Archiv des Autors: Peter Sutter

Ohne Wut wird sich nichts ändern, aber handeln müssen wir aus Zärtlichkeit…

 

Geht es nur mir so oder empfinden das andere gleich? Allenthalben scheint in politischen Auseinandersetzungen ein immer rauerer Ton zu herrschen, immer härtere gegenseitige Beschuldigungen, immer weniger Bereitschaft sich gegenseitig zuzuhören, immer mehr Hass. Angefangen hatte es wohl schon lange vor dem Beginn der Coronapandemie, hatte aber wohl in dieser Zeit deutlich zugenommen, sich in Zeiten sozialer und wirtschaftlicher Verwerfungen und des drohenden Klimawandels weiter zugespitzt und mit dem Ukrainekonflikt eine weitere drastische Verschärfung angenommen. Dabei dringt buchstäblich die hässlichste Seite des Menschen immer stärker an die Oberfläche: der Hass. Längst scheint es in vielen Auseinandersetzungen nicht mehr um die Sache zu gehen und darum, gemeinsame Lösungen zu finden, sondern bloss noch darum, den „Gegner“ fertigzumachen, indem man ihm seine eigenen Worte im Munde umdreht, ihn einer zuvor bestimmten „Hasskategorie“ zuordnet und sich selber als das „Gute“ und den anderen als das „Böse“ darstellt.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich sage nicht, dass man nicht kritisch sein soll. Ich sage auch nicht, dass man nicht kämpfen soll. Ich sage nur, dass man nicht hassen sollte. Denn Hass löst nie ein Problem. Hass reisst nur Gräben auf, schafft Fronten, entzweit die Menschen voneinander, führt stets zu Verhärtungen und bringt nie echten Fortschritt. Hass ist die Fortsetzung des Kriegs mit weniger tödlichen, aber dennoch zerstörerischen Folgen, Krieg im Kleinen.

Wer sich für echte, radikale Veränderungen einsetzen will, muss nicht zum Instrument des Hasses greifen, sondern zum Instrument der Liebe. Die Liebe ist unendlich viel wirkungsvoller als der Hass. „Auf der Welt gibt es nichts, was weicher und dünner ist als das Wasser“, sagte der chinesische Philosoph Laotse vor über 2500 Jahren, „doch um Hartes und Starres zu bezwingen, kommt nichts diesem gleich. Das Weichste in dieser Welt überwindet das Härteste.“ Und der deutsche Liedermacher Konstantin Wecker sagte: „Ohne Wut wird sich nichts ändern. Aber handeln müssen wir aus Zärtlichkeit.“ Ja, die Wut und die Empörung über soziale Missstände, Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt sind die unentbehrlichen Antriebskräfte zu dauerhaften Veränderungen. Aber der Weg zur Veränderung darf nicht ein Weg des Hasses sein, er muss ein Weg der Liebe sein. Selbst Nelson Mandela, der 30 Jahre lang im Gefängnis sass und allen Grund zu Hass gehabt hätte, sagte: „Niemand wird geboren, um andere Menschen zu hassen. Der Hass wird den Menschen beigebracht, aber ebenso kann ihnen auch die Liebe beigebracht werden.“ 

Die Liebe stellt die Dinge auf den Kopf. Sie ist das Geheimnis, das den „Feind“ zum Freund werden und uns erkennen lässt, dass wir alle auf der gleichen Erde leben und es, wie Martin Luther King sagte, nur ein gemeinsames Überleben oder einen gemeinsamen Untergang gibt, aber nichts dazwischen. Dieser Tage, und dies war wohl auch der Auslöser meines Artikels, schickte mir eine 14jährige Schülerin eine Kurzgeschichte, die sie für ein Schreibprojekt verfasst hatte. In ihrem Text befasst sie sich mit der Liebe. Ein Junge namens Leon hatte herausgefunden, dass Liebe im Alltag mehr zu bewirken vermochte als Hass: „Leon hatte begriffen, dass Liebe etwas vom Wichtigsten auf der Welt ist. Wenn alle Menschen Liebe in sich tragen würden, gäbe es all diesen Hass, diese Verbitterung und diese Kriege gar nicht mehr. Und zum ersten Mal hatte er verstanden, dass es wirklich Sinn macht, auch seine Feinde zu lieben.“ Was die heute 14Jährige in 30 oder 40 Jahren über die heutige Zeit und all die Wirrnisse, in die wir uns verstrickt haben, wohl denken wird?  

KI – der fatale Traum milliardenfach sich replizierender Algorithmen und dass die von Menschen dominierte Geschichte an ihr Ende käme…

 

„Lernfähigkeit“, so Jürgen Schmidhuber, wirtschaftlicher Direktor des schweizerischen Forschungsinstituts IDSIA in Lugano, in der „NZZ am Sonntag“ vom 30. April 2023, „ist in der Tat das zentrale Merkmal moderner künstlicher Intelligenz. Mit KI betriebene Netzwerke werden in absehbarer Zeit in der Tat bessere allgemeine Problemlöser sein als alle Menschen. Und eines Tages wird es viele Geräte geben, von denen jedes so viel rechnen kann wie alle zehn Milliarden Menschen zusammen. Sie werden sich nicht mit dem Leben auf der Erde zufrieden geben, sondern vielmehr an den unglaublichen Möglichkeiten im Weltraum interessiert sein. Sie werden auswandern wollen und mithilfe unzähliger sich selbst replizierender Roboterfabriken im All zuerst das Sonnensystem, dann die Milchstrasse und in zig Milliarden Jahren den Rest des erreichbaren Universums umgestalten wollen. Eine phantastische Entwicklung steht bevor. Die von Menschen dominierte Geschichte könnte sich dem Ende zuneigen.“

