Archiv des Autors: Peter Sutter

Sitzblockade am Gotthard: Ein Leben ohne Vergnügen ist kein Leben – ja schon, nur sollte auch für unsere Kinder und Kindeskinder noch etwas davon übrig bleiben…

 

„Ein Leben ohne Vergnügen ist kein Leben“, empört sich B.M. auf Twitter über die Sitzblockade von Aktivistinnen und Aktivisten der Organisation Renovate Switzerland am gestrigen Karfreitag vor dem Gotthardtunnel. B.M. ist nicht der Einzige, der sich masslos geärgert hat. Für viele ist der Osterausflug in den Süden so etwas wie eine lange ersehnte Gelegenheit, dem „Hamsterrad“ des mühsamen Alltags wenigstens für eine kurze Zeit zu entfliehen und sich nach langen und harten Arbeitstagen eine wohlverdiente Auszeit zu gönnen. Auch F.D., der so etwa jeden zweiten Monat für ein Wochenende nach Mallorca fliegt, Party feiert und sich „volllaufen“ lässt, sagt, dass er es nur so schaffe, seinen „Scheissjob“ auszuhalten.

Exzessives Fliegen, Autofahren und Strandpartys also letztlich als Folge der kapitalistischen Arbeitswelt und all der Zwänge, dem Druck und der Fremdbestimmung, die mit ihr verbunden sind. Neueste Umfragen, wonach nur ein Fünftel aller Arbeitstätigen mit ihrer Arbeitssituation vollständig zufrieden sind und sich mit ihrem Job voll und ganz identifizieren können, bestätigen das. Auch, dass immer mehr Arbeitnehmende ihr Wochenpensum reduzieren, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass für viele Menschen Lebensfreude und Vergnügen nur wenig mit der täglichen Arbeitssituation zu tun haben.

Nur sind exzessives Fliegen, Autofahren und Strandpartys nicht die beste Lösung des Problems, sind ihre ökologischen Auswirkungen doch verheerend. Viel gescheiter wäre es, die Arbeitswelt so umzugestalten, dass sie Vergnügen und Lebensfreude nicht mehr länger ausschliesst und unterdrückt, sondern in die tägliche Arbeit einbezieht. Hierzu bedürfte es in erster Linie einer Überwindung des Konkurrenzprinzips, des weitverbreiteten Spar- und Renditedrucks, des Wachstumszwangs und der unsinnigen Idee, in immer kürzerer Zeit eine unaufhörlich wachsende Menge an Produkten und Dienstleistungen herzustellen, die am Ende gar niemand mehr braucht, die aber sowohl den Menschen wie auch der Natur unwiederbringlichen Schaden zufügen. Bezeichnend ist ja auch, dass man sich, wenn man Freunde trifft, meist nur über die letzten Ferien sowie die geplante nächste Ferienreise austauscht, so als fände das eigentliche Leben praktisch nur in den Ferien statt. Selten hört man Menschen in ihren Gesprächen über Erfahrungen, Erlebnisse und Begegnungen in ihrer Arbeitswelt schwärmen, obwohl diese doch eine weitaus viel längere Zeitdauer in Anspruch nimmt. Würde es gelingen, die tägliche Arbeit zum eigentlichen „Abenteuer“ des Lebens werden zu lassen, wäre wohl die Sehnsucht nach exzessiven Auszeiten um ein Vielfaches geringer.

Da schreibt doch E.F. auf Twitter, die Autos, welche dieser Tage am Gotthard im Stau stecken, würden nichts zur Klimaerwärmung beitragen. Also nur alle anderen? Und nur gerade diese nicht? Das eigene problematische Verhalten damit zu rechtfertigen, dass es ja alle anderen auch tun, erinnert auf erschreckende Weise an die Aussage des ehemaligen CS-CEOs Oswald Grübel, der auf die Frage eines Journalisten, ob er in Anbetracht seines Jahresgehalts von 20 Millionen Franken kein schlechtes Gewissen hätte, Folgendes zur Antwort gab: „Was ist schon gerecht? Die Welt ist voller Ungerechtigkeit. Weshalb soll ich da ein schlechtes Gewissen haben?“ Über eine solche „Lausbubentaktik“ sollten wir allmählich herausgewachsen sein. Alle sind für alles verantwortlich. Denn „was alle angeht“, so der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, „können nur alle lösen.“

Interessant ist auch, dass sich insbesondere das Autofahren auf überdicht befahrenen Strassen im Grunde jeglicher Vernunft entzieht. All die Osterreisenden, die jetzt wieder auf der Fahrt in den Süden in endlosen Kolonnen feststecken, wären um einiges schneller am Ziel, wenn sie die Eisenbahn benützen würden. Könnte auch da ein Zusammenhang mit der kapitalistischen Arbeitswelt bestehen? Sind Autofahrer – der grössere Teil von ihnen sind Männer – wohl deshalb so erpicht, hinter dem Steuerrad zu sitzen, weil sie auf diese Weise nun endlich Macht und Kontrolle über etwas, und sei es nur eine Tonne Stahl und Blech, ausüben können, während doch im übrigen Leben stets nur über sie Macht und Kontrolle ausgeübt wird?

Ja, ein Leben ohne Vergnügen ist kein Leben. Ganz und gar einverstanden. Nur sollten wir damit so massvoll umgehen, dass auch für unsere Kinder und Kindeskinder noch etwas davon übrig bleibt. Auch ohne Auto, Flugzeug und exzessive Strandpartys kann man wunderbare, genussvolle Auszeiten geniessen., und sei es nur das Bad in einem kalten Bergsee, ein Ameisenhaufen oder die Radfahrt von einem Dorf ins nächste. Wenn uns die Aktivistinnen und Aktivisten von Renovate Switzerland mit ihrer Sitzblockade im Osterverkehr am Gotthard dafür die Augen geöffnet haben, dann hat sich ihre Aktion mehr als gelohnt…

 

Unmenschliche Trainingsmethoden im Trampolinspringen: Sport, der nicht mit Lebensfreude verbunden ist, sollte im Leben junger Menschen keinen Platz haben dürfen…

 

Wie Recherchen des Schweizer Fernsehens zeigen, soll eine Trainerin des Nordwestschweizerischen Kunstturn- und Trampolinzentrums in Liestal BL ihre Turnerinnen und Turner der Disziplin Trampolin während Jahren verbal erniedrigt und ihnen teilweise sogar Schmerzen zugefügt haben, „Sie hat uns nie geschlagen“, berichtet eine Turnerin, „aber manchmal wäre es mir fast lieber gewesen, als dass sie mich psychisch so fertigmacht und mir sagt, dass ich aussehe wie ein Schwein und jeden Tag dicker und dicker werde.“ Und eine andere berichtet, die Trainerin sei den Sportlerinnen auf die Knie gesessen, um diese zu überstrecken – viele hätten deswegen bis heute Knieprobleme. „Manchmal“, so eine weitere Athletin, „habe ich mir gewünscht, bei einem Sprung auf den Kopf zu fallen, dass ich wenigstens eine Zeitlang nicht mehr ins Training müsste.“ Die Recherchen ergaben auch, dass nicht wenige der Trampolinspringerinnen Suizidgedanken gehabt hätten.

