bei der Lösung von Konflikten zwischen Staaten oder Völkern eine viel aktivere und bestimmendere Rolle übernehmen müsste. Auch könnte sich die Schweiz für eine Wiederbelebung und für ein Wiedererstarken der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) einsetzen, eine Organisation, in der sich vor noch nicht allzu langer Zeit Schweizer Diplomaten und Diplomatinnen wie Thomas Greminger, Heidi Grau, Tim Guldimann, Peter Burkhard, Gerard Stoudmann und Heidi Tagliavini überaus erfolgreich engagiert haben. Auf allen diesen Gebieten könnte die Schweiz wertvolle Arbeit leisten. Denn so wie Kriege nicht eines Tages vom Himmel fallen, sondern oft über lange Zeit hinweg vorbereitet und vorangetrieben werden, so entsteht eben auch der Frieden nicht von selber, sondern setzt voraus, dass sich möglichst viele Menschen an möglichst vielen verschiedenen Orten auf vielfältigste Weise beharrlich dafür einsetzen. Ziehen politische Kräfte einseitig in Richtung von Krieg und dem Aufbau von Feindbildern, so müssen umso mehr andere politische Kräfte in die entgegengesetzte Richtung ziehen.

Dies ist dringend nötig. Denn zu vieles läuft heute in die falsche Richtung. Jüngstes Beispiel sind die polnische, die finnische, die schwedische und die Regierungen der baltischen Staaten, die ihren Bürgerinnen und Bürgern einzureden versuchen, Putin könnte ihre Länder schon bald im Visier haben, um seine Macht weiter nach Westen auszudehnen. Und dies, obwohl es hierfür keinen einzigen konkreten Anhaltspunkt gibt. Im Gegenteil. Wer sich nur ein wenig um Hintergrundinformationen bemüht, weiss, dass Putin im Dezember 2021 der US-Regierung einen Vorschlag unterbreitete, den Ukrainekonflikt friedlich beizulegen, ein Vorschlag, der allerdings von den USA zurückgewiesen wurde, aber deutlich zeigt, dass der militärische Angriff auf die Ukraine nicht Putins erste Option gewesen war. Man kann Feindbilder und Kriege eben auch herbeireden – die Geister, die man ruft -, was zugegebenermassen freilich nie nur für die eine oder andere Seite zutrifft, aber eine Gewaltspirale in Gang zu setzen droht, durch welche dann aus gegenseitigem Drohen und gegenseitiger Angst im schlimmsten Fall ein Krieg entstehen kann, den im Grunde eigentlich gar niemand wollte. Aber ebenso wie den Krieg kann man auch – durch den Abbau von Feindbildern – den Frieden „herbeireden“, und genau dies ist deshalb umso wichtiger.

Im Verlaufe der Arena-Diskussion erinnerte SVP-Präsident Marco Chiesa daran, dass die SP in ihrem Parteiprogramm immer noch die Abschaffung der Armee fordere – ein Anliegen, dem in der Volksabstimmung vom 26. November 1989 immerhin über 35 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer zustimmten. Chiesa bezeichnete die SP-Copräsidentin Mattea Meyer, bezugnehmend auf den Pazifismus der SP, als „Träumerin“. Was für ein Kompliment! In einer Welt voller Hass, Gewalt und Krieg gibt es nichts Wichtigeres als Menschen, die von einer Welt ohne Hass, Gewalt und Krieg träumen. Denn nur wenn man sich etwas anderes vorstellen kann, besteht die Chance, dass dieses andere auch tatsächlich eines Tages Wirklichkeit werden kann.

