Archiv des Autors: Peter Sutter

Rede Selenskis vor dem Schweizer Parlament: Ein Funken Hoffnung, der nicht erlöschen darf…

 

Erstaunlich massvoll war die Rede Wolodomir Selenskis ans Schweizer Parlament am 15. Juni 2023. Er hielt sich mit Vorwürfen an die Schweiz wegen ihrer neutralen Haltung zurück, sagte, jedes Land müsse „gemäss seiner eigenen Expertise“ helfen, und dankte der Schweiz sogar dafür, dass sie, die „liebe Schweiz“, in diesem Konflikt „nicht gleichgültig geblieben“ sei. Damit nicht genug: Er skizzierte sogar eine neue Rolle für die Schweiz. Diese solle einen „globalen Friedensgipfel“ durchführen, hier könne die Schweiz „ihre Kernkompetenz“ umsetzen.

Man könnte bei solchen Worten schon fast ein wenig aufatmen. Endlich ist nicht nur von Waffen die Rede, sondern sogar von einem „globalen Friedensgipfel“ – was könnte man sich angesichts so sinnlosen Blutvergiessens im täglich erbittert geführten Kampf um ein paar Quadratkilometer so genannt gegenseitig „befreiter“ Gebiete sehnlicher wünschen? Mit der Rolle, welche Selenski der Schweiz bei einer möglichen Friedenslösung zuschreibt, hat ausgerechnet die SVP, welche die Rede Selenskis boykottierte, im Nachhinein Recht bekommen, indem sie nämlich schon von Anfang an eine möglichst neutrale Haltung der Schweiz gefordert hatte, damit diese einen glaubwürdigen Beitrag zu einer friedlichen Lösung des Konflikts leisten könnte. Während sich am anderen Ende der Skala Balthasar Glättli, Präsident der Grünen, einen „schärferen Appell“ Selenskis gewünscht hätte und auch, dass Selenski „den Finger noch stärker in die Wunden “ hätte legen sollen. Verkehrte Welt: Die SVP, die man traditionell näher mit Militarismus und Kriegsrhetorik assoziiert, fordert Neutralität, um Frieden zu schaffen – während ausgerechnet die Grünen in totalem Widerspruch zu ihrer pazifistischen Tradition nach mehr Waffen und nach einem härteren militärischen Kurs schreien.

Mit seiner Rede hat Selenski für einmal einen Funken Hoffnung in die Welt gesetzt. Die Hoffnung nämlich, dass dieser Konflikt zwischen Russland und der Ukraine möglicherweise auch anders gelöst werden könnte als durch militärische Gewalt. Erstaunlicherweise hat Selenski dabei ausgerechnet gegenüber der Schweiz – wohl aufgrund eines gewissen Respekts gegenüber ihrem eigenständigen Kurs – sanftere Töne angeschlagen als beispielsweise in seinen Reden an das deutsche, britische oder US-Parlament. Doch, kaum zu glauben: Das schweizerische Aussendepartement EDA verzichtet darauf, zur Rede Selenskis Stellung zu nehmen. Bisher hatte sich das EDA dahingehend geäussert, dass eine Vermittlerrolle der Schweiz „zu gegebenem Zeitpunkt“ allenfalls in Frage käme, es hierfür aber noch „zu früh“ sei. Was heisst „zu früh“? Wie viele Tote, wie viele zerstörte Dörfer und Städte, wieviel verbrannte Erde wird es denn noch noch brauchen, bis es für Friedensverhandlungen nicht mehr „zu früh“ ist? Für den Frieden ist es nie zu früh, für den Krieg immer zu spät. Wenn schon Selenski einen noch so kleinen Wink in die Richtung einer Friedenslogik gegeben hat, dann müsste man doch diesen Zipfel, und wäre er noch so klein, mit aller Entschlossenheit und Tatkraft ergreifen und sich nicht mehr länger hinter irgendwelchen nebulösen Ausreden verstecken. China, Indien, Brasilien, Indonesien, mehrere afrikanische Länder und die Türkei haben schon Initiativen für eine friedliche Lösung des Ukrainekonflikts ergriffen. Was hält die Schweiz davon ab, sich in die Reihe dieser Länder zu stellen, um gemeinsam genau das, was Selenski forderte, auf die Weltbühne zu bringen: nicht nur eine friedliche Lösung des Ukrainekonflikts, sondern nichts weniger als einen „globalen Friedensgipfel“. Denn es geht nicht nur um die Ukraine, weitere über 20 Kriege wüten zur Zeit und auch der Taiwankonflikt zwischen den USA und China droht sich gefährlich zuzuspitzen. Frieden ist nicht partiell machbar. Entweder ist er überall oder nirgends. Wer einen weltweiten Frieden, einen Abbau aller Spannungen zwischen den Grossmächten oder sogar eine Abschaffung aller Waffen und Armeen fordert, darf sich ab dem 15. Juni 2023 sogar – oh Wunder – auf den ukrainischen Präsidenten Selenski berufen. Was für eine Chance… 

Hunger und Gewalt in Haiti: Doch immer noch wird uns Menschen in den reichen Ländern des Nordens vorgegaukelt, unser Reichtum hätte nichts zu tun mit der Armut und dem Hunger in den Ländern des Südens…

 

„Laut den Vereinten Nationen“, so berichtet der „Tagesanzeiger“ am 14. Juni 2023, „gab es allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres mehr als 800 Morde in Haiti. Dazu kommen Hunderte Entführungen und systematische, massenhafte Vergewaltigungen.“ Haiti, das ärmste Land der westlichen Hemisphäre, stehe am Abgrund, insgesamt 4,9 Millionen Menschen – fast die Hälfte der Bevölkerung – wüssten nach Angaben der Vereinten Nationen nicht, wie sie sich dauerhaft ernähren könnten. In dieser verzweifelten Lage würden immer mehr Menschen das Gesetz selber in die Hand nehmen: „Am 24. April schlug die Verzweiflung endgültig in Wut um, Passanten zerrten in Port-au-Prince Gangmitglieder, die bereits verhaftet worden waren, aus einem Polizeiauto, verprügelten sie, wuchteten Reifen auf sie, kippten Benzin darüber und verbrannten sie bei lebendigem Leib. Von da an war es, als hätte sich eine Schleuse geöffnet: Bilder und Videos von den Lynchmorden machten im Nu die Runde und bald zogen auch anderswo Mobs mit Stöcken und Macheten bewaffnet durch die Strassen und jagten Kriminelle, es entstand eine eigentliche Selbstjustiz- und Bürgerrechtsbewegung.“

