Archiv des Autors: Peter Sutter

Klimaschutzgesetz: Wir müssten lernen, zwischen Luxus und Wohlstand zu unterscheiden…

 

Ist das Ziel einer klimaneutralen Schweiz bis im Jahre 2050 realistisch? Kann der Verbrauch fossiler Energieträger in ausreichendem Masse durch die Förderung erneuerbarer Energieträger reduziert werden? Führt der massive Ausbau von Wasserkraft, Photovoltaik und Windrädern nicht zu einer unerträglichen Verschandelung der Landschaft? Soll die Atomkraft weiterhin tabuisiert werden? Hätte eine Energieverknappung nicht massive Auswirkungen auf Heiz- und Stromkosten, Mieten und Nahrungsmittelpreise? Wird unsere Industrie trotz steigender Energiekosten konkurrenzfähig bleiben? Diese und ähnliche Fragen standen im Zentrum einer „Arena“-Debatte des Schweizer Fernsehens am 26. Mai 2023 zum Thema Klimaschutzgesetz, über das am 18. Juni abgestimmt wird. Dieses Gesetz verlangt, dass die Schweiz bis 2050 klimaneutral werden muss. Der Verbrauch fossiler Energieträger wird nicht verboten, soll aber so weit wie möglich reduziert werden. Für Hauseigentümerinnen und Hauseigentümer sieht die Vorlage während zehn Jahren jährlich maximal 200 Millionen Franken vor, um sie bei der Umstellung auf klimafreundliche Heizsysteme zu unterstützen. Zudem sollen der Ausbau von Fernwärmenetzen und die bessere Isolation der Gebäude gefördert werden. Bund und Kantone werden in die Pflicht genommen, Massnahmen zu ergreifen, um Menschen, Umwelt und Sachwerte vor Hochwasser, Erdrutschen, Hitzewellen oder Trockenheit zu schützen. Unternehmen werden dabei unterstützt, in innovative Technologien zur Reduktion von Treibhausgasen zu investieren. Und schliesslich soll auch der Finanzplatz einen Beitrag zum Klimaschutz leisten: Dem Bund soll ermöglicht werden, mit Banken, Vermögensverwaltern, Pensionskassen und Versicherungen entsprechende Vereinbarungen abzuschliessen.

Auffallend: Nicht nur in dieser, sondern auch in fast allen anderen Diskussionen rund um das Klimaschutzgesetz, wird über alles geredet, nur nicht darüber, dass wir möglicherweise schon lange auf viel zu grossem Fusse leben und dass die anstehende Umwelt-, Energie- und Klimaproblematik am wirkungsvollsten und erst noch am kostengünstigsten nicht durch immer neue finanzielle und technologische Massnahmen gelöst werden kann, sondern nur durch eine massive Einschränkung bisheriger Lebensgewohnheiten, in Verbindung mit der Überwindung eines Wirtschaftssystems, das ungeachtet aller Warnzeichen nach wie vor nicht so sehr auf die Bedürfnisse von Mensch und Natur ausgerichtet ist, sondern auf Profitmaximierung und endlose Wachstumssteigerung. Vergessen wir nicht: Fast drei Erden wären nötig, wenn alle acht Milliarden Menschen so viele Ressourcen verbrauchen würden wie die Schweiz!

Es ginge darum, zwischen Luxus und Wohlstand zu unterscheiden. Immer noch gehen die meisten Menschen hierzulande davon aus, dass Ferienreisen mit dem Kreuzfahrtschiff oder dem Flugzeug, der Swimmingpool oder die Sauna im eigenen Garten, der Kauf eines neuen Smartphones alle zwei Jahre, das Herunterladen von Filmen überall und zu jeder Zeit oder der tägliche Fleischkonsum etwas „Normales“ seien, auf das wir doch alle ein „Anrecht“ hätten. 40 Prozent des Individualverkehrs dienen reinen Vergnügungs- und Ferienzwecken. Die Autos werden immer grösser und schwerer und die Zahl der in der Schweiz immatrikulierten Personenwagen hat zwischen 2000 und 2022 um 33 Prozent zugenommen, während sich im gleichen Zeitraum die Bevölkerungszahl nur um 21 Prozent erhöht hat – schon spricht man vom Ausbau mehrerer Autobahnabschnitte von vier auf sechs Spuren. Doch es sind nicht nur Freizeitvergnügungen aller Art und der Verkehr, es ist auch die immense, von Jahr zu Jahr wachsende Warenwelt, zahllose Produkte, die uns mit immer aggressiveren Werbemethoden angepriesen werden und die wir dann kaufen, obwohl wir sie gar nicht wirklich brauchen, und die meist über kurz oder lang wieder im Müll landen, so ein Drittel sämtlicher gekaufter Lebensmittel wie auch zwei Fünftel aller gekauften Textilien – ein unbeschreiblicher Verschleiss an Ressourcen, Energie und eine immer weiter zunehmende Bedrohung zukünftiger Lebensgrundlagen.

Was wir brauchen, ist weniger Luxus, dafür mehr Wohlstand. „Die Erde“, sagte Mahatma Gandhi, „hat genug für jedermanns Bedürfnisse, nicht aber für jedermanns Gier.“ Die Klimaerwärmung und ganz allgemein der Verschleiss von Rohstoffen, das Tier- und Pflanzensterben und die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen sind alles Folgen einer aus Rand und Band geratenen Welt, in der sich eine Minderheit der Menschheit auf Kosten der Mehrheit immer mehr verrückte Dinge leisten kann, während ein Achtel der Weltbevölkerung nicht einmal genug zu essen haben und mit einem oder zwei Dollar pro Tag ums Überleben kämpfen müssen. Eigentlich müssten wir nur die Alarmglocken, die zurzeit in Gestalt des Klimawandels immer heftiger an unsere Ohren schlagen, richtig verstehen zu lernen. Es geht nicht nur um Windräder, Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge. Es geht vor allem darum, Mensch und Natur wie auch die Menschen untereinander in Einklang zu bringen und alles gerecht unter alle zu verteilen, um eine Welt zu schaffen, in der ein gutes Leben für alle, für die heutigen wie auch für die zukünftigen Generationen Wirklichkeit werden kann. Auf eine „Arena“-Sendung am Schweizer Fernsehen zu diesem Thema warte ich hoffnungsvoll…

Es braucht eine neue Gesprächskultur: All die Probleme, die gegenwärtig auf unseren Schultern lasten, sind einfach zu gross, als dass wir uns den Luxus leisten könnten, uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen…

 

Der kritische Blick eines Schweizers auf Deutschland sei erlaubt. Dies in einer Zeit, da wir uns fürwahr nicht über einen Mangel an Krisen beklagen können: Klimawandel, Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen, Energieknappheit, Inflation, steigende Lebenskosten, Wohnungsnot, der Krieg in der Ukraine, Migration und Nachwirkungen der Coronapandemie. Freilich beschäftigen auch uns Schweizerinnen und Schweizer diese Themen, und doch scheint mir der Tonfall der öffentlichen Auseinandersetzung in Deutschland um einiges härter und aggressiver zu sein als hierzulande: in den Talkshows am Fernsehen, wo kaum je miteinander, sondern meist nur aneinander vorbei geredet wird, in den Bundestagsdebatten, wo stets die gleichen Fronten unverbesserlich aufeinander prallen, auf öffentlichen Plätzen, wo Rednerinnen und Redner regelrecht niedergebrüllt werden, in den sozialen Medien, wo man sich akribisch auf nur schon die geringsten Missgeschicke des „gegnerischen“ Lagers stürzt.

