Die sogenannte Blindenkarte ermöglicht es blinden und sehbehinderten Menschen, in 30 Städten den öffentlichen Nahverkehr zu benützen. Seit 50 Jahren erhielten Betroffene jedes Jahr eine Marke für die Karte, welche ihnen den unkomplizierten Zugang zu Tram und Bus ermöglichte. Der ursprüngliche Gedanke hinter der Karte: Solange Billettautomaten nicht barrierefrei sind, sollen blinde und sehbehinderte Passagiere kostenlos den Nahverkehr benützen können. Damit ist nun Schluss. Wie der Verband des öffentlichen Verkehrs, Alliance Swisspass, bereits Anfang Jahr mitteilte, schafft er die Karte auf nächstes Jahr ab und begründet diesen Schritt damit, dass Betroffene heute andere Kanäle zur Verfügung hätten, kurzentschlossen ein Streckenbillett zu kaufen: „Dank Sprachunterstützung in Webshops und Apps, und dank der Möglichkeit, kostenlos telefonisch Tickets zu kaufen, oder auch dank dem automatischen Ticketing (zum Beispiel mit Easy Ride).“ Der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband SBV hat sich zusammen mit dem Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen und dem Dachverband der Behindertenorganisationen Inclusion Handicap mit einem Brief an Alliance Swisspass gewandt. Darin kritisieren sie die Abschaffung der Blindenkarte, weil viele Betroffene gar kein Smartphone besässen und der Billettbezug via App unvergleichlich viel aufwendiger und komplizierter sei, als einmal pro Jahr eine Marke in die Ausweiskarte zu kleben. (espresso, Radio SRF1, 26.9.23)
Archiv des Autors: Peter Sutter
Das Dreirad auf einem Stück Papier unter dem Weihnachtsbaum
Nein, sagt sie zu ihrem Kind, das schon wieder vor einem übervollen Gestell stehen geblieben ist und jetzt triumphierend eine Tüte Gummibärchen in der Hand hält. Leg das zurück. Aber die Wägelchen der anderen Leute sind doch auch randvoll und unseres ist immer noch fast leer, antwortet das Kind verständnislos. Ja, sagt die Mutter, aber die anderen, das sind nicht wir. Im Einkaufswagen liegen jetzt eine Tube Zahnpasta, ein Paket Spaghetti, zwei Tomaten, eine Gurke, eine Flasche Essig und die Wurst, die ihr eine gute Freundin, welche im Supermarkt arbeitet, soeben heimlich zugesteckt hat, da sie nur noch halb so viel kostet, weil ihr Ablaufdatum schon überschritten ist und sie sonst im Müll landen würde.
Der Blick in die anderen Einkaufswagen, wo all die Träume aufgetürmt sind, welche sie Tag für Tag zu verdrängen versucht, ist wie Feuer, das durch den ganzen Körper geht. Und ob sie will oder nicht: Immer und immer wieder ziehen die selben Bilder an ihrem inneren Auge vorüber. Das Dreirad, das sich ihr Kind für Weihnachten so sehnlichst wünschte, bis ihr nichts anderes einfiel, als es auf ein Stück Papier zu zeichnen, in Geschenkpapier einzuwickeln und es unter den winzigen Plastikweihnachtsbaum zu legen, den sie mit dem letzten Rest des Monatsgeldes gekauft hatte. Das ist ein Gutschein, erklärte sie dem enttäuschten Kind, den kannst du dann vielleicht in einem oder in zwei Jahren einlösen, wenn wir genug Geld haben werden, um ein richtiges Dreirad zu kaufen. Der Stapel mit den noch nicht bezahlten Rechnungen für das Bügeleisen, die Winterjacke und die Reparatur eines Wasserhahns, der nicht mehr funktionierte. Das Formular, mit dem sie eine Erhöhung des Sozialhilfebeitrags hätte beantragen wollen, das jetzt aber zerrissen auf dem kleinen Küchentisch liegt, weil auf einmal die Wut darüber, aller Voraussicht nach sowieso einmal mehr eine Absage zu erhalten, so viel stärker war als jegliche Vernunft. Die fast unerträglichen Schmerzen im Unterkiefer, die sie seit Wochen quälen und den letzten Rest an Lebensfreude verderben, seit sie weiss, dass sie wahrscheinlich schon alt und grau geworden sein würde, bis sie sich die dringend notwendige Zahnoperation auch nur im Entferntesten würde leisten können.
