Wenn Menschen lieber eine Barbie-Puppe sein wollen als sich selber…

Am 5. November 2025 starb die brasilianische Influencerin Barbara Jankavski im Alter von 31 Jahren, nachdem sie sich insgesamt 27 Operationen unterzogen hatte, um so auszusehen wie eine Barbie-Puppe. Für die Operationen hatte sie insgesamt 50’000 Franken investiert. Um das Geld zusammenzubekommen, hatte sie sämtliche Operationen und weitere, kleinere medizinische Eingriffe peinlichst genau in den sozialen Medien dokumentiert und damit kurz vor ihrem Tod 55’000 Follower auf Instagram gehabt und 344’000 auf Tiktok.

Eigentlich ist Barbara Jankavski nur das vielleicht extremste Beispiel für etwas, was mittlerweile in unseren Köpfen schon so tief eingebrannt zu sein scheint, dass wir es kaum mehr als etwas Besonderes oder Aussergewöhnliches wahrnehmen. Nämlich: Etwas anderes sein zu wollen, als man ist. Immer nach rechts oder nach links zu schauen, nach hinten oder nach vorne, nach oben oder nach unten, in die Vergangenheit oder in die Zukunft, wo immer noch etwas anderes zu finden ist, was noch schöner, noch besser, noch bewundernswerter, noch erfolgreicher ist als man selber. Das führt dazu, dass wir all das, was an individuellem, einzigartigem Potenzial, an Talenten und Begabungen in jedem und jeder Einzelnen von uns steckt, oft gar nicht mehr richtig wahrzunehmen vermögen. Wahrscheinlich hatte Barbara Jankavski in ihrem ganzen Leben nie die Chance gehabt, herauszufinden, wer sie selber war, so dass ihre ganze Hoffnung auf ein einigermassen sinnvolles Leben darin bestand, so zu werden wie eine Barbie-Puppe.

Auch eine Zwanzigjährige, die mir kürzlich berichtete: „Eigentlich weiss ich gar nicht, wer ich bin, ich weiss auch nicht, was ich wirklich kann. Manchmal frage ich mich, weshalb ich überhaupt geboren wurde.“ Kein Wunder, machen sich solche Gedanken breit bei einer jungen Frau, der zeitlebens nie jemand gesagt hat, was sie alles gut gemacht hat, sondern immer nur, was sie alles falsch und schlecht gemacht hat, und die dann, als es um eine Lehrstelle ging, auf tausend Bewerbungen tausend Absagen erhielt – und da wundert man sich dann noch, wenn immer mehr junge Menschen in Therapien oder psychiatrischen Kliniken landen, wo ihnen dann tragischerweise zu allem Überdruss viel zu oft erst recht noch einmal all das aufgetischt wird, was sie in ihrem Leben falsch und schlecht gemacht haben. Als könnte man todkranke Blumen dadurch gesund machen, dass man ihnen auch noch ihre letzten Wurzeln ausreisst und sie dazu zwingt, sich neue Wurzeln anzulegen, die mit ihrem ureigenen, einzigartigen, unverwechselbaren Wesen nichts zu tun haben.

Ich würde mich, in traditionellem Verständnis, nicht als religiösen Menschen bezeichnen. Und doch trage ich in mir ein Bild, das sich nicht auslöschen lässt und das eben vielleicht doch mit „Religion“ in einem tieferen Sinne etwas zu tun hat. Es ist das Bild eines „lieben“ Gottes, etwas, von dem mir meine aus Wien stammende Mutter oft erzählt hatte und das in einem totalen Gegensatz steht zu jenem auf einem Thron sitzenden alten Mann mit grimmigem Gesicht, herrschend, allmächtig und oft auch strafend, von dem mir dann später der Pfarrer im Religionsunterricht erzählte. Es war dieser liebe Gott aus Wien, oder vielleicht ist es ja auch eine liebe Göttin oder vielleicht sogar ein Kind – es ist dieses Wesen, von dem meine Mutter mir erzählte, dieses Wesen, das, und davon bin ich bis heute zutiefst überzeugt, die Welt erschaffen hat, die Erde, das Wasser, die Luft, den Regen, alles Lebensnotwendige, alle Pflanzen, alle Tiere und uns Menschen. Denn das alles ist so unglaublich vollkommen, dass ich mir nicht vorstellen kann, es sei alles bloss ein Zufall gewesen.

Und es steckte eine Idee dahinter, die faszinierender nicht sein könnte. Nämlich die Idee der Vielfalt. Kein Stein gleicht dem andern, kein Sandkorn dem andern, kein Regenwurm, kein Kolibri und kein Elefant dem andern. Und bei den Menschen ist die Verschiedenartigkeit noch um ein Vielfaches faszinierender als bei allen anderen Lebewesen. Man stelle sich vor: Rund neun Milliarden Menschen bevölkern zurzeit diesen Planeten. Und schätzungsweise ebenso viele waren schon vor uns da. Und möglicherweise, wenn alles gut geht, werden uns noch viele weitere Milliarden folgen. Kein einziger dieser Menschen gleicht dem andern. Was für ein unvorstellbares Wunderwerk! Ich stelle mir den lieben Gott vor: Bei jedem Klumpen Lehm, den er in die Hand nahm, um einen weiteren Menschen zu formen, musste er sich wieder etwas Neues einfallen lassen, was es vorher noch nie gegeben hatte. Um wie viel einfacher wäre es für ihn doch gewesen, einen Prototypen zu bauen und dann eine Maschine, welche diesen Prototypen in beliebiger Zahl hätte reproduzieren können. Er hätte am Tag darnach schlafen gehen und sich um nichts mehr kümmern müssen. Aber nein, er hat nicht aufgehört, immer wieder neue, nie dagewesene Wesen zu erschaffen, bis zum heutigen Tag, unermüdlich.

Aber zu seinem Leidwesen haben zu viele von uns diese Botschaft, die uns der liebe Gott mit jedem neu geborenen Kind aufs neue sendet, nicht verstanden. Statt vor dieser unglaublichen Vielfalt voller Bewunderung auf die Knie zu fallen, versuchen wir genau das Gegenteil, nämlich, diese so verschiedenartigen Wesen möglichst gleich zu machen, mit den gleichen Regeln zu erziehen, in die gleichen Schulen zu schicken, wo sie alle den gleichen Lernstoff zu bewältigen haben, ihnen die gleichen Ideale und Normen und Werte beizubringen, nach denen sie leben sollten. Und sie dabei beständig miteinander zu vergleichen, zu bewerten, die einen zu belohnen, die anderen zu bestrafen, sie alle immer wieder über die gleich hohen Hürden springen zu lassen, als wären es Maschinen, die alle nach den gleichen Regeln funktionieren müssten, und wehe, jemand weicht allzu stark von der allgemeinen Regel ab, dann wird alles daran gesetzt, ihm so lange die Flügel zu stutzen, bis er, wenigstens äusserlich, möglichst gleich aussieht wie alle anderen. Und irgendwann dann alle, zusätzlich befeuert durch die Wirkung der künstlichen „Intelligenz“, am Ende so aussehen werden wie Barbie-Puppen, Muskelprotze ab dem Fitnessfliessband oder Elon Musks in Weltraumraketen auf dem Flug zu fernen Planeten.

Ja, das Vergleichen, das in seiner Konsequenz zur systematischen Einebnung aller noch vorhandenen Unterschiede führen wird, scheint nachgerade die Hauptleidenschaft unserer Zeit zu sein. Benchmarking, Pisastudien, Ländervergleiche in Bezug auf das Bruttosozialprodukt, Ranglisten an allen Ecken und Enden, wohin man auch schaut. Selbst in dem Modegeschäft, wo eine Freundin von mir arbeitet, gibt es für die dort beschäftigten fünf Verkäuferinnen am Ende jedes Monats eine Rangliste mit den von jeder Einzelnen erreichten Umsatzzahlen. Der Druck, sagt sie, sei so gross, dass sie meistens gegen Ende des Monats kaum mehr schlafen könne und bloss hoffe, möglichst in der Mitte der Rangliste zu stehen, denn wenn man oben sei, bekomme man den Neid der anderen zu spüren, und wenn man unten sei, die Vorwürfe und die abschätzigen Blicke der Chefin. Ranglisten haben mittlerweile einen geradezu heiligen Wert, so sehr, dass beispielsweise Skirennfahrerinnen und Skirennfahrer ihre ganze Gesundheit dafür opfern, auch nach den gefährlichsten und schmerzvollsten Stürzen, kaum einigermassen erholt, schon wieder in die nächsten Rennen zurückrasen und nicht einmal davor zurückschrecken, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, bloss um ein paar Tausendstel Sekunden schneller zu sein als ihre Konkurrentinnen und Konkurrenten. Denn im ewigen und sich immer weiter verschärfenden gegenseitigen Konkurrenzkampf hat nur der das Ziel, von dem alle anderen ebenso träumen, wirklich voll und ganz erreicht, der am Schluss ganz zuoberst auf der Siegertreppe steht. „The Winner Takes it All“, wie es in einem Song der schwedischen Popgruppe Abba so schön heisst. Und der Erfolg am Ende ist für die, welche es geschafft haben, umso grösser, je mehr andere es nicht geschafft haben, daran gescheitert und zerbrochen sind.

Auch Barbara Jankavski. Auch die Zwanzigjährige, die auf tausend Bewerbungen tausend Absagen erhielt. Auch unzählige andere, die sich immer mit anderen vergleichen, an anderen messen müssen im Kampf um Erfolg oder Misserfolg und gar nie dazukommen, herauszufinden, wer sie selber eigentlich sind und welches die Idee des lieben Gottes war, als sie erschaffen wurden als einzigartige, unverwechselbare Funken des Universums. Auch jeden Morgen, wenn ich die jungen Leute auf den Bahnhöfen zu den Zügen und Bussen gehen sehe, welche sie an ihre Arbeitsplätze oder zu ihren Schulen bringen werden, fällt es mir so schmerzlich auf: Diese leeren Augen, die Blicke weit weg, an allen anderen Menschen vorbei, als würden sie ganz weit in der Ferne etwas suchen und es doch nie finden. Wer bin ich? Was ist der Sinn von allem? Welche Träume hatte ich einmal und was ist davon geblieben?

„Sei du selbst“, schrieb der irische Schriftsteller Oscar Wilde, „denn alle anderen gibt es schon.“ Und von Coco Chanel, einer der berühmtesten Modeschöpferinnen, stammen diese wunderschönen Worte: „Beauty begins the moment you decide to be yourself.“ Die Wahrheit kann der Mensch nirgendwo anders finden als im tiefsten Grund seines eigenen Wesens, an dem Punkt, wo immer noch die Erinnerung an jenen Augenblick verborgen ist, in dem der liebe Gott genau diesen und keinen anderen Klumpen Lehm in die Hand nahm und genau wusste, weshalb er genau diesen Menschen ganz genau so geformt hat und nicht so wie alle anderen.

Sich selbst zu finden ist der Schlüssel zu allem. Doch das ist nur die eine Seite, die individuelle. Die andere Seite ist die gesellschaftliche. Denn auch mit dem besten Willen und mit der grössten Anstrengung, den eigenen Lebensfaden aufzufinden und sich ihm entlang aufzubauen, wird eine Zwanzigjährige, der man tausend Mal gesagt hat, dass niemand sie braucht und sich niemand für all die in ihr verborgenen Schätze interessiert, am Ende an sich selber zerbrechen müssen. Ohne Liebe von aussen kann man auch sich selber nicht lieben. Wenn dir nie jemand sagt, wie wertvoll und einzigartig du bist, kannst du auch selber nicht wirklich davon überzeugt sein, es sei denn, du verfügst über übermenschliche Kräfte. Der liebe Gott, das war die feste Überzeugung meiner Mutter – und es wird mir immer mehr bewusst, dass sie in meinem Leben die einzige wirklich gute Religionslehrerin gewesen war -, der liebe Gott hat die Menschen bloss geschaffen bis zu dem Punkt, da er sie der Erde übergeben hat. In diesem Moment hat er die Verantwortung abgegeben, ab diesem Moment ist er für das Weitere nicht mehr zuständig. Für alles Weitere liegt die Verantwortung ausschliesslich bei den Menschen, die bereits dagewesen sind, als der neue Mensch geboren wurde. Wie es nach der Geburt weitergeht, entscheidet nicht mehr der liebe Gott, er wäre damit heillos überfordert und braucht seine ganze Zeit und Kraft dafür, Millionen und Milliarden weitere neue Wesen zu schaffen, immer in der Hoffnung, wir, die wir schon hier sind, würden endlich begreifen, was für eine Botschaft er uns damit sendet.

Denn es war, wenn der liebe Gott jedem einzelnen Menschen ein so grenzenloses Potenzial an körperlichen, geistigen und seelischen Kräften, Intelligenz und Phantasie mit auf seinen Lebensweg gegeben hat, wohl kaum seine Absicht, dass diese so im Übermass reichlich ausgestatteten Wesen dieses Potenzial verschwenden und bloss dazu missbrauchen, um sich im Kampf um Erfolg oder Misserfolg gegenseitig zu konkurrenzieren, zu schwächen, krank zu machen oder gar zu zerstören, Reichtum anzuhäufen auf Kosten anderer oder gar, sich gegenseitig umzubringen. Seine Idee war und ist wohl zutiefst eine andere, das, was sich wohl am treffendsten als „Paradies“ bezeichnen lässt. Und er wird ganz bestimmt nicht zur Ruhe kommen, bevor sich dieser Traum erfüllt hat, und zwar nicht irgendwo in einem erfundenen Niemandsland, sondern hier und jetzt, mitten unter uns, auf dieser Erde. Denn es ist die einzige, die wir haben. Und jede Träne eines hungernden Kindes oder einer Mutter, die im Krieg ihr Kind verloren hat, jede junge Frau, die lieber eine Barbie-Puppe sein möchte als sich selber, und jede aufgeritzte Haut einer Zwanzigjährigen, die nach der tausendsten Absage ihrer tausendsten Bewerbung nur noch Tag und Nacht hinter geschlossenen Vorhängen in ihrem Bett liegt, ist die Sehnsucht nach diesem Paradies.

„Linke“ Gesellschaftskonzepte fordern menschenwürdige Arbeitsbedingungen, ein Recht auf sinnvolle Beschäftigung, soziale Netze, damit niemand verloren geht, niemand unter Armut, wirtschaftlicher Ausbeutung, Hunger, Krieg oder politischer Verfolgung leiden muss. „Christlich“ geprägte Gesellschaftskonzepte stellen die Nächstenliebe und die Verbindung des Menschen zu Gott in den Mittelpunkt. Beide Sichtweisen greifen jedoch je für sich alleine zu kurz. Es braucht eine Verbindung beider Sichtweisen zu einem Ganzen. Wenn sich der Traum des lieben Gottes von einer friedlichen Welt voller Liebe und Gerechtigkeit erfüllen soll, dann genügt es nicht, wenn nur der Einzelne diesem Traum nachzuleben versucht. Gleichzeitig müssen auch die äusseren Umstände, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Gesetze und die Sozial- und Wirtschaftsstrukturen und die Politik so gestaltet sein, dass sich die „Göttlichkeit“ jedes einzelnen Menschen in ihrer ganzen Pracht entfalten kann.