Ninja Warrior schon für Kinder ab fünf Jahren: Wie die Welt einmal mehr aus allen Fugen geraten ist

„Seit Juli 2020“, so wirbt der Privatsender RTL+ für eines seiner neuen Sendegefässe, „heisst es auch für die Kids: Ring frei für die Ninja Warriors! Jetzt können auch 10- bis 13Jährige beweisen, was sie draufhaben. Die hell erleuchtete Arena mit den stählernen Hindernissen und den frisch gefüllten Wasserbassins steht bereit. Das Spannende am Spiel ist, dass man live mitverfolgen kann, wie lange die Kraft der Kinder reicht. Aus ganz Deutschland können sich bewegungsfreudige Kinder für eine Teilnahme bewerben. Wer sein sportliches Können zeigen darf, kann sich auserwählt fühlen. Der zu absolvierende Parcours besteht aus anspruchsvollen Hindernissen zum Schwingen, Klettern, Klimmen und Springen. Dabei handelt es sich um die gleichen Aufbauten, die auch die Erwachsenen bezwingen müssen. Die zu überwindenden Hindernisse sind der Fünfsprung, die Ringrutsche, die Trapezstangen zum Schwingen und Ins-Netz-Springen, die schwebenden Tritte, der Radschwung mit Seil und eine 4,25 Meter hohe Wand mit Griffen. Zuletzt erklimmen die Kinder den acht Meter hohen Mount Midoriyama. Das Finale bestreiten die zwei Besten der Staffel, bis ein Sieger oder eine Siegerin feststeht, die hierfür mit einer Prämie von 5000 Euro belohnt wird.“

Auch in der Schweiz wird Ninja Warrior für Kinder immer populärer. Im Oktober 2022 wurde in Basel ein Ninja Kids Camp organisiert, an dem Kinder bereits ab fünf Jahren teilnehmen konnten. Und immer mehr Veranstalter bieten Trainingsmöglichkeiten schon für Kinder ab sechs Jahren an. Kinderarbeit ist zwar gesetzlich verboten, doch sobald es um Sport geht, scheinen der Phantasie, wie man schon aus den Jüngsten der Jungen auch noch das Letzte an körperlicher Höchstleistung herauspressen kann, offensichtlich kaum mehr irgendwelche Grenzen gesetzt zu sein. Wenn man die Kinder sich unter Aufbietung ihrer alleräussersten Kräfte von Ring zu Ring, von Stange zu Stange hangeln sieht, das Zaudern vor meterweiten Sprüngen und ihre schmerzverzerrten Gesichter, dann kann man sich wohl so manche andere „Kinderarbeit“ vorstellen, die weitaus weniger anstrengend und gefährlicher wäre. Und wenn man dann die Coaches und die Eltern sieht, die unten, auf dem sicheren Boden, ihre Kinder und Schützlinge anfeuern, bejubeln und beklatschen, dann fragt man sich schon unwillkürlich, wer sich denn hier auf Kosten von wem das grösste Vergnügen bereitet und ob diese Kinder aus eigenen Stücken ebenfalls jemals auf eine so verrückte Idee gekommen wären. Zumal hier das ursprüngliche kindliche Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung und die Bereitschaft, es allen recht zu machen und die in sie gesetzten Erwartungen nur ja nicht zu enttäuschen, auf geradezu schamlose Weise ausgenützt und missbraucht wird: Sie hätte keine Angst vor den Hindernissen gehabt, meint ein zehnjähriges Mädchen im Anschluss an einen von ihr erfolgreich absolvierten Durchgang. Auch keine Angst, die Kraft in den Armen und Beinen könnte nicht ausreichen, um die steilen Wände zu überwinden oder sich an den „Bienenwaben“ nicht mehr festklammern zu können. Auch keine Angst, zwischen den Kugeln, über die sie hinunterspringen musste, hinunterzufallen und sich die Beine zu verkeilen. Auch keine Angst davor, sich zu verletzen. Sie hätte einzig und allein nur davor Angst gehabt, sich an einem der Hindernisse nicht mehr in die Höhe zerren zu können, ins Wasserbecken zu fallen und damit ihre Eltern, ihren Coach und alle ihre Freundinnen und Freunde zu enttäuschen.