Vielleicht sind es einfach zu viele Krisen, zu viele Bedrohungen, zu viele Ängste aufs Mal. Aber indem jeder die Schuld nur immer bei den anderen sucht und nie bei sich selber, kommen wir nicht weiter. Die Schuld, dass so vieles aus dem Ruder geraten ist, liegt nämlich nicht so sehr bei einzelnen Politikern oder Vertreterinnen unterschiedlicher Weltanschauungen, sondern zur Hauptsache in jenem Kapitalismus genannten Wirtschaftssystem, in dem wir so tief verwurzelt leben, als gäbe es dazu nie und nimmer eine Alternative. Die Coronapandemie hätte es wahrscheinlich nie gegeben, wenn nicht der Mensch in unersättlicher Profitgier immer mehr in bisher unberührte Lebensgebiete von Wildtieren eingedrungen wäre, was die Gefahr einer Übertragung von Krankheitserregern immer wahrscheinlicher macht, und wenn nicht wieder kapitalistische Profitgier die Globalisierung so vehement immer weiter vorantreiben würde, dass auch die Verbreitung von Krankheitserregern immer schneller vonstatten geht. Auch den Klimawandel gäbe es höchstwahrscheinlich nicht, wenn nicht der unselige kapitalistische Wachstumszwang, wonach die Wirtschaft nie still stehen darf, sondern unaufhörlich wachsen muss, auf diese Weise zu einer immer stärkeren Belastung der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen führen würde. Auch zunehmende Flüchtlingsströme sind eine logische Folge kapitalistischer Weltwirtschaftspolitik, einerseits infolge jahrhundertelanger kapitalistischer Ausbeutung, anderseits durch die Folgen des Klimawandels wie auch durch kriegerische Auseinandersetzungen, bei denen nur zu oft wirtschaftliche Interessen der Grossmächte eine wichtige Rolle spielen. Auch der Krieg in der Ukraine wäre undenkbar, wenn nicht kapitalistisches Grossmachtdenken sowie Macht- und Expansionsbestrebungen unauflöslich miteinander verstrickt wären, so dass, egal ob in „westlicher“ oder „östlicher“ Ausprägung, der Krieg nichts anderes ist als die äusserste und perverseste Form von Kapitalismus – wie dies der französische Sozialist Jean Jaurès so trefflich erkannt hatte: „Der Kapitalismus“, sagte er, „trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ Und auch Armut, wirtschaftliche Probleme, Inflation, Wohnungsnot, alles sind Folgen eines Wirtschaftssystems, in dem nicht die soziale Wohlfahrt an oberster Stelle steht, sondern die Profitmaximierung zu Gunsten einer Minderheit auf Kosten der Mehrheit.

„Was alle angeht, können nur alle lösen“, sagte der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt. Ja, mit gegenseitigen Feindseligkeiten, Schuldzuweisungen und dem Niederbrüllen des politischen Gegners werden wir aus der Sackgasse, in die wir uns verrannt haben, nicht herauskommen, solange der Kapitalismus als weltweit herrschendes Wirtschafts- und Denksystem weiterhin sein Unwesen treibt. Drehen wir doch den Spiess um: Reissen wir die feindselig gegeneinander aufgebauten Mauern ein, führen wir unsere Debatten so, dass sich alle gegenseitig zuhören und sich alle Mühe geben, den anderen zu verstehen. All die Probleme, die gegenwärtig auf unseren Schultern lasten, sind einfach zu gross, als dass wir uns den Luxus leisten könnten, uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Eine schwere Zeit, die uns oft zur Verzweiflung bringen könnte oder zu Mutlosigkeit und Resignation. Aber zugleich eine Zeit, die uns die einmalige Chance bietet, unsere bisherigen Denkvorstellungen, Lebensgewohnheiten, Machtgebilde und gesellschaftspolitischen Muster radikal in Frage zu stellen, um ein unerwartetes, hoffnungsvolles, neues Land zu entdecken: ein Land, in dem weltweit alle Güter gerecht verteilt sind und niemand mehr gezwungen ist, seine eigene Heimat verlassen zu müssen, ein Land, in dem so etwas Absurdes wie Kriege, Reichtum einer Minderheit auf Kosten der Mehrheit und masslose Verschwendung von Ressourcen auf Kosten zukünftiger Generationen für immer der Vergangenheit angehören. Dazu gibt es nicht wirklich eine Alternative. Denn, wie schon der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King sagte: „Entweder werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben oder als Narren miteinander untergehen.“ 

57 private Krankenkassen und Managerlöhne von bis zu einer Million Franken: Was für ein Unfug…

 

Viele Familien, so berichtet der „Tagesanzeiger“ am 24. Mai 2023, wissen kaum mehr, wie sie ihre Krankenkassenprämien noch bezahlen sollen. Diesen Januar sind die Prämien um durchschnittlich 6,6 Prozent gestiegen und im Herbst wird Gesundheitsminister Berset einen weiteren markanten Schub bekannt geben müssen. Dessen ungeachtet klettern die Löhne der Krankenkassenchefs ungebremst in die Höhe: Andreas Schönenberger, CEO der Sanitas, erhielt im vergangenen Jahr 956’486 Franken – rund doppelt so viel wie ein Bundesrat. Auch die Löhne der übrigen Krankenkassenchefs – sämtliche Chefs der zehn grössten Krankenkassen verdienen mehr als ein Bundesrat – sind mehr als fürstlich.

Damit nicht genug. Der Luxus, den sich die Schweiz mit insgesamt 57 privaten Krankenkassen leistet – weltweit wohl ein Unikum – hat weitere gravierende finanzielle Konsequenzen. Denn jede dieser Krankenkassen braucht eine eigene Verwaltung, eigene Gebäude, eine eigene Infrastruktur. Zudem ist jede Kasse, um im Wettbewerb mit ihren Konkurrentinnen mitzuhalten und ihnen möglichst viele Kundinnen und Kunden abzujagen, gezwungen, erhebliche Mittel in die Werbung zu investieren. Schliesslich fallen in Form der Provisionen, welche Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für das Abwerben von Kundinnen und Kunden zugute kommen, weitere Kosten an. So ist es nicht verwunderlich, wenn allein für die Grundversicherung jährliche Verwaltungskosten von insgesamt 1,5 Milliarden Franken anfallen, während etwa die Suva als gesamtschweizerische Unfallversicherungskasse mit einem Drittel davon, nämlich 558 Millionen Franken, auskommt. 

Offensichtlich nehmen in der Schweizer Bevölkerung angesichts des explodierenden Prämiendrucks die Sympathien für eine staatliche Einheitskrankenkasse laufend zu. Bereits viermal wurde über die Einführung einer Einheitskrankenkasse abgestimmt: 1994 wurde das Anliegen mit 77 Prozent Neinstimmen abgelehnt, 2003 waren es 73 Prozent, 2007 71 Prozent und 2014 noch 62 Prozent. Eine gesamtschweizerische Umfrage im Jahre 207 ergab mit 67 Prozent Zustimmung erstmals eine Mehrheit für die Einführung einer Einheitskrankenkasse. Höchste Zeit also für eine fünfte und hoffentlich endgültig letzte Abstimmung über die Einführung einer Einheitskrankenkasse. Gleichzeitig müsste auch eine einkommensabhängige Abstufung der Prämien eingeführt werden. Denn nicht nur die Vielzahl an privaten, sich gegenseitig konkurrenzierenden Kassen bildet einen mit dem gesunden Menschenverstand schon längst nicht mehr nachvollziehbaren Anachronismus, sondern auch die – ebenfalls weltweit als Unikum geltende – Tatsache, dass alle – von der Putzfrau bis zum Bankdirektor – die gleich hohe Prämie zu bezahlen haben.