Eigentlich wäre das gar nicht so schwierig. Denn alles, was es braucht, ist längst schon vorhanden. Der Mensch muss nicht künstlich zu etwas anderem hingezogen oder auf etwas anderes hin gezüchtet werden, er muss bloss zu sich selber befreit werden, damit sich sein göttlicher Kern entfalten kann. Hierfür aber ist der Glaube an das Gute im Menschen unabdingbar. Nur wenn wir an das Gute im Menschen glauben, kann seine Selbstverwirklichung zugleich zu einer Verwirklichung des Guten im Grossen wie im Kleinen, im Individuellen wie im Sozialen und Gesamtgesellschaftlichen führen. Ich kann mir auch mit dem besten Willen nichts anderes vorstellen, wenn ich diesen lieben Gott vor mir sehe, wie er pausenlos, ohne zu ruhen, einen Klumpen Lehm nach dem andern in die Hand nimmt und einen Menschen nach dem andern formt. Es wird doch allen Ernstes nicht seine Absicht sein, damit möglichst viel Böses zu schaffen, möglichst viel Leid, Hass und Zerstörung zu verbreiten. Er wird doch im Gegenteil alles daran setzen, diesen Wesen so viel Gutes mitzugeben wie nur irgend möglich, sonst wäre doch nicht jedes dieser neu geborenen Wesen so etwas unbeschreiblich Schönes, Kostbares, Paradiesisches. Oder, wie es Johann Heinrich Pestalozzi, ein zutiefst religiöser, zugleich aber radikal gesellschaftskritischer Mensch, so treffend formulierte: „Der Mensch ist gut und will das Gute. Und wenn er böse ist, dann hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“

Warum machen wir Menschen es uns so schwer? Betrachten wir doch die Blumen auf der Wiese, die Schmetterlinge, die Bäume im Wald, die Enten im Teich, die Fische im Wasser, die Vögel am Himmel. Sie alle entfalten sich so, wie sie vom lieben Gott gedacht waren. Wo ist das Böse? Es wäre alles so einfach…

Christella, 40 Jahre später: „Es würde meine Fragen zwar nicht beantworten, aber ich könnte etwas Dreck von meiner Seele schmeissen, indem andere erfahren, was mir widerfahren ist.“

Die folgende Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Allerdings sind die Namen der beteiligten Personen geändert und die Geschichte wurde in ein anderes, aber weitgehend vergleichbares gesellschaftliches und berufsbezogenes Umfeld verlegt.

Es sind seither zwar fast 40 Jahre vergangen, doch für Christella ist alles damals Erlebte noch so nahe, als wären diese 40 Jahre in dem Moment, da sie ihre Geschichte zu erzählen beginnt, augenblicklich in nichts zerschmolzen…

Christella, aufgewachsen in einer Kleinstadt in Norddeutschland, ist 15, als sich ihre Eltern mit Penelope und Gustav befreunden, einem Ehepaar, das in der Folge eine zunehmend wichtigere Rolle in Christellas Leben spielen wird. Denn im Gegensatz zu ihrem überaus konservativ eingestellten Vater und der eher ängstlichen, konfliktscheuen Mutter verkörpern Penelope und Gustave für Christella so etwas wie das Tor zur grossen, weiten Welt der Freiheiten und der Abenteuer. Gustav ist ein bekannter Kunsthändler, die von ihm veranstalteten Auktionen sind in der Fachwelt geradezu Kult und gehören zum Pflichtprogramm all derer, denen es nicht bloss darum geht, sich ein neues Kunstwerk zu erstehen, sondern mindestens so sehr, neue Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten zu knüpfen und sich auf dem Weg zu Ehre und Ruhm möglichst viele weitere Vorteile zu verschaffen. Penelope ihrerseits ist weitherum bekannt für ihr karitatives Engagement als Präsidentin einer Organisation, die sich vor allem des Schicksals von Kindern aus ärmlichen Verhältnisse annimmt, welche dringend medizinischer Hilfe bedürfen. Auch sie ist eine Dame „von Welt“ und auch die von ihr organisierten Veranstaltungen sind glanzvolle Höhepunkte im gesellschaftlichen Leben der Stadt. Zudem ist sie für ihr soziales Engagement bereits mit einem renommierten Ehrenpreis der Stadt ausgezeichnet worden.

Als Penelope eines Tages Christella, die soeben eine Ausbildung zur Erzieherin in Angriff genommen hat, ermuntert, stattdessen doch gescheiter das Abitur zu machen und eine akademische Karriere ins Auge zu fassen, ist der Teufel los. Christellas Vater rastet aus und spricht mit seiner Tochter drei Tage lang kein Wort mehr. Und da sich fast zur gleichen Zeit Gustav dafür entschieden hat, für ein halbes Jahr seinen Wohnsitz in die Schweiz zu verlegen, um zusätzliche Verbindungen zum dortigen Kunstmarkt aufzubauen, packt die nunmehr 18jährige Christella die Gelegenheit beim Schopf. Sie bricht ihre Ausbildung zur Erzieherin ab, entflieht Hals über Kopf ihrer Familie und wird nun für längere Zeit bei Gustav und Penelope leben, die inzwischen für sie so etwas wie ihre zweiten Eltern geworden sind. Für Penelope wiederum kommt die Anwesenheit von Christella wie gerufen, ist sie doch, in Anbetracht ihrer weiteren zeitaufwendigen karitativen Tätigkeit, noch so froh, jemanden zur Seite zu haben, die sich während dieser Zeit um ihre dreijährige Tochter und um den Haushalt kümmert.

Aber auch Gustav nutzt die Gelegenheit. Da Christella neben dem Kinderhüten und dem Erledigen von Arbeiten im Haushalt noch genügend freie Zeit bleibt, dient ihm die attraktive 18Jährige ab nun immer öfters als perfekte Assistentin, wenn es darum geht, sich mit wichtigen Leuten zu treffen, bei Einladungen Kaffee und Kuchen zu servieren und eine sympathische Atmosphäre zu verbreiten. Doch nicht nur das. Nach und nach wird die Assistentin zur Sekretärin, erledigt Telefonate, vereinbart Termine, reserviert die Räume für Sitzungen. Und eines Tages bekommt sie auch zum ersten Mal den Auftrag, Dokumente zu bearbeiten, von denen sie zunächst keine Ahnung hat, worum es geht. Sie folgt einfach den Anweisungen von Gustav. Erst viel später wird sie erfahren, dass es sich um gefälschte Zertifikate von Kunstwerken handelt, die sich bis 1933 in jüdischem Besitz befanden und dann von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden und nach denen seither gefahndet wird, damit sie ihren ursprünglichen Besitzern bzw. ihren Nachfahren zurückgegeben werden können. Gustav ist, was Christella nicht wissen kann, ein mit allen Wassern gewaschener Geschäftsmann im Graubereich zwischen Legalität und Illegalität, immer hart an der Grenze dazwischen, so, dass auf keinen Fall jemals etwas auffliegen oder sein gesellschaftliches Ansehen auch nur ansatzweise in Gefahr geraten könnte. Mit ihrem Charme und ihrer persönlichen Ausstrahlungskraft ist Christella zu Gustavs willkommenem Instrument geworden, seine Geschäfte noch weitaus müheloser und weniger riskant abwickeln zu lassen, ohne dass sie selber auch nicht Entferntesten ahnt, was mit ihr geschieht.

Bis Christella beim Abstauben auf Gustavs Pult ein Foto entdeckt. Es stammt von einem Empfang bei der deutschen Botschaft. In der Mitte des Bildes Gustav, dicht vor ihm Christella. Sie erschrickt. Dieser Blick von Gustav auf sie, von hinten, den sich ja beim Anlass selber nicht wahrnehmen konnte. Als würde er sie am liebsten mit Haut und Haaren verschlingen. Weiter rechts im Bild, mit gehörigem Abstand, Penelope. Und auch ihr Blick, voller Wut, in Richtung von Christella, spricht Bände.

Das Bild kann Christella nicht vergessen, bei allem, was sie in den kommenden Tagen tut. Christella hier, Christella dort, Kaffee holen, Lächeln, seine Hand auf ihrer Hand, beim Überprüfen der ausgefüllten Zertifikate. Das Mädchen für alles. Jeden Tag. Von früh bis spät. Und bald schon nicht nur am Tag.

Es ist nachts kurz vor elf. Gustav öffnet, ohne anzuklopfen, die Tür zu Christellas Zimmer. Kurz darauf liegt er neben ihr im Bett. „Ich könnte jetzt mit dir alles machen“, sagt er, „wie würdest du reagieren?“ Christella ist sprachlos. Dann kommt ihr in den Sinn, was ihr die Mutter einmal sagte: Falls es jemals geschehen sollte, rede einfach, so lange und so viel du kannst. „Ich habe Angst vor dir“, sagt Christella. Doch die lähmende Ohnmacht bleibt. Es kommen nicht die Worte, die jetzt vielleicht kommen müssten. Und wenn, würden sie wahrscheinlich sowieso im Leeren verhallen. Was sind schon Worte gegen die entfesselten Triebe eines fast doppelt so alten Mannes, der wahrscheinlich schon wochenlang auf nichts anderes gewartet hat als auf diesen Moment. Wahrscheinlich wäre jedes Wort in diesem Augenblick falsch, jedes würde seine Triebe nur noch weiter anstacheln. In diesem Augenblick zischt ein erschreckender Gedanke durch Christellas Kopf. Worte. Sprache. Literatur. Bücher. Sie hat Hunderte von Büchern gelesen, Bücher voller Weisheiten und voller Visionen für eine schönere und friedlichere Welt. Bücher voller Liebe und Zärtlichkeit. Sie kennt Dutzende von Menschen, die Bücher nur so verschlingen. Gebildete Menschen, wie man sagt. Doch ist das alles nur Schein? Ist die gesamte Weltliteratur über Tausende von Jahren einfach wirkungslos und ausgelöscht in dem Augenblick, da ein wild gewordener Mann, der gerade daran ist, seine Hose aufzuknöpfen aufzuknöpfen, nachts um elf neben dir im Bett liegt?

„Du warst wie ein Vater für mich“, sagt sie, „aber ein Vater tut so etwas nicht.“ Er: „Ich liebe dich.“ Sie: „Wenn du mich liebst, dann geh. Ich bin viel schwächer. Das willst du doch mir nicht antun. Und auch nicht deiner Frau.“ Knapp geschafft. Er steht auf und geht.

Am nächsten Abend trifft Christella Freundinnen in der Stadt und erzählt ihnen alles. Diese sind geschockt. Sie übernachten gemeinsam in einer Jugendherberge, Christella hat Angst, die folgende Nacht in ihrem Zimmer zu verbringen.

Am nächsten Tag jammert Gustav Penelope die Ohren voll, er könne seit Tagen nicht mehr durchschlafen, da die Tochter jede Nacht mehrmals erwache und ständig herum quengele, das würde ihn noch in den Wahnsinn treiben. Penelope zeigt Verständnis. Schliesslich braucht ihr Mann genügend Schlaf, um seinem zeitintensiven Job gerecht zu werden. Gustav zieht aus dem gemeinsamen Schlafzimmer aus und nimmt sich im oberen Stock ein bisher als Arbeitsraum benutztes Zimmer, schräg gegenüber dem Zimmer von Christella. Es wird immer schlimmer. Mehrmals in der Nacht klopft er an ihre verschlossene Tür und jedes Mal hört er erst dann auf, wenn Christella ihm droht, so laut zu schreien, dass es alle Nachbarn hören würden. Tagsüber versucht sie ihm, so weit es möglich ist, aus dem Weg zu gehen.

Es folgen zwei Wochen Urlaub in Frankreich. Wie wenn das für ihn so etwas wie ein lange ersehnter Freipass wäre, wird Gustav immer aufdringlicher, nutzt jede Gelegenheit, sich an Christella heranzumachen, packt sie auch mal an den Schultern, küsst sie, immer und immer wieder. Schliesslich macht er ihr einen Heiratsantrag. Er hätte sich dafür entschieden, seine Frau und seine Tochter zu verlassen und mit Christella eine neue Familie zu gründen, irgendwo in einem fernen Land, wo ihn niemand kennt. In diesem Augenblick empfindet Christella so etwas wie eine plötzliche, unerwartete Steigerung ihres Selbstwertgefühls, was sie sich bis heute immer noch nicht ganz zu erklären vermag, aber wohl etwas damit zu tun hat, dass sie zu diesem Zeitpunkt noch sehr jung und völlig unerfahren ist und sich dieser „Aufwertung“ ihrer Person kaum gänzlich zu entziehen vermag, obwohl sie ja für Gustav keinerlei Gefühle von Sympathie oder Zuneigung empfindet.

Am folgenden Tag nimmt Christella allen Mut zusammen, stellt Gustav zur Rede und konfrontiert ihn mit der Frage, ob er allen Ernstes seine Familie zerstören wolle. Für einen kurzen Augenblick scheint sich Gustav der Tragweite und der möglichen Konsequenzen seines Verhaltens bewusst geworden zu sein. Gleichzeitig aber nimmt sie seine totale Unfähigkeit wahr auch nur zu einer Spur von Reue und Selbsterkenntnis, im Gegenteil: Gustav, sich noch einmal in seiner ganzen fratzenhaften vermeintlichen Männlichkeit aufplusternd, kommt ihr vor wie ein viel zu stark aufgeblasener Ballon, der im nächsten Moment zu zerplatzen droht.

Später in der Nacht schreibt Christella einen Brief an Penelope, fünf ganze Seiten lang, schüttet ihr ganzes Herz aus, konfrontiert sie in allen Einzelheiten mit der Realität, schonungslos, jede noch so tiefe Verletzung dieser von allen so bewunderten und verehrten Frau in Kauf nehmend, die sich mit Leib und Seele seit Jahren so leidenschaftlich dafür einsetzt, das Los kranker Kinder aus minderbemittelten Familien zu lindern. Ein Mensch mit so viel Mitgefühl muss doch auch für ihr Leiden, für das Leiden Christellas, ein offenes Herz haben, diesen Mann zur Rede stellen, ihn mit seinem Fehlverhalten konfrontieren, von ihm verlangen, Farbe zu bekennen und sich zu entscheiden. Kurz nach dem Frühstück, Penelope räumt das Geschirr ab und Gustav hat sich bereits in sein Büro verzogen, steckt Christella Penelope wortlos den Brief zu.

Zutiefst innerlich aufgewühlt und zerrissen blickt Christella dem weiteren Tagesverlauf entgegen. Wie wird Penelope auf den Brief reagieren? Totenstille herrscht in der Wohnung. Nicht einmal vom Kind, das um diese Zeit fast immer am Jammern oder Weinen ist, hört man etwas. Ist das die vielbekannte Ruhe vor dem Sturm? Und was für Folgen wird dieser Sturm haben, wenn er erst einmal losgebrochen ist? Auf einmal bereut Christella zutiefst, was sie getan hat. Quälende Selbstzweifel werden immer stärker. Wäre es nicht gescheiter gewesen, sich einfach mit der Situation abzufinden, statt mit diesem Brief an Penelope möglicherweise etwas auszulösen, was unabsehbare Folgen haben könnte?