Zuerst die Kunstturnerinnen. Dann die Synchronschwimmerinnen. Und jetzt die Trampolinspringerinnen und Trampolinspringer. Gewalt, Schmerzen, Beleidigungen, körperliche Langzeitschäden, Suizidgedanken. Das kann wohl kein Zufall sein. Da muss ein System dahinterstecken. Dieses System, das ist das Konkurrenzprinzip. Es funktioniert ganz einfach: Wer sich bis in die Elite hochgekämpft hat, steht fortan in einem unerbittlichen globalen Wettbewerb. Das heisst: Wenn schweizerische Trampolinspringerinnen an den nächsten Europa- oder Weltmeisterschaften Erfolg haben wollen, dann müssen sie besser sein als die rumänischen oder die chinesischen Springerinnen. Und je mehr und je härter und je extremer bis an ihre Schmerzgrenze die einen trainieren, umso mehr sind die anderen, wenn sie nicht scheitern wollen, gezwungen, es ihnen gleichzutun oder sie wenn möglich noch zu übertreffen. Keine schweizerische Jugendliche würde einer rumänischen oder chinesischen Jugendlichen Leid zufügen wollen, und doch zwingt die schweizerische Jugendliche mit jeder zusätzlichen, noch härteren Trainingseinheit, ob sie will oder nicht, die rumänische oder chinesische Jugendliche zu einer noch extremeren Leistung und umgekehrt. Und weil sich dadurch die Leistungen gegenseitig immer weiter in die Höhe schrauben, wird der Aufwand, an der Spitze mithalten zu können, von Jahr zu Jahr immer grösser, die Sprünge immer schwieriger und gefährlicher, das Leiden der Athletinnen immer unerträglicher.

Man kann nun schon, wie das getan wird, mit den Fingern auf eine „böse“ und „herzlose“ belarussische Trainerin zeigen. Doch auch diese ist ein Teil des Systems. Auch sie steht unter einem gewaltigen Druck ihrer Vorgesetzten, aus ihrem Team eine möglichst grosse Leistung herauszupressen. Man müsste sich ja einmal fragen, weshalb denn schweizerische Sportverbände ausgerechnet Trainerinnen aus osteuropäischen Ländern verpflichten, obwohl ja allgemein bekannt ist, dass diese besonders drakonische Trainingsmethoden anwenden. Die Antwort ist einfach: Sie werden angestellt, eben gerade weil sie für ihre Trainingsmethoden so berüchtigt sind – um eben die grösstmögliche Leistung zu erzielen.

Der aktuelle Spitzensport hat sich in einer selbstzerstörerischen Sackgasse verirrt. War Sport ursprünglich ein Anlass für Vergnügen und Lebensfreude und diente er der allgemeinen Wohlfahrt und Gesundheit, so ist im Spitzensport alles entgegengesetzt: Er macht die Menschen krank statt gesund, zwingt sie, ihre Körper bis zum Exzess kaputtzumachen und verscheucht jegliche Lebensfreude – das zeigt sich auch darin, dass die meisten der im Bericht zu Wort gekommenen Trampolinspringerinnen, die heute zwischen 17 und 20 Jahre alt sind, ihre Karriere inzwischen beendet haben – was bei ihnen allen wohl mit viel Begeisterung und Hoffnung begonnen hat, ist zu einer Lebensphase verkommen, die sie möglichst schnell wieder vergessen möchten.

Kosmetische Korrekturen, wie sie in den betroffenen Sportverbänden heute diskutiert werden, genügen daher nicht. Auch nicht das blosse Auswechseln von Trainerinnen. Es braucht vielmehr ein radikales Umdenken, ein radikales Hinterfragen des herrschenden Konkurrenzprinzips im Spitzensport. Alle Phantasie müsste aufgewendet werden, neue Formen zur Entfaltung jugendlicher Talente zu finden, die mit dem wahnhaften Vergleichen, Bewerten und Messen von sportlichen Leistungen, vor allem in Gestalt internationaler Wettkämpfe, nichts mehr zu tun haben. Sport, der nicht mit Lebensfreude verbunden ist, sollte im Leben junger Menschen keinen Platz haben dürfen. 

Das IKRK kürzt Budget um 430 Millionen Franken und der reichste Mann der Welt besitzt ein Vermögen von 226 Milliarden Dollar…

 

SRF-News berichtet am 4. April 2023, dass das Internationale Komitee vom Roten Kreuz IKRK in den kommenden zwölf Monaten mindestens 20 seiner weltweit 350 Standorte schliessen werde. Mehrere Programm würden beendet oder gekürzt. „Aufgrund der in den nächsten zwei Jahren voraussichtlich rückläufigen internationalen humanitären Hilfsbudgets“, so ist auf der Website des IKRK zu lesen, „muss das IKRK seine Anstrengungen gezielter auf Programme und Orte ausrichten, wo es gemäss seinem Mandat, lebensrettende Hilfs- und Schutzdienste für Menschen in bewaffneten Konflikten und Situationen von Gewalt bereitzustellen, am meisten erreichen kann. Da im laufenden Jahr bis zu 700 Millionen Franken fehlen werden, haben die obersten Entscheidungsträger des IKRK eine Kürzung von 430 Millionen Franken für 2023 und den Beginn des Jahres 2024 beschlossen.“ Dies bedeutet, so Robert Madini, Generaldirektor des IKRK, dass „wir nicht mehr die Mittel haben werden, um Menschen in schwer zugänglichen Regionen zu helfen.“