Jetzt stehen sie und ihr Kind in der Schlange vor der Kasse. Die Zahnpasta hat sie inzwischen wieder zurückgelegt, man kann sich die Zähne auch mit Wasser putzen. Die Dame vor ihr äugt sichtlich befremdet in ihren fast leeren Einkaufswagen, während sie selber eine Riesenmelone und fünf Tafeln Schokolade auf das Laufband legt. Gleich werden auch das Paket Spaghetti, die zwei Tomaten, die Gurke, die Flasche Essig und die abgelaufene Wurst auf dem Laufband liegen. Und bei jedem Handgriff, mit dem die Kassierin die Dinge über den Scanner zieht, wird hinter der unsichtbaren Mauer, welche den Profit und das Elend fein säuberlich voneinander trennt, auf dem Bildschirm in der Buchhaltungsabteilung des Supermarkts die Kurve des heutigen Umsatzes ein ganz klein wenig in die Höhe steigen, bis sie dann am Ende des Jahres aller Voraussicht nach einmal mehr einen neuen Rekordstand erreichen wird. Jedes Paket Spaghetti, jede Tomate, jede Gurke, jede Flasche Essig und jede noch so abgelaufene Wurst machen die Reichen noch ein bisschen reicher und die Schmerzen derer, die sich nicht einmal eine Zahnpasta geschweige denn ein kleines Dreirad zu Weihnachten leisten können, noch ein bisschen unerträglicher.
Die Frau an der Kasse würde ja noch so gerne einen Teil dessen, was sich jetzt im Einkaufskorb der vorangegangenen Kundin angesammelt hat, in die Einkaufstasche der alleinerziehenden Mutter legen, die gerade die paar letzten Münzen aus ihrem fast leeren Portemonnaie geklaubt hat. Doch das geht nicht. Die Mauer der sozialen Apartheid im reichsten Land der Welt ist unüberwindbar. Und nicht nur das. Wo immer es beginnt und wo immer es endet, all die unzähligen Ketten von den Fabriken, den Laufbändern im Supermarkt, den Tränen verzweifelter Mütter in der Nacht bis hinauf zu den Chefetagen multinationaler Konzerne und den mächtigsten Politikern, die dafür sorgen, dass alles so bleibt, wie es ist: Fast immer ist am Ende ganz oben ein Mann und fast immer ist am Ende ganz unten eine Frau. Noch weiter unten ist nur ein dreijähriger Bub, der jetzt gerade von einem Gummibärchen träumt und davon, dass sich ein auf Papier gezeichnetes Dreirad so wie in den Märchen, welche ihm seine Mutter jeden Abend vor dem Einschlafen erzählt, vielleicht doch noch eines Tages in ein richtiges schönes kleines Dreirad verwandeln könnte.
Als einziger Gast in einem kleinen Hotel auf dem Lande: Als wäre die Zeit stillgestanden
Im hessischen Biebesheim steht der Wirt eines kleinen Hotels hinter der Empfangstheke auf einem Hocker vor einem Gestell voller Ordner und scheint so intensiv etwas zu suchen, dass er nicht einmal bemerkt hat, dass soeben ein Gast angekommen ist. Und dann, durch eine halb geöffnete Tür zum Speisesaal, sehe ich auch schon den Grund: Dort sitzen, mitten im leeren Saal, zwei jüngere Männer in Anzug und Krawatte an einem Tisch voller Aktenberge, vermutlich Finanzprüfer oder etwas in der Art. Hat der Patron seine Buchhaltung nicht ordnungsgemäss geführt? Ist er verschuldet? Oder droht gar eine Betriebsschliessung?