Doch der Sturm bleibt aus. Stattdessen: Tödliche Stille. Den ganzen Tag lang kein einziges Wort, weder von Penelope, noch von Gustav. Als wäre Christella unsichtbar. Als hätte sie für Penelope und Gustav aufgehört zu existieren.

Am folgenden Tag werden die Koffer gepackt. Wieder fällt kein Wort. Versteinerte Mienen. Leere Blicke. In Basel, beim Hauptbahnhof, wird Christella ausgeladen. Abgestellt. Weggeworfen. Ausgemustert. Entsorgt. Gustav drückt ihr einen Fahrschein in die Hand. Christellas Mutter wurde informiert, dass die Tochter um 16.09 Uhr zuhause ankommen würde. Kein Handschlag. Kein Wort. Kein Dankeschön. Nichts.

Seither lebt jede der beiden Familien wieder in ihrer eigenen Welt. Nur einmal noch hört Christella etwas von Penelope, ganze sieben Jahre später. Sie stösst auf einen von Penelope verfassten Artikel, der in einer Frauenzeitschrift veröffentlicht wurde. Penelope und Gustav sind immer noch zusammen, haben inzwischen drei Kinder. Sie leben nun dauerhaft in der Schweiz. Nebst ihrer karitativen Tätigkeit engagiert sich Penelope zunehmend auch für Frauenrechte. Im besagten Artikel schreibt sie: „Im Vergleich zwischen Deutschland und der Schweiz fällt mir auf, dass die Frauen hierzulande weitaus häufiger an einer herkömmlichen Frauenrolle festhalten. Es scheint ihnen vor allem wichtig zu sein, was andere von ihnen denken. Es fällt mir in meiner neuen Heimat schwer, gleichgesinnte Frauen zu finden, die sich wie ich für die Rechte von Frauen und ganz allgemein für Politik interessieren. Manchmal fühle ich mich ein bisschen wie ins 19. Jahrhundert zurückversetzt.“

„Gerne möchte ich dir diese Geschichte erzählen“, hatte mir Christella vor rund drei Wochen geschrieben, „es ist die wahre Begebenheit einer jungen Frau, die ich selbst bin. Sie lauert immer wieder in meinem Leben auf. Manchmal sass ich schon im Auto und wollte los fahren, dorthin, wo es geschah, um auf all die Fragen eine Antwort zu finden, die ich bis heute nicht beantworten konnte. Aber noch nach über 40 Jahren stülpt sich die damals 20jährige Frau über mich und will sich der Konfrontation partout nicht stellen, es fühlt sich zu widerlich an. Immer wenn ich diese Geschichte erzähle, sagt man mir, Gott sei Dank sei ich da ja noch früh genug rausgekommen und von meiner Familie so gut aufgefangen worden. Das stimmt zwar, dennoch aber wurde meine Seele fallen gelassen. Je älter und weiser ich werde, als umso unerträglicher empfinde ich das Geschehene. Denn kein Mensch darf der Besitz eines anderen sein. Wer versuchte, von mir Besitz zu ergreifen und einen Teil meiner Seele besitzen zu wollen, muss sich selber ein totales Vergessen verordnet haben, sonst könnte er dieses Unrecht nicht ertragen. Ich bin nicht die Einzige mit einer solchen Erfahrung. Millionen von Menschen erleben das tagtäglich und die Spuren bleiben wohl lebenslang unauslöschlich. Das Bild, das die Täter von sich selber machen und laufend schönreden, um jeden Morgen in ein Spiegelbild schauen zu können, das für sie erträglich ist, verwandelt sich in den Augen und in der Erinnerung ihrer Opfer ins pure Gegenteil, in eine zutiefst hässliche Fratze, die sie lebenslang begleiten wird. Gerne würde ich dir diese Geschichte erzählen. Es würde zwar meine Fragen nicht beantworten, aber ich könnte etwas Dreck von meiner Seele schmeissen, indem andere erfahren, was mir widerfahren ist.“

„Die Frau“, so die britische Schriftstellerin und Feministin Virginia Woolf, „hat Jahrhunderte lang als Lupe gedient, welche die magische und köstliche Fähigkeit besass, den Mann doppelt so gross zu zeigen, wie er von Natur aus ist.“

Ukrainische Flüchtlinge in der Schweiz: Und plötzlich gingen alle zuvor so fest verschlossenen Türen wie durch ein Wunder auf…

Einer meiner Deutschschüler, den ich seit zwei Monaten unterrichte, flüchtete mit seiner alleinerziehenden Mutter und seinem jüngeren Bruder vor zwei Jahren aus der Ukraine in die Schweiz, eine riesige Erleichterung nach einem Leben in beständiger Angst und Unsicherheit. Heute aber macht er auf mich einen überraschend geknickten Eindruck. Er erzählt…

„Lange Zeit war es einfach nur ein Gefühl der Dankbarkeit, so grosszügig als Flüchtling in der Schweiz aufgenommen zu werden. Doch vor ein paar Tagen erzählte mir eine aus Syrien geflüchtete Kurdin, wie schwierig es in den letzten paar Jahren für Menschen aus ihrem Land und auch aus anderen südlich und östlich gelegenen Ländern wie Afghanistan oder Eritrea geworden sei, in der Schweiz noch eine Chance auf Asyl zu bekommen. Ich hatte das, ehrlicherweise, nicht gewusst. Und es hat mich sehr traurig gemacht. Ich bin zwar glücklich, in der Schweiz so grosszügig ein Aufenthaltsrecht bekommen zu haben. Aber seitdem ich weiss, dass es gleichzeitig für Flüchtlinge aus anderen Ländern immer schwieriger geworden ist, hier aufgenommen zu werden, vermag es mich nicht mehr so richtig glücklich zu machen…

In der Tat…

Aufgrund des Kriegs in der Ukraine hatte der Bundesrat per 12. März 2022 den Schutzstatus S für Personen aus der Ukraine aktiviert, die somit kein ordentliches Asylverfahren durchlaufen müssen. Zurzeit haben rund 66‘000 Personen aus der Ukraine einen aktiven Status S in der Schweiz. Der Schutzstatus S gilt bis zur Aufhebung durch den Bundesrat. Voraussetzung für die Aufhebung ist eine nachhaltige Stabilisierung der Lage in der Ukraine. Da sich eine solche zurzeit nicht abzeichnet, hat der Bundesrat beschlossen, den Schutzstatus S bis zum 4. März 2026 nicht aufzuheben. Die erstmals am 13. April 2022 beschlossenen spezifischen Unterstützungsmassnahmen für Personen mit Schutzstatus S werden deshalb ebenfalls bis zum 4. März 2026 verlängert. Der Bund beteiligt sich mit 3000 Franken pro Person und Jahr an den Integrationsanstrengungen der Kantone, insbesondere zur Sprachförderung und zum Zugang zur Bildung und zum Arbeitsmarkt. Zudem sollen mithilfe zusätzlicher Massnahmen die Kommunikation und die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure, die Unterstützung von Projekten zur Begleitung bei der Anerkennung von Qualifikationen und Diplomen und eine Optimierung der Vermittlung durch die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren verbessert werden. Schutzsuchende aus der Ukraine können und sollen durch Integrationsmassnahmen, Bildung und Erwerbsarbeit auch aktiv am sozialen Leben teilnehmen und Fähigkeiten im Hinblick auf eine künftige Rückkehr in die Heimat erhalten und aufbauen.

Als die Schweiz im März 2022 76‘195 anerkannte Flüchtlinge und 44‘779 vorläufig Aufgenommene zählte, zögerte die Regierung keinen Augenblick, weitere 62‘820 Menschen – ausschliesslich Ukrainerinnen und Ukrainer – aufzunehmen und für diese sogar extra einen eigenen Schutzstatus in Form einer S-Bewilligung mit besonderen Privilegien zu schaffen. Wenn heute, dreieinhalb Jahre später, ein paar Tausend Menschen aus Afghanistan, Eritrea oder dem Kongo in der Schweiz Schutz suchen, geht das grosse Wehklagen los, die Schweiz würde von Flüchtlingen «überflutet» und das «Boot» sei langsam «voll».

Als es um die Flüchtlinge aus der Ukraine ging, sprach kein Mensch von Überflutung und einem vollen Boot. Ganz im Gegenteil: Unzählige Türen, die zuvor dicht verschlossen waren, gingen plötzlich wie durch ein Wunder auf. Plötzlich sprachen die Medien auffallend oft, wenn es um Ukrainerinnen und Ukrainer ging, nicht mehr von «Flüchtlingen», sondern von «Schutzsuchenden». Tausende von Familien und Einzelpersonen nahmen ukrainische Flüchtlinge bei sich zuhause auf. Lastwagenweise wurden Möbel, Decken, Kleider, Spielsachen und Nahrungsmittel zusammengekarrt. Ganze Vereine wurden extra zu dem Zweck gegründet, Unterstützung für Menschen aus der Ukraine zu organisieren. Freiwillige Helferinnen und Helfer leisteten Tausende von Stunden Gratisarbeit. Eigens für ukrainische Kinder wurden Spiel- und Lerngruppen geschaffen, pensionierte Lehrkräfte sprangen für Deutschkurse ein, an welchen niemand ausser Menschen aus der Ukraine teilnehmen durften. Man organisierte ganze Kunstausstellungen, Theater- und Konzertaufführungen, an denen sich ausschliesslich Menschen aus der Ukraine aktiv beteiligen durften. An zahllosen Balkonen, auf Kirchtürmen und selbst an Regierungsgebäuden wehten landauf landab auf einmal überall ukrainische Nationalflaggen und nicht wenige Schweizerinnen und Schweizer erachteten es sogar plötzlich als besonders schick, Kleider oder Accessoires in den ukrainischen Nationalfarben zu tragen. Eine schon fast überirdische Euphorie war ausgebrochen, die bis heute, auch wenn sie an ihrer anfänglichen Überschwänglichkeit inzwischen etwas eingebüsst hat, immer noch an allen Ecken und Enden zu spüren ist. Selbst auf der Webseite der «Schweizerischen Flüchtlingshilfe» gibt es eine Hotline ausschliesslich für ukrainische Flüchtlinge, ein Privileg, dass keiner einzigen anderen Nationalität zugestanden wird.

Von Kiew bis an die Schweizer Grenze sind es 2108 Kilometer. Laut Google schafft man das mit einem SUV in 23 Stunden und 23 Minuten. An jedem Grenzübergang wird man freundlich durchgewinkt. Und am Ziel wird man zu einem Festmahl eingeladen in ein prachtvoll eingerichtetes Haus, wo alle Betten schon für die neuen Gäste frisch angezogen worden sind.

Von Kabul bis an die Schweizer Grenze sind es 6705 Kilometer. Rechnet man die vielen Umwege dazu, welche Flüchtlinge aus Afghanistan notgedrungen auf sich nehmen müssen, kommt man auf geschätzte 7500 Kilometer. Zu Fuss ist man zwischen einem und acht Jahren unterwegs. An den Grenzübergängen wird man entweder – als Frau – brutal vergewaltigt oder – als Mann – halb zu Tode geprügelt. Es wird auf einen geschossen, es werden einem die Kleider vom Leib gerissen, man geht sämtlicher Habseligkeiten verlustig und man wird von Bluthunden in unwirtliches Umland gehetzt, wo es nichts zu essen und zu trinken gibt. Hat man das Pech, unterwegs von der Polizei oder von Armeeangehörigen aufgegriffen zu werden, wird man früher oder später an diesen Ort zurückgeschafft, selbst wenn die dortigen Lebensbedingungen jeglicher Menschenwürde spotten. Und steht man dann trotz alledem nach sechs oder acht Jahren an der Schweizer Grenze, gibt es kein Festmahl und keine frisch angezogenen Betten, sondern allerhöchstens einen Fusstritt und ein Stück Papier mit der Aufforderung, sich nie wieder hier blicken zu lassen.

«Was mich umtreibt», schreibt Peter G. Kirchschläger, Ethikprofessor an der Uni Luzern, im «Tagesanzeiger» vom 29.11.24, «ist der Versuch von Bundesrat und Parlament, die grosse Solidarität mit der Ukraine durch gleichzeitig unsolidarisches Handeln gegenüber den Ärmsten in den Ländern des Globalen Südens zu realisieren. Wir sind als humanitärer Akteur unglaubwürdig, wenn unsere Solidarität nur jeweils bis zu unserem nächsten Nachbar reicht und wir vor dem Elend, das weiter weg geschieht, die Augen verschliessen. Von der ohnehin schon knausrigen Schweizer Entwicklungshilfe – sie beträgt derzeit nur knapp die Hälfte des international vereinbarten Ziels von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens – werden 13% ausschliesslich für die Ukraine verwendet. Und die ausschliesslich für den Wiederaufbau der Ukraine vorgesehenen 1,5 Milliarden Franken werden erst noch vom Gesamtbetrag aller Entwicklungshilfegelder  abgezogen, sodass für sämtliche Hilfsleistungen beispielsweise in ganz Subsahara-Afrika weniger Geld übrigbleibt als die für die Ukraine gesprochenen Leistungen. Dazu kommt, dass von den für den Wiederaufbau der Ukraine erforderlichen Mitteln ein Drittel an Schweizer Unternehmen fliesst und somit eigentlich nicht als Entwicklungshilfe, sondern als Wirtschaftsförderung budgetiert werden müsste.»

Wahlen in der ehemaligen Sowjetrepublik Moldau: Die westlichen Medien werden immer unverschämter…

„Moskau zieht uns zurück in die Grauzone“, so der Titel eines Artikels in der Schweizer Gratiszeitung „20minuten“ vom 28. September 2025 zu den bevorstehenden Parlamentswahlen in der ehemaligen Sowjetrepublik Moldau. Die Ex-Sowjetrepublik, so ist zu lesen, „steht vor einem Zukunftsentscheid: Russland oder Europa“. Diese Wahlen, so wird die proeuropäische Regierungspräsidenten Maia Sandu zitiert, würden darüber entscheiden, ob „wir unsere Demokratie festigen und der EU beitreten oder ob Russland uns zurück in eine Grauzone zieht und uns zu einem regionalen Risiko macht“. Die proeuropäische Regierung von Maia Sandu, so „20minuten“, wolle das Land bis 2028 in die EU führen. Russland halte dagegen und versuche mit „Desinformation, Stimmenkauf und Störmanövern, den prowestlichen Kurs des Landes zu unterdrücken“. Sollten am 29. September die prorussischen Kräfte gewinnen, so Maia Sandu, drohe nicht nur ein „Ende des bisherigen Reformkurses des Landes“, sondern dies wäre auch ein „geopolitischer Rückschlag weit über Moldau hinaus“. Hinweise auf eine russische Einflussnahme auf diese Wahlen gäbe es „en masse“, so „20minuten“. So hätte eine Recherche der BBC ein „Netzwerk“ aufgedeckt, das eine „gefälschte Umfrage zu politischen Präferenzen verbreitet“ hätte. Mithilfe eines „verdeckten Reporters“ hätte man herausgefunden, dass das Netzwerk „dafür bezahlt“ hätte, dass „prorussische Propaganda und Fake News gestreut und so die proeuropäische Regierungspartei untergraben“ werde. Auch der Politologe Valeriu Pasa spreche von einer „massiven Desinformationskampagne“ Russlands. So habe er mit seiner Organisation Watchdog unter anderem „Online-Falschinformationen“ und „andere Manipulationen im Netz“ dokumentiert.