Was für eine verrückte Welt. Ich möchte nicht wissen, was diese „Arenen“ für Ninja-Warrior-Spektakel voller ausgeklügelter Hindernisse, künstlicher Berge und riesiger Schwimmbecken mit aufgeheiztem Wasser, das ganze Personal, die Trainingshallen, die Werbung und die ganze Ausrüstung wohl kosten mögen. Gleichzeitig werden aus Spargründen kaputte Geräte auf öffentlichen Kinderspielplätzen oft monatelang nicht ersetzt oder repariert, in den Schulen werden, ebenfalls aus Spargründen, Klassenlager, Exkursionen, Sportveranstaltungen oder Turnlektionen gestrichen, während an allen Ecken und Enden der Aufschrei ertönt, die heutigen Kinder würden sich zu wenig bewegen, sässen nur noch vor dem Computer, seien in immer grösserer Zahl von Fettleibigkeit betroffen, könnten keine Purzelbäume mehr schlagen und oft sogar im Alter von drei Jahren immer noch nicht selbständig eine Treppe hochsteigen. Aber egal, sie können ja dann wenigstens vor dem Fernseher sitzen und sich daran ergötzen, wie andere Kinder im Übermass all das bekommen und ihnen im Übermass all das zugemutet wird, was ihnen, den zuhause Gebliebenen, gleichzeitig in ebenso extremem Übermass verweigert und vorenthalten wird.

Das „Bündnis Sahra Wagenknecht“: Ein Hoffnungsschimmer, der leider schon bald wieder verglühen könnte

„Es ist ein bisschen auch ein historischer Tag“, sagte Sahra Wagenknecht am 8. Januar 2024 anlässlich der Gründung ihrer neuen Partei, welche nun offiziell den Namen „Bündnis Sahra Wagenknecht – für Vernunft und Gerechtigkeit“ trägt. „Damit“, so Wagenknecht, „legen wir den Grundstein für eine Partei, die das Potenzial hat, das bundesdeutsche Parteienspektrum grundlegend zu verändern und vor allem die Politik in unserem Land grundsätzlich zu verändern“. 

Tönt ja eigentlich ganz gut. Doch schaut man sich das Ganze etwas genauer an, tauchen unweigerlich erhebliche Zweifel auf, ob das mit der „grundsätzlichen Veränderung“ deutscher Bundespolitik auch tatsächlich klappen könnte. Zu Recht spricht der „Deutschlandfunk“ von einem „vagen Parteiprogramm“. Tatsächlich steht da nichts wirklich Neues drin. Eher ist es ein Abklatsch bereits bestehender Parteiprogramme, aus denen das herausgepickt wurde, was zurzeit gerade möglichst viele Stimmen potenzieller Wählerinnen und Wähler mobilisieren könnte. So etwa könnte die Forderung nach „sozialer Gerechtigkeit“ auch im Programm der Linken oder der SPD stehen. Die Forderung nach einer Zuwanderungspolitik, welche „auf eine Grössenordnung begrenzt bleiben muss, die unser Land und unsere Infrastrukturen nicht überfordert“, würde man, ähnlich lautend, auch im Programm der AfD finden. Die Forderung nach einer Energiepolitik, die „sich nicht allein auf erneuerbare Energiequellen beschränkt“, scheint fast wörtlich aus den Parteiprogrammen der CDU oder der FDP zu stammen. Und die Forderung nach einer Politik, die sich nicht bloss auf die „Interessen skurriler Minderheiten“ fokussiert, erinnert stark an die Brandreden von CSU-Chef Markus Söder. Am unkonventionellsten tönen noch die Passagen zum Thema Friedenspolitik, wo es unter anderem heisst, Konflikte seien grundsätzlich nicht durch „militärische Mittel zu lösen“, die Bundeswehr müsste sich auf die „direkte Landesverteidigung beschränken“ und „keine Auslandeinsätze leisten“, aber auch das geht nicht über das hinaus, was vor vielen Jahren bereits im Parteiprogramm der Grünen stand. Wohl nicht zu Unrecht bezeichnet die Politikwissenschaftlerin Andrea Römmerle Wagenknechts Parteiprogramm deshalb als „Blumenstrauss, der von links bis rechts reicht.“