„Die Bevölkerung“, so schreibt die Branchenorganisation Santésuisse auf ihrer Webseite, „will Wettbewerb und Wahlfreiheit und kein Staatsmonopol.“ Höchste Zeit, diese Behauptung anlässlich einer gesamtschweizerischen Urnenabstimmung auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen… 

Markus Somm und der Mindestlohn: eine reichlich absurde Argumentation

 

„Der Mindestlohn tötet Arbeitsplätze“, schreibt Markus Somm in der „Sonntagszeitung“ vom 21. Mai 2023. Wenn es eine angeblich soziale Massnahme gäbe, die in ihrer Wirkung zutiefst unsozial sei, dann sei dies, so Somm, der Einheitslohn. Denn wenn Unternehmen für einen Mitarbeiter mehr bezahlen müssten, als dieser für sie zu leisten vermöge, würden sie diesen gar nicht erst einstellen, sondern lieber eine Maschine einsetzen oder den Betrieb schliessen. Interessanterweise, so Somm, verstünden die meisten Leute diesen Zusammenhang, ausser sie seien links.

Polemischer und realitätsverzerrender geht es nun wirklich nicht mehr. Somm zufolge müssten dann alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, welche in den Genuss eines Mindestlohns kämen, dafür schuld sein, dass andere Arbeitssuchende gar nicht mehr angestellt würden, weil dies die finanziellen Möglichkeiten des jeweiligen Betriebs glatt überfordern würde. In bekannter Manier wird die heisse Kartoffel sozusagen in die Schuhe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmer geschoben statt dorthin, wo sie eigentlich hingehören: auf die Etagen der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, auf die Kalkulationen der Unternehmen, auf die kapitalistische Arbeitswelt als solche.

Denn Mindestlöhne, von denen man anständig leben kann, müssten eine reine Selbstverständlichkeit sein. In einem Land, wo Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdiener bis zu 10’000 Franken pro Stunde einstreichen, ist es doch eine reine Farce, darüber zu diskutieren, ob ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin das Recht darauf haben sollte, pro Stunde wenigstens 23 oder 25 Franken zu verdienen. Wenn Somm argumentiert, dass ein Unternehmen nicht mehr bezahlen könne, als der einzelne Arbeitnehmer oder die einzelne Arbeitnehmerin zu leisten vermöge, dann ist genau das der springende Punkt und führt uns zur Frage, was denn „Leistung“ tatsächlich sei. Ist die Leistung, welche eine Coiffeuse, eine Krankenpflegerin oder ein Bauarbeiter erbringt, tatsächlich vier-, fünf- oder sechsmal weniger wert als die Leistung eines Informatikers, eines Marketingspezialisten oder einer Universitätsdozentin und gar dreihundert Mal weniger wert als die Arbeit des CEOs einer Grossbank oder eine multinationalen Rohstoffkonzerns? Die Beispiele zeigen, dass in unserer Arbeitswelt und ganz generell in der kapitalistischen Gesellschaft ein völlig verzerrtes Bild von „Leistung“ vorherrscht. Unter „Leistung“ wird nicht die tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung verstanden, sondern das, was der Betrieb am Ende des Monats oder am Ende des Jahres als Reingewinn ausweisen kann – dieser Wert bestimmt den Lohn der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und hat nichts zu tun mit der tatsächlich erbrachten Arbeitsleistung.

Gerechtigkeit entsteht nicht, indem man das bestehende Unrechtssystem analytisch zu begründen, zu rechtfertigen oder zu zementieren versucht – so wie das im Mainstream Denkende wie Somm tun. Nicht die „Linken“ haben Zusammenhänge nicht verstanden, sondern Menschen wie Somm, welche nicht über die Fähigkeit verfügen, aus dem kapitalistischen Denkgebäude und der kapitalistischen „Logik“ auszubrechen. Gerechtigkeit kann nur entstehen, wenn man das bestehende System kritisch hinterfragt und Alternativen aufzuzeigen versucht. Eine radikale Alternative, die aber um ein Vielfaches gerechter wäre als das heutige Lohnsystem, wäre eine Art Einheitslohn. Denn die Coiffeuse und der Bauarbeiter tragen zur Aufrechterhaltung der herrschenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung ebenso einen unverzichtbaren Teil bei wie der Informatiker, die Universitätsdozentin und der Bankdirektor. Und weshalb sollen sie daher nicht auch über das gleiche Einkommen verfügen? Logisch, dass sich ein Einheitslohn nicht von heute auf morgen verwirklichen liesse, aber nur schon die Diskussion darüber könnte uns die Augen dafür öffnen, in welche Richtung sich die Definition einer „gerechten Entlöhnung“ inskünftig bewegen könnte. Man mag die Idee eines Einheitslohns heute noch als „naiv“, „welt- und realitätsfremd“ abtun. Dennoch wäre eine solche Vision um ein Vielfaches weniger absurd und ungerecht als die heutige „Realität“, die es zulässt, dass Abertausende von Menschen rein aufgrund von Börsengewinnen, Dividenden, Erbschaften unsäglich reich werden, ohne dafür einen Finger krümmen zu müssen, während gleichzeitig Zehntausende von Menschen trotz härtester Arbeit nicht einmal genug verdienen, um den Lebensunterhalt einer Familie einigermassen bestreiten zu können. Wenn Markus Somm den „Linken“ vorwirft, sie verstünden nichts von wirtschaftlichen Zusammenhängen, so müsste man ihm den Vorwurf machen, ganz offensichtlich nicht allzu viel zu verstehen von sozialer Gerechtigkeit…

Die Verleihung des Karlspreises an den ukrainischen Präsidenten Selenski: Kriegerische Zeiten sind ganz offensichtlich Zeiten, in denen das Denken und die öffentliche Wahrnehmung in ganz gefährliche Richtungen umgebogen werden…

 

Am 14. Mai 2023 wurde in Aachen der ukrainische Präsident Selenski mit dem renommierten Karlspreis, der alljährlich an bedeutende politische Persönlichkeiten verliehen wird, ausgezeichnet. In ihrer Laudatio sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: „Die ukrainischen Soldaten sichern mit ihrem Blut und ihrem Leben die Zukunft ihrer Kinder, aber auch die unserer Kinder, sie kämpfen für unsere Freiheit und unsere Werte.“ Bundeskanzler Scholz sagte, an der Spitze der Ukraine verteidige Selenski „die Werte, für die Europa steht.“ Und Selenski selber meinte, die Ukraine wolle „nichts lieber als den Frieden“, dieser aber könne nur „mit einem Sieg gewonnen werden.“