Trotz dieser angeblichen massiven Einmischung Russlands in den Wahlkampf errang die Proeuropäische Regierungspartei in den Tags darauf stattfindenden Wahlen eine Mehrheit von 50,1 Prozent der Stimmen, während sich der prorussische Patriotische Block mit 24,2 Prozent zufrieden geben musste. Die westliche Presse jubelte: Gerade noch mal gut gegangen, die Demokratie gerettet…

Doch was war tatsächlich daran, an diesen zahlreichen „Störmanövern“, den massiven „Desinformationskampagnen“, dem „Stimmenkauf“, den „gefälschten Umfragen“ und den „Manipulationen im Netz“, mit denen Russland versucht haben soll, auf diese Wahlen dermassen massiv Einfluss zu nehmen, um sie nach seinen Gunsten zu drehen?

Ich konsultiere fünf für die westlichen Medien repräsentative Presseorgane: n-tv, taz, ZDF, Welt und den schweizerischen Tagesanzeiger, alle am 29. bzw. 30. September 2025…

N-tv berichtet, „trotz Störfeuern und massivem Druck aus Moskau“ habe die Proeuropäische Regierungspartei die Wahlen in Moldau „klar gewonnen“.

Taz zitiert in ihrem Bericht die bisherige und wiedergewählte proeuropäische Präsidentin Maia Sandu mit folgenden Worten: „Wir haben der Welt gezeigt, dass wir ein Land mit mutigen und stolzen Bürgern sind. Moldau zeigt uns heute, dass man vor Russland nicht einknicken darf, sondern sich verteidigen und siegen kann.“ Diese Wahlen, so taz, seien eine „Schicksalsentscheidung über die verarmte Ex-Sowjetrepublik an der strategischen Schnittstelle zwischen Rumänien und der Ukraine“ gewesen. Der Kreml habe angesichts der Bedeutung dieser Wahlen „erhebliche Mittel in Stimmenkauf, Desinformation und Social-Media-Kampagnen investiert.“

ZDF zitiert ebenfalls die Regierungspräsidentin Maia Sandu, die „Russlands massive Einflussnahme auf diese richtungsweisende Wahlen“ kritisiert habe und Moskau vorwerfe, „durch Desinformation und Stimmenkauf“ in die Wahlen eingegriffen zu haben. Auch der nationale Sicherheitsberater Stanislaw habe gesagt, es habe „Cyberangriffe auf die Wahlinfrastruktur sowie gefälschte Bombendrohungen in Wahllokalen“ gegeben.

Auch die „Welt“ beruft sich in ihrer Berichterstattung ausschliesslich auf Maia Sandu, die per Facebook mitgeteilt hätte, es habe zahlreiche Berichte gegeben, wonach „Wähler illegal zu Wahllokalen im Ausland gebracht worden“ seien. Das sei „offensichtlich gegen Geld passiert“. Zudem seien „mutmasslich unausgefüllte Stimmzettel aus Wahlurnen entfernt“ worden, damit sie später „bereits gestempelt“ hätten abgegeben werden können.

Ebenso zitiert der schweizerische Tagesanzeiger Maia Sandu mit den Worten, Russland habe sich „massiv eingemischt“. Zudem hätte die Nichtregierungsorganisation Promo-Lex von „254 bestätigten Vorfällen“ berichtet, bei denen „unter anderem unbefugte Personen in Wahllokalen erschienen“ seien oder „Wählerinnen oder Wähler Aufnahmen von ihrem Stimmzettel gemacht“ hätten.

Wenn alle das Gleiche schreiben, so denkt sich nun wohl der geneigte Leser, die geneigte Leserin, muss es ja wohl so sein. Es können sich ja nicht alle irren. Und doch bleibt bei mir ein ungutes Gefühl zurück. Erstens, weil in fast jedem dieser Artikel immerhin doch kurz, meistens zwar nur in einem einzigen Satz, darauf hingewiesen wird, dass Russland sämtlicher dieser Vorwürfe einer Einflussnahme wiederholt dementiert habe. Zweitens, weil in allen diesen Artikeln ausschliesslich westliche Politikerinnen und Politiker, allen vorab Maia Sandu, die proeuropäische Regierungspräsidentin Moldaus, zitiert wird, nie aber eine Sprecherin oder ein Sprecher der russischen Seite. Und drittens, weil viele der scheinbaren Tatsachen mit den Begriffen „mutmasslich“ oder „möglicherweise“ versehen sind, was auf verdächtige Weise aktuell gerade an die zahlreichen „Drohnensichtungen“ über NATO-Ländern erinnert, von denen manchmal innerhalb des gleichen Satzes ihre russische Herkunft nicht im Geringsten in Frage gestellt wird, gleichzeitig aber eingeräumt wird, dass es noch nicht eindeutig geklärt sei, wer und weshalb diese grosse Zahl von Drohnen überhaupt in die Luft geschickt würden. Fake News? False-Flag-Actions? Wem kann man da noch wirklich glauben?

Aber ja, eine wirklich überzeugende Gegendarstellung zu den Behauptungen massiver russischer „Beeinflussung“ und russischer „Störmanöver“ habe ich trotz längerem Recherchieren noch nicht gefunden.

Bis ich auf einen Artikel der Berliner Zeitung vom 29. September 2025 unter dem Titel „So beeinflusst die EU Wahlen und erpresst euroskeptische Länder“ stosse. Und siehe da, auf einen Schlag bestätigen sich alle meine Vermutungen und alle meine Skepsis. Denn die Berliner Zeitung ist alles andere als ein antiwestliches Hetzblatt, sondern schlicht und einfach von Journalisten gemacht, die, statt einfach anderen alles abzuschreiben, offensichtlich noch selbstbestimmt und unabhängig ihre eigenen Recherchen vorzunehmen…

„Das moldauische Volk hat das Recht, ohne äussere Einmischung über seine eigene Zukunft zu entscheiden“, erklärte die EU-Aussenbeauftragte Kaja Kallas vor einem Monat während einer Pressekonferenz des EU-Moldau-Assoziationsrats. Um dieses Recht zu wahren, hat sich die EU jedoch massiv in die jüngsten Wahlen in Moldau eingemischtBei der Parlamentswahl am Sonntag erzielte die proeuropäische Partei der Aktion und Solidarität (PAS) unter der Führung von Maia Sandu nach Auszählung nahezu aller Stimmen 50,1 Prozent. Der prorussische Patriotische Block kam auf 24,2 Prozent. Kurz vor den Wahlen kam es zu zahlreichen Razzien und Gerichtsurteilen, die zum Ausschluss von zwei kremlnahen Parteien führten… Auch in Rumänien erklärte das Verfassungsgericht in Bukarest, nachdem Ende November 2024 der prorussische Kandidat Calin Georgescu die erste Wahlrunde gewonnen hatte, kurz vor der Stichwahl das Ergebnis aufgrund angeblicher Unregelmässigkeiten bei der Wahlkampffinanzierung für ungültig. Der Vorwurf: Russland habe sich in den Wahlprozess eingemischt – handfeste Beweise fehlen bis heute. Schliesslich trat der proeuropäische Kandidat Nicusor Dan als Sieger hervor und wurde Präsident von Rumänien... In Moldau zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Die prorussischen Parteien Herz Moldaus und Moldova Mare sowie der Wahlblock Alternative wurden nur zwei Tage vor der Wahl von der Zentralen Wahlkommission, dem Justizministerium und Gerichten ausgeschlossen, wegen angeblicher illegaler russischer Finanzierungen in Millionenhöhe, Wählerbestechung, Verbindungen zur verbotenen Sor-Partei und „Desinformationskampagnen“ in den sozialen Medien. Konkrete Beweise wurden bisher jedoch nicht öffentlich gemacht. Dennoch kam es unmittelbar vor den Wahlen zu zahlreichen Verhaftungen... Die Wahl ist nun Geschichte, und der „Gewinner“ ist Europa – oder vielmehr die Europäische Union. „Unsere Tür ist offen“, schrieb EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf Bluesky und gratulierte Moldau zum Wahlausgang: „Wir werden ihnen bei jedem Schritt Seite an Seite stehen.“ Das Land hat 2024 offiziell den EU-Beitritt eingeleitet. Der Wunsch Brüssels ist unmissverständlich: „Europa ist Moldau. Moldau ist Europa“, sagte EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola... Doch ist das nicht auch eine Form ausländischer Einflussnahme? Schliesslich stellt die EU zunehmend Mittel für NGOs und Medien in osteuropäischen und EU-skeptischen Ländern zur Verfügung, um ihre Agenda voranzutreiben. Bislang jedoch wurde kein proeuropäischer Kandidat aus den Wahlen ausgeschlossen oder verhaftet... Brüssel versprach Moldau unter anderem einen „Wachstumsplan“ im Wert von 1,8 Milliarden Euro, jedoch nur, wenn die Regierung die EU-Bedingungen erfüllt. Darüber hinaus wurden EU-Steuergelder in Höhe von 200 Millionen Euro als „Verteidigungshilfe“ gegen Russland bereitgestellt. Am 4. September zahlte die EU-Kommission 18,9 Millionen Euro aus dem „Wachstumsplan“ aus. Die EU investiert ausserdem Millionen von Euro in den Osten Europas, um gegen „Desinformation“ vorzugehen und Medien sowie Journalismus-Projekte zu fördern. Im Rahmen des Programms EU4Independent Media (EU4IM) hat die EU zwischen 2022 und 2025 fast acht Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um Medien in der Ukraine, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Belarus und Moldau zu unterstützen. Ziel des Programms ist es unter anderem, „unabhängige Medienorganisationen“ im Kampf gegen „russisch geprägte Fehlinformationen“ zu stärken... Mitte September entsandte die EU-Kommission ein „Rapid Response Team“ nach Moldau, das gegen „russische Desinformation“ und „Wahlmanipulation“ vorgehen sollte. „Wir haben kürzlich ein Expertenteam entsandt, um Moldau im Kampf gegen ausländische Einmischung zu unterstützen“, erklärte die EU-Aussenbeauftragte Kaja Kallas im Vorfeld. Oder, präziser gesagt, um sich selbst in die Wahlen direkt aus Brüssel einzumischen... Nordnews, das Nachrichtenportal, das die Vorwürfe der „russischen Einflussnahme“ bei der Parlamentswahl in Moldau zuerst hervorgebracht hat, wird ebenfalls von der Europäischen Union mitfinanziert.

Und ja. Heute traf ich mich mit Freunden zu einem Bier. Alles Leute, die man als „gebildet“ und „belesen“ bezeichnen könnte und die nicht grundsätzlich alles blindlings glauben, was man ihnen vor die Nase setzt. Und doch war ich der Einzige in der Runde, der im Zusammenhang mit den Wahlen in Moldau nicht ausschliesslich von Beeinflussung und Störmanövern durch Russland sprach. Offensichtlich hatte keiner von ihnen die Berliner Zeitung gelesen. Wäre ja auch purer Zufall gewesen.

Die westlichen Medien werden immer unverschämter. Einst war der Journalismus neben der Legislative, der Exekutive und der Justiz die vierte, unabhängige Gewalt im demokratischen Staat. Tempi passati, heute plappern fast alle Medien das nach, was ihnen von den politischen, ökonomischen und militärischen Machtträgern vorgekaut wird. Der Grund dafür, dass fast alle das Gleiche schreiben, ist nicht, dass es die Wahrheit ist, sondern nur, dass sich alle alles gegenseitig abschreiben und sich schon kaum irgendwer noch die Mühe nimmt, selber und unabhängig der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Und so muss man selber und mit einem Riesenaufwand diese Arbeit leisten, bis man zum Beispiel irgendwann, oder vielleicht auch nicht, auf eine Berliner Zeitung stösst, wie auf eine Nadel im Heuhaufen. Aber kann es denn allen Ernstes die Aufgabe des Einzelnen sein, diese Arbeit mit einem Riesenaufwand an Zeit, die heute ja kaum jemandem in diesem Ausmass noch zur Verfügung steht, zu leisten? Wäre es nicht viel demokratischer, anstelle Dutzender Medienprodukte, die sich praktisch wie ein Ei dem andern ähneln, nur noch eine einzige, dafür umso aufwendiger recherchierte Tageszeitung zu haben, in der zu jeder Darstellung der einen Seite zwingendermassen immer auch eine gleichgewichtete Gegendarstellung der anderen Seite zu lesen wäre? Denn eigentlich müssten sich ja die einzelnen Bürgerinnen und Bürger ganz frei von jeglichen „Beeinflussungen“ und „Störmanövern“ ihre ganz eigene, selbstbestimmte und fundierte Meinung bilden können…

In diesem Augenblick erinnere ich mich an einen Albtraum, den ich vor vielen Jahren hatte, aber bis heute nicht vergessen konnte. Ich sah zuerst eine Wiese, auf der die Gräser alle in verschiedene Richtungen schauten, als wäre es das Recht oder gar die Bestimmung jedes einzelnen Grases, selber zu entscheiden, nach welcher Seite es sich ausrichten wollte. Doch auf einmal zog ein Sturmwind über den Himmel und wie von Zauberhand gesteuert schauten alle Gräser plötzlich nur noch in eine einzige gleiche Richtung. Es lief mir eiskalt über den Rücken. Erst heute verstehe ich so richtig, was dieser Traum mir sagen wollte: Lasst es nie so weit kommen. Wenn alle Menschen plötzlich gleich denken, nur weil ein unsichtbarer Sturm sie alle in die gleiche Richtung drängt, dann sind die Zeiten nicht mehr gut. Denn das ist die Zeit vor dem Tag, an dem auf einmal so unvorstellbare Dinge wie Krieg wieder denkbar werden. Doch noch ist, dank jeder einzelnen kritischen Stimme, Hoffnung. Erst wenn sich der allerletzte Grashalm verbogen hat, ist es endgültig zu spät.