Schade. Von einer neuen Partei, welche die Politik „grundsätzlich verändern“ möchte, hätte ich mehr erwartet. Vor allem zuallererst eine möglichst umfassende und unvoreingenommene Analyse des bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Eine solche Analyse, die sich über eine blosse Symptombekämpfung aktueller sozialer, gesellschaftlicher, ökonomischer und ökologischer Missstände und Fehlentwicklungen hinausbewegt hätte, wäre nämlich unweigerlich zum Schluss gekommen, dass letztlich der Kapitalismus mit seinen heiligen Dogmen der endlosen Profitmaximierung, der institutionalisierten Umverteilung allen Reichtums von der Arbeit zum Kapital, der systematischen Ausbeutung von Mensch und Natur zugunsten multinationaler Konzerngewinne und des irrwitzigen Glaubens an ein uneingeschränktes Wirtschaftswachstum die eigentliche Grundursache allen Übels ist. Und dass eine wirklich „neue Politik“ nur eine Politik sein kann, die sich auf die radikale Überwindung des Kapitalismus und den Aufbau eines von Grund auf neuen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ausrichten müsste, in dem nicht mehr die Profitinteressen der Reichen und Mächtigen an oberster Stelle stehen, sondern die elementaren Lebensbedürfnisse der Menschen und der Natur über alle Grenzen hinweg.

So wie der Kapitalismus ein globales Macht- und Ausbeutungssystem bildet, dem nationale Grenzen so ziemlich gleichgültig sind, genau so müsste auch eine neue politische Bewegung, die daran wirklich grundlegend etwas verändern möchte, ebenfalls global organisiert und vernetzt sein. Die Gründung einer nationalen politischen Partei – und in diesem Punkt unterscheidet sich das Bündnis Sahra Wagenknecht nicht grundsätzlich von allen anderen politischen Parteien Deutschlands – ist eigentlich schon ein Grundbekenntnis zum herrschenden kapitalistischen Machtsystem. Das zeigt sich nicht zuletzt auch dadurch, dass die Wagenknecht-Partei gleichzeitig „soziale Gerechtigkeit“ und eine restriktive Asylpolitik fordert, mit anderen Worten: soziale Gerechtigkeit in erster Linie für die deutsche Bevölkerung, nicht aber für all jene, die vom europäischen Wohlstandskuchen, der zu einem überwiegenden Teil aus der kolonialen und nachkolonialen Ausbeutung des globalen Südens gebacken wurde, ausgeschlossen sind. Das heisst nicht, dass eine politische Partei, die eine konsequente kapitalismuskritische Haltung verfolgen würde, die schrankenlose Aufnahme sämtlicher Asylsuchender propagieren müsste, aber sie müsste im Zusammenhang mit Asyl- und Migrationsfragen stets auf die globalen Zusammenhänge und Ursachen der Problematik hinweisen und in aller Beharrlichkeit auf eine Überwindung sämtlicher Ausbeutungsverhältnisse hinarbeiten, nicht nur im eigenen Land, sondern auch weltweit. Das schliesst nicht die Bildung einzelner nationaler politischer Parteien aus, aber diese machen, im Hinblick auf eine längerfristige Überwindung des Kapitalismus, nur dann Sinn, wenn sie gleichzeitig und parallel dazu in ein global agierendes Netz solidarischer Kräfte, Bewegungen, Parteien und Gruppierungen eingebunden sind. Denn, wie schon der schweizerische Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Es sieht ganz so aus, als hätte sich auch das Bündnis Sahra Wagenknecht – anstelle eines kohärenten, in sich schlüssigen und konsequenten Grundsatzprogramms – vor allem dem Ziel verschrieben, bei kommenden Wahlen möglichst viele Stimmen zu gewinnen, um eine möglichst „starke politische Kraft“ zu werden. Dies schafft man freilich am einfachsten dadurch, dass man sich an allen Ecken und Enden von links bis rechts möglichst viele Menschen abholt, die von den von ihnen bisher bevorzugten Parteien so sehr enttäuscht sind, dass sie alle ihre Hoffnungen noch so gerne auf eine neue, unverbrauchte politische Kraft setzen. Nur leider wird dadurch das gleiche Spiel bloss weitergehen. Denn auch ein Bündnis Sahra Wagenknecht wird – so lange das herrschende kapitalistische Macht- und Ausbeutungssystem nicht grundsätzlich überwunden wird – selbst die allerschönsten Versprechen nicht einhalten und auch die grössten Hoffnungen auf bessere Zeiten nicht erfüllen können und somit auch ihre eigenen neuen Wählerinnen und Wähler früher oder später masslos enttäuschen müssen.