Im Klartext: Viele Menschen in Kriegsgebieten werden zukünftig auf die Unterstützung durch das IKRK verzichten müssen. Oder, noch deutlicher: Unzählige Menschen werden der Sparkeule geopfert und werden das nicht überleben. Statt „IKRK spart 430 Millionen“ müsste man eigentlich sagen: „Sparkeule opfert Menschenleben“. Wäre tatsächlich insgesamt zu wenig Geld vorhanden, würde man das ja noch einigermassen verstehen. Tatsächlich aber wäre weltweit weitaus genug Geld vorhanden, um sämtliche IKRK-Stellen zu erhalten und sämtliche IKRK-Projekte weiterlaufen zu lassen. Es ist nicht zu wenig Geld vorhanden, das Problem ist nur, dass es sich in den falschen Händen befindet. Allein der reichste Mann der Welt, der Unternehmer Bernard Arnault, besitzt 226 Milliarden US-Dollar. Dies ist sage und schreibe das 525fache dessen, was das IKRK bräuchte, um seine Projekte 2023 bis anfangs 2024 durchführen zu können. Auch das Geld, das zurzeit aufgewendet wird, um die zweitgrösste Schweizer Bank, die Credit Suisse, vor dem Kollaps zu retten, bewegt sich in dieser Grössenordnung. „Die Behauptung, es gäbe kein Geld, um das Elend in der Welt zu besiegen“, sagte der deutsche CDU-Politiker Heiner Gessler, „ist eine Lüge. Wir haben auf der Erde Geld wie Dreck, es haben nur die falschen Leute.“

„Sparmassnahmen“ oder, noch schöner, „Sanierungsmassnahmen“ haben in unserer kapitalistischen Welt schon fast einen mythischen Klang. An allen Ecken und Enden wird gespart und „saniert“, im Gesundheitswesen, bei der Bildung, beim öffentlichen Verkehr, bei sozialen Einrichtungen, und dies weltweit. Einige der eifrigsten „Sanierer“ brüsten sich geradezu damit, möglichst harte Sparmassnahmen durchzupauken. „Sparen“ ist gleichsam zum Selbstzweck geworden. Je billiger und je weniger Kosten, umso besser. Dies hat solche Ausmasse angenommen, dass schon gar nicht mehr hinterfragt wird, ob nun in diesem oder jenem Bereich tatsächlich gespart werden muss, oder ob es nicht auch eine Alternative dazu gäbe.

Und schon gar nicht wird hinterfragt, weshalb überhaupt gespart werden muss. Dabei liegt die Erklärung doch auf der Hand: Das kapitalistische Wirtschafts- und Finanzsystem sorgt dafür, dass unaufhörlich Geld aus dem öffentlichen in den privaten Bereich wandert. Gewiss, auch in umgekehrter Richtung fliesst Geld, aber viel weniger. Sonst würde sich die Zahl der Reichen und Reichsten weltweit nicht von Jahr zu Jahr in immer extremere Höhen hinaufschrauben, während gleichzeitig die Zahl der Armen weiter und weiter zunimmt – so wie beispielsweise in der Schweiz, wo die reichsten 300 Menschen über 820 Milliarden besitzen, während gleichzeitig über 700’000 Menschen von Armut betroffen sind. Ist ja klar: Wenn oben immer mehr aufgetürmt wird, muss logischerweise unten immer mehr abgezwackt werden. „Sparprogramme“ und „Sanierungsprogramme“ müsste man daher ehrlicherweise als „Zerstörungsprogramme“ bezeichnen und das, was als „Gesundschrumpfung“ hochgejubelt wird, müsste man eigentlich „Krankschrumpfung“ nennen, so wie es sich beispielsweise im Gesundheitswesen auf schon fast zynische Weise manifestiert, wo Sparmassnahmen zu nichts weniger als dazu führen, dass sowohl die Gesundheit der Patientinnen und Patienten wie auch die Gesundheit des Pflegepersonals erheblich darunter leidet. 

„Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier“, sagte Mahatma Gandhi. Und Albert Einstein formulierte es so: „Es gäbe genug Geld, genug Arbeit, genug zu essen, wenn wir die Reichtümer der Welt gerecht verteilen würden, statt uns zu Sklaven eines starren Wirtschaftssystems zu machen.“ Eines Wirtschaftssystems, das, wie auch Papst Franziskus sagte, „die Menschen tötet“. Und dies auch ganz leise, unsichtbar und fern aller Schlagzeilen, so wie jene weltweit über 10’000 Kinder, die Tag für Tag vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs an Hunger sterben, und all die zahllosen, namenlosen Opfer kriegerischer Konflikte, die von den jüngsten Sparmassnahmen des IKRK betroffen sein werden, Sparmassnahmen, beschlossen anfangs April 2023, über die weder das Fernsehen, noch die grossen Tageszeitungen und schon gar nicht die sozialen Medien berichtet haben, weil einer solchen Meldung offenbar in der Werteskala westlicher Wahrnehmung nicht eine genug wichtige Bedeutung zukommt…

In einer Welt, wo zurzeit über 40 Kriege wüten, ist die Stimme jener, die dem Frieden, der Völkerverständigung und der Diplomatie das Wort reden, unvergleichlich viel wichtiger und unerlässlicher denn je…

 

„Die Neutralität schadet der Schweiz“, schreibt der ehemalige Spitzendiplomat Thomas Borer im „Tagesanzeiger“ vom 3. April 2023. Bedrohungen von aussen könnten heute am besten „in einem grossen Verband“ bekämpft werden, dies hätten Schweden und Finnland begriffen und sich daher für einen Beitritt zur NATO entschieden. Das Instrument der Schweizer Neutralität werde heute im Ausland „schlichtweg nicht mehr begriffen“. Das Waffenausfuhrverbot, gekoppelt mit dem neutralen Status der Schweiz, schädige die „Reputation bei den westlichen Staaten“. Die Eidgenossenschaft werde als egoistisch eingestuft, als ein Land, das im Kampf des „Guten“ gegen das „Böse“ nicht nur abseitsstehe, sondern sogar der westlichen Wertegemeinschaft „Knüppel zwischen die Beine“ werfe. Daher sei unsere Neutralität „obsolet“ geworden und schade der Schweiz mehr als sie ihr nütze.

Gewiss. Wenn die Neutralität bloss in einem passiven Abseitsstehen gegenüber internationalen Konflikten und Bedrohungen besteht, kann man sie ebenso gut über Bord werfen. Wird sie aber aktiv gelebt, kann sie eine riesige Chance sein, diplomatische Dienste anzubieten, welche in nichtneutralen Ländern aufgrund ihrer Befangenheit nicht mehr geleistet werden können. Selbst wenn die Schweiz noch das einzige verbliebene neutrale Land wäre, müsste sie erst recht an ihrem neutralen Status festhalten, sozusagen als letzte Bastion, wo sich die Exponenten der Kriegsparteien treffen könnten. Leider wird diese Chance immer noch nicht wahrgenommen und vergebens wartet man darauf, dass der Schweizer Aussenminister Cassis Putin und Selenski zu Friedensgesprächen nach Genf einlädt – ob die dann tatsächlich kämen, ist die andere Frage, aber versuchen müsste man es doch zumindest. Wenn die Neutralität so passiv gelebt wird, dann verstehe ich alle, die sie schon lieber heute als morgen abschaffen möchten. 