Morgens um fünf: Der ganz normale Alltag in einem schweizerischen Flüchtlingscamp im Jahre 2025

Morgens um fünf
sind sie gekommen
acht Polizisten
haben den Vater die Mutter und
ihr einjähriges Kind
mitten aus dem Schlaf gerissen
ihre Schreie durchdrangen das
ganze Haus von
oben bis unten und
augenblicklich waren auch
alle anderen
Männer Frauen Kinder
hellwach
Die Frau im Zimmer nebenan
öffnete die Tür einen Spalt breit
äugte auf den Korridor
das Kind am Boden
bebend und schluchzend sein winziger Körper
angsterfüllt
die Mutter kniend daneben
versuchte das Kind zu beruhigen doch
zwei Polizisten
packten sie von hinten
rissen sie an den Haaren
prügelten auf sie ein um sie
ihrem Kind zu entreissen
Sie wissen schon
flehte die Frau einen der Polizisten an
dass wir
nach der Rückkehr in unser Land
fast ganz sicher in einem
Gefängnis landen werden und vielleicht sogar
unser Leben bedroht ist
das
sagte der Polizist
sei nicht sein Problem
Gleichzeitig bäumte sich der Vater mit
all seiner Kraft auf um sich
aus der Umklammerung dreier Polizisten
zu befreien
da warfen sie auch ihn zu Boden
drückten ihm die Arme auf den Rücken
und legten ihm
Handschellen an während
zwei andere Polizisten
von Tür zu Tür alle auf den
Korridor Herausgetretenen in
ihre Zimmer zurückdrängten
Handys beschlagnahmt wurden und
vom Geschehen aufgenommene Bilder
gelöscht
während der achte Polizist einen
kleinen Koffer mit ein paar wenigen
Kleidungsstücken auf den
Korridor hinauswarf wo er
halbgeöffnet
liegen blieb
Die Frau im Zimmer nebenan
übergab sich in diesem Augenblick
kniend an der Toilette
ihre Tochter zitternd am ganzen Körper hatte
die Hände sanft auf ihren Rücken gelegt
Es war der ganz normale Alltag in
einem dieser zwölf schweizerischen Flüchtlingszentren wo
Männer Frauen Kinder
oft über viele Jahre hinweg auf nichts anderes warten müssen
als auf den Tag
frühmorgens zwischen vier und fünf
wenn die allermeisten Schweizerinnen und Schweizer noch schlafen
auf den Tag an dem sie
aus dem Schlaf gerissen und in
Handschellen oder manchmal sogar
am ganzen Körper gefesselt zu
einem Flugzeug gebracht werden
rechtzeitig bevor Geschäftsleute und
in alle Welt Reisende
den Flugplatz bevölkern
Tödliche Stille
jetzt wo das Schreien eines
einjährigen Mädchens
vielleicht für immer
verstummte
Die anderen Kinder im Camp
verkrochen sich wieder in ihren Betten
es ist ihr ganz normaler Alltag in
einer Welt in der sie noch nie
etwas Schönes erleben durften
nicht als sie mitten im Krieg
geboren wurden
nicht als sie kaum je
genug zu essen hatten
nicht als sie
vielleicht schon im Alter von
zwei oder drei Jahren
ihren Vater oder ihre Mutter
verloren hatten
nicht als sie
auf monatelangen Fussmärschen oder
in einem dieser winzigen Schlauchboote
auf stürmischem Meer ohne Nahrung und
zitternd vor Kälte
jenem in fast unerreichbarer Ferne
liegenden Paradies entgegenträumten wo sie
nach allen durchlittenen Qualen
eines Tages trotz alledem
gelandet waren bloss um zu erkennen
dass es nicht das Paradies war sondern nur
eine andere Art von Hölle
Sieben Stunden später an diesem Tag
ertönte schon wieder die
Sirene eines Polizeifahrzeugs und
schon wieder öffneten sich im ganzen Haus die
Türen voller ängstlicher Blicke
Doch es waren
der Vater die Mutter und das schluchzende Kind
wahrscheinlich hatten sie sich beim
Einstieg ins Flugzeug so
verzweifelt gewehrt bis es
einem der Polizisten das
Herz brach und sie wieder zurückgebracht wurden
Laut weinend
halb voller Angst und zugleich
halb voller Erleichterung warf sich die Mutter in die
Arme einer anderen Flüchtlingsfrau
der Vater umklammerte sein Kind wie
einen Schatz den er niemals und nur gegen seinen
eigenen Tod preisgeben würde
doch das war nur ein
letztes Aufbäumen vor einem
endgültigen Zusammenbruch aller
seiner Kräfte
Ein paar andere Männer und Frauen und
viele Kinder waren noch auf dem Hof als
wie ein Blitz aus heiterem Himmel
ein markerschütternder Schrei wohl bis
weit ins Tal hinunter zu hören gewesen sein müsste
Der Vater stach sich mit einem Messer wie ein
wahnsinnig gewordenes Raubtier
unzählige Male hintereinander in die Brust und
das Blut spritzte nach allen Seiten
jetzt
lag das Kind in den Armen seiner Mutter und
beide sahen alles und
auch die anderen Kinder und die
Frauen und Männer auf dem Hof und
eine von ihnen begann zu
taumeln doch bevor sie noch von den daneben Stehenden
aufgehalten werden konnte sank sie um und
knallte mit ihrem Kopf auf den
Pflastersteinboden
Es war wie Krieg doch die
Menschen unten im Tal wussten von nichts
Erst als ein Helikopter über dem Flüchtlingszentrum kreiste
und eine Ambulanz
mit Sirenengeheul den Berg hochraste
wurde da und dort im nahegelegenen Dorf unten im Tal
gemunkelt und gewerweisst
was oben am Berg wohl geschehen sein könnte bei diesen
fremden Menschen die sowieso niemand jemals
wirklich kannte
Beide überlebten
der Mann und die Frau die mit dem Kopf auf die Pflastersteine geknallt war
Doch das war nur einer von tausenden anderen
Tagen des ganz normalen Alltags
oben am Berg
Um fünf Uhr morgens hatte es angefangen
vielleicht hatte das Kind ja
bevor alles begann noch einen
wunderschönen süssen Traum gehabt und
jetzt
wie kann es nur dies alles
überleben
Wenn ein Kind aus der Schweiz
an einem Badestrand irgendwo in einem dieser
Ferienparadiese Sri Lankas
schreiend im Sand liegt weil es
von einer Qualle gebissen wurde
eilen von allen Seiten Einheimische herbei um
das Kind zu trösten und ihm zu helfen
Wenn einem Kind aus Sri Lanka
in der Schweiz die
Seele geraubt wird
will kein einziger Einheimischer von irgendetwas
auch nur das Geringste gewusst haben und alle
schauen weg
als wäre ein Kind aus Sri Lanka in der Schweiz nicht ebenso
wertvoll wie ein Kind aus der Schweiz in Sri Lanka
Es können
wie es scheint
nur Radiowellen Waffen und
profitträchtige Güter von nah und fern sämtliche
Grenzen überschreiten aber nicht die
Liebe und nicht die
Fürsorge
Als das letzte Polizeiauto
das Gelände verlassen hatte und die
letzten Sirenen verklungen waren
senkte sich wieder die Nacht auf die
Seelen zahlloser Namenloser die
niemand kennt und die man behandelt als wären es
Schwerverbrecher obschon doch ihr einziges
Verbrechen darin besteht am
falschen Ort zur
falschen Zeit geboren zu sein
Tagsüber geht es ja noch aber auf jeden Tag folgt
immer eine Nacht und
dann
während unten im Tal schon alle Menschen friedlich schlafen
beginnt die Angst ganz allmählich immer weiter in den
Himmel zu wachsen je näher sich die Zeiger der Uhren gegen
vier oder fünf Uhr zubewegen und jeder
neue Morgen noch
viel schlimmer werden kann als
alle anderen
je zuvor.

Dieses Gedicht beruht auf einer wahren Begebenheit am 4. September 2025 in einem der zwölf schweizerischen Ausschaffungszentren für Flüchtlinge mit negativem Asylentscheid, die entweder freiwillig in ihre Herkunftsländer zurückkehren oder, wenn sie dazu nicht bereit sind, früher oder später mit Gewalt dorthin zurückgeschafft werden. Jeden Tag werden durchschnittlich zwölf Flüchtlinge aus der Schweiz gegen ihren Willen in ihre Herkunftsländer zurückgeschafft. Dabei gibt es vier Stufen der Polizeigewalt: Bei den ersten drei Stufen kommt es immer wieder vor, dass die Betroffenen sich, wenn sie sich genug stark wehren, der Ausschaffung zu widersetzen vermögen. Von der vierten Stufe ist noch nie jemand zurückgekehrt. Denn dann werden die Menschen am ganzen Körper gefesselt, sodass jeglicher Widerstand unmöglich ist. Am 20. Januar 2025 sagte der für das Asylwesen zuständige schweizerische Bundesrat Beat Jans: „Wir sind in verschiedenen Bereichen den europäischen Ländern deutlich voraus. Mit einer Rückführungsquote von annähernd 60 Prozent steht die Schweiz in Europa an der Spitze. Das SEM macht eine hervorragende Arbeit. Wir sind auf dem richtigen Weg. Doch wir sind noch nicht zufrieden. Der immer noch zu grosse Pendenzenberg muss rascher abgebaut werden.“

Bertolt Brecht: „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“

Five in the morning: The everyday life in a Swiss refugee camp in the year 2025

Five in the morning
they have come
eight police officers
pulling father mother and  
the one-year-old child
out of their beds in the
middle of their sleep
their screams pierced the
whole house from
top to bottom and
immediately there were also
all others
men women children
wide awake
The woman in the room next door
opened the door a crack
throwing a glance outside and then
she saw
the child on the ground
her tiny body trembling
full of fear
the mother kneeling next to her
trying to calm her
but
two policemen
grabbed her from behind
tearing her by the hair
beating her up to
snatch her from her child
The woman yelled desperately at
one of the police officers
that her family
after returning to their country
almost certainly would
end up in prison or maybe even
her husband could be
condemned to death
That’s not my problem
said the policeman
At the same time three other policemen
threw the father to the ground
pressing his arms behind his back
tying them together with handcuffs
while two more policemen
going from door to door
pushed eyeryone
back into their rooms
mobile phones were confiscated and
pictures taken of the incidents
deleted
while the eighth policeman
threw a
small suitcase with just a few
garments on the corridor where it
remained lying down semi-open
The woman in the room next door
vomited at that moment
kneeling at the toilet
with the trembling hand of her daughter
on her back
This was just the normal everyday life in
one of these twelve Swiss refugee camps where
people can’t do anything else but waiting for the day
when policemen come and pull them
out of their beds
yes
between four and five in the morning
twelve men women children
each day
all around the year
over all the country
twelve every morning
when the vast majority of Swiss people are still asleep
twelve on every single day
brought to an airplane
just in time before all the
business people and travelers
from all over the world
will fill the airport with
their laughter and their happiness
Deadly silence now as
they are gone away and
that screaming of a one-year-old girl perhaps
will have
ceased forever
The other children in the camp
crawled back into their beds
That is their completely normal everyday life
in a world in which they have
never been allowed to have just
a normal life
not
when they were born in the midst of war
not
when they hardly ever had enough to eat
not
when they lost their father or their mother
not
when they were on month-long marches on foot or
in one of those tiny inflatable boats on stormy seas
without food and shivering from the cold
dreaming toward that paradise
lying in almost unreachable distance
where they maybe would arrive
one day
just to realize that it was not the paradise
but just another kind of hell
But that was not the end of this day in the camp
Seven hours after the father the mother and the one-year-old child
had left the camp
the siren of a police vehicle sounded again and
once again the doors all over the house opened
full of anxious glances
But you know it was
the same family with the one-year-old child
who was brought back to the camp
probably they had resisted so desperately
when boarding the plane that
it broke the heart of one of the police officers
and they were brought back again
Crying loudly
half out of fear and half out of relief
the mother threw herself
into the arms of another refugee woman
The father clutched his child
like a treasure he would never give up
except at the cost of his own life
But this was only a final rearing up
before a
total collapse of all his strength
A few other men and women and
many children were still on the court as
like a flash out of the blue sky
a bloodcurdling scream was heard
maybe even far down in the valley
The father had stabbed himself
with a knife
countless times into the chest and
everybody could see the blood
spraying out of his body
now
the child lay in its mother’s arms and
both saw everything and
also the other children and the
women and men on the court and
one of them sank over and
banged her head on the
paving stone floor
It was like war
but the people down in the valley
knew nothing about it
Only when a helicopter circled over the refugee center
and an ambulance
raced up the mountain with sirens wailing
here and there in the nearby village down in the valley
whispering and murmuring
what could have happened up on the mountain
with these strange and foreign people
nobody had ever seen from the near
But all this was only
one of a thousand of other days just in
the ordinary everyday life
in that refugee camp high up in the mountain
It had started at five in the morning
most probably the one-year-old child
had had a beautiful sweet dream
before it all began
If a child from Switzerland is lying in the sand of
one of those beautiful beaches in Sri Lanka
full of tourists from all over the world
and this child is crying
because it was bitten by a jellyfish
then servants waitresses and fish sellers
are rushing from all sides to comfort this child
But if a child from Sri Lanka
is pulled out of his bed at five in the morning
in the middle of Switzerland
seeing that his parents are treated like criminals
hearing them shout and cry
watching his father trying to suicide
then
not a single man or woman is rushing to comfort this child
and everybody is looking to the other side
as if a child from Sri Lanka in Switzerland is not just
as precious as a child from Switzerland in Sri Lanka
And yes
When the last police car had left the camp and
the last sirens had faded
night descended once again
upon the souls of countless nameless people
whom no one knows and who are treated
as if they were the worst criminals
although their only crime is being born
at the wrong place at the wrong time
During the day it’s hard enough
but every night
while everyone down in the valley is sleeping peacefully
it’s even much harder
when fear gradually begins to grow higher and higher
up into the sky as the hands of the clocks
approach four or five o’clock and
every new morning can be far worse than
all others that came before.

Das private Automobil: Wie ein Dinosaurier zu gross, zu fett, vom Aussterben bedroht…

„Das Ansehen von Elektroautos leidet in der Schweiz“, titelt der „Tagesanzeiger“ vom 15. September 2025. Nur noch die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer nähmen E-Autos als positiv wahr. Vor einem Jahr hätte der Wert noch bei 60 Prozent gelegen. Der Branchenverbot Auto Schweiz sei alarmiert und mache sich Gedanken, wie man die Akzeptanz von Elektroautos erhöhen könnte.

Aber vielleicht wäre es an der Zeit, sich eine viel grundsätzlichere Frage zu stellen. Nämlich nicht nur, ob man mit Benzinautos oder mit E-Mobilen herumfahren sollte. Sondern, ob man überhaupt noch mit privaten Autos herumfahren sollte.

Wie Dinosaurier zu gross, zu fett, vom Aussterben bedroht: Eigentlich ist es nicht nur ein ökologischer, sondern auch ein ökonomischer Unsinn, zwei Tonnen Metall in Bewegung zu setzen, bloss um 80 Kilo Mensch von A nach B zu transportieren, vor allem, wenn man bedenkt, dass ein Privatauto durchschnittlich nur 50 Minuten pro Tag gebraucht wird und während der übrigen Zeit nutzlos herumsteht. Alle reden vom „Dichtestress“ durch eine ständig wachsende Bevölkerung, aber niemand spricht davon, dass schweizweit die Gesamtheit der für den Verkehr benützten Flächen bereits jene der von Häusern bebauten Fläche übersteigt. Zudem brauchen auch E-Mobile sowohl für die Herstellung wie auch für den Betrieb Unmengen an Rohstoffen und Energie. Und gar so umweltfreundlich ist wohl auch das E-Mobil nicht wirklich, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel in Spanien zurzeit gerade riesige Wälder abgeholzt werden, bloss um das für die Akkus benötigte Lithium zu beschaffen.

Die Alternative wäre ein möglichst gut ausgebauter öffentlicher Verkehr, verstärkt durch ein bis in die äussersten Winkel des Landes verästeltes Taxinetz, womit sich das Privatauto bald einmal als überflüssig erweisen würde. Es wäre ein Segen für die Natur, für alle heute so sehr von Verkehrslärm geplagten Menschen, für die Förderung zwischenmenschlicher Begegnungen, für die Kinder, die wieder mehr Platz zum Spielen hätten, und nicht zuletzt für die von der zunehmenden Klimaerwärmung betroffenen zukünftigen Generationen.