Es sei denn, es gelänge Sahra Wagenknecht und ihrer Partei rechtzeitig, tatsächlich eine grundsätzlich „neue Politik“ zu kreieren, die nichts mehr zu tun hat mit jener „Scheindemokratie“, die zurzeit nur noch einer möglichst „legitimen“ Aufrechterhaltung der kapitalistischen Machtverhältnisse dient. Hierzu bedarf es auch einer radikal neuen Sprache und eines radikal neuen Denkens. Denn, wie schon Albert Einstein sagte: „Probleme lassen sich nie mit der gleichen Denkweise lösen, durch welche sie entstanden sind.“

Die Chance für eine wirkliche Zeitenwende sind vielleicht grösser, als uns dies zumeist bewusst ist. So haben bereits im Jahre 2020 – die Zahlen würden heute vermutlich noch um einiges höher liegen – im Rahmen einer Befragung durch die Kommunikationsagentur Edelman nur 12 Prozent der Deutschen die Aussage, das gegenwärtige „System“ arbeite für sie, bejaht. 55 Prozent der Befragten sagten, dass der Kapitalismus in seiner heutigen Form „mehr schadet als nützt.“ Damit lag Deutschland fast im globalen Mittel, welches bei 56 Prozent lag. 2024 soll, wie unlängst berichtet wurde, das Jahr sein, in dem es weltweit mehr demokratische Abstimmungen und Wahlen geben wird als je zuvor. Weshalb findet nicht endlich eine weltweite Abstimmung darüber statt, ob der Kapitalismus in seiner heutigen globalen Form weitergeführt werden soll oder nicht? Viel Aufklärungsarbeit müsste vermutlich noch geleistet werden, aber wenn das Bündnis Sahra Wagenknecht hierzu einen Beitrag leisten könnte, dann, aber nur dann, hätte sich die Gründung dieser neuen Partei mehr als gelohnt.

Blablabla

Während Papa und Opa wieder einmal heftig über den Nahostkonflikt diskutiert hatten und es beinahe zu einem Streit gekommen wäre, war Livia verstummt. Dann zeigte sie uns die Zeichnung, die sie in der Zwischenzeit gemacht hatte: „Schaut, während ihr Blablabla gemacht habt, habe ich das gemacht.“ Es war ein hübsches buntes Bild, mit Herzchen in verschiedenen Farben, in der Mitte ein lustiges Wort, das sie aus den Buchstaben, die sie schon kennt, zusammengebastelt hatte, vielleicht, aus ihrer Sprache übersetzt, das Wort für FRIEDEN. Ich war sprachlos.