Borer spricht von einer „Wertegemeinschaft“ des Westens, der die Schweiz „Knüppel zwischen die Beine“ werfe. Wenn etwas veraltet ist, dann dieses Blockdenken. Diese vielbeschworene „Wertegemeinschaft“ bildet nämlich nur der geringste Teil der Weltbevölkerung. Ganz Lateinamerika, ganz Afrika und die meisten Länder Asiens gehören nicht zu dieser „Wertegemeinschaft“ und nehmen im Ukrainekonflikt fast ausschliesslich eine neutrale Haltung ein. Für sie alle kann die neutrale Schweiz ein grosses Vorbild sein, ein Land, das den Mut hat, seinen eigenen Weg zu gehen und sich nicht in den Strudel eines sich anbahnenden dritten Weltkriegs hineinziehen zu lassen.

Borer spricht auch von einem Kampf des „Guten“ gegen das „Böse“. Ja wenn es so einfach wäre. Tatsache ist, dass der Westen durch seine aggressive NATO-Osterweiterung und die militärische Aufrüstung der Ukraine seit 2008 eine wesentliche Mitschuld am Ausbruch des Ukrainekriegs trägt. Tatsache ist auch, dass in der Ukraine die russischsprachige Bevölkerungsminderheit massiver Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt ist: Mehrere regierungskritische Parteien, Zeitungen und TV-Stationen wurden verboten, sämtliche Werke russischer Autorinnen und Autoren wurden aus den ukrainischen Bibliotheken entfernt, musikalische Werke russischer Komponistinnen und Komponisten dürfen nicht mehr öffentlich aufgeführt werden und ein 2019 erlassenes Sprachengesetz untersagt die Verwendung der russischen Sprache im öffentlichen Raum. Wer mit dem Argument, man müsse für das „Gute“ gegen das „Böse“ Partei ergreifen, für eine Absage an die Neutralität plädiert, verbaut sich den Blick auf alle Zwischentöne und jegliche differenzierte Meinungsbildung über einen Konflikt, der sich durch zahlreiche widersprüchliche Facetten auszeichnet und nicht simpel auf einen Kampf zwischen „Gut“ und „Böse“ reduziert werden kann. Von einem Spitzendiplomaten wie Thomas Borer wäre eigentlich eine ausgewogenere Haltung zu erwarten.

Wenn Borer meint, die Neutralität schade der Schweiz, so mag das kurzfristig möglich sein. Langfristig aber wird die Neutralität der Schweiz höchstwahrscheinlich mehr nützen als schaden. Spätestens dann, wenn es vielleicht doch noch in absehbarer Zeit zu Friedensverhandlungen kommt und sich dafür kein anderer Ort so sehr anbieten würde wie die Stadt Genf mit ihrer jahrzehntelangen humanitären Tradition. Denn in einer Welt, wo zurzeit über 40 Kriege wüten, ist die Stimme jener, die dem Frieden, der Völkerverständigung und der Diplomatie das Wort reden, unvergleichlich wichtiger und unerlässlicher denn je. 

Als wäre nicht auch das Muttersein ein vollwertiger, höchst anspruchsvoller und zudem gesellschaftlich höchst wichtiger, geradezu unerlässlicher Beruf…

 

Echo der Zeit, Radio SRF1, 2. April 2023: Interview mit Martin Schröder, Professor für Soziologie an der Universität des Saarlandes und Autor des Buchs „Wann sind Frauen wirklich zufrieden?“ Schröder zitiert eine Studie, bei der 21’000 Bewerbungen in sechs Berufen in sechs Ländern ausgewertet wurden. Das Fazit, so Schröder: „Im Schnitt werden eher die Frauen als die Männer zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Frau an sich scheint also nicht das problematische Kriterium zu sein. Was man aber durchaus immer wieder sieht, ist, dass Mütter bzw. Frauen, welche Gefahr laufen, bald Mutter zu werden, durchaus bei gleichen Qualifikationen für weniger kompetent gehalten und weniger oft eingestellt werden.“

Kapitalismus in Reinkultur. Frauen also, die einen „richtigen“ Beruf ausgeübt oder womöglich schon einem „richtigen“ Beruf Karriere gemacht haben, werden gegenüber Frauen, die „nur“ Mütter gewesen sind bzw. „Gefahr laufen“, Mutter zu werden, bevorzugt. Als wäre nicht auch das Muttersein ein vollwertiger, höchst anspruchsvoller und zudem gesellschaftlich höchst wichtiger, geradezu unerlässlicher Beruf, der wohl nur deshalb so wenig gesellschaftliches Ansehen geniesst, weil er zum Nulltarif geleistet wird.

Dieser Sachverhalt drängt Frauen dazu, so schnell wie möglich nach einer Geburt wieder ins Erwerbsleben einzusteigen, nur um ja nicht den Anschluss zu verpassen. Also die Kinder so schnell wie möglich ab in die Kita, das hektische Hin- und Herschieben der Kinder wird finanziellen Interessen zuliebe bereitwillig in Kauf genommen, die unendlich vielen kleinen Wunder des Aufwachsens, Lernens, Forschens und Entdeckens überlässt man professionellem Betreuungspersonal und begnügt sich im Extremfall damit, die Kinder am Morgen aufzuwecken und am Abend wieder ins Bett zu bringen.

Vieles spricht dafür, zumindest eine Zeitlang auf eine ausserhäusliche Erwerbsarbeit zu verzichten und sich vollumfänglich den Kindern zu widmen. Allerdings wären hierfür mehrere Rahmenbedingungen unerlässlich. Erstens bräuchte es existenzsichernde Mindestlöhne, so dass keine Familie bzw. kein Haushalt gezwungen wäre, einem Zweit- oder Drittjob nachzugehen. Zweitens bräuchte es eine Gleichstellung von Frauen- und Männerlöhnen, so dass wahlweise der Mann oder die Frau den Familien- und Haushaltjob übernehmen oder ihn, was wohl die ideale Lösung wäre, zwischen sich aufteilen könnten. Drittens könnte der Beruf als Familienfrau oder Familienmann auch dadurch „aufgewertet“ werden und zu einer finanziellen Entlastung führen, indem grosszügiges Kindergeld ausgerichtet würde. Viertens dürfte das Kriterium, Mutter zu sein oder „Gefahr“ zu laufen, es zu werden, niemals für einen Arbeitgeber einen Hinderungsgrund bilden, eine Frau einzustellen. Fünftens müsste jedes Unternehmen verpflichtet werden, einer Frau, der die Erfahrung im ausserhäuslichen Erwerbsleben über Jahre gefehlt hat, die nötige Geduld, Zeit und Aufmerksamkeit entgegenzubringen, damit sie wieder auf den neuesten Stand gebracht werden könnte. Und sechstens sollte keine Frau – und kein Mann – für seine Familienzeit bestraft werden durch eine tiefere Rente im Alter. Die Familienarbeit müsste jeder anderen Arbeit gleichgestellt werden durch entsprechende Zuschüsse an die Altersvorsorge.