Was der „Tagesanzeiger“ verschweigt: Dass zur gleichen Zeit, da die Hälfte der haitianischen Bevölkerung hungert und sich die Gewalt im Lande immer hemmungsloser ausbreitet, Unmengen an Kaffee, Kakao, Zuckerrohr, Sisal, Mango und Vetiveröl aus Haiti in die reichen Länder des Nordens exportiert werden. Beim Vetiveröl, das für die Herstellung von Parfüms und für Aromatherapien verwendet wird, beträgt der Anteil Haitis an der gesamten Weltproduktion sogar rund 50 Prozent. Auch verschwiegen wird, dass Haiti im Jahre 2022 Waren im Wert von etwa 910 Millionen US-Dollar exportierte, gleichzeitig aber Waren im Wert von drei Milliarden US-Dollar importierte, was die ohnehin schon verheerende Verschuldung des Landes erheblich weiter verschärfte, und das nur, weil exportierte Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt einen so viel tieferen Preis haben als die importierten, industriell gefertigten Fertigprodukte. Und schliesslich wird auch verschwiegen, dass die katastrophale Ernährungssituation des Landes vor allem damit zu tun hat, dass in den 1980er und 1990er Jahren die meisten für die Versorgung mit lebensnotwendigen Nahrungsmitteln arbeitenden Kleinproduzentinnen und Kleinproduzenten verdrängt wurden, während gleichzeitig die Importe von subventioniertem US-Reis und Zucker massiv gesteigert wurden.

So hängen auch heute noch die Armut im Süden und der Reichtum im Norden unauflöslich miteinander zusammen und die kolonialistische Ausbeutung geht allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz bis in unsere Tage nahtlos weiter. Doch immer noch wird uns Menschen in den reichen Ländern des Nordens vorgegaukelt, unser Reichtum hätte nichts zu tun mit der Armut und dem Hunger in den Ländern des Südens. In Tat und Wahrheit aber machen wir uns mit jeder Tasse Kaffee, die wir trinken, mit jeder Tafel Schokolade, die wir essen, und mit jedem Tropfen Parfüm, das wir uns auf die Haut spritzen, am Elend, am Hunger und an der gegenseitigen Gewalt all jener Menschen schuldig, denen die eigene Erde entrissen wurde und die in einen nicht endenden Sklavendienst gezwungen wurden, nur damit multinationale Konzerne laufend wachsende Milliardengewinne scheffeln können und unser „Wohlstand“, der im Grunde nichts anderes ist als reiner Luxus auf Kosten anderer, ungehindert weiter bestehen kann. Weshalb eigentlich müssen nur Zigarettenpackungen mit der Etikette „Rauchen ist tödlich“ versehen werden und nicht auch die Packungen mit Kaffeebohnen, Mango, Schokolade und die Fläschchen mit Aromen und Parfüms in Hotels und Wellnessoasen? Oder haben 500 Jahre kapitalistischer Gehirnwäsche in unseren Köpfen schon so unauslöschlich ihre Spuren hinterlassen, dass uns nicht einmal mehr dies zu erschrecken und aufzuwecken vermöchte? 

Frauenlöhne und Männerlöhne: Sowohl der Arbeitgeberverband wie auch die Gewerkschaften beschönigen die tatsächlich herrschende Ungleichheit…

 

Laut Arbeitgeberverband beträgt der Unterschied zwischen „vergleichbaren“ Männer- und Frauenlöhnen nur 3,3 Prozent. Die Gewerkschaften sprechen von deutlich höheren Zahlen. Bei alledem wird aber noch nicht berücksichtigt, dass in typisch „weiblichen“ Berufen wie Coiffeuse, Putzfrau, Serviceangestellte, Krankenpflegerin, Kitaangestellte oder Detailhandelsangestellte weit weniger verdient wird als in typisch „männlichen“ Berufen wie etwa in der IT-Branche, im Bankenwesen, im Immobilien- und Versicherungsgeschäft oder in den Kadern von Grosskonzernen. Am krassesten ist es, wenn man den typisch „weiblichsten“ Beruf, die Hausfrau, mit dem typisch „männlichsten“ Beruf, Managern oder Verwaltungsratspräsidenten eines Grosskonzerns, miteinander vergleicht. Diese „verdienen“ nämlich bis zu 10’000 Franken, nicht pro Monat, sondern pro Stunde – während die Hausfrau ihre anspruchsvolle, anstrengende und gesellschaftlich so wichtige Arbeit zum Nulltarif leistet. Mit der längeren Ausbildungsdauer lassen sich solche gewaltige Lohndifferenzen auch nicht annähernd begründen. Würde man schweizweit alle Männerlöhne zusammenzählen und mit der Summe aller Frauenlöhne vergleichen, dann erst würde man erkennen, wie weit wir von einer tatsächlichen Lohngerechtigkeit noch entfernt sind und dass sowohl der Arbeitgeberverband wie auch die Gewerkschaften die tatsächliche Problematik um ein Vielfaches beschönigen. Wenn es im gleichen Tempo wie bisher weitergeht, wird es wohl noch unzählige Frauenstreiks brauchen, bis tatsächlich geschlechtsabhängige Lohnunterschiede aus der Welt geschafft sind…

„Moderne“ Partnerschaften und Arbeitsteilung: An erster Stelle müsste immer die Gerechtigkeitsfrage stehen…

 

Sämtliche Artikel, Bücher, Fernsehdiskussionen und Zukunftsideen über „Frauenrollen“ und „Männerrollen“, „Emanzipation“ und zeitgemässe Aufgabenteilung zwischen Haus- und Erwerbsarbeit, die ich bisher gelesen oder gesehen habe, sprechen immer generell von Männern und Frauen, als sei es völlig unerheblich, in welchen sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen die betroffenen Menschen leben. Dabei ist es doch offensichtlich: Was für die einen schon fast selbstverständlich scheint, davon wagen andere nicht einmal zu träumen. Der Informatiker kann es sich locker leisten, nur zu 70 oder 80 Prozent zu arbeiten und sich während der übrigen Zeit an der Haushaltsarbeit und der Kinderbetreuung zu beteiligen, selbst wenn seine Frau keiner Erwerbsarbeit nachgeht – das Einkommen reicht immer noch für ein gutes Leben. Ganz anders der Schichtarbeiter, der mit seinem kärglichen Lohn mindestens zu 100 Prozent arbeiten muss, um seine Familie durchzubringen, er hat schlicht und einfach keine andere Wahl. Vielleicht muss sogar seine Frau ebenfalls einer Erwerbsarbeit nachgehen, um gemeinsam über die Runden zu kommen und sich trotz widrigster äusserer Umstände den einen oder anderen kleinen „Luxus“ leisten zu können.