Am Anfang war es „Putins zweite Front“, am Ende waren es ein paar behelfsmässig zusammengeschraubte Sperrholzplatten…

Was war da schon wieder, mit den russischen Drohnen, die am 10. September 2025 in den polnischen Luftraum eindrangen? Ich lese nach, im „Tagesanzeiger“, einer der grössten Schweizer Tageszeitungen…

11.9., Seite 1: RUSSISCHE DROHNEN IN POLEN: NATO UND EU SIND ALARMIERT… Nach dem Eindringen mehrerer Flugobjekte aus Russland in Polens Luftraum sitzt der Schock bei NATO-Verbündeten tief. In der EU sieht man die Luftraumverletzung als „Gamechanger“. Moskau dementiert…

So wie der Artikel beginnt und schon die Schlagzeile suggeriert, scheint der Fall klar zu sein: Es handelt sich um eine Verletzung des polnischen Luftraums durch russische Drohnen. Dass Russland dementiert, wird zwar erwähnt, nicht aber näher darauf eingegangen. Und schon sind wir mittendrin in einer höchst tendenziösen Berichterstattung, wie wir sie seit dem Februar 2022 auf Schritt und Tritt verfolgen können: Wenn eine westliche Regierung oder der ukrainische Präsident Selenski etwas sagt, wird es stets für bare Münze genommen, wenn die russische Regierung etwas sagt, wird dies unverzüglich, ohne dies näher zu begründen, als „Propaganda“ oder gar „Lüge“ abgetan…

…Die Flugobjekte aus Russland sind nach EU-Angaben als Drohnen vom iranischen Bautyp Shehed identifiziert worden…

Dieser Befund wird sich später zwar als Falschaussage entpuppen, aber egal, man kann es ja mal behaupten, es ist ja die EU, die es sagt, und die wird wohl nichts anderes sagen als die Wahrheit. Und es ist immer wirkungsvoll, eine Verbindung zwischen Russland und dem Iran herzustellen, gehört doch auch der Iran aus westlicher Sicht zu den „Bösen“…

…EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen bezeichnete die Luftraumverletzung als rücksichtslos und beispiellos. Die EU-Aussenbeauftragte Kaja Kallas sieht das mutmasslich absichtliche Eindringen als „Gamechanger“ in Russlands Krieg gegen die Ukraine und droht mit „starken Sanktionen“…

Aha. Kaja Kallas gibt zwar ehrlicherweise zu, dass es sich nur „mutmasslich“ um ein absichtliches Eindringen der Drohnen und also mit anderen Worten auch bloss um eine technische Panne gehandelt haben könnte, doch egal: Für sie steht jetzt schon fest, dass es sich um einen „Gamechanger“ in der russischen Kriegsgefahr handelt, der unverzüglich mit möglichst „starken Sanktionen“ beantwortet werden müsse. Dass Ursula van der Leyen mit ihrer Aussage, wonach es sich um eine besonders „rücksichtslose und beispiellose Luftraumverletzung“ gehandelt habe, ins genau gleiche Horn bläst, ist freilich alles andere als verwunderlich. Jetzt kann man nicht auf Beweise, detaillierte Analysen oder genauere Befunde warten, jetzt muss man handeln…

…NATO-Generalsekretär Mark Rutte will die Luftraumverletzungen noch nicht bewerten...

Interessant. Selbst der nicht gerade als „Weichei“ gegenüber Russland bekannte Rutte scheint noch nicht ganz davon überzeugt zu sein, dass der Angriff bewusst geplant worden sei.

11.9., Seiten 2 und 3: DAS IST NICHT UNSER KRIEG. DAS IST EINE KONFRONTATION, DIE RUSSLAND DER GANZEN WELT GEMACHT HAT

Eigentlich weiss man über die Hintergründe des Drohnenangriffs immer noch nichts, was man aber weiss, ist, dass Russland damit sozusagen der ganzen Welt den Krieg erklärt hat…

Es ist das erste Mal, dass russische Drohnen über NATO-Luftraum abgeschossen wurden…

Ein höchst aufschlussreicher Satz. Denn es ist in der Tat nicht das erste Mal, dass Drohnen im polnischen Luftraum gesichtet wurden, das kommt nämlich seit dem Kriegsbeginn fast täglich vor und wurde offensichtlich bisher ohne grössere Empörung hingenommen. Es ist nur das erste Mal, dass sie von polnischen Luftabwehrraketen abgeschossen wurden. Hoppla, wie war das schon wieder mit dem „Gamechanger“?

Fotos der polnischen Nachrichtenagentur PAP zeigen ein völlig zerstörtes Dach in der Ortschaft Wyriki ganz im Osten Polens. Verletzt wurde niemand…

Dieses Bild füllt denn auch tatsächlich mindestens einen Drittel der Seite 2 im „Tagesanzeiger“ aus. Und wie man weiss: Bilder verfehlen ihre Wirkung nie. Auch wenn tatsächlich niemand verletzt wurde. Egal, jetzt darf man nicht vorschnell die Behauptung, Russland habe soeben der ganzen Welt den Krieg erklärt, gleich schon wieder relativieren. Kurz halte ich die Luft an: Wenn Russland mit 19 Drohnen der Welt den Krieg erklärt haben soll, die niemanden verletzt haben, wie vielen Planeten hat dann wohl Israel den Krieg erklärt, mit über 100’000 getöteten Kindern, Frauen und Männern in Gaza? Und dies nicht mutmasslich, sondern ohne jeglichen Zweifel.

Polens Verteidigungsminister Wladyslaw Kosiniak-Kamysz sprach von einem „präzedenzlosen Vorfall“ und einer „Provokation grossen Ausmasses“. Der Einsatz der polnischen Streitkräfte, um die Drohnen abzuschiessen, dauerte bis etwa 7.40 Uhr. Beteiligt waren auch NATO-Verbündete aus den Niederlanden und den USA, die mit F-35-Kampfflugzeugen halfen, den polnischen Luftraum zu sichern…

Stopp. Was genau war bei alledem „präzedenzlos“ und eine „Provokation grossen Ausmasses“? Wohl kaum das Eindringen russischer Drohnen in den polnischen Luftraum, denn das ist, wie erwähnt, seit Kriegsbeginn im Februar 2022 noch nie anders gewesen. Präzedenzlos, erstmalig und eine Provokation grossen Ausmasses war wohl viel eher die völlig überrissene Reaktion der NATO…

Die Armee teilte mit, es handle sich um einen „Akt der Aggression, der eine reale Gefahr für die Sicherheit unserer Bürger“ darstelle. Auch die Verteidigungsminister der anderen vier Länder aus den sogenannten Big Five, also Grossbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland, wurden informiert. Am Morgen berief Polens Präsident Karol Nawrocki eine Besprechung im nationalen Sicherheitsbüro ein. Er nannte die Reaktion und das koordinierte Vorgehen aller Dienste „modellhaft“, alle Beteiligten stünden im engen Austausch…

Zwar weiss immer noch niemand, ob das Eindringen der russischen Drohnen in den polnischen Luftraum nicht bloss eine technische Panne gewesen war, aber das hat der flüchtige Leser und die flüchtige Leserin, wenn sie denn überhaupt den ganzen Text und nicht bloss die Schlagzeilen lesen, wahrscheinlich schon längst vergessen. Ist auch nicht wichtig. Wichtig ist nur: Der Westen ist „modellhaft“ stark. Und Polen schafft es sogar, mithilfe von vier weiteren NATO-Ländern 19 russische Drohnen – zwei Stunden vorher hatte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk noch von einer „enormen Anzahl“ von Drohnen gesprochen – vom Himmel herunterzuholen – Applaus!. Später werden wir zwar erfahren, dass es tatsächlich nur vier von insgesamt 19 Drohnen gewesen waren, die man abschiessen konnte, aber das tut der heldenhaften Verteidigung des Westens nun wirklich keinen Abbruch…

Die Situation sei sehr ernst zu nehmen, betonte Tusk, denn: „Wir haben es höchstwahrscheinlich mit einer gross angelegten Provokation zu tun.“…

Aha. „Höchstwahrscheinlich“. Es könnte also, selbst Tusk gesteht das ein, alles auch ganz anders gewesen sein. Aber egal. Hand aufs Herz: Wenn es dazu diente, dass der Westen seine Muskeln zeigen konnte, dann spielt es doch wirklich keine Rolle, ob alles echt war oder alles nur vorgetäuscht oder alles nur erfunden oder alles nur gelogen oder vielleicht sogar von eigener Hand inszeniert…

Es werde nun, so Tusk, Artikel 4 des NATO-Vertrags in Kraft gesetzt. Das bedeutet, es soll Konsultationen der Verbündeten geben, die sich mit der Verletzung des Staatsgebiets eines der Mitglieder befassen… Niemand, so Tusk, werde die „vereinten Polen“ besiegen, denn, wie es auch in der polnischen Nationalhymne heisse: „Noch ist Polen nicht verloren“…

Habe ich etwas verpasst? Bin ich der Einzige, der sich an dieser Stelle fragt, wer da eigentlich wen provoziert und wer tatsächlich die allgemeine Eskalation vorantreibt?

Auch der ukrainische Präsident Selenski spricht im Zusammenhang mit „acht auf Polen gerichteten Angriffsdrohnen“ von einem „weiteren Eskalationsschritt“ Russlands..

Gerade gut scheinen sich die westlichen Politiker nicht miteinander abgesprochen zu haben. Waren es nun 19 oder acht Drohnen? Oder vielleicht sogar noch weniger? Oder war es vielleicht gar so, wie es vom ARD-Nachrichtensprecher am folgenden Abend zu hören war, der da sagte: „Die russischen Drohnen drangen offenbar nicht bis in den polnischen Luftraum vor.“ Verwirrung total. Doch was solls. Man wird ja nicht wegen aller dieser Nebensächlichkeiten von der These abrücken wollen, Russland habe soeben der ganzen Welt den Krieg erklärt, diese These ist zu wichtig, um jetzt vorschnell von ihr abzuweichen. Es wäre ja auch eine Blamage ungeahnten Ausmasses, müsste man zugeben, dass alles ganz und gar nicht so gewesen war, wie behauptet wurde. Nur sich jetzt keine Blösse geben, das wäre noch…

Am Freitag beginnt Russland gemeinsam mit Streitkräften aus Belarus das Manöver „Sapad“ („Westen“). Es wird auf belarussischem Gebiet stattfinden, also in Grenznähe zu Polen sowie Litauen und Lettland. Es soll laut polnischen Medien einen Angriff auf die sogenannte Suwalki-Lücke simulieren, die hundert Kilometer lange Grenze zwischen Polen und Litauen. Tusk stellte explizit auch eine Verbindung zwischen der Drohnen-Attacke und diesem Militärmanöver her, an dem gegen 100’000 Soldaten beteiligt sein sollen. Tusk bezeichnete die Drohnen-Attacke als Teil eines Gesamtplans Russlands, um „Chaos, Panik und politische Unruhe in Polen zu stiften“.

Ein kurzer Blick in Wikipedia zeigt, dass Tusk mit der Zahl von 100’000 offensichtlich ganz schön übertrieben hat. Gemäss Angaben Russlands sollen an „Sapad“ 13’000 Armeeangehörige beteiligt sein, die deutsche Militärführung geht aber davon aus, dass weitere 30’000 auf russischer Seite beteiligt sein könnten, was also maximal 43’000 ausmachen würde, immerhin weniger als die Hälfte der von Tusk genannten Zahl. Gehen wir also von 43’000 aus, ist das ja nicht wenig, werden viele denken. Wie fürchterlich und kriegstreibend, dieses Russland! Nur wird vermutlich der flüchtige Leser, die flüchtige Leserin längst schon vergessen haben, dass noch viel Fürchterlicheres vor nicht allzu langer Zeit geschehen war, nämlich ein Militärmanöver mit sage und schreibe 90’000 Soldatinnen und Soldaten, nicht aber von Russland durchgeführt, sondern von der NATO, und zwar zwischen Februar und Mai 2024. Es handelte sich um das grösste NATO-Manöver seit dem Ende des Kalten Kriegs unter Teilnahme aller 32 NATO-Staaten. Trainiert wurden insbesondere die Alarmierung und Verlegung von nationalen und multinationalen Landstreitkräften, wobei sich der Übungsraum von Norwegen bis Rumänien erstreckte. In der ersten Jahreshälfte 2025 folgten weitere grosse NATO-Manöver, unter anderem „Formidable Shield“, die grössten je durchgeführten Seemanöver unter Führung der Sechsten US-Flotte. Aber nein, der eigentliche Kriegstreiber ist Russland, wer um Himmels willen denn sonst…

Seit Jahren beobachtet die NATO Drohnen im Luftraum Litauens, Polens und Rumäniens. Was in der, so Tusk, „dramatischen Nacht“ vom 10. auf den 11. September am Himmel über Polen passiert ist, hatte jedoch eine völlig andere Dimension. Zugespitzt formuliert, war es der schwerste direkte Zusammenstoss zwischen dem russischen Militär – auch wenn dieses nur unbemannte Flugobjekte einsetzte – und den Streitkräften der NATO seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine. „Dies ist das erste Mal, dass NATO-Flugzeuge in einen Kampfeinsatz gegen eine mögliche Bedrohung im Luftraum der Allianz verwickelt waren“, so das NATO-Oberkommando in Mons…

Man beachte den Indikativ: „was am Himmel über Polen passiert ist“ – der Journalist zitiert also nicht Tusk, sondern macht Tusks Aussage zu seiner eigenen, scheint sich also voll und ganz mit Tusks Behauptungen zu identifizieren. Von hier aus ist es dann nur noch ein winziger Schritt bis zur vollends totalen Verdrehung der Realität: Denn die „völlig andere Dimension“, die nun entstand, war ja nicht eine Folge der Drohnen, die ja nicht plötzlich weniger harmlos waren als schon in den drei Jahren zuvor, sondern nichts anderes als die Folge der heftigen Reaktion seitens der NATO-Flugzeuge. Es braucht wirklich nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass die zuständigen NATO-Befehlshaber vermutlich bloss darauf gewartet haben, einen vergleichbar harmlosen Akt der Gegenseite als „Kriegserklärung“ hochzustilisieren, welche dann jegliche Gegenmassnahme rechtfertigen würde. Auf erschreckende Weise muss man sich an dieser Stelle an die Aussage Adolf Hitlers erinnern, wonach der angebliche Überfall auf einen deutschen Grenzposten durch polnisches Militär ihm als Anlass diente, einen Weltkrieg auszulösen.

Bei der NATO in Brüssel ist man sich der Schwere des Vorfalls bewusst. Zwar handelt es sich sicher nicht um einen „bewaffneten Angriff“ im Sinne von Artikel 5 des NATO-Vertrags, der alle Mitgliedsländer dazu verpflichten würde, Polen beizustehen. Polen hat aber Beratungen in der NATO nach Artikel 4 beantragt. Das kann ein Mitgliedland tun, wenn es eine Bedrohung für seine „territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit oder Sicherheit“ sieht. Diplomatisch stellt dies also eine Eskalation dar..