So viele Unglaublichkeiten in so kurzer Zeit. Haben Olaf Scholz und Ursula von der Leyen eigentlich geschlafen, als ukrainische Einheiten im Donbass zwischen 2014 und 2022 unzählige Male das Minsker Abkommen zum Schutz der Zivilbevölkerung verletzten, als die rechtsextreme Asowbrigade zahllose Menschenrechtsverletzungen an der russischsprachigen Bevölkerung der Ostukraine verübte, als sämtliche Bücher russischsprachiger Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf Geheiss der ukrainischen Regierung aus den Bibliotheken des Landes entfernt werden mussten, als das Aufführen musikalischer Werke russischer Komponistinnen und Komponisten landesweit untersagt wurde, als in der Ukraine sämtliche regierungskritische Parteien, Zeitungen und TV-Stationen verboten wurden und als ein Sprachengesetz in Kraft gesetzt wurde, welches das Ukrainische als alleinige Staatssprache zulässt und die Verwendung des Russischen im öffentlichen Raum unter Strafe stellt? Das sollen die „Werte“ sein, „für die Europa steht“? Und Selenski also soll derjenige sein, der „an der Spitze der Ukraine“ diese „europäischen Werte verteidigt“? Ja, sie müssen sehr gründlich geschlafen haben, als all das geschah, von dessen Gegenteil sie so euphorisch schwärmen. Und auch Selenski selber: Wie kann er behaupten, die Ukraine wolle „nichts lieber als den Frieden“, und gleichzeitig immer mehr Waffen fordern, um den Krieg sinnlos in die Länge zu ziehen und Abertausende seiner eigenen Mitbürgerinnen und Mitbürger in den sicheren Tod zu schicken. Einen Krieg kann man nicht beenden, indem man siegen will, sondern nur durch einen Waffenstillstand, durch Friedensverhandlungen und gegenseitige Kompromisse. Auch Ursula von der Leyen scheint das alles immer noch nicht begriffen zu haben, wenn sie meint, die ukrainischen Soldaten würden mit ihrem „Blut“ das „Blut und das Leben ihrer Kinder und auch aller anderen europäischen Kinder sichern.“ Man kann nicht Blut mit Blut, Leben mit Leben aufrechnen, das Blut ihrer Männer und ihrer Väter ist das gleiche wie das ihrer Mütter, ihrer Frauen und ihrer Kinder und alles ist stets gleichermassen kostbar. Sein Leben hinzugeben, um das Leben anderer zu retten – was für eine zynische Logik…

An dieser Stelle lohnt sich ein kurzer Blick in die Geschichte des Karlspreises, der seit 1950 für politische Persönlichkeiten bestimmt ist, welche sich in besonderem Masse um die Einigung Europas Verdienst gemacht haben. Schon der Namensgeber des Preises, der deutsche Kaiser Karl der Grosse, bekannt für sein Massaker an 4500 „heidnischen“ Sachsen, irritiert. Auch die Tatsache, dass mehrere Mitglieder des ersten Karlspreisdirektoriums dem Nationalsozialismus nahestanden, muss zu denken geben. Und erst recht wird man stutzig, wenn man sich anschaut, wer im Laufe der Zeit den Preis erhielt und wer nicht. So zum Beispiel war der sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt, der sich wie kein anderer für die Einigung Europas stark machte, für die Mehrheit der damaligen Jury ein „rotes Tuch“. Auch sein Nachfolger Helmut Schmidt wurde bei der Verleihung des Preises übergangen. Dafür erhielten mit Tony Blair 1999 und Bill Clinton 2000 zwei Politiker den Karlspreis, welche  hauptverantwortlich waren für die Nato-Luftangriffe gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Jahre 1999. Ebenfalls in den Genuss des Preises kamen der deutsche Bundespräsident und früheres NSDAP-Mitglied Karl Carstens und der ehemalige amerikanische Aussenminister Henry Kissinger, zu dessen Amtszeit sowohl die Ausweitung des Vietnamkriegs als auch der von den US-Geheimdiensten unterstützte Putsch gegen die Regierung Chiles unter Salvador Allende durchgeführt wurden.

Kriegerische Zeiten sind ganz offensichtlich Zeiten, in denen das Denken und die öffentliche Wahrnehmung in ganz gefährliche Richtungen umgebogen werden. Willy Brandt und Helmut Schmidt würden sich wohl im Grabe umdrehen, wenn sie wüssten, dass der Karlspreis, der ihnen selber versagt geblieben ist, ausgerechnet einem ukrainischen Präsidenten verliehen wurde, der nichts so sehr vorangetrieben hat wie die Spaltung zwischen der russischen und der ukrainischen Volksgruppe in seinem eigenen Land. Olaf Scholz wird nicht müde zu betonen, die heute noch verbliebenen Pazifistinnen und Pazifisten seien „aus der Zeit gefallen“. Die Frage ist, ob nicht viel eher er selber und seine Gesinnungsgenossen und Gesinnungsgenossinnen, die sich längst von der Friedenslogik abgewendet und der Kriegslogik verschrieben haben, aus der Zeit gefallen sind. „Der Krieg“, sagte Willy Brandt vor über 50 Jahren, „darf kein Mittel der Politik sein, es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen, Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio.“ Und Helmut Schmidt meinte: „Lieber Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schiessen.“ Dem ist eigentlich nichts beizufügen.   

Viertagewoche für Coiffeusen und Coiffeure: Doch zu welchem Preis?

 

Rudolf Minsch, Chefökonom von Economiesuisse, steht der Einführung einer 4-Tage-Woche für Coiffeusen und Coiffeure kritisch gegenüber – so berichtet der „Tagesanzeiger“ am 15. Mai 2023. Minsch begründet seine Ansicht so: „Eine Coiffeuse kann die Menge an Haarschnitten pro Tag nicht erhöhen. Eine Reduktion auf vier Tage hätte zur Konsequenz, dass sie pro Tag rund zwei Stunden mehr arbeiten müsste, um dasselbe Arbeitsvolumen zu bewältigen. Würde man aber die Löhne bei weniger Arbeit konstant halten, müssten die Preise um 20 Prozent steigen. Gerade für kleine und mittelgrosse Unternehmen würde die Rechnung nicht aufgehen.“ Womit Minsch nicht ganz Unrecht haben dürfte, wie das Beispiel der Coiffeurkette Adesso Hair Design zeigt, wo die 4-Tage-Woche bereits eingeführt worden ist. „Voraussetzung ist“, so Geschäftsführer Graziano Cappilli, „dass die Angestellte die Mindesterwartungen gemäss Gesamtarbeitsvertrag in Sachen Umsatz erfüllen kann. Sie muss demnach auf einen Kundenstamm zurückgreifen können, mit dem sie mindestens zweieinhalb mal den im Vertrag verankerten Mindestlohn von gut 4000 Franken einbringen kann. Setzt sie mehr um, beteiligt sie der Chef am Umsatz. Zur Belohnung hat sie einen Tag pro Woche mehr frei.“ Erst fünf Coiffeusen, ein Zehntel der gesamten Belegschaft, haben sich für dieses Modell entschieden. Das ist weiter nicht verwunderlich, steigert sich der Zeit- und Arbeitsdruck für jene, die sich einen zusätzlichen freien Tag „erkämpfen“ wollen, doch ganz erheblich: Die Leerzeiten, die üblicherweise 20 bis 30 Prozent der Arbeitszeit ausmachen, fallen vollständig weg, die Coiffeuse ist gezwungen, Tätigkeiten wie das Färben und Waschen an Kolleginnen zu delegieren, sodass sie bis zu drei Kundinnen oder Kunden gleichzeitig bedienen kann. Erholungszeiten wie auch die Mittagspausen, Zeiten für Austausch und womöglich auch Zeiten für Aufräumen oder sonstige Tätigkeiten werden somit auf ein Minimum reduziert. Zudem kann das alles nur funktionieren, wenn eine Coiffeuse auf einen festen Kundenstamm zurückgreifen kann, was sich vor allem für neue und jüngere Angestellte negativ auswirkt und den Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zusätzlich beflügelt, die sich nun gegenseitig mit allen Mitteln Kundinnen und Kunden abzujagen versuchen. Ganz und gar keine Freude an diesem Modell hat daher auch die Gewerkschaft Unia: „Eine Reduktion der Arbeitszeit darf klar nicht dazu führen, dass das gleiche Pensum in weniger Zeit unter noch grösserem Druck erledigt werden muss. Es kann nicht sein, dass Angestellte für Umsatz sorgen müssen, das ist Teil des unternehmerischen Risikos des Arbeitsgebers und darf nicht auf die Angestellten abgewälzt werden.“