Die KI-Netzwerke sollen bessere Problemlöser werden als alle Menschen? Eine phantastische Entwicklung soll uns bevorstehen? Die von Menschen gemachte Geschichte soll sich dem Ende zuneigen? Was Schmidhuber hier beschreibt, ist nichts anderes als die perfekte Fortschreibung des Kapitalismus mit anderen Mitteln. Wurde bis anhin der Mensch durch vielfältigste Formen von Erziehung, Manipulation und Propaganda darauf getrimmt, im kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem möglichst reibungslos und gewinnbringend zu funktionieren, so wird dieser Prozess nun mithilfe der Künstlichen Intelligenz sozusagen objektiviert, verabsolutiert, materialisiert und perfektioniert bis in die fernste Zukunft hinein, so wie eine alleinseligmachende Religion, zu der es keine Alternative gibt: Was KI denkt und tut – und uns Menschen in letzter Konsequenz überflüssig macht – kann ja nicht falsch sein, nur Menschen können Fehler machen und sich irren, nicht aber Maschinen und künstliche Denksysteme. Es ist der letzte Schritt zur Verabsolutierung und Verewigung des kapitalistischen Machtsystems und treibt alles Bisherige auf die äusserste Spitze. Die kapitalistische Ideologie des immerwährenden Wachstums und der unbegrenzten Welteroberung dehnt sich ins Unendliche aus und erobert selbst nicht nur die Milchstrasse, sondern „in zig Milliarden Jahren auch noch den ganzen Rest des erreichbaren Universums“ in einer Welt, in der sich „die von Menschen dominierte Geschichte ihrem Ende zugeneigt haben wird.“

Doch wollen wir tatsächlich eine Welt, in der wir eines Tages überflüssig geworden sein werden? Kann und soll menschliche „Intelligenz“ allen Ernstes dazu dienen, den Menschen überflüssig zu machen? Hätten wir nicht genug Probleme in unserer Zeit, die wir auch ganz ohne künstliche Intelligenz, bloss mit ein bisschen gesundem Menschenverstand, lösen könnten: Armut, soziale Ungleichheit, Hunger, Kriege, Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen? Die Verabsolutierung der künstlichen Intelligenz macht uns blind dafür, dass die wertvollsten menschlichen Eigenschaften eben gerade nicht jene sind, welche sich in Zahlen und Algorithmen ausdrücken und umrechnen lassen. Die wertvollsten menschlichen Eigenschaften, all jene, die tatsächlich zu einer Lösung all unserer drängenden Gegenwarts- und Zukunftsprobleme beitragen können, sind die soziale Empathie, das Mitleid, die Liebe, die Fürsorglichkeit, die menschliche Anteilnahme, die Phantasie, der Sinn für soziale Gerechtigkeit und der Humor, kurz: genau all das, was der künstlichen Intelligenz fehlt und sie daher so „unmenschlich“ macht. Der Grundirrtum der künstlichen „Intelligenz“ liegt nur schon in ihrer eigenen Selbstdefinition, in der Reduktion von „Intelligenz“ auf den winzigsten – und zugleich unheilvollsten – Teil jener unfassbaren Vielfalt von Begabungen, zu denen Menschen fähig sind. Träumt Schmidhuber von einer Welt, in der „unzählige sich selber replizierende Roboterfabriken den Rest des erreichbaren Universums umgestalten werden“, so träume ich von einer Welt, in der das wertvollste Gut der Menschen, die Liebe, derart milliardenfach sich selbst replizieren wird, dass die Erde endlich jenes Paradies werden kann, das sich sie Menschen schon seit Urgedenken erträumt haben. 

Sozialpolitik und Umweltpolitik nicht gegeneinander ausspielen, sondern miteinander in Einklang bringen: Ohne soziale Gerechtigkeit ist alles nichts…

 

Politische Parteien wie die SVP in der Schweiz oder die AfD in Deutschland hetzen gegen klimapolitische Massnahmen wie Preiserhöhungen, Sparappelle oder Einschränkungen umweltschädlicher Lebensgewohnheiten mit dem Argument, all dies treffe vor allem die „unteren“, ärmeren, an sich schon benachteiligten Bevölkerungsschichten. Während diese ihren Gürtel immer enger schnallen müssten und die Kosten für Strom, Heizung oder Benzin einen immer grösseren Teil ihres sowieso schon knappen Haushaltsbudgets wegfressen würden, könnte sich der reichere Teil der Bevölkerung weiterhin teure Luxusautos, den Swimmingpool im eigenen Garten oder die Ferienreise auf einem Kreuzfahrtschiff leisten.

Diese Argumentation leuchtet auf den ersten Blick durchaus ein. Doch vermischt sie zwei Fragestellungen, die nur bedingt etwas miteinander zu tun haben. Die erste Fragestellung ist eine umweltpolitische. Hier geht es um möglichst wirkungsvolle Massnahmen gegen den Klimawandel – der Notwendigkeit solcher Massnahmen lässt sich aus wissenschaftlicher Sicht wohl kaum widersprechen. Jeder noch so kleine Schritt, um den CO2-Ausstoss zu verringern, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die zweite Fragestellung ist eine sozialpolitische. Es ist in der Tat höchst stossend, dass von jeder noch so geringen Klimaschutzmassnahme stets die weniger Verdienenden ungleich viel härter betroffen sind als die besser Verdienenden. Der daraus entstehende Unmut der „Unteren“ gegen die „Oberen“ ist nur allzu verständlich und kann denn auch von den entsprechenden Parteien erfolgreich ausgeschlachtet werden – vor allem dann, wenn, wie das zum Beispiel in Deutschland der Fall ist, Politikerinnen und Politiker bei jeder Gelegenheit für ihre Staatsbesuche ein Flugzeug oder eine teure Staatskarosse benützen oder wenn ein neues Bundeskanzleramt gebaut werden soll, achtmal so gross wie das Weisse Haus, auf einer Fläche von 50’000 Quadratmetern, für 770 Millionen Euro.