Am nächsten Morgen geniesse ich den Kaffee, ganz alleine im sonst leeren, überraschend geräumigen Speisesaal. Ich bin offensichtlich der einzige Gast. Der Wirt und zwei Frauen mit Kopftuch bedienen mich. Ich bekomme einen Teller mit fünf Käsesorten, Aufschnitt, Wurst, Gurken und Oliven. Dazu Brötchen und ein Rührei. Wie kann sich das bloss rechnen? Der Speisesaal erinnert mich an ein potemkinsches Dorf, eine Theaterkulisse, eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten. Mehrere langgezogene Tische sind gedeckt, Teller, Gläser, bunte Papierservietten. Als wäre die Zeit stillgestanden. Als ginge jeden Augenblick die Türe auf und Dutzende von Gästen würden hereinströmen. Auf Gestellen an den Wänden stehen kunstvoll Geschirr, Zinnbecher, Figuren aus Ton und Gips. Dazwischen hängen Landschaftsbilder, gemalt in den kitschigsten Farben, und verschiedenfarbige Wimpel, vermutlich von Fussballmannschaften. Die Decke, mit Stuckaturen versehen, ist in ein dunkles Weinrot getaucht. Alles mit viel Liebe und Sorgfalt aufgebaut. Ja, es muss ganz augenscheinlich eine andere Zeit gegeben haben. Eine Zeit, da der Familienausflug höchstens bis zum nächsten Dorf oder zur nächsten Stadt ging. Eine Zeit, in der das Feierabendbier in der Stammkneipe noch das höchste der Gefühle war. Bevor alles plattgewalzt wurde.
Plattgewalzt durch eine Tourismusindustrie, die es geschafft hat, dass sich die Menschen seither millionenfach wie ferngesteuerte Mücken nur noch dorthin bewegen, wo ihnen das grösste Ferienvergnügen zum billigsten Preis vorgegaukelt wird. Plattgewalzt durch wachsende soziale Ungleichheit und eine zunehmend härtere Arbeitswelt, die ihren Opfern nur zwei Möglichkeiten lässt: Jenen, die es bezahlen können, Badeferien in Mallorca und den anderen, die sich nicht einmal mehr die Mahlzeit in einer Gaststube ihres eigenen Dorfes leisten können, am Ende nur das Sofa, eine Flasche Bier und mit einem romantischen Spielfilm die trügerische Flucht in die Scheinwelt ihrer Sehnsüchte.
Als wäre bei alledem nicht sowieso schon viel zu viel Lebensfreude verloren gegangen und zu viel Lebenswerk zerstört worden: Ich sehe immer noch den verzweifelten Blick des Wirtes auf seine Ordner. Und ich sehe immer noch durch die halbgeöffnete Tür die beiden Finanz- oder Steuerbeamten, die schon ganz ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch schnippen, weil sich der Wirt schon viel zu lange um seinen einzigen Gast gekümmert hat.
Die Kellnerin von Karlsruhe
Karlsruhe, Freitagabend, in einem Restaurant in der Innenstadt. Die junge Kellnerin eilt flink wie ein Wiesel von Tisch zu Tisch, kaum haben sich neue Gäste gesetzt, schon werden sie freundlichst bedient. Ist das Glas leer, schon steht sie da und fragt dich, ob du noch einen Wunsch hättest. Und ohne je ihr Lächeln, ihre unentwegte Sorge um das Wohl der Gäste zu verlieren. Doch auf einmal fällt mir auf: An einem der Tische stehend, hat ihre Hand an einer Metallstange Halt gesucht und sie hat ihren linken Fuss über den rechten gelegt, wohl um ihm eine kleine Pause zu gönnen. Knöchelschmerzen? Brennende Fusssohlen? Das wiederholt sie immer wieder und immer ist es der linke Fuss, das kann kein Zufall sein. Auch nicht, als sie sich kurz darauf mit der rechten Hand an den Rücken greift. Und wohl auch nicht, als sie wenig später ihren linken Oberschenkel reibt. Wie viele Stunden ist sie wohl schon auf den Beinen? Und wie viele Stunden werden es wohl noch sein? Wie viele Kilometer ist sie heute schon gelaufen, schwere Tablette durch die Gästereihen hindurch balancierend, und wie viele Kilometer werden es noch sein? Wie viele Male wird sie ihren linken Fuss noch über den rechten legen und mit ihren Händen die Schmerzen im Rücken und in den Beinen ein klein wenig zu lindern versuchen, bis sie sich dann irgendwann endlich einmal setzen darf? Doch schon eilt sie zum nächsten Tisch, auf der rechten Hand ein Tablett voller Gläser und Flaschen. Am Tisch daneben räumt sie ab und während sie auf dem linken Arm fünf leergegessene Teller im Gleichgewicht behält, nimmt sie mit der rechten Hand eine neue Bestellung auf. Und nichts von ihrem zauberhaften Lächeln hat sie verloren.