Das Beispiel zeigt, dass Reformen innerhalb des kapitalistischen Ausbeutungs- und Profitmaximierungssystems nur bedingt möglich sind bzw. sich für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sogar negativ auswirken können. Hauptursache dafür ist das, man kann fast schon sagen „heilige“ Konkurrenzprinzip: Demzufolge stehen sämtliche Unternehmen der jeweiligen Branche in einem permanenten, knallharten gegenseitigen Konkurrenz- und Verdrängungskampf. Sollen zusätzliche Kundinnen und Kundinnen gewonnen werden, und dies ist freilich das Ziel jedes Unternehmens, dann geht das nur in der Weise, dass man tiefere Preise als die Konkurrenz anbietet. Dies wiederum kann nur erreicht werden durch tiefere Löhne und indem man die Angestellten wie Zitronen auspresst, bis auch noch der letzte Tropfen gewonnen ist. Dass Coiffeusen und Coiffeure mit Monatslöhnen von nicht einmal 4000 Franken mit zu den am schlechtesten entlöhnten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gehören, ist kein Zufall, sondern die ganz logische Folge dieses kapitalistischen Konkurrenzprinzips.

Daher kann eine effektive Lösung des Problems nur darin bestehen, dass dieses kapitalistische Konkurrenzprinzip ausgehebelt wird. Dies würde bedeuten, dass sich die einzelnen Coiffeursalons und Coiffeusenketten nicht mehr als gegenseitig ums Überleben kämpfende Raubtiere verstehen würden, sondern als Verbündete im gemeinsamen Kampf für eine qualitativ hochstehende Dienstleistung, die ihren echten Preis haben muss. Ein Preis, der höchstens nach oben, nicht aber nach unten unterboten werden dürfte, sodass auch eine Coiffeuse und ein Coiffeur einen genug hohen Lohn bekäme, um sich auch ohne knallharten Zeit- und Arbeitsdruck einen wohlverdienten dritten arbeitsfreien Tag leisten zu können. Denn die tatsächlich echte Qualität einer Arbeit darf nicht nur in der Zufriedenheit der Kundinnen und Kunden liegen, sondern vor allem auch in der Zufriedenheit jener Menschen, welche diese Leistung erbringen.

Von den „Negern“ bis zu den „Menschen mit dunklerer Hautfarbe“ – so lange wir nur die Sprache ändern, nicht aber die dahinterliegenden Macht- und Ausbeutungsverhältnisse, ist noch lange nichts gewonnen…

 

„Was darf man noch sagen?“, fragt die „Sonntagszeitung“ am 14. Mai 2023. Im folgenden Artikel werden Beispiele sogenannt „schädlicher“ Wörter aufgeführt, wie sie unter anderem von amerikanischen Eliteuniversitäten publiziert werden, weil sie eine „rassistische“, „sexistische“ oder „verletzende “ Bedeutung haben sollen. Aber auch im deutschsprachigen Raum ist noch nie so heftig wie heute über die politisch korrekte Wahl von Wörtern und Begriffen gestritten worden. Ein Beispiel: Wurde das Wort „Neger“ zunächst durch das Wort „Schwarze“ ersetzt, so war auch dies wiederum nur von kurzer Dauer. Heute spricht man von „Farbigen“ oder „Dunkelhäutigen“. Doch auch diese Bezeichnung wird wohl bald schon der Vergangenheit angehören. So soll aufgrund seiner „kolonialistischen und diskriminierenden Bedeutung“ der Begriff „dunkelhäutig“ gemäss einer neuen Richtlinie der Berliner Polizei durch „Personen mit dunklerer Hautfarbe“ abgelöst werden.

Das Beispiel der „Neger“, die neuestens „Personen mit dunklerer Hautfarbe“ sind, zeigt, stellvertretend für viele andere, dass es sich beim Ansinnen, diskriminierende Begriffe durch weniger diskriminierende zu ersetzen, um ein Fass ohne Boden handelt. Denn früher oder später wird garantiert wieder jemand ein Haar in der Suppe finden . Und das ist sogar ganz einfach. Etymologisch stammt das Wort „dunkel“ nämlich vom mittelhochdeutschen „tunkel“ ab, was so viel bedeutet wie „trübe“, „gedämpft“, „schwer“, „verworren“ und „schwer durchschaubar“. Wohl allzu lange wird sich also der Begriff „Personen mit dunklerer Hautfarbe“ nicht halten können. Wir dürfen wohl gespannt sein, was danach folgen wird. Vermutlich wird der neue Begriff nicht ohne eine noch längere Satzkonstruktion mit möglicherweise einem zusätzlichen oder gar mehreren Nebensätzen auskommen.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich wehre mich nicht gegen das kritische Hinterfragen bestehender Denkgewohnheiten und Verhaltensweisen. Aber man kann den Bogen auch überspannen. Die Problematik der Diskriminierung ist nicht vor allem eine Sache der Sprache, sondern der dahinterliegenden Realität. Da können alte Wörter noch so eifrig durch neue ersetzt werden – so lange sich an den Werthaltungen, die damit verbunden sind, nichts ändert, ist rein gar nichts gewonnen. Man kann eine „Person mit dunklerer Hautfarbe“ genau so erniedrigend behandeln wie einen „Neger“. Im Gegenteil, das neue Wort kann sogar von rassistischem Verhalten ablenken, es verharmlosen, beschwichtigen und als Alibi dafür dienen, dass man scheinbar – aber eben nur oberflächlich – früheres, verwerfliches Verhalten überwunden hätte. Vor allem aber lenkt die „Wortklauberei“ von den tatsächlichen diskriminierenden Machtverhältnissen ab, zum Beispiel von der kolonialistischen Ausbeutung Afrikas, die in Form höchst ungerechter Handelsbeziehungen bis zum heutigen Tag andauert. Da nützt es dann den ausgebeuteten Afrikanerinnen und Afrikanern auf den Kakaoplantagen, in den Ölfeldern und Goldminen herzlich wenig, wenn wir sie nicht mehr herablassend als „Neger“ bezeichnen, sondern, grosszügigerweise, als „Menschen mit dunklerer Hautfarbe“. Fazit: Wir müssen in erster Linie die Machtverhältnisse ändern, nicht die Sprache. Wenn sich die Machtverhältnisse ändern, dann ändert sich die Sprache ganz von selber.

Vor allem aber schafft eine übertriebene, ausufernde Wortklauberei zugunsten angeblich „politischer Korrektheit“ genau das, was sie zu überwinden verspricht: neue Formen von Diskriminierung. Diskriminiert werden nun nicht mehr „Neger“, „Indianer“ oder „Homosexuelle“, sondern jene Menschen, welche sich nicht den neuen Sprachregeln unterwerfen oder diese sogar in Frage stellen. Und so werden dort, wo man alte Gräben zuzuschütten versucht, bloss wieder neue Gräben von Missachtung und Hass aufgerissen. Ja, man sollte unbedingt traditionelle sprachliche Verhaltensweisen kritisch hinterfragen. Aber das ist nur eine halbe Sache, wenn man nicht gleichzeitig auch die dahinterliegenden Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse einer kritischen Überprüfung unterzieht. Sonst würden wir uns in der Illusion wiegen, allein schon durch das Austauschen von alten durch neue Wörter bessere Menschen geworden zu sein. 