Dies alles macht deutlich, dass es, um wirksame Umweltpolitik, aber auch wirksame Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik zu machen, einer unerlässlichen Grundvoraussetzung bedarf. Diese Grundvoraussetzung, das ist die soziale Gerechtigkeit. Nur wenn von Sparmassnahmen, höheren Kosten oder Einschränkungen von Lebensgewohnheiten alle Bevölkerungsgruppen in gleichem Masse betroffen sind, sind sie allgemein akzeptierbar und umsetzbar. Im Idealfall verfügten alle Menschen über das gleich hohe Einkommen – in Form eines Einheitslohns – und das gleich hohe Vermögen, genau im Gegensatz zur aktuellen Entwicklung, bei der die Schere zwischen ärmeren und reicheren Bevölkerungsgruppen immer weiter auseinandergeht. Soziale Gleichheit wäre nicht nur gut im Hinblick auf umweltpolitische Fragen, sondern würde fraglos auch den ganzen gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern wie auch gleiche Chancen für alle endlich nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Realität verwirklichen.

Zukunftsmusik, zweifellos. Doch die Utopien von heute können, wenn wir das wollen, die Realität von morgen werden. Umweltpolitik und Sozialpolitik lassen sich, auch wenn das die meisten „Realpolitiker“ nicht wahrhaben wollen, schlicht und einfach nicht voneinander trennen. Wir müssen nicht nur der Umwelt, der Natur und dem Klima Sorge tragen, sondern vor allem auch den Menschen, die hier und heute leben. Wenn, wie dies beispielsweise in der Schweiz der Fall ist, Hunderttausende von Menschen selbst bei voller Erwerbsarbeit so wenig verdienen, dass sie davon nicht einmal ausreichend leben können, dann ist das ein Skandal, den man eigentlich keinen einzigen weiteren Tag lang hinnehmen dürfte und mit den gleichen notrechtlichen Massnahmen, die man zur Sanierung maroder Banken ergreift, aus der Welt geschafft werden müsste. Umweltpolitik und Sozialpolitik dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, alles gehört mit allem zusammen. Genau so, wie es der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ Oder, in Abwandlung jenes berühmten Zitats des früheren deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt, wonach Frieden zwar nicht alles sei, aber alles nichts sei ohne den Frieden: Auch die soziale Gerechtigkeit ist nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts.  

Zunehmender Fachkräftemangel: Die vom Arbeitgeberverband vorgeschlagenen Massnahmen wären reine Symptombekämpfung…

 

Wie das „Tagblatt“ am 25. April 2023 berichtet, zeichnet sich in der Schweiz ein zunehmender Fachkräftemangel ab. Bereits sind 120’000 Stellen unbesetzt und gemäss Schätzungen von Arbeitgeberseite werden bis 2030 eine halbe Million Arbeitskräfte fehlen. Der Arbeitgeberverband schlägt daher verschiedene Massnahmen vor, um gegen diesen Missstand anzukämpfen. Zunächst müsse das Arbeitsvolumen erhöht werden, indem die Menschen „mehr und länger arbeiten“. Ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssten „länger im Arbeitsmarkt gehalten“ werden, um „bis ins Alter von 70 Jahren oder noch länger“ berufstätig zu sein. Schliesslich fordert der Arbeitgeberverband einen „Ausbau von Drittbetreuungsplätzen“. Wobei jeder staatliche Franken, der die Kinderbetreuung subventioniere, in „zusätzliche Arbeit oder Aus- und Weiterbildung“ fliessen müsse und „nicht in Freizeit“.

Die Forderungen des Arbeitsgeberverbands suggerieren, dass die Menschen in der Schweiz generell zu wenig lange arbeiten. Immer wieder ist auch der Vorwurf zu hören, zu viele Menschen würden ihr Arbeitspensum reduzieren, um dadurch mehr Freizeit zu gewinnen. In der Tat ist der Anteil an Männern, die einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen, zwischen 2010 und 2019 von 13 auf 17 Prozent angestiegen. Doch ist es ganz und gar nicht so, dass die gewonnene Zeit vor allem dazu genutzt wird, irgendwelchen Hobbys nachzugehen. Vielmehr dient die gewonnene Zeit vor allem dazu, einen Teil der Hausarbeit und Kinderbetreuung zu übernehmen. Weil auch Frauen zunehmend einer ausserhäuslichen Erwerbsarbeit nachgehen, hat sich das Volumen der gesamten Erwerbsarbeit gegenüber früher nicht reduziert, sondern im Gegenteil erhöht, und zwar seit 2010 um ganze 3 Prozent!

Allerdings ist der Fachkräftemangel tatsächlich ein Problem. Aber die Massnahmen, die der Arbeitgeberverband vorschlägt, wäre reine Symptombekämpfung. Solange akademisch Ausgebildete doppelt oder drei Mal so viel verdienen wie Menschen in praktischen und handwerklichen Berufen, muss man sich nicht wundern, wenn immer mehr Jugendliche an die Gymnasien drängen und eine akademische Laufbahn anstreben. So sammeln sich „oben“, in der Welt der Akademikerinnen und Akademiker, eine immer grössere Anzahl von Menschen mit „hohen“ oder „höchsten“ Bildungsabschlüssen an, während es „unten“, an der Basis der Arbeitswelt, immer mehr am nötigen Nachwuchs fehlt. Eine verkehrte Welt. Denn während Akademikerinnen und Akademiker zu einem beträchtlichen Teil auf den höchsten Etagen der Arbeitswelt damit beschäftigt sind, wissenschaftliche Arbeiten zu schreiben, immer kompliziertere und anspruchsvolle Konzepte auszuarbeiten und sich nicht selten sogar noch gegenseitig zu beschäftigen, ist es am unteren Ende der Arbeitswelt genau umgekehrt: Ob Sanitärinstallateure, Serviceangestellte, Krankenpflegerinnen, Bauarbeiter, Verkäuferinnen, Fahrradmechaniker oder Fabrikarbeiterinnen – sie alle erbringen absolut unverzichtbare Arbeitsleistungen, ohne welche die gesamte Wirtschaft und auch die Gesellschaft als Ganzes von einem Tag auf den andern in sich zusammenbrechen müssten.