So müssen Artikel, Bücher, Fernsehdiskussionen und Zukunftsideen über „moderne“ Partnerschaften und Arbeitsteilung für all jene, die sich dies, selbst wenn sie es möchten, schlicht und einfach gar nicht leisten können, so etwas sein wie eine schallende, ohrenbetäubende Ohrfeige, welche die ohnehin schon tiefe Kluft zwischen privilegierten und weniger privilegierten Gesellschaftsschichten nur noch weiter ins Unermessliche vertieft. „Modern“ zu sein, ist den Privilegierten vorbehalten, die weniger Privilegierten müssen sich damit abfinden, zugleich zu allen anderen Diskriminierungen auch noch als „altmodisch“ oder „ewiggestrig“ zu gelten.

Deshalb müsste jedem Artikel, jedem Buch, jeder Fernsehdiskussion und jeder Zukunftsidee über „moderne“ Partnerschaften und Rollenverteilung die Gerechtigkeitsfrage vorausgehen. Echter gesellschaftlicher Fortschritt kann nur erfolgen, wenn die materiellen Verhältnisse so sind, dass sich auch alle das tatsächlich leisten können.

Der erste Ansatz wäre ein Mindestlohn, der nicht bloss knapp zum Überleben reicht. Ein erster kleiner Schritt, der immerhin schon einiges bewirken kann, wie das Beispiel des Kantons Genf zeigt, wo mit 23 Franken der höchste Mindestlohn der Welt gesetzlich eingeführt wurde und damit die finanzielle Lage von rund 30’000 Arbeitnehmenden verbessert werden konnte.

Der zweite Ansatz wäre ein Einheitslohn. Eine Vision, die zugegebenermassen in schier unerreichbarer Ferne liegt. Und doch gäbe es dafür tausend Argumente, ist doch in jeder Gesellschaft und jeder Volkswirtschaft jegliche berufliche Tätigkeit unauflöslich mit allen anderen beruflichen Tätigkeiten verbunden, von ihnen abhängig und auf sie angewiesen. Kein Bankdirektor könnte seinen Job ausüben, wenn nicht irgendwer das Brot backen und das Gemüse ernten würde, das er isst, und niemand die Kleider nähen würde, die er trägt – um nur ein einziges von Millionen von Beispielen zu nennen. Jahrhundertelanges Unrecht hat sich so tief in unser Denken eingegraben, dass wir uns einen gleichen Lohn für sämtliche berufliche Tätigkeit schon gar nicht vorstellen können, während wir uns gleichzeitig kaum an der Tatsache stören, dass Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdiener bis zu 10’000 Franken pro Stunde verdienen, während es schon als sozialpolitisches Erdbeben gefeiert wird, wenn in irgendeinem Kanton ein Mindestlohn von 23 Franken eingeführt wird. 

Zurück zur Realität. Einen Einheitslohn werden wir weder heute noch morgen verwirklichen können, obwohl er die logischste Sache der Welt wäre. Aber was wir können, ist, bei jeder sozialpolitischen Diskussion die Gerechtigkeitsfrage nie aus den Augen zu verlieren. Denn echter gesellschaftlicher Fortschritt ist nicht möglich, solange solche „Fortschritte“ bloss Privilegien einzelner Gesellschaftsschichten sind auf Kosten anderer.

Die EU und die „Flüchtlingskrise“: Eine tiefgreifende Lösung des Flüchtlingsproblems ist nur möglich durch eine Überwindung des Kapitalismus…

 

Die EU-Mitgliedstaaten konnten sich am 8. Juni 2023 auf die Konturen einer gemeinsamen zukünftigen Flüchtlingspolitik einigen. „Die EU“, so schreibt der „Tagesanzeiger“ am 10. Juni 2023, „will an den Aussengrenzen für Migrantinnen und Migranten ein härteres Regime einführen und gleichzeitig Asylsuchende mit Bleiberecht unter den Mitgliedsstaaten fairer verteilen.“ Konkret sollen „Schnellverfahren in Erstaufnahmeländern für Migrantinnen und Migranten mit geringen Chancen“ eingeführt und zu diesem Zweck 30’000 Plätze eingerichtet werden. Doch bleibe weiterhin unklar, was mit jenen Migrantinnen und Migranten geschehen solle, die einen negativen Bescheid bekämen.

Was schon als „Durchbruch“ gefeiert wird, ist doch, bei Lichte besehen, nichts anderes als reine Symptombekämpfung. Denn allen diesen Massnahmen zum Trotz, werden die Flüchtlingsströme vom Süden in den Norden gewiss auch zukünftig nicht abreissen, sondern eher noch zunehmen. Die Kriterien, wer ein Bleiberecht bekommen soll und wer nicht, werden weiterhin höchst unterschiedlich bleiben und die Frage, was mit all jenen Migrantinnen und Migranten geschehen soll, die kein Bleiberecht bekommen, wird weiterhin ungelöst sein. Solange nicht endlich die Ursachenbekämpfung anstelle der Symptombekämpfung in Angriff genommen wird, kann das Problem nicht gelöst werden und wird sich in Zukunft eher noch weiterhin verschärfen.

Doch welches sind die hauptsächlichen Ursachen dafür, dass Menschen ihre Heimat verlassen, um in einem fernen, unbekannten Land eine bessere Zukunft zu finden? Erstens die soziale und wirtschaftliche Kluft zwischen reichen und armen Ländern. Jahrhunderte kolonialistischer Ausbeutung haben bis in die heutige Zeit ihre verheerenden Spuren hinterlassen. Immer noch gründet der Wohlstand in den reichen Ländern des Nordens zu einem überwiegenden Teil auf der Tatsache, dass billig und zu Hungerlöhnen produzierte Nahrungsmittel und Rohstoffe aus dem Süden in den Norden exportiert und dort zu teuren Fertigprodukten weiterverarbeitet werden. So erwirtschaftet beispielsweise die Schweiz gemäss Angaben der Entwicklungsorganisation Oxfam im Handel mit „Entwicklungsländern“ einen fast 50 Mal höheren Gewinn, als sie diesen Ländern in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückgibt. Alle multinationalen Konzerne, welche dank dem Handel mit Nahrungsmittel und Rohstoffen Milliardengewinne scheffeln, haben ihren Sitz Im Norden, keiner von ihnen im Süden, dort, wo all die gewinnbringenden Nahrungsmittel und Rohstoffe herstammen. Wie die Mücken ans Licht, so drängen die Menschen aus dem ausgebluteten Süden in die Wohlstandsparadiese des Nordens, dies alles zusätzlich befeuert durch Massenmedien, Internet und soziale Medien, wo weltweit tagtäglich das Bild einer Welt gezeichnet wird, wo Milch und Honig fliessen, alle Menschen mit Autos unterwegs sind und Millionäre und Milliardäre nur so aus dem Boden schiessen.