Sechs- oder mehrspurige Autobahnen oder wie ein zeitgemässes Gesamtverkehrskonzept auch noch ganz anders aussehen könnte…

 

Der Schweizer Bundesrat hat, wie das „Tagblatt“ vom 11. Mai 2023 berichtet, eine Forderung der SVP übernommen: Die Autobahn A1 soll auf den Streckenabschnitten Bern-Zürich und Lausanne-Genf auf mindestens sechs Spuren ausgebaut werden. Gleichzeitig zeigen neueste Zahlen des Bundesamtes für Umwelt, dass der Verkehr für 30,6 Prozent aller Treibhausemissionen der Schweiz verantwortlich ist und 32 Prozent des gesamten Energieverbrauchs beansprucht. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Anzahl der immatrikulierten Personenwagen zwischen 2000 und 2022 um 33 Prozent zugenommen hat, während sich die Bevölkerungszahl im gleichen Zeitraum nur um 21 Prozent erhöht hat. Bereits ohne den geplanten Ausbau von Autobahnstrecken nimmt die Verkehrsinfrastruktur der Schweiz den im internationalen Vergleich überaus hohen Anteil von einem Drittel der gesamten Siedlungsfläche in Anspruch. 

Höchste Zeit für einen Marschhalt. Denn man braucht nicht allzu viel von Mathematik zu verstehen, um auszurechnen, wie sich alle diese Zahlen in den nächsten 10 oder 20 Jahren weiterentwickeln werden, wenn nicht grundsätzliche verkehrspolitische Weichenstellungen in eine andere Richtung erfolgen. 

Betrachten wir zunächst den Pendlerverkehr. Er ist dadurch bedingt, dass Wohnorte und Arbeitsorte zunehmend weiter voneinander entfernt sind. Arbeiten heute 71 Prozent der Berufstätigen ausserhalb ihrer Wohngemeinde, waren es 1990 erst 58 Prozent. Dazu drei Gedanken: Erstens sollte ein so grosser Anteil der Arbeitswege wie nur möglich mit dem öffentlichen Verkehr abgewickelt werden. Zweitens sollten Arbeitswege, wo immer die Distanz es zulässt, mit dem Fahrrad oder zu Fuss erfolgen, was zwar möglicherweise mehr Zeit „verschlingt“, der Umwelt wie auch vor allem der individuellen Gesundheitsförderung umso mehr zugute kommt. Voraussetzung dafür wären ein grosszügig ausgebautes Radwegnetz und möglichst sichere Fusswege. Drittens, und dies wäre wohl die wirkungsvollste Massnahme, müsste alles daran gesetzt werden, dass Arbeitsorte und Wohnorte möglichst wenig voneinander entfernt wären. Dies lässt sich freilich nur erreichen durch eine gezielte Steuer-, Boden- und Wohnbaupolitik, würde aber nicht zuletzt die Lebensqualität all jener Pendlerinnen und Pendler massiv verbessern, die dann nicht mehr gezwungen wären, bis zu einem Viertel ihres Arbeitstages in einem überfüllten Zug oder Bus oder mit dem zermürbenden Warten in einer Autoschlange zu verbringen.

Ein weiterer grosser Anteil der Gesamtmobilität, nämlich rund 40 Prozent, geht auf das Konto des Freizeitverkehrs. Hier täte ein kritisches Hinterfragen so mancher liebgewonnener Gewohnheiten dringendst Not. Macht es wirklich Sinn, mit dem Auto zum Fitnessclub zu fahren, um dort seine Muskeln zu stärken, oder wäre es nicht gescheiter, sich seine Fitness mit täglichem Radfahren in der freien Natur aufzubauen? Liegt das Schöne immer nur in der Ferne oder gäbe es nicht auch in der nächsten Umgebung des eigenen Wohnortes noch viel Spannendes zu entdecken? Ist das Wandern oder Radfahren durch neue, unbekannte Landschaften nicht so viel erholsamer und erlebnisvoller, als wenn man bloss mit dem Auto in Windeseile alle verborgenen Schätze blindlings an sich vorbeisausen lässt?

Wir sind uns gewohnt, bei der Arbeit wie auch im Alltag, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel zu erledigen. Wenn wir für eine Strecke von A nach B mit dem Auto 20 Minuten benötigen, mit dem öffentlichen Verkehr aber eine halbe Stunde, dann nehmen wir in aller Regel das Auto. Wir könnten aber auch den Zug nehmen und in dieser „verlorenen“ Zeit ein Buch lesen und hätten die „verlorene“ Zeit schon wieder gewonnen. So oft ist Zeit, die „verloren“ zu gehen scheint, bei näherer Betrachtung Zeit, die man gewinnt. Wir brauchen, so irritierend das auf den ersten Blick klingen mag, eine neue Kultur der Langsamkeit. Der Zwang, in immer kürzerer Zeit immer mehr erledigen, verprassen und geniessen zu wollen, wird uns an einen Punkt bringen, an dem das ganze System kollabiert und es am Ende überhaupt nichts mehr zu geniessen gibt. Schon heute verbraucht die Schweiz drei Mal so viel Energie und Ressourcen, als die Erde auf natürliche Weise im gleichen Zeitraum wieder zu regenerieren vermag. Der Klimawandel, das Tier- und Pflanzensterben und der Verlust an Biodiversität bedrohen zunehmend unsere zukünftigen Lebensgrundlagen. Ob wir wollen oder nicht: Ohne ein radikales Hinterfragen unserer bisherigen Verschwendungssucht besteht wenig Aussicht darauf, dass all das, was uns heute noch selbstverständlich erscheint, auch in 10 oder 20 Jahren noch selbstverständlich sein wird.

„Was alle angeht, können nur alle lösen“, sagte Friedrich Dürrenmatt. Unsere Verkehrsgewohnheiten geben das beste Beispiel dafür ab. Das private Automobil, in grossem Stil aufgekommen nach dem Zweiten Weltkrieg, basiert auf dem Irrglauben grenzenloser Freiheit, die sich heute immer stärker als Illusion entpuppt, bedroht die „Freiheit“ der einen doch in immer stärkerem Ausmass die Freiheit aller anderen. Der öffentliche Verkehr dagegen beruht auf der genialen Idee, dass Mobilität etwas ist, was „alle angeht“ und daher auch nur „von allen gelöst“ werden kann. Dies würde voraussetzen, das öffentliche Verkehrsnetz so weit auszubauen, dass das private Automobil früher oder später überflüssig geworden sein wird bzw. nur noch für jene Zwecke gebraucht wird, wo es keine sinnvolle Alternative gibt, also zum Beispiel für Ambulanzen, Polizei, Handwerker, Bau- und Transportgeschäfte, abgelegene Berggebiete, Transport älterer oder behinderter Menschen, usw. 

Eine logische Konsequenz aller dieser Überlegungen wäre die Einführung eines Nulltarifs im öffentlichen Verkehr. Denn rechnet man all die Kosten zusammen, die heute für den Bau und Unterhalt von Strassen, für die Herstellung und den Betrieb von Automobilen sowie für Massnahmen zu Umwelt- und Klimaschutz ausgegeben werden, so müsste die Finanzierung eines kostenlosen öffentlichen Verkehrssystems nicht allzu unrealistisch erscheinen. Und das Beste ist: Eine solches radikales Gesamtverkehrskonzept müsste von niemandem als Verlust, Verzicht oder Einschränkung empfunden werden, sondern wäre ein Gewinn für alle. 

Wladimir Putins Rede zum 9. Mai: Was war zuerst, das Huhn oder das Ei?