Es geht darum, den Spiess umzudrehen. Nicht nur was die Arbeitsbedingungen, sondern auch was die Löhne und die gesellschaftliche Wertschätzung betrifft, sollten die handwerklichen und praktischen Berufe den genau gleichen Stellenwert geniessen wie die akademischen Berufe. Vor langer Zeit sprach man noch vom „goldenen Handwerk“. Diese Zeit ist leider längst vorbei. Nur wenn es gelingt, sie wieder Wirklichkeit werden zu lassen, kann der so sehr in Schieflage geratene Arbeitsmarkt wieder ins Gleichgewicht gelangen. Nicht, indem wir arbeiten, bis wir tot umfallen. Sondern indem wir jedem Beruf jenen Respekt und jene Achtung entgegenbringen, die er in Bezug auf seine gesellschaftliche Bedeutung auch tatsächlich verdient hat. Eine Aufgabe, die freilich weder alleine vom Arbeitgeberverband noch alleine vom Gewerkschaftsbund, sondern nur von der Gesellschaft als Ganzer bewältigt werden kann. Denn, wie schon Friedrich Dürrenmatt so weise sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ 

Ukrainekonflikt: Stimmen der Vernunft gibt es überall, man müsste nur auf sie hören…

 

Die „Budapester Zeitung“ schreibt am 7. April 2023: „Aus der moralischen und völkerrechtlichen Perspektive liegt die Schuld und Täterschaft des Ukrainekriegs allein bei Russland. Aus Sicht des geopolitischen Realismus hat jedoch der Westen durch die Infragestellung der russischen Selbstbehauptungsfähigkeit den Angriffskrieg von Russland provoziert und schwere Mitschuld in der Vorgeschichte des Kriegs aufs sich geladen.“ Dem Krieg sei ein fast zwanzigjähriger Konflikt vorausgegangen, in dem es dem Westen unter Führung der USA darum gegangen sei, die Ukraine in die westliche Einflusssphäre zu integrieren. Damit sei jene „rote Linie“ überschritten worden, die zum russischen Angriffskrieg geführt hätte. Die Hauptmotive für den russischen Angriffskrieg hätten in der Angst Russlands vor einer zunehmenden Einkreisung durch die Nato mit verkürzten Vorwarnzeiten aus der Ostukraine auf Moskau bestanden. Es sei auch kein Geheimnis, dass die Maidan-Revolution anfangs 2014 dem Sturz der demokratisch gewählten, dem Westen gegenüber aber zu wenig freundlichen ukrainischen Regierung geführt hätte. Schliesslich weist die „Budapester Zeitung“ darauf hin, dass die Ukraine, obwohl sie dem Westen als Teil der „freien Welt“ gelte, im Grunde eine Oligarchie sei, in Sachen Korruption im Bereich der meisten afrikanischen Länder. Auch entspreche die Behandlung der russischen und ungarischen Bevölkerungsminderheit und das Verbot sämtlicher Oppositionsparteien bei Kriegsausbruch nicht dem Minderheitenschutz einer rechtsstaatlichen Demokratie. Nur durch einen neutralen Status der Ukraine könne der Konflikt gelöst werden, denn „in diesem Land treffen westeuropäisch und osteuropäisch geprägte Kulturen unmittelbar aufeinander.“

Es muss schon nachdenklich stimmen, wenn eine westliche Zeitung und nicht irgendein russisches Propagandaorgan eine Meinung vertritt, die so sehr von der offiziellen Sichtweise des Westens abweicht. Nehmen das all jene westlichen Befürworter eines harten, unnachgiebigen Kurses gegen Russland nicht zur Kenntnis? Dass sie es nicht wissen, kann nicht sein, man findet, wenn man nur ein klein wenig sucht und nur ein klein wenig unvoreingenommen an die Sache herangeht, an allen Ecken und Enden Hinweise und Belege dafür, dass die „Schuld“ an diesem Krieg nicht zur Gänze einzig und allein Russland in die Schuhe geschoben werden kann. Wer dennoch nichts davon wissen will und die Augen vor all dem verschliesst, was die eigene Sicht der Dinge ins Wanken bringen könnte, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht schlicht und einfach Angst haben könnte vor der Wahrheit.

Wenn Russland der Bär ist, dann haben ihn seine westlichen Widersacher so lange gereizt, bis er sich eines Tages aufgebäumt und losgeschlagen hat. Wer ist nun der „Böse“? Der Bär oder derjenige, der ihn provoziert hat? Die Antwort liegt wohl auf der Hand: Es sind beide. Und jede einseitige Schuldzuweisung, egal von welcher Seite, führt nur dazu, dass ein Frieden in immer weitere Ferne rückt. „Russland ist der Täter, der Westen der Verursacher“ – so lautet die Überschrift über dem zitierten Artikel in der „Budapester Zeitung“. Was für eine weise Einsicht! Nichts ist in der heute so aufgeladenen, kriegerischen Stimmung so wichtig wie Stimmen, die sich entschieden zwischen die Fronten stellen. Erst die Bereitschaft, die eigene Mitschuld einzugestehen, kann der Schlüssel sein, um aus diesem gegenseitigen Zerstörungskampf, in dem jede Seite unbeirrt auf ihrem Recht beharrt, auszubrechen. Zumindest Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der heute die Ukraine besucht und bei dieser Gelegenheit einen zukünftigen Beitritt der Ukraine zur Nato in Aussicht gestellt hat, scheint die „Budapester Zeitung“ vom 7. April 2023 nicht gelesen zu haben… 

SVP: Wahlkampf auf dem Buckel ausgerechnet jener, ohne deren unermüdliche Arbeitsleistung unsere ganze Wirtschaft und Gesellschaft augenblicklich in sich zusammenfallen würden…

 

„Die ständige ausländische Wohnbevölkerung in der Schweiz“, so schreibt der „Tagesanzeiger“ am 17. April 2023, „hat im letzten Jahr deutlich zugenommen. 2022 wanderten rund 81’000 Ausländerinnen und Ausländer mehr ein, als das Land verliessen.“ Die Zuwanderung und ihre Folgen seien also nicht ohne Grund ein beliebtes Wahlkampfthema der SVP. Wahlkampfleiter Marcel Dettling spreche denn auch von einem „Versagen der links-grünen Politik“ und sage: „Wir können nicht die ganze Welt aufnehmen. Denn schon jetzt zeigt sich, dass die masslose Zuwanderung zu immer mehr Problemen führt.“ Das sehe man beispielsweise bei der Überlastung der Autobahnen und des öffentlichen Verkehrs, bei den hohen Lebenskosten, den zubetonierten Landschaften, der Zersiedelung und den Problemen in den Schulen.