Forderungen und Ideen, die auf den ersten Blick utopisch klingen mögen. Doch das ist nur so, weil wir uns an all die bestehenden Absurditäten so sehr gewöhnt haben, dass wir uns einbilden, dies sei das einzige Mögliche. Tatsächlich aber ist diese Realität noch immer zutiefst geprägt von einer patriarchalen Gesellschaftsstruktur, in der ein Banker – wohlweislich stets ein Mann – für so ziemlich den überflüssigsten Job zehn oder zwanzig Millionen Franken verdient, während sich die Mutter und Hausfrau, die so ziemlich die gesellschaftlich wichtigste Arbeit verrichtet, sich immer noch zum Nulltarif abstrampelt. Von den Kindern, die niemand gefragt hat, unter welchen äusseren Bedingungen sie aufwachsen möchten, schon gar nicht zu reden. Und doch wären gerade sie die ersten, die man fragen müsste. Denn, wie der frühere schwedische Premierminister Olof Palme sagte: „Weil unsere Kinder unsere einzige reale Verbindung zur Zukunft sind, und weil sie die Schwächsten sind, gehören sie an die erste Stelle der Gesellschaft.“   

Erst wenn die Gewalt des herrschenden Gesellschafts- und Wirtschaftssystems überwunden wird, kann auch jene Gewalt, die Jugendliche sich selber oder anderen zufügen, überwunden werden…

 

Gemäss „Sonntagszeitung“ vom 2. April 2023 zeigt die neue schweizerische Kriminalstatistik, welche diese Woche veröffentlicht wurde, dass schwere Gewaltdelikte weiterhin zunehmen, vor allem auch bei den Jüngsten. So wurden 1385 Minderjährige zwischen 10 und 14 Jahren letztes Jahr einer Gewaltstraftat beschuldigt, 11 Prozent mehr als im Vorjahr und fast 50 Prozent mehr als vor zehn Jahren. Ihnen werden Körperverletzung, Raub, sexuelle Nötigung oder versuchte Tötung vorgeworfen. Über 80 Prozent sind Buben. Dirk Bauer von der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaft, der seit Jahren zum Thema Kinder- und Jugendgewalt forscht, kann sich diese Entwicklung „noch nicht schlüssig erklären“. Am ehesten sieht er die Ursachen bei den „sozialen Medien“, „problematischen Vorbildern“, „desinteressierten Elternhäusern“ und „problematischen Familienverhältnissen.“

Diese Sichtweise scheint mir zu kurz zu greifen. Die Schuldzuweisung an „soziale Medien“ oder „problematische Familienverhältnisse“ individualisiert die Problematik und lenkt davon ab, dass auch die Gesellschaft als Ganzes und die Veränderungen in der Lebens- und Arbeitswelt eine ganz wesentliche Ursache steigender Jugendkriminalität bilden könnten. Beobachten wir diese Veränderungen, dann stellen wir nämlich fest, dass sich die Anforderungen am Arbeitsplatz, der Konkurrenzkampf um den sozialen Aufstieg und die Schere zwischen Arm und Reich seit Jahren immer mehr verschärfen, lauter Belastungen, von denen nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Kinder und Jugendlichen betroffen sind. Besonders stark wirkt sich dies alles auch auf die Schule aus, wo die Kinder einem laufend wachsenden Leistungsdruck ausgesetzt sind, für gute Noten und damit gute Zukunftschancen ein immer grösserer Aufwand betrieben werden muss und all jene Kinder, welche diesem Konkurrenzkampf nicht gewachsen sind, mit immer grösseren Enttäuschungen und verlorenem Selbstvertrauen auf der Strecke bleiben. Wie erbarmungslos sich dies auswirken kann, zeigt das Beispiel einer Neunjährigen im St. Galler Rheintal, die unlängst von ihrem Vater geprügelt, geohrfeigt und mit einem Essensverbot bestraft wurde, weil sie wiederholt schlechte Schulnoten nach Hause gebracht hatte.

Es ist nicht lange her, da wurde in den Medien darüber berichtet, dass psychische Probleme bei Mädchen und jungen Frauen in den vergangenen zehn Jahren massiv zugenommen hätten, so vor allem Essstörungen, Magersucht, Depressionen und Suizidversuche. Doch nur selten werden von Fachleuten oder von den Medien psychische Probleme von Mädchen und gewalttätiges Verhalten von Buben in einen gemeinsamen Zusammenhang gebracht, man tut so, als hätte das eine mit dem anderen nicht das Geringste zu tun. Tatsächlich aber sind das die beiden Kehrseiten der gleichen Ursache, des zunehmenden Drucks und des sich laufend verschärfenden Konkurrenzkampfs im Alltag, in der Arbeitswelt und in der Schule. Nur dass Mädchen und Buben eben der unterschiedlich darauf reagieren: Während Knaben die „Gewalt“ nach aussen tragen und anderen Menschen Schaden zufügen, fressen die Mädchen dagegen die „Gewalt“ in sich selber hinein und fügen sich selber Schaden zu. Diese „Gewalt“ aber ist nichts anderes als eine Reaktion auf die bereits vorhandene gesellschaftliche Gewalt, in der diese jungen Menschen aufwachsen. Kein Mensch ist von Natur aus gewalttätig, es sind die Umstände, die ihn dazu bringen. „Der Mensch ist gut und will das Gute“, sagte Johann Heinrich Pestalozzi, „und wenn er böse ist, dann hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“

Wenn wir daher die Gewalttätigkeit oder die psychischen Probleme junger Menschen wirksam bekämpfen wollen, dann müssen wir bei den Ursachen ansetzen, nicht bei den Symptomen. Irgendwelche Aufklärungs- und Präventionsprogramme nützen ebenso wenig wie individuelle Therapiemassnahmen. Denn die extremen, von der Statistik erfassten Fälle bilden nur die Spitze des Eisbergs. Unzählige andere Kinder und Jugendliche leiden ebenso unter den Belastungen, dem Druck und den übertriebenen Erwartungen, denen sie täglich ausgesetzt sind – ohne aber straffällig zu werden oder auf psychologische Hilfe angewiesen zu sein. Was wir brauchen, ist nichts weniger als die Überwindung einer Leistungsgesellschaft, die schon längst aus allen Fugen geraten ist. Was wir brauchen, ist eine Gesellschaft, eine Arbeitswelt und eine Schule, in welcher die Menschen nicht in einen permanenten gegenseitigen Überlebenskampf gezwungen werden, sondern jede und jeder Einzelne in ihrer Individualität und Einzigartigkeit wahrgenommen, geschätzt und geliebt wird. Eine Arbeitswelt, die nicht auf Konkurrenzkampf und gegenseitige Ausgrenzung ausgerichtet ist, sondern auf Kooperation und gegenseitige Unterstützung. Und, nicht zuletzt, eine massive Verringerung der bestehenden Lohnunterschiede, sodass nicht alle gezwungen sind, sich verzweifelt immer weiter nach oben zu kämpfen. Erst wenn die Gewalt, die das herrschende Gesellschafts- und Wirtschaftssystem ausübt, überwunden wird, kann auch jene Gewalt, welche Jugendliche sich selber oder anderen zufügen, überwunden werden können.