Jetzt einfach mal tief durchatmen und diesen Abschnitt nochmals lesen und dann die Frage beantworten, wer diese sogenannte „Eskalation“, die nun zu 100 Prozent Russland in die Schuhe geschoben wird, tatsächlich vorantreibt. Ganz abgesehen davon, dass die Frage, ob alles bloss eine technische Panne gewesen sein könnte, immer noch nicht beantwortet worden ist…

In vielen Reaktionen aus NATO-Hauptstädten wurde nur eine „Verletzung des polnischen Luftraums“ beklagt, ohne auf die Details, den Urheber oder dessen Motivation einzugehen…

Dabei wäre doch genau dies das einzig wirklich Entscheidende…

Selbst NATO-Generalsekretär Mark Rutte will nicht bewerten, ob es sich um eine absichtliche Aktion oder einen Fehler gehandelt hatte: „Einerlei, beides ist gefährlich“, sagte er in Brüssel..

…so à la: Ob ich bei einem Verkehrsunfall umkomme oder ermordet werde, ist zwar nicht genau das Gleiche, aber beides ist gefährlich…

Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte dagegen, die Drohnen seien „ganz offenkundig gezielt auf diesen Kurs gebracht“ worden…

Jeder legt sich die Wahrheit so zurecht, dass sie in sein vorgefasstes Denken passt. Und so etwas nennt man vertrauenswürdige Politiker…

Und dann kommt Nicolas Richter in seiner Kommentar- bzw. Analysespalte links auf Seite 2 des „Tagesanzeigers“ und zerstreut mit ein paar gezielten Keulenschlägen auch noch die Zweifel des kritischen Lesers. Er weiss alles, was viele andere noch längst nicht wissen. Und wenn das Feuer auch noch nicht so richtig brennt und man es vielleicht noch löschen könnte, dann giesst er jetzt in zwei Zeitungsspalten so viel Öl hinein, dass es irgendwann dann vielleicht nicht mehr zu löschen sein wird. Er ist beileibe nicht der Einzige, es gibt Tausende andere, die lieber Öl in ein Feuer giessen statt es zu löschen. Aber alle diese unzähligen Ölgiesser machen sich mitschuldig, wenn dann eines Tages das Feuer endgültig nicht mehr zu löschen sein wird. Lesen wir aus seiner „Analyse“…

Putins Provokation darf nicht unbeantwortet bleiben… Die Vorgänge gegen Polen passen ins Muster des hybriden Krieges Russlands.. Wladimir Putin will den Westen verunsichern, verwirren und spalten… und beweist damit, dass Moskau die Europäer als Gegner betrachtet, ja als Feinde.. Mit der Verletzung des polnischen Luftraums durch rund 20 Drohnen hat der Kreml diesen hybriden Krieg eskaliert. Zwar sind die Einzelheiten noch unklar, etwa, ob die Drohnen durch einen Fehler über polnisches Gebiet flogen, auch bestreitet Moskau jede Verantwortung, wobei das Regime wegen seiner dreisten Lügen berüchtigt ist… So oder so passt dieser Zwischenfall in ein Muster immer intensiverer Provokationen. Diese sind kein Zufall, sondern russische Strategie… In der Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen beginnt damit eine noch gefährlichere Phase… Putin scheint den Respekt vor dem Westen zunehmend zu verlieren… Wenn die NATO also eine Eskalation vermeiden will, muss sie jetzt unmissverständlich Grenzen ziehen… Russland setzt entschieden auf Drohnen, um zu spionieren und zu morden…

Eigentlich weiss ich nichts, wird sich der „Analyst“ gedacht haben. Aber ich kann ja einfach mal Dinge erfinden und behaupten und schauen, ob man mir glaubt. Wie vor 200 oder 300 Jahren. Natürlich ist das keine Hexe. Aber ich kann ja möglichst viele Gerüchte in Umlauf bringen, bis genug viele Leute daran glauben, dass es eine Hexe ist und sie früher oder später auf dem Scheiterhaufen landet.

Gibt es heute eigentlich nicht mehr so etwas wie eine „Journalistische Sorgfaltspflicht“? Oder bilde ich mir das bloss ein, dass es das früher mal gab und sich sogar die allermeisten Journalisten daran hielten?

Am nächsten Tag, wieder der „Tagesanzeiger“…

12.9., Seite 13: DIE NATO MUSS MIT WEITEREN OPERATIONEN WIE JENER GEGEN POLEN RECHNEN… Die Untersuchungen dauern noch an. Aber die öffentlichen Erklärungen der NATO-Führung lassen darauf schliessen, dass es sich um einen vorsätzlichen Angriff oder zumindest um eine rücksichtslose und eskalierende Aktion handelt und nicht um einen einfachen technischen Fehler…

Jeglicher Kommentar erübrigt sich…

Die Verletzung des Luftraums war denn auch kein direkter bewaffneter Angriff..

Aha. Aber drei Absätze weiter unten…

Der Angriff ist jedoch Teil einer umfassenderen Eskalation und nicht ein einmaliges Ereignis, das nur mit einem einzigen Manöver zusammenhängt

Ach so. Angriff oder doch nicht Angriff? Eigentlich müsste Papier aufschreien können, wenn ihm solches zugemutet wird. Es würde uns wohl allen das Gehör verschlagen…

Russland rüstet auf, um NATO-Territorium angreifen zu können…

Kein einziger westlicher Geheimdienst hat bis heute für diese Behauptung jemals einen eindeutigen Beweis gefunden, und die wissen wahrscheinlich so ziemlich alles. Aber egal, man kann es ja trotzdem immer und immer wieder behaupten, wenn man einen Grund dafür sucht, die eigene Aufrüstung in einem historisch noch nie dagewesenen Umfang voranzutreiben, zu rechtfertigen und als „Recht auf Verteidigung“ schönzureden…

Einen Tag später, wieder der „Tagesanzeiger“…

13.9., Seite 9: DIES WAR PUTINS ERSTER STREICH. DOCH DER ZWEITE… Wenn das ein Test war, dann hat die NATO versagt. 19 Drohnen fliegen an, aber nur drei oder vier werden vom Himmel geholt – eine verheerend schlechte Abschussquote. Es mag Gründe dafür geben. Wer feuert schon gern mit hochmodernen Abfangraketen, von denen jede eine oder zwei Millionen Dollar kostet, auf Drohnen aus Sperrholz, die Russland für 10’000 Dollar das Stück zusammenschraubt?

Was für ein neuer Ton. Diese Drohnen, mit denen Putin der ganzen Welt den Krieg erklären wollte, waren also bloss ein paar zusammengeschraubte Sperrholzplatten. Langsam wird es immer absurder und man beginnt sich zu fragen, wie der Westen aus dieser Schlaufe, in die er sich da hinaufgeschraubt hat, wieder auf den Boden der Realität zurückfinden kann…

Was aber einmal an Verdrehungen, Behauptungen ohne Beweise oder sogar Lügen in die Welt gesetzt wurde, wird sich nicht so schnell wieder aus dem Gedächtnis löschen lassen. Dafür war der „Tagesanzeiger“ vom 11. und 12. September ein Paradebeispiel. Und diese Zeitung ist ja nicht irgendein ein russenfeindliches Hetzblatt, sondern sozusagen die Mainstreamtageszeitung der Schweiz. Dementsprechend konnte man in fast allen anderen Medien so ziemlich genau das Gleiche lesen. Und wenn überall das Gleiche steht, ist man ja dann auch geneigt zu glauben, dass es nichts anderes ist als die pure Wahrheit. So zum Beispiel das „St. Galler Tagblatt“: „Putin provoziert Polen mit Drohnenangriff“ und „Eine neue Stufe der Eskalation“. Radio SRF: „UNO-Sicherheitsrat tagt zu russischen Drohnen in Polen.“ FAZ: „Russland greift Polen an.“ NZZ: „Russland stellt NATO auf die Probe.“ Bild: „Globales Nervenflattern.“ Die Zeit: „Putins zweite Front.“

Nur vereinzelte Medien bzw. einzelne Artikel bemühen sich einigermassen um Sachlichkeit, aber man muss sie suchen wie die Nadel im Heuhaufen. So etwa erschien im „St. Galler Tagblatt“ vom 12.9. ein Artikel mit dem Titel „Schickte Putin nur Attrappen?“…

Entgegen ersten Meldungen scheint es sich nicht um sogenannte Schhed-Drohnen iranischer Bauart gehandelt zu haben, sondern um die russische Billigvariante Gerbera. Diese Langstreckendrohnen werden für wenige tausend Euro hergestellt, bestehen oft aus billigen Materialien wie Sperrholz und Schaumstoff. Sie sind unbewaffnet und dienen lediglich dazu, die feindliche Flugabwehr zu überlasten. Es gibt auch bisher keine Meldungen, wonach diese Drohnen mit Sprengstoff bestückt seien. Viele der Drohnen seien selbständig abgestürzt und trugen nur beim Aufprall entstandene Schäden davon, Berichte über Detonationen gibt es keine…

Das mit den Drohnen und der Kriegserklärung an die ganze Welt scheint also ziemlich in die Hose gegangen zu sein. Dennoch werden die, welche nicht den Frieden suchen, sondern das Säbelrasseln und das finale militärische Kräftemessen, nicht ruhen und immer wieder neue Gründe finden, um Feindbilder zu schüren und kriegerisches Denken zu fördern. Denn so sehr sich die Drohnengeschichte in Luft aufgelöst hat, so konkret hat sie dennoch ihre gravierenden Auswirkungen, wie folgender, ebenfalls im „St. Galler Tagblatt“ erschienener Artikel zeigt…

Die NATO startet nach den mutmasslich (!) vorsätzlichen Luftraumverletzungen durch Russland eine neue Militäroperation zum Schutz (!) der Ostflanke. Angaben zufolge sollen bei der Operation mit dem Namen „Eastern Sentry“ (Wächter des Ostens) zusätzliche Überwachungs- und Flugabwehrkapazitäten zum Einsatz kommen.

Falls es, im schlimmsten Fall, tatsächlich zu einem dritten Weltkrieg kommen sollte, wird höchstwahrscheinlich noch lange in den Geschichtsbüchern, zumal in den westlichen, zu lesen sein, Russland hätte diesen Krieg angezettelt. Erst in 20 oder 50 Jahren werden, da bin ich mir fast ganz sicher, Historikerinnen und Historiker noch einmal über die Bücher gehen und höchstwahrscheinlich herausfinden, dass es eher umgekehrt gewesen war. Und dass wir das eigentlich, wenn wir unsere Medien nur ein bisschen weniger flüchtig studieren und nicht sogleich alles eben Geschehene gleich wieder vergessen würden, heute schon wissen müssten. Und damit sogar einen grösseren Krieg, bevor er noch angefangen hat, vielleicht sogar verhindern könnten. Denn man kann, wie das Beispiel der russischen Drohnen in Polen zeigt, auf jeden noch so kleinen Vorfall immer eskalierend oder aber deeskalierend reagieren. Und genau das ist das Entscheidende.

(18. September 2025: Nun hat sich endgültig alles in Luft aufgelöst, der dritte Weltkrieg wird vertagt, das in den Medien tagelang als eigentliches Hauptopfer gezeigte zerstörte Wohnhaus, das den Drittel einer ganzen Seite im „Tagesanzeiger“ gefüllt hatte, war gar nicht von einer angeblichen russischen Drohne getroffen worden, sondern, wie die polnische Zeitung „Rzeczpospolita” unter Berufung auf mehrere Quellen berichtet hat, von einer fehlgeleiteten Rakete, die von einer polnischen F-16 abgefeuert wurde. Logischerweise müsste jetzt die aufgrund des vermeintlichen russischen Drohnenangriffs anberaumte NATO-Operation „Eastern Sentry“ abgeblasen werden. Dass dies nicht der Fall ist, zeigt, dass das Verhalten des Westens schon längst nicht mehr mit Logik zu tun, sondern nur noch mit den Wahnvorstellungen militärischer Wirrköpfe.)

Einer Lehrerin mit Kopftuch wird die Unterrichtserlaubnis entzogen: Wenn sich ausgerechnet Patriarchen als Kämpfer für Frauenrechte aufspielen…

Im Juni 2025 hatte sich R.M., nachdem sie Ihre Ausbildung zur Lehrerin an der Pädagogischen Hochschule erfolgreich absolviert und eine mündliche Zusicherung der Schulbehörde von Eschenbach SG zur Übernahme einer Klasse im kommenden Schuljahr bekommen hatte, bereits intensiv auf ihre zukünftige Tätigkeit als Primarlehrerin vorbereitet. Doch es kam ganz anders. Unter den Eltern ihrer zukünftigen Schülerinnen und Schüler regte sich Widerstand gegen R.M. Nicht weil ihre durchwegs hervorragenden Qualifikationen in Zweifel gezogen wurden, sondern einzig und allein aus dem Grund, dass sie als gläubige Muslimin ein Kopftuch trägt. Dieser Widerstand wurde schliesslich so stark, dass die Schulbehörde einknickte und R.M. trotz der bereits mündlich erfolgten Zusicherung eine Absage erteilte. „Als wir zum ersten Mal das Bild der Lehrerin sahen“, so eine der Mütter, die sich gegen die Anstellung von R.M. gewehrt hatte, „waren wir schon etwas schockiert. Wir sind absolut keine Rassisten. Aber es gibt nun einmal kulturelle Unterschiede, und wenn man sein kleines Kind jemandem in Obhut gibt, muss man dieser Person zu 100 Prozent vertrauen können.“ Die Lehrerin selber nahm zunächst keine Stellung, erst in einem Interview mit dem „Blick“ sagte sie, sie sei einfach nur traurig: „Das ist das einzige Gefühl. Ich habe drei Jahre studiert, um als Lehrperson arbeiten zu können. Es war ein Traum von mir seit der dritten Klasse, selbst einmal als Lehrerin vor einer Klasse zu stehen. Das Bild, das sich die Leute von mir machen, verletzt mich. Auch stimmt es nicht, dass ich ein Kopftuch trage, das bis zu den Beinen reicht, wie offenbar eine Mutter behauptet hat, ohne mich kennengelernt zu haben.“ R.M. bedauert, dass niemand mit ihr das Gespräch gesucht habe. Am Ende würden ihr die Kinder leid tun. „Aktuell sitzen sie am 11. August in einem Schulzimmer ohne Lehrperson. Ich kenne niemanden, der jetzt noch eine Stelle sucht.“

Im „St. Galler Tagblatt“ vom 27. August 2025 verteidigt Bernhard Hauser, ehemaliger Professor an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen, SP-Kantonsrat und Schulratspräsident von Sargans, in einem längeren Gastbeitrag mit dem Titel „Kopftuch verneint offene Gesellschaft“ den Entscheid der Eschenbacher Schulbehörden. Das Kopftuch der muslimischen Frau bezeichnet er als „Symbol, das dem Grundverständnis offener Gesellschaften diametral widerspricht und deshalb auf keinen Fall auf den Kopf einer Lehrerin gehört. Denn mit dem Kopftuch trägt die Frau ihr Bekenntnis offensiv in die Klasse, als heimlichen Lehrplan des konservativen und frauenfeindlichen Islam. Gleichstellung und offene Gesellschaft sind wichtiger als die Religionsfreiheit.“

Am 30. August folgt, ebenfalls im Rahmen eines Gastbeitrags im „St. Galler Tagblatt“, eine Replik von Ann-Katrin Gässlein, katholische Theologin und ehemalige Präsidentin Runder Tisch der Religionen St. Gallen und Umgebung. „Hausers Interpretation des Kopftuchs“, schreibt sie unter anderem, „spiegelt – freilich polemisch verzerrt – mehr die traditionellen Herleitungen als die heutigen Beweggründe muslimischer Frauen in der Schweiz. Studienergebnisse, zum Beispiel vom Institut für Religionsforschung der Universität Luzern, zeigen: Es sind vielschichtige und höchst individuelle Motive, die eine Frau im Laufe ihres Lebens zum Tragen oder Ablegen eines Kopftuchs bewegen. Wer im interreligiösen Kontakt das Vertrauen der Menschen gewinnt, erfährt, welch schmerzhafter Spagat bisweilen von Menschen verlangt wird, die ihre Talente für die Bildung von Kindern einsetzen zum Wohl einer Gesellschaft, die sich für ihre individuelle Frömmigkeit nicht interessiert, aber ihnen pauschal Zustimmung zu Gleichstellung und offener Gesellschaft abspricht. Offen ist so etwas nicht.“

Es sind genau diese „vielschichtigen und höchst individuellen Motive“, welche in einer öffentlichen Debatte, wie sie nun durch den Fall Eschenbach ausgelöst wurde, total untergehen. So entsteht Raum für jegliche Art von noch so abstrusen Feindbildern und Vorurteilen über Menschen, die man persönlich gar nicht kennt, dennoch aber sich das Recht herausnimmt, genau zu wissen, wie sie denken und welche Motive ihren Einstellungen und Verhaltensweisen zugrunde liegen.