Solcher Polemik ist zunächst entgegenzuhalten, dass der Vorwurf, die Zuwanderung sei eine Folge „linksgrüner Politik“, voll und ganz ins Leere greift. Ganz im Gegenteil. Wenn schon jemand „schuld“ sein soll, dann die bürgerlichen Parteien inklusive SVP, denn diese bilden in fast allen kantonalen Parlamenten und Regierungen wie auch im eidgenössischen Parlament und im Bundesrat die Mehrheit.

Wer aber ist tatsächlich „schuld“ daran, dass zunehmend deutlich mehr Ausländerinnen und Ausländer in die Schweiz einwandern, als im gleichen Zeitraum wieder auswandern? Es ist nicht die eine oder andere politische Partei, sondern, einfach gesagt, das – kapitalistische – Wirtschaftssystem, das im Kleinen wie im Grossen unseren Alltag, die Wirtschaft und die Arbeitswelt dominiert. Dieses kapitalistische Wirtschaftssystem beruht auf der Idee, dass die Wirtschaft, will sie nicht untergehen, beständig wachsen muss. Diese Wachstumsideologie widerspiegelt sich in den Gewinnzahlen expandierender Unternehmen, in der wachsenden Mange an Produkten und Dienstleistungen, die auf den Markt geworfen werden, in der Zubetonierung der Landschaft und dem unaufhörlich zunehmenden Verkehrsaufkommen – genau all jenen „Problemen“, welche die SVP so unermüdlich anprangert.

Die zweite Komponente ist das – ebenfalls durch die kapitalistische Wettbewerbs- und Leistungsgesellschaft angetriebene – Konkurrenzkampf aller gegen alle um den sozialen Aufstieg, um möglichst lukrative Jobs und eine möglichst hohe Position auf der gesellschaftlichen Machtpyramide. Dies zeigt sich darin, dass immer mehr junge Menschen an die Gymnasien drängen und eine akademische Laufbahn anstreben, während sich immer weniger junge Menschen für Jobs interessieren, bei denen man körperlich hart arbeiten, sich die Hände schmutzig machen und sich erst noch mit einem geringeren Lohn und geringerer gesellschaftlicher Wertschätzung zufrieden geben muss, so dass sich in immer mehr Bereichen der Arbeitswelt ein zunehmender Arbeitskräftemangel manifestiert.

Beides – der systemimmanente Zwang zu Expansion und Wachstum wie auch der durch zunehmende Akademisierung bedingte Arbeitskräftemangel in handwerklichen und praktischen Berufen – bewirkt, dass unser Land in steigendem Masse auf die Einwanderung von ausländischen Arbeitskräften angewiesen ist. Es ist also keineswegs so, dass die Zuwanderung die Ursache für die genannten Probleme ist, sondern es ist genau umgekehrt: Das herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ist der Grund für die Zuwanderung. Das Problem sind, einfach gesagt, nicht die Ausländerinnen und Ausländer. Das Problem ist der Kapitalismus.

Ehrliche Politik würde bedeuten, diese Zusammenhänge aufzudecken und nicht ausgerechnet auf dem Buckel jener Menschen Wahlkampf zu betreiben, auf die wir so sehr angewiesen sind und ohne deren unermüdliche Arbeitsleistung unsere ganze Wirtschaft und Gesellschaft von einem Tag auf den anderen in sich zusammenbrechen würden.

US-Imperialismus: „Wenn es jemand anderes tun würde, dann würde man es Terrorismus nennen. Wenn wir Amerikaner es tun, dann ist es ein Spass und ein Spiel.“

 

„Es gab keinen vernünftigen Grund für den Krieg gegen Afghanistan“, sagte der US-Publizist Noam Chomsky am 20. Oktober 2021, „Osama Bin Laden war erst ein Verdächtiger, als die Vereinigten Staaten begannen, Afghanistan zu bombardieren. Wenn es einen Verdächtigen gibt, den man festnehmen will, führt man normalerweise eine kleine Polizeiaktion durch. Aber nein: Zuerst bombt man, dann prüft man, ob es einen Grund dafür gegeben hat. Wenn das jemand anderes tut, nennt man es Terrorismus. Wenn wir Amerikaner es tun, dann ist es ein Spass und ein Spiel.“ Was Chomsky über den Afghanistankrieg sagte, gilt gleichermassen für den Vietnamkrieg 1964-1975, für die verdeckten Militäroperationen in Zentralamerika unter Präsident Reagan, für den Jugoslawienkrieg 1999, für den Irakkrieg 2003 und alle anderen rund 40 Kriege und Militärschläge, welche die USA seit 1945 geführt haben und die rund 50 Millionen Tote und rund 500 Millionen Verwundete gefordert haben. Es gab keinen Grund, zuerst bombte man, dann suchte man Rechtfertigungen, andere würden es Terrorismus nennen, aber für die USA war es Spass und Spiel – wie 1991, als ein US-Militärpilot bei der Bombardierung fliehender irakischer Soldaten begeistert ausrief, die würden ja sterben „wie Fliegen“. Als der US-Ökonom Jeffrey D. Sachs anlässlich einer Konferenz des „Athenic Democratic Forum“ am 26. Oktober 2022 sagte, das gewalttätigste Land der Welt seit 1950 seien die USA, da fiel ihm sogleich der Moderator ins Wort und hinderte ihn daran, weiterzusprechen. Und Julian Assange, der im November 2007 die geheimen Richtlinien der US-Armee für das Gefangenenlager Guantanamo an die Öffentlichkeit brachte, sitzt seit April 2019 in einem Londoner Gefängnis, von wo er gegen eine Auslieferung an die USA kämpft, wo ihm eine Haftstrafe bis ans Lebensende droht.