Credit Suisse: Erst wenn die letzte Bank gefallen ist, werden wir merken, dass man Geld nicht essen kann…

„13 Prozent der gesamten Wertschöpfung in der Stadt Zürich“, schreibt die „NZZ am 27. März 2023, „gehen auf die Banken zurück.“ Auch die meisten Ökonomen, Politikerinnen und Bankenfachleute betonen bei jeder Gelegenheit die volkswirtschaftliche Bedeutung der Banken und rechtfertigen damit auch noch so massive staatliche Unterstützung, wenn einer dieser „systemrelevanten“ Grundpfeiler ins Wanken gerät.

Doch eigentlich handelt es sich bei alledem um einen gigantischen Trugschluss. Volkswirtschaftliche Wertschöpfung erfolgt nämlich nicht durch die Banken, sondern durch die reale Wirtschaft, durch die Fabriken, durch die Landwirtschaftsproduktion, durch die arbeitenden Menschen auf den Baustellen, in der Gastronomie und in den Spitälern. Die „Leistung“ der Banken besteht einzig und allein darin, das in der Realwirtschaft erarbeitete Geld zu horten, hin- und herzuschieben, es möglichst gewinnbringend anzulegen und es, auf was für verschlungenen und geheimnisvollen Wegen auch immer, unermesslich in die Höhe wachsen zu lassen.

„Was ist schon der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank“, sagte Bertolt Brecht. Wie recht er hatte! Auf der einen Seite fliesst hart erarbeitetes Geld aus der Realwirtschaft in die Banken, auf der anderen Seite fliessen Millionengewinne für Aktionärinnen und Aktionäre, Boni und astronomische Gehälter für die Manager sowie exorbitante Unternehmensgewinne heraus – kann man das anders bezeichnen denn als Diebstahl am Volksvermögen? Dass am Ende, wenn eine Bank trotz allem in eine Krise schlittert, wiederum öffentliches Geld herhalten muss, um die Bank zu „retten“, ist nichts anderes als doppelter und dreifacher Raub am Volksgut.

Dass diesem ganzen Unwesen nicht schon längst ein Ende bereitet worden ist, hat wohl damit zu tun, dass das Bankenwesen – und der Kapitalismus ganz generell – so etwas geworden ist wie eine neue Religion. Nicht von ungefähr gleichen viele Banken, selbst in kleineren Siedlungen, griechischen Tempeln und die schwindelerregende Höhe ihrer Verwaltungsgebäude erinnert an mittelalterliche Kathedralen. Nur scheinbar haben wir das Zeitalter monotheistischer Religionen, die das Schalten und Walten eines übermächtigen Gottes über die individuelle Freiheit und Persönlichkeitsentfaltung gestellt hatten, überwunden. Ganz leise und unbemerkt hat sich eine neue Religion unserer Seelen bemächtigt: die Religion der Profitgier, die Religion der Gewinnmaximierung, die Religion der Rendite, die Religion des Geldes, die Religion des Kapitalismus.

Und wie es so ist mit Religionen: Niemand versteht so richtig die Zusammenhänge, alle verstecken sich gegenseitig hintereinander, selbst die besten „Spezialistinnen“ und „Spezialisten“ können nicht mehr erklären, wie und weshalb alles so und nicht anders funktioniert in diesem tödlichen Spiel, bei dem immer grössere Mengen an Geld, die mit der Realwirtschaft nicht mehr das Geringste zu tun haben, in immer schnellerem Tempo um den Erdball sausen. Ein System, das längst alle Vernunft verloren hat. Aber weil alle daran glauben, wird es weiterhin, auch wenn seine Mängel immer offensichtlicher zutage treten, ebenso ehrfürchtig vergöttert wie einst der Himmelvater Zeus oder die heiligen Schriften der christlichen Glaubenslehre.

Möglicherweise ist der Zerfall der Credit Suisse nur ein erster Vorbote einer noch viel grösseren Krise, die auf uns zukommen könnte. Spätestens dann werden wir uns wohl an jene Weissagung der nordamerikanischen Creek erinnern, ausgesprochen vor über tausend Jahren, oft belächelt und viel zu wenig ernst genommen, aber in diesen Tagen aktueller denn je: „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.“

Man muss nicht gegen feindliche Armeen kämpfen, man muss gegen den Krieg kämpfen…

 

„Die Schweiz“, so NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Interview mit dem „Tagesanzeiger“ vom 23. März 2023, „könnte mithelfen, Leben in der Ukraine zu retten und das internationale Recht zu verteidigen, indem sie den Verbündeten erlaubt, Waffen und Munition zu liefern.“

Wie zynisch. Waffen liefern, um Leben zu retten? Ich habe immer geglaubt, Waffen seien dazu da, Menschen zu töten und Leben zu zerstören. Gibt es gute und schlechte Waffen? Sind, wie Stoltenberg wörtlich sagt, nur die Waffen in der Hand der Russen dazu da, „hohe Verluste in Kauf zu nehmen“, die Waffen in der Hand der Ukraine aber bloss dazu, „Gebiete zu befreien“? Und wie war das mit den Waffen in der Hand der Ukraine, mit denen zwischen 2014 und 2022 im Donbass Tausende von Zivilpersonen getötet wurden, waren das nun „gute“ oder „böse“ Waffen? Und die Waffen in der Hand der NATO-Truppen im Jugoslawienkrieg 1999 oder im Irakkrieg 2003? Waffen, die „getötet“ haben, oder Waffen, die „befreit“ haben? Spielt es für die einzelnen betroffenen Opfer überhaupt eine Rolle, ob die Waffe, von denen sie getötet wurden, eine „gute“ oder eine „böse“ Waffe war?