Die zweite Ursache für die wachsenden Flüchtlingsströme sind Kriege, derzeit weltweit über 20 an der Zahl, der wohl unmittelbarste und drängendste Grund dafür, die geliebte Heimat zu verlassen und in einem anderen Land Schutz und Sicherheit zu suchen. Schliesslich die dritte Ursache: der Klimawandel. Schon heute leiden Hunderte von Millionen von Menschen unter zunehmender Hitze, Dürren und Überschwemmungen. Und es ist zu befürchten, dass auch weiterhin immer mehr bisherige Lebensräume für immer verloren gehen werden, was die Menschen dazu zwingt, dorthin auszuweichen, wo noch eine einigermassen gesicherte Existenz möglich ist.

Schauen wir uns die drei Hauptursachen für die wachsenden Flüchtlingsströme genauer an, dann stellen wir unschwer fest: Sie alle sind eine unmittelbare Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Eines Wirtschaftssystems, das auf die unaufhörliche Ausbeutung von Mensch und Natur, Profitmaximierung und Wachstum ausgerichtet ist und weltweit zu zu immer drastischeren sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Zerstörungen führt. Auch Kriege haben meist ihren Ursprung im Streben nach Machtausdehnung, wirtschaftlicher Ausbeutung und Einverleibung gewinnbringender natürlicher Ressourcen. „Der Kapitalismus“, so der französische Sozialist Jean Jaurès, „trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ 

Es wäre daher die reinste Illusion, das Flüchtlingsproblem dadurch in den Griff bekommen zu wollen, dass man Grenzen schliesst, Grenzkontrollen verschärft und immer effizientere Massnahmen ergreift, um „richtige“ und „falsche“ Flüchtlinge voneinander zu unterscheiden. Eine tiefgreifende Lösung des Flüchtlingsproblems ist nur möglich durch eine Überwindung des Kapitalismus, weltweite soziale Gerechtigkeit und ein Ende aller Kriege. Denn kein Mensch verlässt freiwillig seine Heimat, wenn er dort, wo er geboren wurde, in Frieden, Sicherheit und Wohlstand leben kann. Wie die 150 Tier- und Pflanzenarten, die Tag für Tag aussterben, und die rund zehntausend Kinder, die weltweit jeden Tag vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben,, während sich die Menschen im Norden den Luxus leisten können, einen Drittel aller gekauften Lebensmittel fortzuwerfen, so sind auch die unzähligen Flüchtlinge, die an unsere Türen klopfen, allesamt Alarmzeichen einer Welt, die aus allen Fugen geraten ist. Wie viel Leiden braucht es eigentlich noch, bis uns endgültig die Augen dafür aufgehen, dass es auf diesem Planeten nur eine einzige glaubwürdige Zukunftsvision geben kann, nämlich, alle Formen von Ausbeutung zu überwinden und alles unter alle gerecht zu verteilen?

Die verheerende Zerstörung des Kachowka-Staudamms: Einseitige Schuldzuweisungen an die Adresse Russlands, obwohl noch keinerlei Beweise vorliegen…

 

Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Region Cherson am 5. Juni 2023 müssen Zehntausende Menschen in der Südostukraine evakuiert werden. „Moskau und Kiew“, so der „Tagesanzeiger“ am 7. Juni , „bezichtigen sich gegenseitig, den Damm zerstört zu haben. Unabhängige Augenzeugenberichte aus der Region gibt es keine. Internationale Analysten schliessen anhand von Satellitenbildern der letzten Wochen und Monate jedoch nicht aus, dass der Damm wegen der massiven Beschädigungen im Kriegsverlauf schliesslich von selber gebrochen sein könnte.“ Militärisch nütze der Dammbruch keiner Seite etwas, so der „Tagesanzeiger“, auch Russland profitiere nicht davon. Eine breite ukrainische Attacke in dieser Region hätte Russland sowieso nicht zu befürchten gehabt. Experten würden zudem betonen, dass die Wassermassen auf der von Russland okkupierten Seite des Dnjepr weit mehr Schaden anrichten würden als auf dem rechten Flussufer, welches die Ukraine kontrolliert. Zudem gefährde der Dammbruch die Trinkwasserversorgung der von Russland gehaltenen Halbinsel Krim wie auch die Kühlung des Atomkraftwerks Saporischschja. Dass die Ukraine als mögliche Täterin durchaus nicht ausgeschlossen werden kann, erhärtet sich auch dadurch, dass, wie die „Washington Post“ bereits im Dezember 2022 berichtete, schon seit längerem ukrainische Pläne bestünden, den Kachowka-Staudamm zu zerstören.

Doch obwohl auch noch nicht einmal ansatzweise erwiesen ist, wer die Verantwortung für den Dammbruch trägt, wird von westlicher Seite schon aus allen Rohren geschossen und von höchster Stelle die alleinige Schuld Russland in die Schuhe geschoben. „Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms mit den schrecklichsten Folgen“, so der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, „zeigt eine neue Dimension. Es passt in die Art und Weise, wie erbarmungslos Russland den Krieg führt und reiht sich in die vielen Verbrechen Russlands ein.“ Nicht weniger deutliche Worte kommen von Aussenministerin Analena Baerbock: „Für diese Umweltkatastrophe gibt es nur einen einzigen Verantwortlichen: den verbrecherischen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine.“ Auch für die deutsche Sicherheitspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann ist klar: „Ein weiteres grauenhaftes Kriegsverbrechen Russlands – mit Putin wird es keinen Frieden geben.“ Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wischt alle Zweifel vom Tisch: „Das ist ein ungeheuerlicher Akt, der wieder einmal die Brutalität des russischen Kriegs in der Ukraine gezeigt hat.“ Und im Gleichschritt die Mainstreampresse: „Russen sprengen riesigen Staudamm“, so die deutsche Bild-Zeitung. Und auch der schweizerische „Blick“ bläst ins gleiche Horn und berichtet darüber, dass der lettische Präsident ein „Sondertribunal gegen Putin“ fordere.

Doch eigentlich ist es schon fast müssig, über Schuld oder Nichtschuld der einen oder der anderen Seite zu werweissen. Das ist nicht der springende Punkt. Der springende Punkt besteht darin, dass dieser sinnlose Krieg nach bald eineinhalb Jahren immer noch unerbittlich andauert. Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms ist nicht ein vom „normalen“ Kriegsverlauf abweichendes Einzelereignis, ebenso wenig wie der Angriff auf die Krimbrücke oder der Angriff russischer Drohnen auf ukrainische Städte. Dies alles sind nur die ganz „normalen“ Begleiterscheinungen eines jeden Krieges, in dem eben stets aufs neue das eben noch Undenkbare zum Denkbaren wird. Dieser Wahnsinn wird nicht zu Ende sein an dem Tag, an dem der „Hauptschuldige“ an der Zerstörung des Kachowka-Staudamms endgültig feststehen wird. Er wird erst dann zu Ende sein, wenn, hoffentlich so bald wie möglich, die letzte Waffe schweigen wird.