Bis zu sechs Stunden müssen Kellnerinnen und Kellner arbeiten, ohne Anspruch auf eine Pause. Ab einer Arbeitszeit von sechs Stunden gibt es eine Pause von 15 Minuten. Übersteigt die Arbeitszeit neun Stunden, gibt es eine Pause von 45 Minuten. Die maximale tägliche Arbeitszeit beträgt zehn Stunden. So steht es im deutschen Gastronomie-Arbeitsgesetz. Viele Angestellte leisten aber, freiwillig oder unfreiwillig, darüber hinaus weitere Überstunden und schuften nicht selten bis zu 14 Stunden pro Tag, oft noch mehr. Das komme den Beschäftigten sehr zugute, wird oft gesagt, viele würden „mit Freude“ länger arbeiten, so könnten sie den mehr als dürftigen Stundenlohn von 9,35 Euro ein wenig aufbessern und erst noch zusätzliches Trinkgeld verdienen. Wie zynisch: Würden sie pro Stunde drei Euro verdienen, dann würden sie wahrscheinlich ganz freiwillig und „mit Freude“ so lange arbeiten, bis sie tot umfallen würden. Arbeitsgesetze, so heisst es offiziell, seien dazu da, um vor Ausbeutung zu schützen. Man könnte es auch anders sagen: Arbeitsgesetze scheinen vor allem hierfür da zu sein, um Ausbeutung zu legitimieren und das Verrückte – weil es ja im Gesetzbuch steht – als normal erscheinen zu lassen.
Dabei gibt es kein einziges stichhaltiges Argument dafür, dass eine Kellnerin, die einen solchen Knochenjob leistet und am Ende solcher Arbeitstage vor lauter Schmerzen vielleicht nicht einmal mehr den wohlverdienten Schlaf in Ruhe geniessen kann, soviel weniger verdient als ihr Chef, der hinter der Theke Bier ausschenkt, oder ihr Arbeitgeber, der irgendwo in einem klimatisierten Büro eines Verwaltungsgebäudes den ganzen Tag lang vor dem Computer sitzt und sich nicht im Entferntesten vorstellen kann, wie sich brennende Fusssohlen oder Schmerzen im Rücken und in den Beinen nach sechs, neun oder 14 Stunden Knochenarbeit anfühlen. Oder die meisten der Gäste, die jetzt gerade in diesem Restaurant gemütlich und entspannt auf ihren Stühlen sitzen und sich exquisiteste Speisen und teuerste Weine auftragen lassen, die sich sie, die Kellnerin, selbst dann nicht leisten könnte, wenn sie zwanzig Stunden am Tag arbeiten und ihre Füsse, ihre Beine und ihren Rücken vor lauter Schmerzen nicht einmal mehr spüren würde. Nein, wäre die Welt gerecht, dann müsste die Kellnerin wohl um einiges mehr verdienen als ihr Chef, ihr Arbeitgeber und die meisten ihrer Gäste, die sich von ihr bedienen lassen und zwar tausend Blicke haben für ihre Handys, in die sie pausenlos hineinstarren, aber keinen einzigen Blick für die Schmerzen einer Kellnerin, die, immer noch lächelnd, das Leben ihrer Gäste so bedingungslos versüsst.