 

Am 9. Mai feierte Russland wie jedes Jahr den Sieg über Nazideutschland. In seiner zehnminütigen Rede sagte Putin – so der „Tagesanzeiger“ vom 10. Mai 2023 -, Russland befinde sich auch heute in einem „echten Krieg“. Putin verdrehe dabei, so der „Tagesanzeiger“, einmal mehr die Wirklichkeit, indem er behaupte, dass der Westen Russland bekämpfe und sich sein Land bloss dagegen verteidige. Seit Monaten wiederhole er immer wieder die gleiche Propagandabotschaft, dass eine „westliche Elite“ Hass und Russophobie säe, Russland spalten und zerstören wolle. Ähnlich hätte es bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an einer russischen Gedenkfeier auf dem Zürcher Hörnlifriedhof getönt: „Hier feiert“, so der „Tagesanzeiger“, „eine prorussische Gemeinschaft sich selbst. Man glaubt daran, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.“

Nicht anders tönt es, wenn man sich die Rhetorik der westlichen Exponentinnen und Exponenten in Bezug auf den Krieg in der Ukraine anschaut. Auch hier ist immer wieder vom Kampf des „Guten“ gegen das „Böse“ die Rede und davon, auf der „richtigen Seite der Geschichte“ zu stehen. Die Auseinandersetzung erinnert unwillkürlich an die uralte Frage, was denn zuerst gewesen sei, das Ei oder das Huhn? Ist Russland eine machtgierige, von nichts zurückschreckende Diktatur, deren Ziel es ist, längerfristig ganz Europa unter seine Gewalt zu bringen – und die Expansion der Nato und die militärische Aufrüstung der Ukraine bloss im Sinne von Selbstverteidigung das legitime Mittel, dies zu verhindern? Oder ist es genau umgekehrt: Die Nato und die militärische Aufrüstung des Westens eine lebensgefährliche Bedrohung der russischen Souveränität? Wer sich nicht blindlings auf die eine oder andere Seite schlägt, findet wohl für seine je eigene Version stets genügend stichhaltige Argumente. 

Wer sich dagegen die Mühe nimmt, seine ideologischen Scheuklappen abzulegen und seine eigenen vermeintlichen „Wahrheiten“ kritisch zu hinterfragen, für den wird das gängige Schwarzweissbild bald einmal zu einem Bild unterschiedlicher Grautöne. Bestand Putins Rede am 9. Mai tatsächlich aus lauter Propagandabotschaften und war sie tatsächlich so „krud“ und „irritierend“, wie ihr von westlichen Medien unterstellt wurde? Einige Zitate westlicher Politikerinnen und Politiker mögen uns rasch eines Besseren belehren. So etwa forderte Zbigniew Brzezinski, ehemaliger US-Politberater, im Jahre 1997 eine „möglichst weitreichende Osterweiterung der Nato“, um „Amerikas Vormachtstellung in Eurasien zu sichern.“ Zwölf Jahre später sprach er erneut von einer „neuen Weltordnung“, welche „gegen Russland“ errichtet werden sollte, „auf den Ruinen Russlands und auf Kosten Russlands.“ Ben Hodges, ehemaliger Befehlshaber der US-Armee in Europa, sah 2020 das Ziel der US-Militärpolitik darin, Russlands „Spaltung und Zerfall“ herbeizuführen. 2022 erklärte Douglas McGregor, ehemaliger US-Sicherheitsberater: „Acht Jahre haben wir gebraucht, diese Armee der Ukraine zu dem einzigen Zweck aufzubauen, um Russland anzugreifen.“ US-Präsident Joe Biden sprach im gleichen Jahr von einer „Schlacht, die nicht in Tagen oder Monaten geschlagen sein wird.“ Die deutsche Aussenministerin Analena Baerbock befürwortete die Wirtschaftssanktionen gegen Russland damit, sie würden „Russland ruinieren“. Und die damalige britische Premierministerin Liz Truss verstieg sich sogar zur Aussage, sie würde einen „Atomschlag gegen Russland durchführen, auch wenn das Ergebnis eine weltweite Vernichtung wäre.“ Dabei mangelte es nicht an kritischen Stimmen gegen diese aggressive Droh- und Machtpolitik gegenüber Russland. Bereits 1997 warnte der US-Historiker George F. Kennan, dass die Entscheidung, die Nato bis an die Grenzen Russlands auszudehnen, der „verhängnisvollste Fehler“ sei, der die russische Aussenpolitik „in eine Richtung zwingen könnte, die uns entschieden missfallen wird.“ Im gleichen Jahr liess der damalige US-Senator und heutiger US-Präsident Joe Biden verlauten: „Das Einzige, was Russland zu einer heftigen Reaktion provozieren kann, ist die Erweiterung der Nato auf die baltischen Staaten.“ Und die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel schien bereits 2008 künftiges Unheil vorauszusehen, als sie sagte, dass ein Beitritt der Ukraine zur Nato „aus der Perspektive Russlands als Kriegserklärung angesehen“ würde. Die wesentliche Mitschuld des Westens am Ukrainekrieg teilt auch der US-Publizist Noam Chomsky, der davon sprach, dass sich der Westen mit der Aufrüstung der Ukraine ab 2014 in einen Bereich einmischte, den „jeden russischen Führer als untragbar ansehen musste.“ Und Papst Franziskus erklärte im Mai 2022: „Vielleicht war es die Nato, die Putin dazu veranlasste, eine Invasion der Ukraine zu entfesseln. Ich glaube, dass die Haltung des Westens wesentlich zu diesem Krieg beigetragen hat.“ So ganz aus der Luft gegriffen, so propagandistisch, so krud und so irritierend, wie ihnen von den westlichen Medien unterstellt wurde, scheinen also die Erklärungen Putins in seiner Rede am 9. Mai in Moskau nicht gewesen zu sein. Dies umso weniger, als man sich einmal das Umgekehrte vorzustellen versucht, nämlich, dass Mexiko oder Kanada oder gleich alle beide einem Militärbündnis mit Russland beitreten würden – die darauf erfolgende Reaktion der USA kann man nur im Entferntesten erahnen…

Das Huhn oder das Ei. Man könnte lang hin- und herdiskutieren. Vielleicht käme man am Ende zum Schluss, dass die Wahrheit weder gänzlich auf der einen noch gänzlich auf der anderen Seite liegt, sondern irgendwo dazwischen. Doch weil die einen ebenso felsenfest davon überzeugt sind, dass Russland der Hauptschuldige sei, wie die anderen ebenso felsenfest davon überzeugt sind, dass der Westen der Hauptschuldige ist, macht dies eine Lösung des Konflikts so schwierig, ja nahezu unmöglich. Eine Lösung wird nur möglich, wenn beide Seiten von ihrer Maximalposition Abschied nehmen und bereit sind, die eigene Schuldhaftigkeit und Mitverantwortung einzugestehen. Der Friedenslogik gegenüber der Kriegslogik eine Chance zu geben. Das würde ganz simpel mit einem kleinen Schritt möglich werden, nämlich der Bereitschaft, anzuerkennen, dass, wie es der Philosoph Hans-Georg Gadamer sagte, „auch der andere Recht haben könnte.“ 

Gestern flimmerte der erste Halbfinal des Eurovision Song Contest über die TV-Bildschirme. Am Eröffnungsakt waren ein britischer Junge und ein Mädchen aus der Ukraine beteiligt, zwischen ihnen eine unsichtbare Trennwand, die sich in dem Moment auflöste, als die Kinderhände sie berührten, worauf die beiden Kinder gemeinsam ihren Weg gingen. Um wie viel bedeutungsvoller hätte diese zauberhafte Szene wohl wirken können, wenn sich nicht ein englischer Junge und ein Mädchen aus der Ukraine gefunden und befreit hätten, sondern ein Kind aus der Ukraine und eines aus Russland…