Wie lange soll dieser Wahnsinn noch andauern, wie viel Undenkbares muss noch denkbar werden, bis die an diesem Krieg Beteiligten zur Vernunft kommen? Wann endlich wird man einsehen, dass es alles bloss Lügen waren, wenn die eine oder die andere Seite davon sprach, vom „Feind“ okkupierte Gebiete zurückzuerobern und zu „befreien“? Die „Befreiung“ besteht doch bloss darin, so lange hin und her zu kämpfen, bis nichts mehr übrig bleibt, nichts mehr von den Häusern, in denen einst Menschen lebten, nichts mehr von den Strassen, die Dörfer und Städte miteinander verbanden, nichts mehr von den Feldern, die Arbeit und Nahrung verschafften, nichts mehr von den Menschen, die sich gegenseitig „befreit“ haben. 

Wäre es denn so schlimm, wenn die Ukraine es zulassen würde, dass die Menschen in den umkämpften Gebieten selber entscheiden könnten, welcher Nation sie angehören oder ob sie vielleicht sogar eine eigene, unabhängige Republik schaffen möchten? Ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation so viel wichtiger als das grundlegende Menschenrecht, in Sicherheit und Frieden leben zu können? Sind wir alle, lange bevor wir Bürgerinnen und Bürger einer bestimmten Nation sind, nicht vor allem Bewohnerinnen und Bewohner einer einzigen gemeinsamen Erde, Brüder und Schwestern über alle Grenzen hinweg? Sollten Grenzen, wenn es sie denn schon unbedingt braucht, nicht viel mehr dazu da sein, Menschen miteinander zu verbinden, statt sie voneinander zu trennen? Schauen wir in den Himmel. Die Vögel erzählen es uns jeden Morgen, jeden Mittag, jeden Abend. Sie kennen keine Grenzen und leben doch in unendlicher Freiheit. Ja, wir Menschen haben noch viel, noch unermesslich viel zu lernen…

Der Höhenflug der AfD und weshalb Probleme nie mit der gleichen Denkweise gelöst werden können, durch die sie entstanden sind…

„Die AfD klettert in den Umfragen immer höher“ – titelt der „Tagesanzeiger“ am 6. Juni 2023. Die AfD liegt mit 18 Prozent bereits gleichauf mit der SPD, zusammen mit dieser an zweiter Stelle in der Wählergunst hinter der CDU/CSU. „Und die anderen Parteien“, so der „Tagesanzeiger“, „zeigen mit Fingern aufeinander.“ Ob es sein könnte, so fragt sich der „Tagesanzeiger“ im Folgenden, dass die AfD Wählerinnen und Wähler anspreche, die von den anderen Parteien kaum oder gar nicht mehr erreicht würden? Dass genau hierin die Ursache für den Höhenflug der AfD liegen könnte, schiene sich auch dadurch zu bestätigen, dass zwei von drei Anhängern der AfD sagten, sie würden diese Partei „aus Enttäuschung über die anderen Parteien“ wählen, nur einer von drei aus Überzeugung.

Machen also alle anderen Parteien ihre Arbeit so schlecht, dass sie ihre potenzielle Wählerschaft gleich scharenweise in die Arme der AfD drängen? Diese Schlussfolgerung würde wahrscheinlich zu kurz greifen. Wir kommen nicht umhin, die gegenwärtige Situation in einer grösseren Sichtweise und aus grösserer Distanz zu betrachten. Das, was die Menschen am meisten beschäftigt – Armut, soziale Ungerechtigkeit, steigende Lebenskosten, Arbeitslosigkeit, Probleme im Zusammenhang mit Migration, Angst vor einem grösseren Krieg – sind nicht so sehr die Folgen einer verfehlten Regierungspolitik. Höchstwahrscheinlich wären die Zustände um keinen Deut besser, wenn die CDU/CSU oder gar die AfD an der Macht wären. Die Ursachen liegen tiefer. Und zwar im kapitalistischen Wirtschaftssystem, welches die grösstmögliche Ausbeutung von Mensch und Natur und die Profitmaximierung und den Reichtum einer Minderheit höher gewichtet als die allgemeine Wohlfahrt, in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem, das mit dem blinden Glauben an ein ewiges Wachstum für die fortschreitende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen verantwortlich ist und nicht zuletzt mit dem von ihm erzeugten weltweiten Wohlstandsgefälle all die damit verbundenen,  häufig als Bedrohung empfundenen Begleiterscheinungen verursacht. Selbst der Krieg zwischen Russland und der Ukraine hat seine tiefen kapitalistischen Wurzeln, denn es ist eben schon so, wie der französische Sozialist Jean Jaurès einmal sagte: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“ – Kriege haben stets etwas zu tun mit Machtausdehnung, Wachstum, Expansion, wirtschaftlichen Interessen, all jenen Kräften, die auch der kapitalistischen Wirtschaftsideologie zu eigen sind und die extremste Zuspitzung eines auf gegenseitige Zerstörung ausgerichteten Konkurrenzprinzips bilden.

Eigentlich ist es absurd. Ausgerechnet die SPD und die Grünen mit ihrer ursprünglich kapitalismuskritischen Tradition und ihren früheren Visionen von einer gerechteren und friedlicheren Welt finden sich heute in der Rolle jener, die diesen Kapitalismus, dem sie früher so kritisch gegenüberstanden, am vehementesten verteidigen, verwalten und weiterzuführen. So ist ein riesiges Loch entstanden, in welches nun die vermeintlichen früheren Widersacher am anderen Ende des Politspektrums nur zu gerne hineinspringen. Denn dass der Weg eines auf blosse Profitvermehrung und auf grösstmögliche Ausbeutung von Mensch und Natur ausgerichteten Kapitalismus kein guter Weg sein kann, diese Einsicht scheint ein überwiegender Teil der Bevölkerung noch immer zu teilen: Umfragen zeigen, dass rund 55 Prozent der Deutschen der Meinung sind, der Kapitalismus hätte mehr Nachteile als Vorteile. Nur ausgerechnet jenen, die an die Macht gelangen, scheint diese Einsicht jedes Mal wieder von neuem abhanden zu kommen.