Weshalb Europa keine Atombombe braucht und weshalb eine neue Denkweise gerade jetzt dringender nötig ist denn je

Im Hinblick darauf, dass Donald Trump im November zum US-Präsidenten gewählt werden und dann seine Drohung eines Austritts der USA aus der Nato wahr machen könnte, vertritt der deutsche Historiker Herfried Münkler die Ansicht, Europa brauche die Atombombe, um Russland von einer militärischen Expansion in Richtung Polen, Moldawien und die baltischen Staaten abzuhalten. Ähnlich haben sich Frankreichs ehemaliger Armeechef Jacques Lanxade, sein deutscher Kollege Klaus Naumann sowie eine Reihe von Sicherheitsexperten in Europa und in den USA geäussert. So berichtet die „NZZ am Sonntag“ vom 7. Januar 2024 unter dem Titel „Warum Europa eine Atombombe braucht“.

Doch es gäbe eine viel einfachere, vernünftigere, menschenfreundlichere und erst noch um ein Vielfaches billigere Lösung des Problems. Man müsste nämlich bloss die gegenseitige Angst voreinander durch gegenseitige gemeinsame Vertrauensbildung ersetzen. Statt sich gegenseitig zu bedrohen, müsste man, ganz einfach, nur miteinander reden. Man müsste nur erkennen, dass das Interesse eines gemeinsamen Wohlergehens unvergleichlich viel mehr Gewicht haben müsste als jede noch so wilde Spekulation in Bezug auf eine eigene militärische Übermacht.

Wenn man sich die immensen Fortschritte der Menschheit im Bereich der Wissenschaften, der Technik und der Medizin vor Augen führt, dann kann man sich nur wundern, weshalb wir ausgerechnet auf dem Gebiet zwischenstaatlicher Konfliktlösung immer noch in jahrhundertealten, tausendfach gescheiterten Denkmustern gefangen sind. „Man kann Probleme“, sagte Albert Einstein, „niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch welche sie entstanden sind.“

Europa rühmt sich so gerne seiner demokratisch-zivilisatorischen Vorreiterrolle. Wäre für Europa nicht spätestens jetzt die Zeit gekommen, auch in Bezug auf ein friedliches Zusammenleben aller Nationen eine mutige Vorreiterrolle einzunehmen? Damit so etwas Absurdes wie Kriege und  Atombomben für immer der Vergangenheit angehören.

Javier Milei: Notwendige Reformen oder Rückfall in die Barbarei?

Die „Sonntagszeitung“ schreibt am 7. Januar 2024, Javier Milei, der neu gewählte Präsident Argentiniens, habe insofern recht, als sein Land einen „radikalen Wandel“ brauche, hätte es doch „seit mehr als hundert Jahren über seine Verhältnisse gelebt“. Schuld daran seien vor allem die sozialdemokratisch ausgerichteten Peronisten, deren Politik stets darin bestanden habe, „alles, was mit Geld, Arbeit, Wohnen, Handel und Produktion zu tun hat, zu regeln, zu kontrollieren und zu beschneiden, sowie Export, Import, Kapitalausfuhren und Kündigungen von Arbeitsverträgen zu erschweren“.

Tatsache aber ist, dass es nicht so sehr die „bösen“ Peronisten gewesen sind. Denn die argentinischen Auslandsschulden nahmen immer dann am meisten zu, wenn eine Militärjunta an der Macht war. So stieg die Auslandsverschuldung unter Jorge Rafael Videla zwischen 1976 und 1983 von 7,9 auf 45 Milliarden Dollar – viele der im Ausland aufgenommenen Kredite flossen direkt an das Militär und die Polizei, für Waffen, Wasserwerfer und hochmoderne Folterlager. Gleichzeitig bereicherten sich die Eliten masslos. Allein im Jahre 1980 nahm die von argentinischen Staatsbürgern im Ausland deponierte Geldmenge um 6,7 Milliarden Dollar zu, was Larry Sjaastad, Professor an der University of Chicago, den „grössten Betrug des 20. Jahrhunderts“ nannte.