Der „Club“ diskutiert über die Sinnhaftigkeit beruflicher Tätigkeit: Die im Lichte sieht man, die im Dunklen sieht man nicht…

 

„Wer will noch arbeiten?“ – dies die Fragestellung, über die im „Club“ vom 2. Mai 2023 im Schweizer Fernsehen diskutiert wurde. Schnell war man sich in der Runde darin einig, dass Arbeit Spass machen und als sinnvoll empfunden werden sollte. Die junge Radiomoderatorin könnte sich vorstellen, so lange zu arbeiten, „bis ich tot umfalle“. Auch die Pflegefachfrau empfindet ihren Beruf als sinnstiftend, wenngleich sie die prekären Arbeitsbedingungen beklagt, welche zur Folge hätten, dass ein grosser Teil ihrer Arbeitskolleginnen ihren Job bereits nach zwei- oder dreijähriger Tätigkeit wieder aufgeben. Gegen Ende der Sendung wurde als besonders vorbildliches Beispiel der mittlerweile 92jährige Zigarrenpatron Heinrich Villiger eingeblendet, der immer noch jeden Tag bis 21 Uhr arbeitet – so viel Spass und Genugtuung verleiht ihm seine Tätigkeit.

Dieser „Club“ ist nicht die erste Sendung dieser Art, welche einen gravierenden Mangel aufweist, nämlich den, dass sie einen überwiegenden Teil der gesellschaftlichen Realität ausblendet. Es ist ja gut und schön, wenn sich die Diskussionsteilnehmerinnen und Diskussionsteilnehmer darin einig sind, dass ihr Beruf im Idealfall Spass machen und als sinnvoll empfunden werden sollte. Was aber ist mit all jenen Berufen, in denen sich dieser Spass, diese Sinnhaftigkeit und diese Genugtuung auch mit dem besten Willen nicht einstellen wollen? Was ist mit der Angestellten im Supermarkt, die während acht oder neun Stunden pro Tag nichts anderes tut, als Verkaufsregale aufzufüllen, die umgehend von der Kundschaft wieder geleert werden? Was ist mit dem Koch, der während neun oder zehn Stunden pro Tag nicht nur pausenlosem Stress, sondern auch quälender Hitze und anstrengendster Körperhaltung ausgesetzt ist? Was ist mit dem Zimmermädchen im Hotel, das im Zehnminutentakt Zimmer um Zimmer reinigen und herrichten und nicht selten ekligste Abfälle der abgereisten Gäste entsorgen muss? Was ist mit der Fabrikarbeiterin am Fliessband, die tausendmal am Tag immer wieder den gleichen Handgriff ausüben muss? Was ist mit dem Velokurier, der während seiner ganzen Arbeitszeit so grossem Zeitdruck ausgesetzt ist, dass er nicht einmal eine Toilette aufsuchen kann, sondern in eine mitgenommene Flasche pinkeln muss? Was ist mit den Kehrichtmännern, den Postboten, den Serviceangestellten, den Bauarbeitern, den Landarbeiterinnen, den Putzfrauen und dem Reinigungspersonal auf den Bahnhöfen und in den Zügen? 

Sie alle, die Ausgeschlossenen und Ausgeblendeten, die in dieser und in so vielen anderen Diskussionssendungen und öffentlichen Veranstaltungen oder Fachreferaten nicht vorkommen, können vom Luxus, über die Sinnhaftigkeit beruflicher Arbeit nachzudenken, nur träumen. Aber noch schlimmer: Während Besserverdienende die Möglichkeit haben, ihr Arbeitspensum zu reduzieren, um die tägliche Arbeitsbelastung erträglicher zu machen, ist den Schlechterverdienenden auch noch diese Möglichkeit verwehrt, da sie sich dies aus finanziellen Gründen gar nicht leisten könnten. Im Gegenteil. Sie verdienen oft selbst mit einem Beschäftigungsgrad von 100 Prozent so wenig, dass sie gezwungen sind, nebst ihrer hauptberuflichen Tätigkeit einer zweiten oder gar dritten Beschäftigung nachzugehen, frühmorgens Zeitungen auszutragen, am Wochenende in einem Restaurant auszuhelfen oder spätabends Büroräumlichkeiten oder Fabrikhallen zu putzen.

Zwei Welten im gleichen Land. Die einen schwärmen von der Sinnhaftigkeit beruflicher Tätigkeit. Die anderen schuften sich zu Tode und können sich dennoch oft kaum das Nötigste für den täglichen Lebensunterhalt leisten. Oder, wie Bertolt Brecht so treffend sagte: „Die im Lichte sieht man, die im Dunklen sieht man nicht.“ 

Was jetzt folgt, ist eine Zukunftsvision in zwei Teilen. Der erste Teil besteht in der These, dass es nicht so etwas wie „wichtige“ und „unwichtige“ Berufe gibt, sondern jede berufliche Tätigkeit für das Funktionieren von Wirtschaft, Gesellschaft und allgemeinem Wohlergehen gleichermassen unentbehrlich ist. Wenn aber alle beruflichen Tätigkeiten den gleichen gesellschaftlichen Stellenwert haben, dann müssten sie logischerweise auch die gleiche Wertschätzung geniessen, die gleiche „Sinnhaftigkeit“ haben und mit dem gleichen Lohn entschädigt werden.

Der zweite Teil meiner Zukunftsvision besteht in der These, dass es nun einmal naturgemäss berufliche Tätigkeiten gibt, in denen sich Menschen voll und ganz verwirklichen und in denen sie einen lebenserfüllenden Sinn finden können, während es auf der anderen Seite ebenso naturgemäss zahlreiche berufliche Tätigkeiten gibt, denen eine solche Sinnhaftigkeit mit bestem Willen nicht abzugewinnen ist, die aber trotzdem von irgendwem verrichtet werden müssen, damit Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes funktionieren können. Ist es nun gerecht, einen Teil der Bevölkerung mit „sinnhaften“ beruflichen Tätigkeiten zu privilegieren und den übrig bleibenden Rest „unliebsamer“, mühsamer und routinehafter Tätigkeit dem anderen Teil der Bevölkerung aufzubürden? Wäre es nicht viel gerechter, beides unter alle fair zu verteilen? Das könnte dann zum Beispiel so aussehen, dass sämtliche Berufstätige an drei Tagen pro Woche in ihrem „sinnerfüllten“ Traumberuf arbeiten könnten und  während der übrigen zwei Tage einen „Knochenjob“ in einem jener Bereiche übernehmen würden, welche für die Aufrechterhaltung von Wirtschaft und Gesellschaft unverzichtbar sind. So wäre alles auf alle Schultern gerecht verteilt, niemand müsste sich ausgenützt oder benachteiligt fühlen, der soziale Zusammenhalt würde enorm gestärkt und die heute herrschende „Klassengesellschaft“, an deren oberem Ende ein paar hunderte Male höhere Löhne und ein Vielfaches mehr an Wertschätzung sprudeln als am unteren Ende, würde endgültig der Vergangenheit angehören.

Eine Zukunftsvision, die sich freilich nicht von heute auf morgen verwirklichen lässt, aber doch den Blick dafür öffnen könnte, wie die Arbeitswelt in Zukunft organisiert werden könnte, damit Arbeit, die mit Spass, Freude und Genugtuung verbunden ist, nicht mehr das Privileg Einzelner wäre, sondern für alle Berufstätigen zur Selbstverständlichkeit würde. Damit sich nicht nur eine junge Radiomoderatorin und ein 92jähriger Tabakunternehmer, sondern sämtliche Menschen vorstellen könnten, so lange zu arbeiten, bis sie „tot umfallen.“