Eine Lösung der gegenwärtigen sozialen, gesellschaftlichen, ökologischen und geopolitischen Herausforderungen innerhalb des kapitalistischen Denksystems ist nicht möglich. „Probleme“, sagte Albert Einstein, „kann man nie mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Eine dauerhafte Lösung kann es nur geben, wenn das kapitalistische Wirtschaftssystem mit all seinen Widersprüchen und verheerenden Auswirkungen radikal überwunden und durch ein neues, am Wohl der Menschen und der Natur orientierten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ersetzt werden kann. Das grösste Hindernis auf diesem Weg besteht darin, dass solche Forderungen sogleich die Angst auslösen, eine Abkehr vom Kapitalismus würde zwangsläufig zu einem Rückfall in die Zeiten der DDR, der Sowjetunion und die sozialistische Planwirtschaft führen. Das ist ein gewaltiger Trugschluss. Denn es würde ja bedeuten, dass der Kapitalismus auf der einen Seite und die sozialistische Planwirtschaft auf der anderen die einzigen möglichen Wege seien, wie Wirtschaft und Gesellschaft sinnvoll organisiert werden können. Wenn uns die Geschichte etwas gelehrt hat, dann dies: Dass sowohl der ungezügelte Kapitalismus wie auch die sozialistische Planwirtschaft Irrwege gewesen sind, die, aus unterschiedlichen Gründen, nicht wirklich zum Wohle der Menschen und ebenso wenig zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen geführt haben. Die Schlussfolgerung ist klar: Es braucht einen dritten, besseren Weg.

Ein dritter, besserer Weg, der die Vorteile bisheriger Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle verbinden und gleichzeitig ihre Nachteile überwinden müsste. Darüber müsste, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, eine intensive öffentliche Debatte beginnen, die sich nicht bloss auf das gegenseitige Auswechseln einzelner Parteien beschränken dürfte, auf gegenseitige Schuldzuweisungen und ein kleinliches Hickhack zwischen Besserwissern und Nochbesserwissern, die sich gegenseitig jedes Wort im Munde umdrehen und damit prahlen, alles wäre gut, wenn nur sie alleine alle Macht in ihrer Hand hätten. „In vormodernen Zeiten“, schreibt Yuval Noah Hariti in seinem Buch „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“, „haben die Menschen nicht nur mit verschiedenen politischen Systemen experimentiert, sondern auch mit einer verblüffenden Vielfalt wirtschaftlicher Modelle. Heute dagegen glaubt so gut wie jeder in leicht unterschiedlichen Variationen an das gleiche kapitalistische Thema und wir alle sind nur winzige Teile in einem einzigen globalen Räderwerk.“

OECD-Mindeststeuer: ein „Deal der Reichen“…

 

Eifrig wurde in der gestrigen „Arena“ des Schweizer Fernsehens SRF1 über die Abstimmungsvorlage vom 18. Juni über die Umsetzung einer OECD-Mindeststeuer für grosse international tätige Unternehmen von 15 Prozent diskutiert. Einig war man sich darin, dass die Einführung dieser Mindeststeuer unumgänglich sei. Uneinig aber war man sich in Bezug auf den Verteilschlüssel der zusätzlichen Steuereinnahmen zwischen Bund und Kantonen. Nur am Rande wurde, von einem Vertreter der „Alliance Sud“, die Problematik der globalen Steuergerechtigkeit erwähnt. Dabei müsste doch, wenn man in diesem Zusammenhang von „Gerechtigkeit“ spricht, dies das eigentliche Hauptthema sein.

Denn die Milliardengewinne der grossen multinationalen Konzerne fallen ja nicht über Nacht vom Himmel. Sie resultieren einzig und allein aus dem Umstand, dass in den Ländern des Südens Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern zu Hungerlöhnen jene Rohstoffe und Produkte erwirtschaften, die dann in den Ländern des Nordens so gewinnbringend verkauft werden. Und weil die Steuersätze in den Ländern des Südens um einiges höher sind als in den allermeisten Ländern des Nordens, werden eben dort, und nicht in den ohnehin schon benachteiligten Ländern des Südens, die Gewinne der Konzerne versteuert. So verlieren die Länder des Südens jährlich Steuereinnahmen von 27 Milliarden Dollar, während beispielsweise in der Schweiz 38 Prozent der gesamten Steuereinnahmen aus reiner Gewinnverschiebung resultieren und eigentlich als „gestohlenes Geld“ bezeichnet werden müssten. Auch eine von der Entwicklungsorganisation „Oxfam“ publizierte Zahl, wonach die Schweiz im Handel mit „Entwicklungsländern“ einen fast 50 Mal höheren Gewinn erwirtschaftet, als sie dann diesen Ländern in Form von „Entwicklungsländern“ zurückerstattet, zeigt, dass die Folgen der Kolonialzeit und über Jahrhunderte weitergeführter Ausbeutung, Ausplünderung und Ausblutung des Südens durch den Norden bis in unsere Tage nahezu ungehindert weitergehen.

Dass die geplante Mindeststeuer von 15 Prozent den Ländern des Nordens immer noch einen komfortablen Standortvorteil verschafft, zeigt auch die Tatsache, dass einzelne OECD-Länder durchaus zu einem höheren Mindeststeuersatz bereit gewesen wären, so etwa hatten die USA einen Steuersatz von 21 Prozent vorgeschlagen. Am anderen Ende der Skala Tiefsteuerländer wie Irland, Luxemburg, Singapur und die Schweiz, die für deutlich niedrigere Steuersätze plädierten. Nach wie vor wird also auch mit der Einführung einer OECD-Mindeststeuer von 15 Prozent der Regelkreis weltweiter wirtschaftlicher Ausbeutung bei weitem nicht durchbrochen, so dass die Länder des Südens bei diesem Vorhaben ganz und gar nicht zu Unrecht von einem „Deal der Reichen“ sprechen.

„Bund und Kantone“, so die „Alliance Sud“, „werden die zusätzlichen Einnahmen aus der Mindeststeuer für die Standortförderung einsetzen. So steht es im betreffenden Bundesbeschluss. Zu Deutsch: Die Zusatzeinnahmen werden also eingesetzt, um neue Steuergeschenke für Konzerne und ihre Manager oder sogar Subventionen für diese Konzerne zu finanzieren. Die Bevölkerung geht leer aus – in der Schweiz, aber vor allem auch in den Produktionsländern der Schweizer Konzerne im Globalen Süden, wo es infolge des globalen Steuerdumpings am nötigen Geld für sämtliche Infrastrukturen von den Spitälern über die Schulen bis zur Energieversorgung fehlt.“