Dass dies alles an einem wunderschönen Spätsommerabend in Karlsruhe und an unzähligen anderen Orten möglich ist, ohne dass es nicht längst schon zu einem Generalstreik oder einer landesweiten Revolution gekommen ist, hat wahrscheinlich vor allem damit zu tun, dass sich die Menschen über eine viel zu lange Zeit an viel zu viele Absurditäten gewöhnt haben und es ihre Phantasie schon gar nicht mehr zulässt, sich eine Welt vorzustellen, in der alles ganz anders wäre.
175 Jahre schweizerische Bundesverfassung: Zum Feiern wohl noch zu früh
Am 12. September 2023 fanden in Bundesbern die Feierlichkeiten zum 175jährigen Bestehen der schweizerischen Bundesverfassung statt. Doch für einen derartig bedeutungsvollen Festakt, so schreibt der „Tagesanzeiger“, sei die „Unzufriedenheit am Ende erstaunlich gross gewesen“. Viele hätten sich an der Inszenierung der Feier gestört, vor allem an der „Verhunzung“ der Landeshymne durch den Kabarettisten Joachim Rittmeyer, gegen die sich wenigstens noch SVP-Nationalrat Thomas Aeschi als Einziger im Saal zur Wehr gesetzt habe, indem er „mit voller Brust“ dagegen angesungen habe, natürlich mit dem richtigen Text. Auch FDP-Ständerat Martin Schmid hätte dem Festakt vorgeworfen, „die Institutionen zu wenig ernst zu nehmen“. Auf besonderes Missfallen sei die Moderation durch die beiden Clowns Gilbert und Oleg gefallen sowie das Fehlen der traditionell von Claude Longchamps getragenen Fliege. Am Ende der Feier seien mehr oder weniger alle zerstritten gewesen.
Statt das 175jährige Bestehen der Bundesverfassung bloss zu feiern und sich anschliessend darüber zu streiten, ob die Feier nun angemessen gewesen war oder nicht, hätte man sich wohl besser die wichtigsten Artikel dieses Werks wieder einmal gründlich und selbstkritisch anschauen sollen. So heisst es zum Beispiel in Artikel 2, die Schweiz fördere die „gemeinsame Wohlfahrt“, sorge für eine möglichst „grosse Chancengleichheit“ und setze sich ein für die „dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen“. Artikel 6 besagt, dass jede Person „nach ihren Kräften“ zur Bewältigung der öffentlichen Aufgaben beizutragen habe. Artikel 41 fordert, dass „jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält, Erwerbsfähige ihren Lebensunterhalt durch Arbeit bestreiten können und Wohnungssuchende eine Wohnung zu tragbaren Bedingungen finden können.“ Und in Artikel 54 steht, der Bund setze sich für ein „friedliches Zusammenleben der Völker“ ein.