Nein, man muss nicht gegen feindliche Armeen kämpfen. Man muss gegen den Krieg kämpfen. Ich wundere mich über die Passivität der Schweiz in Bezug auf mögliche Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Mit der Freigabe einiger Schützenpanzer oder der Lieferung von Munition kann die Schweiz ohnehin nur wenig bewirken. Umso mehr dagegen könnte die Schweiz als Friedensstifterin erreichen. Ihre neutrale Stellung wäre eine ausgezeichnete Voraussetzung dafür, sich als Vermittlerin und als Standort von Friedensverhandlungen anzubieten, zumal die Schweiz auch Signatarstaat des IKRK und der UNO ist. Seit einem Monat liegt der überaus konstruktive, ausgewogene, vom Westen aber kaum ernsthaft zur Kenntnis genommene Friedensplan Chinas auf dem Tisch. Auch der brasilianische Präsident Lula da Silva hat eine Friedensinitiative angekündigt. Was hält die Schweiz, statt sich immer mehr in die Hände der NATO treiben zu lassen, davon ab, sich diesen bereits bestehenden Friedensbemühungen anzuschliessen und jene Eigenständigkeit und Unabhängigkeit an den Tag zu legen, auf welche sie in ihrer Geschichte stets so stolz gewesen ist? 

Ja, Stoltenberg hatte Recht: Die Schweiz könnte Leben retten. Aber nicht durch die Lieferung von Waffen, sondern durch den Mut und die Unerschrockenheit, aus der Logik einer Spirale von immer noch mehr und noch mehr Waffen auszubrechen und sich als Botschafterin des Friedens und des Dialogs zwischen die Fronten zu stellen. Kleine können Grosses erreichen. Aber nicht, indem sie mit dem Strom schwimmen, sondern nur, indem sie sich mit aller Kraft dagegen auflehnen.

Chinas Zwölfpunkteplan: ein taugliches Mittel zu einer baldmöglichsten Beilegung des Ukrainekonflikts – eine Chance, die sich niemand entgehen lassen sollte…

 

Als China am 24. Februar 2023 seinen Friedensplan für die Beilegung des Ukrainekonflikts vorlegte, reagierte die westliche Presse unverzüglich skeptisch bis ablehnend. So etwa setzte der „Tagesanzeiger“ das Wort „Friedensplan“ in Anführungsstriche, um damit China zu unterstellen, es mit seinem diplomatischen Vorstoss gar nicht wirklich ernst zu meinen. Allerdings versäumte es der „Tagesanzeiger“, auf die zwölf Punkte des Friedensplans im Einzelnen einzugehen. Auch die „NZZ“ fand es nicht nötig, den chinesischen Friedensplan im Detail zu erläutern und meinte stattdessen bloss, das Papier enthalte „nichts Konkretes, was über die von Putin geäusserten Statements hinausgeht“ und sei bloss ein „raffinierter Schachzug Chinas“.  Und die „Frankfurter Rundschau“ beschränkte sich in ihrer Berichterstattung auf einen einzigen der zwölf Punkte des chinesischen Friedensplans. Nicht anders tönt es einen Monat später, anlässlich des Besuchs von Chinas Staatspräsident Xi Jinping in Moskau. „Putin und Xi“, so das „Tagblatt am 22. März 2023, „begraben die Hoffnungen des Westens“. Westliche Beobachter, so das „Tagblatt“, sähen Chinas Plan nicht in Richtung Frieden, stattdessen würden die territoriale Integrität und die Souveränität der Ukraine als zerstört manifestiert und Russland würde für seinen Angriff mit Gebietsgewinnen belohnt. Und der „Tagesanzeiger“ titelt anlässlich des chinesischen Staatsbesuchs in Moskau, die „Gesten“ seien „gross“, „die Worte schwammig“. Der chinesische Besucher helfe Putin, diesem zu zeigen, dass er mit seiner „antiwestlichen Weltsicht nicht alleine“ dastehe.

Statt ellenlange Artikel über das angeblich im gleichen Boot wie Russland sitzende China zu schreiben, hätte die westliche Presse viel besser daran getan, den chinesischen Friedensplan im Detail zu veröffentlichen, damit sich die Bürgerinnen und Bürger des „freien“ Westens selber dazu eine Meinung hätten bilden können – statt das Papier in Bausch und Bogen zu zerzausen, ohne sich im Einzelnen objektiv und unvoreingenommen damit auseinandergesetzt zu haben. 

Nun, was beinhalten die zwölf Punkte des chinesischen Friedensplans? Erstens: Das allgemein anerkannte Völkerrecht muss strikt eingehalten werden. Die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit aller Länder muss wirksam gewahrt werden. Alle Parteien sollten gemeinsam die grundlegenden Normen für die internationalen Beziehungen aufrechterhalten und für internationale Fairness und Gerechtigkeit eintreten. Zweitens: Die Sicherheit eines Landes sollte nicht auf Kosten anderer Länder angestrebt werden. Die Sicherheit einer Region sollte nicht durch die Stärkung oder Ausweitung von Militärblöcken erreicht werden. Die legitimen Sicherheitsinteressen aller Länder müssen ernst genommen und angemessen berücksichtigt werden. Alle Parteien sollten gemäss der Vision einer gemeinsamen, umfassenden, kooperativen und nachhaltigen Sicherheit und mit Blick auf den langfristigen Frieden und die Stabilität in der Welt dazu beitragen, eine ausgewogene, effektive und nachhaltige europäische Sicherheitsstruktur zu schaffen. Drittens: Der Dialog sollte so schnell wie möglich aufgenommen werden, um die Situation schrittweise zu deeskalieren und schliesslich einen umfassenden Waffenstillstand zu erreichen. Viertens: Dialog und Verhandlungen sind die einzige praktikable Lösung für die Ukrainekrise. Alle Bemühungen, die zu einer friedlichen Beilegung der Krise beitragen, müssen gefördert und unterstützt werden. Fünftens: Humanitäre Massnahmen müssen gefördert und unterstützt werden. Humanitäre Massnahmen sollten den Prinzipien der Neutralität und Unparteilichkeit folgen und humanitäre Fragen sollten nicht politisiert werden. Sechstens: Die Konfliktparteien sollten sich strikt an das humanitäre Völkerrecht halten, Angriffe auf Zivilisten oder zivile Einrichtungen vermeiden, alle Opfer des Konflikts schützen und die Grundrechte der Kriegsgefangenen achten. Siebtens: Bewaffnete Angriffe auf Kernkraftwerke sind zu unterlassen. Achtens: Atomwaffen dürfen nicht eingesetzt und Atomkriege dürfen nicht geführt werden. Die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen sollte abgelehnt werden. China lehnt zudem die Erforschung, Entwicklung und den Einsatz von chemischen und biologischen Waffen durch jedes Land unter allen Umständen ab. Neuntens: Getreideexporte müssen erleichtert werden, um die globale Ernährungssicherheit zu gewährleisten. Zehntens: Einseitige, vom UNO-Sicherheitsrat nicht genehmigte Sanktionen müssen aufgehoben werden. Elftens: Industrie- und Lieferketten müssen aufrechterhalten und der Erhalt des weltweiten Wirtschaftssystems muss gewährleistet werden. Die Weltwirtschaft darf nicht als Werkzeug oder Waffe für politische Zwecke benutzt werden. Zwölftens: Die internationale Gemeinschaft muss Massnahmen ergreifen, um den Wiederaufbau im Konfliktgebiet zu unterstützen. China will dabei eine aktive Rolle spielen.