Doch die Blutspur des US-Imperialismus geht noch viel weiter zurück. Sein erstes Opfer waren die 5 bis 7 Millionen Indigene, welche vor dem Eintreffen des „weissen Mannes“ den nordamerikanischen Kontinent bevölkerten und hernach auf brutalste Weise Krankheiten, kriegerischen Auseinandersetzungen mit den europäischen Eindringlingen, Vertreibung und Massakern zum Opfer fielen. Nicht besser erging es den Millionen von Afrikanerinnen und Afrikanern, die vom „weissen Mann“ vom 16. bis zum 19. Jahrhundert auf nordamerikanischen Plantagen unmenschlichster Zwangsarbeit unterworfen wurden und meist schon frühen Alters starben. Andere würden es Terrorismus nennen, für sie aber, die Sklavenhalter und Kolonialherren, waren es die Grundlagen und Voraussetzungen für den vielgelobten Aufstieg zur zukünftigen Weltmacht, die alle übrigen bisherigen Weltmächte um ein Vielfaches in den Schatten stellen sollte.

Der US-Imperialismus ist ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite, der glänzenden, steht all das, was uns an den USA immer wieder so fasziniert: das Land der unendlichen Möglichkeiten, der „American Way of Life“, unbändiger Fortschrittsglaube und Pioniergeist, künstlerische Meisterleistungen in Musik, Literatur und darstellender Kunst, technische Erfindungen und Innovationen mit weltweiter Ausstrahlung, wunderschöne Landschaften und Menschen von ausgesuchter Offenheit und Herzlichkeit. Auf der anderen Seite des Schwertes aber klebt das Blut von Abermillionen von Menschen, die im Laufe der Jahrhunderte zu Opfern des US-Imperialismus geworden sind, zu Opfern seiner Machtgier und seines skrupellosen Bestrebens, die ganze Welt bis in ihre äussersten Winkel zu beherrschen. Und je nachdem, ob man sich auf der glänzenden oder auf der blutigen Seite des Schwerts befindet, wird man den US-Imperialismus glorifizieren oder ihn aber als das verdammen, was andere „Terrorismus“ nennen würden.

Imperien kommen und gehen. Kein Imperium, auch nicht das Römische Reich, das ein für die damalige Zeit unvergleichliches Machtsystem rund um das ganze Mittelmeer aufgebaut hatte, hat ewig Bestand gehabt. Auch das US-Imperium wird eines Tages seine Weltherrschaft aufgeben müssen. Könnte es sein, dass wir diesem Zeitpunkt heute schon viel näher sind, als dies eben noch denkbar erschien? Das wachsende Selbstbewusstsein der lateinamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Länder, das Aufstreben Chinas als neuer Supermacht wie auch immer lauter werdende Stimmen aus Europa, die einen eigenständigen politischen und wirtschaftlichen Weg fordern und sich vom Gängelband der USA befreien möchten, deuten darauf hin.

Eine neue Zeit zeichnet sich am Horizont ab. Eine Zeit, in der nicht mehr einzelne Länder andere beherrschen, unterdrücken und bevormunden, sondern gleichberechtigt und mit gleich langen Spiessen miteinander kooperieren. Eine Zeit, in der Kriege für immer der Vergangenheit angehören werden, denn ohne Imperialismus und ohne das Bestreben einzelner Länder, von anderen Besitz zu ergreifen, wird auch der Krieg als Machtmittel Einzelner gegen andere ganz und gar überflüssig geworden sein. Doch wäre nichts gewonnen, wenn dann, nach einem absehbaren Ende des US-Imperialismus, einfach China in die Fussstapfen der Weltmacht Nummer eins treten würde. Das Ansinnen, ein einzelnes Land könne die ganze Welt beherrschen, hat sich im Laufe der Geschichte so oft als zerstörerisch erwiesen, dass die daraus zu lernende Lektion nur eine einzige sein kann: ein friedliches, partnerschaftliches, auf gegenseitigem Respekt beruhendes Miteinander aller Völker und aller Länder auf dieser Erde, die nicht einzelnen Starken und Mächtigen gehört, sondern uns allen. Alles andere gehört in die Mottenkiste der Vergangenheit.

Eine andere Sicht auf den Taiwankonflikt: Wer ist denn da von allen guten Geistern verlassen, Emanuel Macron oder die, welche ihn nun so lauthals kritisieren?

 

Am 10. April, auf dem Rückweg von seinem Staatsbesuch in Peking, gab der französische Präsident Emanuel Macron ein Interview, das im Folgenden Wellen ungeahnten Ausmasses schlagen sollte. Macron vertrat die Ansicht, die „grösste Gefahr für Europa“ sei, von Amerika wegen des Taiwankonflikts in eine kriegerische Auseinandersetzung mit China hineingezogen zu werden. Macron plädierte dafür, die EU müsse und könne eine eigenständige „Supermacht“ werden, anstatt immer nur den USA zu folgen. Europa müsse in der Welt einen eigenen, gleichberechtigten Platz zwischen den USA, Russland und China finden.