Wohlklingende Wunschvorstellungen, die allerdings von der heutigen Realität meilenweit entfernt sind. Von „gemeinsamer Wohlfahrt“ können die über eine Million in der Schweiz lebenden Menschen, die von Armut betroffen sind, nur träumen – in dem Land, das weltweit in Bezug auf die Unterschiede zwischen Arm und Reich nur noch von zwei Ländern übertroffen wird, nämlich Singapur und Namibia. „Chancengleichheit“ ist in Anbetracht der Tatsache, dass die Chance von Kindern akademisch gebildeter Eltern auf eine akademische Laufbahn siebenmal höher ist als jene von Kindern aus der Arbeiterschicht, ebenfalls eine reine Farce. Auch die „dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen“ ist unmöglich zu verwirklichen innerhalb einer immer noch und sogar je länger je mehr auf Profitmaximierung und Wachstum ausgerichteten Wirtschaft. Die Kopfprämie in der Krankenversicherung, wonach eine Kassierin im Supermarkt eine ebenso hohe Krankenkassenprämie zu bezahlen hat wie ein Stararchitekt, verstösst klar gegen die Forderung, jede Person solle zur Bewältigung öffentlicher Aufgaben einen „ihren Kräften entsprechenden Beitrag“ leisten. „Notwendige Pflege für alle“ wäre ja schön, aber Fakt ist, dass sich immer mehr Menschen nicht einmal mehr dringend nötige Zahnoperationen leisten können. „Den Lebensunterhalt durch eigene Arbeit bestreiten zu können“, müsste ebenfalls eine Selbstverständlichkeit sein, doch 130‘000 Menschen in der Schweiz verdienen trotz voller Erwerbstätigkeit so wenig, dass sie davon nicht leben können. „Eine Wohnung zu tragbaren Bedingungen“ war wohl in der DDR im Jahre 1980 die Regel, nicht aber in der Schweiz des Jahres 2023: Bezahlbare Wohnungen werden für immer mehr Menschen zur unerschwinglichen Mangelware. Und auch die Forderung, die Schweiz setze sich für ein „friedliches Zusammenleben der Völker“ ein, scheint an den heutigen politischen Machtträgern mehr oder weniger spurlos vorbeigegangen zu sein. Jedenfalls war von Aussenminister Ignazio Cassis bis jetzt noch nie zu hören, dass er sich mit Vehemenz für eine Friedenskonferenz zur Lösung des Ukrainekonflikts eingesetzt hätte. Wahrscheinlich hat auch er, der sich jüngst damit gebrüstet hat, keine Zeitungen mehr zu lesen, auch die schweizerische Bundesverfassung noch nie wirklich gründlich gelesen.
Zum Feiern scheint es tatsächlich noch etwas allzu früh gewesen zu sein. Da müssten den schönen Worten schon noch ein paar gute Taten folgen. Mit oder ohne Neuschreibung der Landeshymne. Mit oder ohne Clowns. Und mit oder ohne Fliege des berühmtesten Meinungsforschers des Landes. Was wohl jene, welche 1848 die schweizerische Bundesverfassung schrieben, gedacht hätten, wenn sie gewusst hätten, wie es 175 Jahre an diesem 12. September in den ehrwürdigen Hallen im Herzen einer der ältesten Demokratien der Welt zu- und hergehen würde?
Hunger in der Welt
Die zehn gegenwärtig am stärksten von Hunger betroffenen Länder sind Somalia, Jemen, Zentralafrikanische Republik. Tschad, Demokratische Republik Kongo, Madagaskar, Liberia, Haiti, Sierra Leone und Mosambik. Von diesen Ländern hat keines eine sozialistische Regierung. Der allergrösste Teil aller Menschen, die weltweit unter Hunger leiden, leben in kapitalistischen Ländern. Wir müssen uns bei der eigenen Nase nehmen, statt nur auf andere zu zeigen.
Wofür sich Kinder interessieren
Weder die Kinder in der Ukraine noch jene in Russland oder der Schweiz interessieren sich für die Schlachten und die Kriege ihrer Vorfahren. Sie interessieren sich nur dafür, ob die Erde auch noch in 20 oder 50 Jahren ein friedliches und lebenswertes Zuhause sein wird.
Das Wesen des Menschen
Nicht Hass, Zerstörerisches und Gewalttätiges zeichnen den Menschen aus, das sind nur Entgleisungen und Irrwege. Es sind die Lebensfreude, die Kinder, der Tanz, das Spiel, die Kunst, die Musik, die Feste, die Farben, die Liebe, welche das tiefste Wesen des Menschen ausmachen.
Freiheit
Freiheit ist ein schönes Wort. Aber echte Freiheit ohne soziale Gerechtigkeit gibt es nicht. Freiheit ohne Gerechtigkeit, das sind nichts anderes als Privilegien, welche sich eine Minderheit leisten kann auf Kosten einer Mehrheit, der sie versagt bleiben.
Kapitalismus und Kommunismus
Wir brauchen nicht den Kommunismus, um uns enteignen zu lassen. Der Kapitalismus macht das viel raffinierter und gründlicher.