Seither ist Argentinien nie mehr aus der Schuldenfalle herausgekommen. Um die Zinsen für die von IWF und Weltbank gewährten Kredite abzuzahlen, müssen immer mehr neue Kredite aufgenommen werden, wodurch die Verschuldung stetig ansteigt und die Bevölkerung unter den von IWF und Weltbank geforderten Sparzielen wie „Steuerdisziplin“, „Haushaltstransparenz“, „Liquidierung öffentlicher Dienste“ und „Privatisierung nationaler Ressourcen und Industrien“ in immer grösserem Ausmass leidet. Nicht einmal nach dem Ende der Ära Videla wurde Argentinien, um die Chance für einen demokratischen Neubeginn zu ermöglichen, ein Schuldenerlass zugestanden – die US-Regierung bestand im Gegenteil darauf, dass Argentinien unter dem demokratisch gewählten Präsidenten Raúl Alfonsin sämtliche Schulden, welche die Junta angehäuft hatte, abzahlen müsse. In Argentinien, Ende des 19. Jahrhunderts noch das reichste Land der Welt, leben heute 40 Prozent der Bevölkerung in Armut.

Und so besteht wohl wenig Hoffnung, dass die von Milei angekündigte „Schocktherapie“ auch nur das Geringste zu einer besseren Zukunft Argentiniens beitragen wird. Umso weniger, als Milei sich bisher vor allem durch seine Verharmlosung der unter den Militärdiktaturen begangenen Verbrechen, durch seine Leugnung des von Menschen verursachten Klimawandels und durch seine ungebrochene Bewunderung für Julio Roca, der Ende des 19. Jahrhunderts in Pantagonien einen Völkermord an der indigenen Bevölkerung beging, hervorgetan hat.

Marcus Rediker: Das Sklavenschiff – eine Menschheitsgeschichte

Mehr als drei Jahrhunderte lang brachten Sklavenschiffe 14 Millionen Menschen von den Küsten Afrikas über den Atlantik in die Neue Welt. Rediker berichtet von den elenden Lebensbedingungen der Versklavten, die mit Hunger, Krankheit und einer furchtbaren Zukunft konfrontiert waren, von der extremen Gewalt, den Strafen und Folterungen und vom allgegenwärtigen Tod. Er rekonstruiert in erschütternden Details das Leben, den Tod und die Schrecken, die an Bord dieser „schwimmenden Kerker“ herrschten. ISBN 978-3-86241-499-4.

Wer hat, dem wird gegeben

Der schweizerische Bundesrat will bei den Witwen sparen – längerfristig rund eine Milliarde Franken pro Jahr. Für die Hinterbliebenen soll es künftig keine lebenslangen Renten mehr geben. Auch bereits laufende Renten sind nicht garantiert. Wer bei der Einführung der Reform weniger als 55 Jahre alt ist, muss damit rechnen, die bisherige Witwenrente zu verlieren. Der Bundesrat argumentiert, er passe damit die Regeln der „veränderten gesellschaftlichen Realität“ an. Für den Bundesrat selber scheint sich allerdings die „gesellschaftliche Realität“ nicht geändert zu haben: Angehörige von amtierenden oder zurückgetretenen Magistratspersonen, also von Bundesräten, Bundesrichterinnen oder Bundeskanzlern, erhalten weiterhin lebenslange Witwenrenten… (Tagesanzeiger, 4. Januar 2024)

Damit nicht genug. Fast gleichzeitig beschliesst der Bundesrat, dass die seinen Mitgliedern zur Verfügung stehenden allgemeinen Skiabonnemente zur kostenlosen Benützung sämtlicher Schweizer Skilifte, da sie neu nicht mehr von den Skiliftbetreibern gesponsert werden, ab jetzt durch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler – von denen sich eine immer grössere Zahl das Skifahren sowieso schon längst nicht mehr leisten können – berappt werden sollen. (20minuten, 30. Dezember 2023)