Was auf den ersten Blick ganz vernünftig klingt, scheint offensichtlich jenen westlichen Politikern und Meinungsträgern, die sowohl gegenüber Russland wie auch gegenüber China einen harten, kompromisslosen Kurs verfolgen, ganz gehörig in den falschen Hals geraten zu sein. Der schweizerische „Tagesanzeiger“ schreibt am 11. April: „Allerdings fällt es schwer, den französischen Präsidenten ernst zu nehmen.“ Mit seinen Worten habe er ein „umfassendes Desaster angerichtet“, indem er das „dümmste und staubigste Argument aus der gaullistischen Mottenkiste“ verwendet habe, wonach sich Europa aus der amerikanischen Bevormundung lösen müsse. „Soviel Schaden mit ein paar Sätzen anzurichten“, so der „Tagesanzeiger“, „muss man erst noch schaffen.“ Macron hätte vor seinem Besuch in Peking schon als gescheiterter Präsident gegolten, jetzt habe er auch aussenpolitisch „seinen Bankrott erklärt.“ Noch schriller die Töne aus Deutschland: Der „Spiegel“ fragt, ob Macron „jetzt völlig von Sinnen“ sei. Und die „Welt“ schreibt: „Macron scheint von allen guten Geistern verlassen zu sein.“ Mit seinen Worten habe er „für Entsetzen gesorgt“ und rundum reagiere die Politik auf Macrons Äusserungen „mit Unverständnis“.

Ich denke spontan an die Art und Weise, wie in deutschen Talkshows mit Menschen umgegangen wird, welche die Schuld am Ukrainekrieg nicht einzig und allein bei Russland sehen, sondern auch die Mitschuld des Westens aufzuzeigen versuchen. Ich denke an einen Artikel, in dem der Historiker Daniele Ganser, der das gängige Feindbilddenken des Westens aufzubrechen versucht, als „Gaukler“, „Verschwörungstheoretiker“ und „Putinversteher“ gebrandmarkt worden ist. Und ich denke an die von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer ins Leben gerufene Friedensinitiative, die man nicht mit Argumenten, sondern nur mit der Behauptung, die beiden Frauen sässen im gleichen Boot mit Nazis und Rechtsextremisten, mundtot zu machen versucht hat. Offensichtlich scheint es nur eine einzige Möglichkeit zu geben, „richtig“ zu denken – wer es wagt, anders zu denken, ist entweder ein Verschwörungstheoretiker, ein Putinversteher, ein Chinafreund oder er ist, wie Macron, „von allen guten Geistern verlassen“ worden.

Habe ich etwas falsch verstanden? Werden die Waffenlieferungen an die Ukraine nicht immer wieder damit begründet, es ginge letztlich um den Kampf für Freiheit und Demokratie in der Auseinandersetzung gegen die Autokratie und gegen die Unterdrückung von Freiheit und Menschenrechten? Doch gehört zur Demokratie nicht auch die Meinungsfreiheit, das Recht darauf, Gedanken und Ideen zu äussern, die gerade nicht oder noch nicht mehrheitsfähig sind, ganz so, wie das Emanuel Macron getan hat? Ob sich die Demokratie oder die Autokratie durchsetzt, diese Frage wird nicht so sehr auf irgendwelchen Schlachtfeldern entschieden. Sie wird vor allem in unseren Köpfen entschieden, in der Art und Weise, wie mit unterschiedlichen, widersprüchlichen und vielleicht auch unbequemen Gedanken umgegangen wird, und wie ernsthaft man sich bemüht, auch die eigenen, eingefahrenen Denkmuster in Frage stellen zu lassen. Emanuel Macron hat Türen geöffnet und dabei viel Mut bewiesen – bleibt zu hoffen, dass möglichst viele andere ihm folgen werden…

 

Wer Daniele Ganser als „Gaukler“, „Verschwörungstheoretiker“ und „Putinversteher“ bezeichnet, macht sich die Sache wohl um einiges zu einfach…

 

„Im Bann des Gauklers“ – so der Titel eines ganzseitigen Artikels in der „NZZ am Sonntag“ vom 9. April 2023. Der „Gaukler“, das ist Daniele Ganser, der seit Monaten mit seinen Vorträgen über den Ukrainekonflikt in Deutschland Halle um Halle mit Tausenden von Zuhörerinnen und Zuhörern füllt.

Der Artikel ist ein Lehrstück über tendenziösen Journalismus, scheint es doch dem NZZ-Journalisten nicht so sehr darum zu gehen, sich mit Gansers Thesen ernsthaft und objektiv auseinanderzusetzen, sondern bloss darum, ihn zu diffamieren und seine Positionen ins Lächerliche zu ziehen. So heisst es im Artikel, Gansers Aussagen seien „nachweislich falsch“, ohne dass dieser Nachweis tatsächlich erbracht wird. Dafür ist dem Autor jedes Mittel recht, Ganser in ein möglichst schiefes Licht zu rücken: Ganser, der „Gaukler“, wird zusätzlich als „Verschwörungstheoretiker“ und „Putinversteher“ bezeichnet und es wird gesagt: „Ganser war einmal ein seriöser Historiker“ – damit suggerierend, dass er das jetzt offensichtlich nicht mehr ist. Der Journalist begnügt sich aber nicht damit, Ganser fehlende Seriosität zu unterstellen, er karikiert gleich auch noch Gansers Publikum: „Ganz vorne erhebt sich eine Frau mit schwarzem Hijab, hinter ihr ein katholischer Priester in Talar und Römerkragen“, die vor dem Eingang Wartenden „sehen aus wie aufgereihte Dominosteine“, das Lächeln einer 25jährigen Wirtschaftsingenieurin sei „breit wie der Rhein“, „Bier wird nachgefüllt, vielleicht ein Wildberry Lillet für acht Euro“, die „Fangemeinde“ klatsche „frenetisch“. Alles in allem soll damit wohl der Eindruck erweckt werden, es handle sich bei Gansers Publikum um eine diffuse, unkritische und manipulierbare Masse.