Das Beispiel der OECD-Mindeststeuervorlage zeigt: Mehr vermeintliche „Gerechtigkeit“ zu schaffen nur an einem Ort, genügt nicht oder kann sogar das Gegenteil bewirken – auf der anderen Seite beisst sich die Katze in den Schwanz. Solange die gesamte Weltwirtschaft vom kapitalistischen Konkurrenzprinzip zwischen „starken“, „weniger starken“ und „schwächeren“ Volkswirtschaften und Ländern dominiert wird und jeder nur darauf bedacht ist, sich auf Kosten anderer Vorteile zu verschaffen, bleiben punktuelle Massnahmen reine Symptombekämpfung. „Was alle angeht, können nur alle lösen“, sagte Friedrich Dürrenmatt. Was wir brauchen, sind nicht bloss tiefere oder höhere Steuersätze für multinationale Konzerne. Was wir brauchen, ist eine Überwindung des Kapitalismus, eine radikale Abkehr vom globalen Konkurrenzprinzip über alle Grenzen hinweg, eine Abschaffung jeglicher Ausbeutung der Armen durch die Reichen, der „schwächeren“ durch die „stärkeren“ Volkswirtschaften, des Südens durch den Norden. Dass wir davon offensichtlich noch Lichtjahre entfernt sind, zeigt die aktuelle Diskussion über die OECD-Mindeststeuervorlage aufs schmerzlichste und lässt mich mit tiefer Ratlosigkeit zurück: Soll ich nun am 18. Juni Ja oder Nein stimmen? Wofür ich mich auch entscheide: Beides ist falsch. Ganz einfach deshalb, weil der Kapitalismus selber der falsche Weg ist, der uns, scheinbar alternativlos, hinführt zu immer wieder neuer Ungerechtigkeit, zu immer wieder weniger Solidarität, mit immer weniger Aussicht auf ein gutes Leben für alle, auf einem Planeten, der nicht einigen wenigen gehören sollte, sondern uns allen.

Edmund Hillary und Tenzing Norgay vor 70 Jahren auf dem Mount Everest: Und noch immer wiederholt sich die endlose Geschichte von den Herren und ihren Sklaven…

Vor 70 Jahren, am 29. Mai 1953, erfolgte die Erstbesteigung des Mount Everest, des höchsten Berges der Welt. Aus diesem Anlass schreibt der „Tagesanzeiger“: Der Neuseeländer Edmund Hillary kehrte als Legende heim, nachdem er zusammen mit Tenzing Norgay als erster Mensch auf dem Mount Everest gestanden war. Die Nachricht raste um die ganze Welt und Hillary wurde schon bald von der britischen Königin zum Sir geadelt.“ Und die Onelinezeitung „Nau“ kommentiert das Ereignis mit folgenden Worten: „Am 29. Mai 1953 schrieb Edmund Hillary Geschichte. Er stand als Erster auf dem Dach der Welt. Zur Seite hatte er nur den nepalesischen Sherpa Tenzing Norgay.“

Bis heute ist umstritten, wer nun tatsächlich als Erster auf dem Gipfel des Mount Everest angekommen war. Vielleicht war es ja auch nur der Abstand einer Schrittlänge. Aber abgesehen davon: Selbst heute, 70 Jahre später, zeigen uns die Pressekommentare, wie sehr bis in die Gegenwart hinein ein Denken vorherrscht, demzufolge es eben nicht genügt, ein „Mensch“ zu sein, um für aussergewöhnliche Leistungen höchste Anerkennung und Lorbeeren heimzuholen und „Geschichte zu schreiben“, sondern eben alles davon abhängt, ob man ein weisser Europäer, Amerikaner oder Neuseeländer ist oder eher „nur“ ein armer nepalesischer Lastenträger. Schon der Titel des „Tagesanzeiger“-Artikels spricht Bände: „Er kehrte als Legende heim“ – selbstredend, dass hier nicht von Tenzing Norgay die Rede ist, sondern von Edmund Hillary. Dann die Formulierung, Hillary sei als „erster Mensch“ auf dem Mount Everest gestanden – als wäre Tenzing Norgay gar kein Mensch, sondern bestenfalls der Hund seines Meisters…

So wiederholt sich die Geschichte bis zum heutigen Tag. Noch immer lernen die Kinder in der Schule, Christoph Kolumbus hätte 1492 Amerika entdeckt. „Hatte er nicht wenigstens einen Koch dabei?“, fragte Bertolt Brecht in einem seiner berühmtesten Gedichte. Immer noch scheinen wir tief in unseren Köpfen jene Bilder zu tragen, wonach Kolumbus ganz alleine ohne fremde Hilfe in einem kleinen Ruderboot den Atlantik überquert hätte, Napoleon ganz alleine halb Europa erobert hätte und es vor allem Manager, Verwaltungsratspräsidenten und Banker seien, welchen der wirtschaftliche Erfolg eines Landes zu verdanken sei.

Dass Edmund Hillary niemals ohne die Hilfe von Tenzing Norgay den Gipfel des Mount Everest erklommen hätte, zeigt uns auf eindringliche Weise der Bericht des Sherpas Fika Bhadur Bhural, veröffentlicht im „Spiegel“ am 6. Dezember 2017: „Alles mussten wir auf den Gipfel schleppen, sogar Dosenbier, Kühlschränke und Toilettensitze. Für mich begann diese Arbeit schon im Alter von 13 Jahren. In unserer Familie reichte das Geld nicht zum Essen. Wir werden je nach Gewicht bezahlt. Als 15Jähriger habe ich schon 50 Kilo getragen, mit 25 Jahren dann 80 Kilo, ich selber wiege keine 60 Kilo. Manche Kollegen schaffen sogar 110 oder 120 Kilo, aber das hält niemand lange durch. Jeder von uns hat Rückenschmerzen und Nackenschmerzen. Fast alle, die zu lange zu schwer tragen, werden krank. Ich habe schon Kollegen auf dem Weg zusammenbrechen sehen, manche sind nie wieder gesund geworden. Zum Arzt gehen Lastenträger fast nie. Niemand von ihnen hat eine Krankenversicherung. Es gibt auch keine Gewerkschaften, jeder arbeitet für sich. Wenn etwas kaputt geht, müssen wir Träger die Hälfte bezahlen. Und wenn wir nicht genug Geld haben, müssen wir die Schulden abarbeiten. Mir ist einmal ein 24er-Pack Bierflaschen heruntergefallen, da war die ganze Tour umsonst. Früher war es noch schlimmer. Da mussten wir unterwegs draussen schlafen, wenn uns die Hütten und die Teehäuser nicht reingelassen haben. Dann haben wir uns Höhlen gesucht oder Löcher in den Boden gegraben, wenn er nicht gefroren war. Heute müssen uns die Teehäuser hereinlassen, meistens schlafen wir auf dem Boden.“