Nur schon der erste Punkt – die Souveränität aller Länder müsse gewährleistet werden – zeigt, dass die Behauptung westlicher Politiker und Medien, wonach der chinesische Friedensplan die Souveränität der Ukraine zerstören wolle, eine glatte Lüge ist – das Gegenteil ist der Fall! Auch die übrigen Forderungen könnten ausgewogener und unparteiischer nicht sein. Sie bilden eine gute Grundlage dafür, dass die Konfliktparteien überhaupt erst einmal miteinander ins Gespräch kommen. Die zwölf Punkte sind ja nicht in Stein gemeisselt und können im Verlaufe möglicher Gespräche falls nötig immer noch modifiziert werden. Wenn westliche Politiker und Medien jetzt schon aus allen Rohren gegen die Friedensbemühungen Chinas schiessen, dann sagt das über diese Politiker und Medien nicht viel Gutes aus und deutet darauf hin, dass sie ein weitaus grösseres Interesse daran haben, diesen Krieg bis zum bitteren Ende weiterzuführen, statt wenigstens den Strohhalm eines möglichen Schrittes in Richtung Frieden und Aussöhnung zu ergreifen.

Russland von den Olympischen Spielen 2024 ausgeschlossen? Machen wir es doch wenigstens so gut wie die alten Griechen vor über 2000 Jahren…

 

„Soll Russland an Olympia teilnehmen dürfen?“, fragt der „Tagesanzeiger“ am 21. März 2023. In einem Positionspapier, so berichtet die Zeitung, hätte der Dachverband Olympics erklärt, mit dem Angriff auf die Ukraine hätte sich die russische Regierung gegen die Werte der olympischen Bewegung gestellt, deshalb trage auch Swiss Olympic die Empfehlung des internationalen Olympischen Komitees (IOK) mit, russische und belarussische Athleten und Athletinnen von internationalen Wettkämpfen auszuschliessen. Indessen befasse sich der Exekutivausschuss des IOK zurzeit mit der Erarbeitung eines möglichen Kompromisses: Nur wer als Athlet oder Athletin den Krieg nicht aktiv unterstütze, könnte teilnehmen, jedoch seien keine russischen Flaggen, keine russische Hymne und keine russischen Erkennungszeichen zugelassen. Dieser Kompromissvorschlag sei von Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris und damit Gastgeberin an den Spielen, dezidiert abgelehnt worden: Sie wolle 2024 weder eine russische noch eine weissrussische Delegation in „ihrer Stadt“ haben. Gegnerinnen und Gegner einer Olympiateilnahme von Russland und Weissrussland argumentierten damit, dass die Sportlerinnen und Sportler dieser Länder durch ihre Sportverbände dem russischen oder weissrussischen Komitee angehörten, das vom selben Staat unterstützt werde, der den Angriffskrieg ausgelöst hätte. Nur die wenigsten Athletinnen und Athleten könnten wohl belegen, dass sie nicht von staatlicher Sportförderung profitieren würden.

Wie war das schon wieder zur Zeit des Vietnamkriegs, des Jugoslawienkriegs, des Irakkriegs und aller anderen über 40 von den USA seit 1945 durchgeführten Militäroperationen und Angriffskriege? Hat man da auch jeweils sämtliche Athletinnen und Athleten der USA und ihrer Verbündeten von den Olympischen Spielen ausgeschlossen, US-amerikanische Flaggen und Erkennungszeichen sowie die US-amerikanische Hymne verboten? Hätte man das ebenso konsequent durchgezogen, wie heute gegen Russland und Weissrussland vorgegangen wird, dann hätte es seit 1945 wohl nicht sehr viele Olympische Spiele mit Beteiligung von Athletinnen und Athleten aus den USA gegeben.

Besteht nicht die Grundphilosophie der Olympischen Spiele seit eh und je in der Idee der grenzüberschreitenden Völkerverständigung? Da waren uns die alten Griechen, die Erfinder der Olympischen Spiele, schon vor über 2000 Jahren um einiges voraus: Während der Dauer der Spiele mussten nämlich alle Kriege, welche von den griechischen Völkern untereinander geführt wurden, unterbrochen werden und selbst die Athleten der am meisten zerstrittenen Völker massen sich im friedlichen Wettstreit aneinander. Würde man 2024 auch Athletinnen und Athleten aus Russland oder Weissrussland an den Olympischen Spielen teilnehmen lassen, würde das ja nicht bedeuten, dass man deshalb den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine rechtfertigen oder gutheissen würde. Es würde nur heissen, dass man die weise Einsicht walten liesse, Sport und Politik voneinander zu trennen und nicht Menschen, die sich über Jahre mit grösster Leidenschaft und vielen Entbehrungen auf die weltweit bedeutendsten sportlichen Wettkämpfe vorbereitet haben, dafür zu bestrafen, dass ihre Regierungen Kriege führen oder andere Menschenrechtsverletzungen begehen. „Die Russinnen und Russen“, sagte Yves Rossier, langjähriger Schweizer Botschafter in Moskau, „sind ein wunderbares Volk, emotionale Menschen mit grossen Herzen.“ Diese Erkenntnis scheint in der heute so aufgeheizten Diskussion rund um den Ukrainekrieg immer mehr verloren zu gehen, indem man alle Russinnen und Russen und dazu auch gleich noch – aus was für Gründen auch immer – sämtliche Weissrussinnen und Weissrussen in den gleichen Topf wirft. Es ist das Gegenteil dessen, was man tun müsste, um die Fäden der gegenseitigen Völkerverständigung nicht noch gänzlich abzureissen und dem Frieden eine Chance zu geben, über alle Grenzen hinweg.

Machen wir es doch wenigstens ein klein wenig so gut wie die alten Griechen. Legen wir die Waffen nieder, nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch in unseren Köpfen. Stellen wir der Logik des Kriegs die Logik des Friedens und der Völkerverständigung entgegen. Lassen wir die Olympischen Spiele zu einem Fest des Friedens werden, wo der Hass und das Schüren von Feindbildern keinen Platz haben sollen und sich auf wundersame Weise Feinde wieder in Freunde verwandeln…