Nur zu vier Punkten aus Gansers Vortrag nimmt der Autor konkret Stellung. Der erste ist Gansers Feststellung, es gäbe Zweifel an der russischen Verantwortung für das Massaker von Butscha. Der zweite ist Gansers Behauptung, Bill Clinton hätte das mündliche Versprechen an Russland, die Nato nicht nach Osten auszudehnen, gebrochen. Der dritte lautet, George W. Bush hätte der Ukraine 2008 zugesichert, sie könne der Nato beitreten. Und der vierte besteht darin, der Putsch auf dem Maidan 2014 sei von der CIA instrumentalisiert worden, um einen gewünschten Regierungswechsel in Kiew herbeizuzwingen. Ganser, so der NZZ-Journalist, wiederhole mit diesen Behauptungen, „was Historiker längst als falsch erkannt haben“. Doch so einfach, wie es der Autor gerne hätte, ist es nicht. Was die erste Behauptung – Butscha – betrifft, gibt es tatsächlich widersprüchliche Darstellungen, wenngleich die These einer russischen Hauptschuld durchaus glaubwürdig zu sein scheint. Für die zweite und dritte Behauptung – Natoerweiterung – gibt es eine Vielzahl glaubwürdiger Quellen. Weniger eindeutig scheint die Sachlage bei der vierten Behauptung – Maidan und CIA – zu sein, wenngleich eine Vielzahl von Expertinnen und Experten auch diese These stützen. 

Wenn also der NZZ-Journalist Daniele Ganser als „Gaukler“ bezeichnet, dann müsste er all jene westlichen Expertinnen und Expertinnen, welche die alleinige Schuld am Ukrainekrieg Russland in die Schuhe schieben und jegliche Mitschuld des Westens in Bausch und Bogen verwerfen, ebenso als Gaukler bezeichnen. Man muss nicht allem, was Ganser in seinen Vorträgen vermittelt, kritiklos zustimmen. Aber auch das Gegenteil ist, um den Konflikt in seiner ganzen Komplexität zu begreifen, wenig hilfreich. Ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit und Objektivität und ein bisschen weniger Polemik würde ich mir in einer renommierten Zeitung wie der „NZZ am Sonntag“ schon wünschen…

Nur Vertrauen kann die kalte Mauer der Gewalt und der gegenseitigen Selbstzerstörung durchbrechen…

 

Als der chinesische Präsident Xi Jinping Ende Februar 2023 seinen 12-Punkte-Plan zur Beilegung des Ukrainekonflikts vorlegte, beeilten sich sogleich westliche Politiker und Medien, die Glaubwürdigkeit und die Ernsthaftigkeit dieses Plans in Frage zu stellen. Weder am Fernsehen noch in den grossen Tageszeitungen wurde der Plan im Wortlaut publiziert, was es der Öffentlichkeit möglich gemacht hätte, sich selber ein objektives Bild davon zu machen. Das Einzige, was gesagt wurde, war, China würde sich vor einer Verurteilung des russischen Angriffskriegs drücken und somit einseitig für Putin Partei ergreifen. Was nicht gesagt wurde: Dass Xi Jinping auch die Nato-Osterweiterung und die massive Aufrüstung der Ukraine durch die USA seit 2008 nicht verurteilt hatte, ganz einfach deshalb, um die Glaubwürdigkeit als neutraler Vermittler nicht aufs Spiel zu setzen.

Wer sich die Mühe genommen hat, den chinesischen Friedensplan im Einzelnen anzuschauen, kann ihm alles unterstellen, nur nicht eine einseitige Parteinahme. Schon im ersten Artikel wird die Beibehaltung der Souveränität beider Konfliktparteien unmissverständlich festgehalten. Weiter wird gefordert, dass bei einer Friedenslösung die Interessen beider Seiten angemessen berücksichtigt werden müssten. Und schliesslich soll alles Erdenkliche unternommen werden, um eine Eskalation des Konflikts bis hin zu einem möglichen Atomkrieg abzuwenden.

Wo Türen schon zugeschlagen werden, bevor sie noch richtig geöffnet wurden, kann Frieden nicht einkehren. Dieser Tage feiern wir das Osterfest, das Fest der Nächstenliebe. Alle am Ukrainekonflikt beteiligten Länder haben christliche Wurzeln. Sie alle hätten eine gemeinsame Grundlage, das Gebot der Nächstenliebe, welche auch die Feindesliebe einschliesst. Selbst den Feind zu lieben – das mag bei der ganzen Brutalität, durch welche sich dieser Krieg auszeichnet, auf den ersten Blick völlig unrealistisch und naiv klingen. Und doch ist es der einzige Weg aus der tödlichen Sackgasse, in welche sich die Konfliktparteien verrannt haben. 

Alles ist eine Frage von Vertrauen oder Misstrauen. Wer einem chinesischen Friedensplan schon misstraut, bevor er ihn richtig angeschaut hat, sät auf der anderen Seite nur noch grösseres Misstrauen. Wer jede Pressemitteilung der einen Konfliktpartei der Lüge bezichtigt, zwingt auch die Gegenseite dazu, exakt das Gleiche zu tun. Wer Atomwaffen aufstellt, weil er den Friedensbeteuerungen der Gegenseite nicht traut, bringt die andere Seite dazu, genau das Gleiche zu tun. Misstrauen führt nur immer zu grösserem Misstrauen und treibt die gegenseitige Macht- und Gewaltspirale endlos in die Höhe.

Vertrauen – und damit Friedensförderung – kann nur durch Vertrauen entstanden. Das, was man bei gelungenen Friedensgesprächen „vertrauensbildende Massnahmen“ nennt. Nur Vertrauen kann die kalte, zerstörerische Mauer der Gewalt und der gegenseitigen Selbstzerstörung durchbrechen. „Der beste Weg, um herauszufinden, ob du jemandem vertrauen kannst“, sagte der amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway, „ist, ihm zu vertrauen.“ Und weshalb soll, was für zwischenmenschliche Beziehungen gilt, nicht auch für die Beziehungen zwischen Staatsgebilden oder Wirtschaftsmächten gelten? Auf den ersten Blick mag eine solche Sichtweise realitätsfremd oder gar naiv klingen. Und doch ist sie um ein Vielfaches weniger realitätsfremd und naiv als die Idee, dieser Konflikt könnte mit rein militärischen Mitteln zu einem guten Ende gebracht werden.