Doch wir müssen nicht auf das Jahr 1953 und auf den Mount Everest schauen. Die Geschichte von den Herren und ihren Sklavinnen und Sklaven ist, und in Folge fortschreitender Globalisierung erst recht, bis zum heutigen Tag bittere Realität, nur dass die Herren und die Sklaven nicht mehr wie Hillary und Norgay zum gleichen Zeitpunkt am gleichen Ort sind, sondern über Hunderte oder Tausende Kilometer voneinander entfernt. Während reiche Menschen in Westeuropa oder Nordamerika ihren Luxus in Form glänzender Limousinen, goldenen Schmuckes, Flugreisen um die halbe Welt, elektronischer Geräte aller Art, tropischer Früchte und in allen Farben gleissender Textilien zur Schau tragen, viele von ihnen berühmt werden und nicht wenige als gefeierte Stars in die „Geschichte“ eingehen, schleppen die Menschen in den Ländern des Südens zentnerschwere Säcke mit Kaffee- und Kakaobohnen und Kisten voller Ananas, Mango und Bananen in tödlicher Hitze zu den Lastwagen, mit denen sie zu den Schiffanlegestationen und später in die reichen Länder verfrachtet werden, schürfen Gold und andere Edelmetalle unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen und zu kärglichsten Löhnen aus dem Boden und müssen mit notdürftigsten Behausungen inmitten von öl- und pestizidverseuchten Gegenden Vorlieb nehmen, nur damit die Gewinne multinationaler Konzerne ungehindert weitersprudeln können…

Doch selbst mitten in den reichen Ländern des Nordens geht die Geschichte von den Herren und ihren Sklavinnen und Sklaven unaufhörlich weiter: Gutbetuchte, die sich im Luxushotel von schlechtestbezahlten Köchinnen, Kellnern und Zimmermädchen verwöhnen lassen, stolze Besitzer von Einfamilienhäusern, die die bei Wind und Wetter von Maurern, Elektrikerinnen und Zimmerleuten aufgebaut wurden, Herren und Damen der gehobenen Gesellschaft, die sich von der Coiffeuse, die trotz stundenlangem Stehen, Hektik und höchsten Ansprüchen ihrer Kundschaft nur einen Hungerlohn verdient, eine Frisur aus dem allerneuesten Modekatalog verpassen lassen…

Edmund Hillary und Tenzing Norgay. Und noch immer tragen Sklavinnen und Sklaven weltweit das Dach der Welt auf ihren schmerzenden Schultern. Und noch immer bekommen die einen goldene Statuen und Auszeichnungen und geraten die anderen über kurz oder lang wieder in Vergessenheit. Hatte Kolumbus tatsächlich nicht einmal einen Koch dabei? Die Antwort lässt bis heute auf sich warten…

Linksgrüne Politik sei „Selbstmordpolitik“ und „zerstört alles, was den Erfolg der Schweiz ausmacht“: Die wundersamen Erkenntnisse des SVP-Präsidenten Marco Chiesa…

 

„Diese Wahlen“, so Parteipräsident Marco Chiesa unlängst an einer Parteiversammlung der SVP Schweiz im Hinblick auf die kommenden Parlamentswahlen, „sind entscheidend für die Zukunft unseres Landes. Am 23. Oktober müssen wir die schädliche linksgrüne Politik stoppen. Die linksgrüne Politik ist eine Selbstmordpolitik. Sie zerstört alles, was den Erfolg der Schweiz ausmacht.“

„Schädliche linksgrüne Politik“? Wohlweislich vermeidet es Chiesa, Beispiele für seine Behauptung zu erwähnen, ganz einfach deshalb, weil er offensichtlich selber gar keine gefunden hat und weil auch er wissen müsste, dass die SP und die Grünen das Land noch gar nie selber regiert, sondern sich stets nur in der Minderheit befunden haben. Die „linksgrüne Politik“  sei  eine „Selbstmordpolitik“? Wer denn, bitte, torpediert alle Bemühungen für einen griffigen Klimaschutz, der eben genau dies verhindern will: eine auf ungezügeltes Wachstum und auf die unverminderte Ausbeutung von Mensch und Natur ausgerichtete Wirtschaftspolitik, die tatsächlich in letzter Konsequenz in 50 oder 100 Jahren den Selbstmord der gesamten Menschheit zur Folge haben könnte?  Die „linksgrüne Politik“ zerstöre alles, „was den Erfolg der Schweiz ausmacht“? Wem, wenn nicht den linken politischen Kräften, verdanken wir so vieles, was den tatsächlichen Erfolg der Schweiz ausmacht, von der AHV und der IV über die Arbeitslosenversicherung und die Mutterschaftsversicherung bis hin zum Frauenstimmrecht – lauter soziale Errungenschaften, die allesamt von linker Seite über Jahrzehnte hart erkämpft und erstritten werden mussten, stets gegen den Widerstand bürgerlicher Kräfte. 

In einem Punkt gebe ich Marco Chiesa Recht: Diese Wahlen sind entscheidend für die Zukunft unseres Landes. Wollen wir eine Schweiz, die weiterhin auf ungezügeltes Wirtschaftswachstum setzt, klimapolitische Bedenken allesamt in den Wind schlägt, Minderheiten systematisch ausgrenzt, Reiche immer reicher und Arme immer ärmer werden lässt, keinerlei Gehör hat für existenzsichernde Mindestlöhne und menschenwürdige Arbeitsbedingungen in Tieflohnsegmenten? Oder wollen wir lieber eine Schweiz, in der Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit an oberster Stelle stehen und die bereit ist, auch für die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen Verantwortung zu übernehmen?

Wenn Marco Chiesa davon spricht, dass die „linksgrüne Politik“ alles zerstöre, „was den Erfolg der Schweiz ausmacht“, dann hat er offensichtlich nicht an die Demokratie gedacht. Sie ist das höchste Gut unserer Gesellschaft. Doch gerade diese wird wohl kaum durch politische Parteien in Frage gestellt, welche die Würde der Menschen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen, sondern viel eher durch politische Parteien, welche in Ermangelung eigener Konzepte und Visionen nichts anderes tun als alles, was ihnen nicht passt, in ein schiefes Licht zu stellen, Ängste zu schüren, Schuldzuweisungen vorzunehmen, Feindbilder aufzubauen und Zwietracht unter den Menschen zu säen. Glaubwürdige Politik kann nicht darin bestehen, den Gegner mit billigen Schlagworten fertigzumachen, sie sollte vielmehr darin bestehen, bessere, überzeugendere und stichhaltigere Lösungen und Rezepte zu präsentieren als jene, welche von den übrigen Parteien präsentiert werden. Nur das ist gelebte Demokratie und das, was hoffentlich auch in Zukunft, aller Schaumschlägerei zum Trotz, weiterhin den „Erfolg der Schweiz“ ausmachen wird.