Wie sehr dabei die Vorurteile und das Feindbilddenken auf der einen Seite, die Realität auf der anderen Seite auseinanderklaffen, mögen folgende Beispiele bewusst machen. Es handelt sich um reale Personen, wie wir ihnen alle in unserem Alltag früher oder später begegnen könnten. Und wahrscheinlich kommen dem einen oder der anderen beim Lesen Menschen in den Sinn, die diesen vier im Folgenden beschriebenen Personen durchaus ziemlich nahe kommen.

Bahira ist eine Muslimin, die aus ihrer Heimat fliehen musste, als dort ein fürchterlicher Bürgerkrieg ausbrach. Sie lebt mit ihrem Mann Ahmad und ihren drei Kindern, von denen mittlerweile einer erwachsen ist, seit 13 Jahren in der Schweiz. In ihrer Heimat war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Universitätsinstitut tätig gewesen, ihr Mann hatte als Pfleger in einem Spital gearbeitet. Bahira trägt regelmässig ein Kopftuch, auch in der eigenen Wohnung, so, wie sie sich das von klein auf gewohnt ist. Das Zusammenleben von Bahira und Ahmad ist in jeglicher Hinsicht von Respekt und gegenseitiger Achtung geprägt, alle wichtigen Entscheide, sei es für private Angelegenheiten, Stellenbewerbungen, Dialog mit der Schule oder in Bezug auf den Umgang mit Behörden, werden gemeinsam diskutiert und gemeinsam getroffen, auch unter Einbezug der Kinder. In ihrem Wohnzimmer hängt ein grosses, von einem der Kinder gemaltes Bild, auf dem sich viele Menschen unterschiedlicher Grösse und Hautfarbe und mit ganz unterschiedlichen Kleidern und Frisuren gegenseitig an den Händen halten und miteinander tanzen.

Erich ist ein Schweizer und ist bei einer grösseren Immobilienfirma als Buchhalter angestellt. Seine Frau Franziska arbeitet teilzeitmässig als Kindergärtnerin. Dass sie den allergrössten Teil der Haushaltarbeit erledigt, täglich zum Einkaufen geht, kocht, putzt, die Kleider für die ganze Familie wäscht, den Kindern bei den Hausaufgaben hilft, sämtliche privaten Einladungen, Geburtstagspartys und Familienfeste organisiert, ist für ihn selbstverständlich. Seinen politischen Ansichten, die ihr oft viel zu hart und wenig einfühlsam gegenüber weniger privilegierten Menschen erscheinen, steht sie häufig mehr oder weniger skeptisch gegenüber, kontroverse Diskussionen sind aber eher selten, da Erich sehr gut und häufig auch mit besonders lauter Stimme zu argumentieren pflegt, gerne auch der ist, der am Schluss Recht haben will, und zudem über ein immenses Wissen verfügt, was dann bei Franziska immer wieder dazu führt, dass sie ihre eigene Meinung lieber für sich selber behält und bloss noch darauf wartet, bis seine Belehrungen ein Ende finden. Am schlimmsten ist es, wenn Erich einen seiner besten Arbeitskollegen nach Hause bringt und sich die beiden dann in ihren – häufig auch krass frauenfeindlichen Sprüchen – gegenseitig bestärken.

Der kritische Leser und die kritische Leserin mögen an dieser Stelle einwenden, dies seien zwei völlig überspitzte und konstruierte Beispiele, um auf diese Weise weit verbreitete Vorurteile, in diesem Falle insbesondere gegenüber kopftuchtragenden Musliminnen, in Frage zu stellen. Die Realität ist aber: Es gibt diese Menschen tatsächlich, und nicht einmal in so geringer Zahl. Es hängt freilich auch davon ab, in welchen gesellschaftlichen Kreisen man sich bewegt, zu welchen Menschen man näheren Kontakt hat und zu welchen nicht, welche man näher kennt und welche einem fremd bleiben. Wie Bahira einmal sagte: Wenn sie am Morgen die Wohnung verlässt und ihren Nachbarn grüsst, dann schaut dieser bloss an ihr vorbei. Als würde er sie gar nicht sehen, bloss, weil sie ein Kopftuch trägt. Und als ich eine andere Nachbarin einmal fragte, ob sie mit Bahira schon einmal gesprochen hätte oder ob sie sie näher kenne, da sagte diese bloss, sie wolle diese Frau gar nicht kennenlernen.

Aber das wirklich Interessante kommt erst jetzt. Während nämlich die muslimische Lehrerin, die nun ihren Traumjob nicht ausüben darf, zunächst schweigt und sich dann dahingehend äussert, dass sie „traurig“ sei und sich „verletzt“ fühle und auch Bahira nicht wütend oder hasserfüllt, sondern nur traurig ist, wenn der Nachbar sie am Morgen nicht grüsst, ist es bei Erich so ziemlich anders. Sobald das Gespräch auf muslimische Frauen kommt, auf das Kopftuch oder ganz allgemein über den Islam, wird seine Stimme noch lauter, als sie sonst schon ist. Es ist etwas ganz anderes als Traurigkeit, sogar fast das Gegenteil: Hass. Ja, er verbreitet Hass gegen Menschen, die er gar nicht kennt und mit denen er noch nie gesprochen hat.

Ich bin kein Psychologe, aber ich glaube, das ist ziemlich einfach zu erklären und ist schon seit Jahrhunderten so: Fühlt man sich mit eigenen Widersprüchen konfrontiert, ist man mit sich selber nicht im Reinen und auch nicht bereit, sich selber kritisch zu hinterfragen, dann ist es am einfachsten, das eigene Ungenügen oder das eigene Unvermögen auf jemand anderen abzuwälzen bzw. zu projizieren, und hierfür eignet sich nun mal am besten eine bereits stigmatisierte Gruppe von Menschen, in diesem Falle kopftuchtragende Musliminnen. Wie früher die Juden, denen man das Vergiften von Brunnenwasser in die Schuhe schob, oder die „Hexen“, von denen man behauptete, sie stünden mit dem Teufel in Verbindung.

Die eigentlich Unterdrückte in unserer Geschichte ist nämlich nicht Bahira, sondern Franziska. Und der eigentliche Patriarch ist nicht Ahmad, sondern Erich. In dem Augenblick aber, indem Erich das, wofür er selber gerade stehen müsste, anderen zum Vorwurf macht, muss er sich nicht mehr mit seiner eigenen Rolle auseinandersetzen, er hat sein eigenes Problem sozusagen „ausgelagert“. Und statt auf ihn zeigt man jetzt auf den „patriarchalen“ Moslem und sein vermeintliches Opfer. Das hat auch viel mit der Macht der Gewohnheit zu tun. Dass Frauen in den westlichen Kulturen immer noch weitaus länger arbeiten als Männer und dennoch weniger verdienen und erst noch weitaus weniger gesellschaftliche Wertschätzung geniessen, daran haben wir uns über Jahrhunderte so sehr gewöhnt und es so tief verinnerlicht, dass es uns schon gar nicht mehr besonders auffällt. Was uns auffällt, ist nur das Neue, das Andere, das Ungewohnte, das Fremde, eben zum Beispiel das Kopftuch. Zur Macht der Gewohnheit kommt noch die Macht der Sprache dazu, wird doch die westliche Konsumgesellschaft, auch wenn sie in vielem noch so starke und prägende patriarchale Züge aufweist, grundsätzlich – vor allem auch in Abgrenzung zu anderen Kulturen – als „offen“ bezeichnet, wie dies auch Bernhard Hauser in seinem Gastbeitrag getan hat. „Offen“ tönt zwar immer gut. Aber was bedeutet das Wort in der Realität? Offen wofür? Offen wozu? Offen für wen? Und was kann man alles in dieses Wort hineinprojizieren und auf diese Weise glorifizieren? Ist auch Fremdenhass ein Merkmal für eine „offene“ Gesellschaft?

Es ist ja dann sogar geradezu zynisch, wenn ausgerechnet extrem patriarchal eingestellte Männer aus „westlichen“ Kulturen, die sich über „extreme Frauenrechtlerinnen“ in ihrem eigenen „westlichen“ Umfeld aufregen und diese als sogenannte „Emanzen“ ins Lächerliche ziehen, sich gleichzeitig als Anwälte für die Rechte muslimischer Frauen aufspielen – so wie etwa, um das denkbar extremste Beispiel zu nennen, der israelische Ministerpräsident Netanyahu, der allen Ernstes die Bombardierung des Iran damit begründete, dass auf diese Weise die iranischen Frauen endlich von der Unterdrückung durch die dort herrschenden Mullahs und ihre Sittenwächter befreit werden könnten.

Das blockiert den gesellschaftlichen Fortschritt gleich doppelt. Auf der einen Seite werden , wie Ann-Katrin Gässlein treffend feststellt, selbst jene kopftuchtragenden muslimischen Frauen als Opfer patriarchaler Unterdrückung dargestellt, die mit einer solchen Rolle ganz und gar nichts am Hut haben, und auch jenen muslimischen Männern patriarchales und unterdrückerisches Verhalten zur Last gelegt, die ihren Frauen durchaus auf gleicher Augenhöhe begegnen. Auf der anderen Seite wird das eigentliche patriarchale Machtsystem, das sich unabhängig von einzelnen Kulturen oder Religionen über alle Länder und Kontinente hinweg zieht, kaum je einer tiefgehenden kritischen Analyse unterzogen. Alle elf Tage – Tendenz steigend – wird in der Schweiz eine Frau von ihrem eigenen Lebenspartner umgebracht. Die wenigsten der Täter sind Moslems, die wenigsten der Opfer tragen ein Kopftuch. Aber statt die tieferen Ursachen der allgemein verbreiteten Männergewalt und ihre Verknüpfungen mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem aufzudecken, hackt man lieber auf kopftuchtragenden Musliminnen herum und kann auf diese Weise bequem vom eigentlichen Grundproblem ablenken. Anderen die Schuld der Probleme in die Schuhe zu schieben, statt sich an der eigenen Nase zu nehmen, war und ist halt immer noch das Einfachste und Bequemste.

Vor allem, wenn man dann dafür noch so grossen öffentlichen Applaus erhält.

Strategien der Vergangenheit und Strategien der Zukunft: Kriegslogik und Friedenslogik…

In einem Interview mit der „Sonntagszeitung“ vom 31. August 2025 sagt der Militärhistoriker und Strategieexperte Mauro Mantovani, die Schweizer Armee könnte niemals alleine einen Grossangriff abwehren und solle deshalb ihre Luftraumverteidigung an Frankreich übertragen. Andere bemühen zurzeit sogar einen möglichst schnellen Beitritt der Schweiz zur NATO herbei, um unser Land unter einen gemeinsamen Schutzschirm zu stellen, damit es nicht eines Tages irgendeinem „Grossangriff“ schutzlos ausgeliefert sein wird.

Tatsächlich aber ist dieser „Grossangriff“ längst schon im Gange. Aber nicht in der Art und Weise, wie das in den Köpfen ewiggestriger „Kriegslogiker“ immer noch eifrig herumspukt. Dieser tatsächliche Grossangriff besteht nämlich nicht aus konventioneller Kriegsführung, sondern, beinahe unsichtbar, Tag für Tag, Stunde für Stunde, in der schrittweisen Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, in der Verödung immer grösserer Landwirtschaftsflächen infolge des Klimawandels, in der Vergiftung einst fruchtbarster Landwirtschaftsböden und in einer zunehmend gigantischen Ungleichverteilung der noch vorhandenen Güter, welche am einen Ende die Produktion einer immer grösseren Menge unnötiger Luxusprodukte zur Folge hat und am anderen Ende den Tod von weltweit täglich rund 15‘000 Kindern infolge von Unterernährung.

Ein Überleben der Menschheit wird nicht im militärischen Kampf aller gegen alle möglich sein, sondern nur durch ein neues Gemeinschaftsdenken über alle Grenzen hinweg. Die bisherige Kriegslogik muss in eine neue Friedenslogik transformiert werden. Und gerade hierzu könnte die Schweiz als neutraler Ort der Diplomatie, der Völkerverständigung und der friedlichen Konfliktlösung eine gar nicht genug hoch einzuschätzende Rolle einnehmen. Damit sich dann die sogenannten Militärhistoriker und Strategieexperten tatsächlich nur noch mit der Vergangenheit beschäftigen müssten, aber definitiv nicht mehr mit der Zukunft.

Nicht immer sind die Frauen Opfer und die Männer Täter: Bis zur endgültigen Verwirklichung einer gewaltfreien Gesellschaft brauchen wir eine tiefergehende Systemveränderung…

Wie das „St. Galler Tagblatt“ am 3. September 2025 berichtete, hat das oberste Schweizer Militärgericht kürzlich eine Kommandantin und zwölf Offiziere zu bedingten Geldstrafen verurteilt. Dies aufgrund eines Vorfalls in der Kaserne Colombier NE am 6. April 2018, wo es im Zusammenhang mit der Beförderung von Militärangehörigen zu haarsträubenden Gewaltexzessen gekommen war: Armeekader nutzten die Zeremonie, um mit gröbster Gewalt auf die ihnen untergebenen Soldaten einzuprügeln. In den darauffolgenden Tagen mussten 22 Soldaten vom Truppenarzt behandelt werden. Sie hatten Schmerzen, Blutergüsse, zwei von ihnen zeigten Anzeichen von gebrochenen Rippen, einer bekam kaum Luft und ein anderer musste notfallmässig in eine Klinik eingewiesen werden. Die Schläger waren bei diesen Gewaltexzessen insbesondere von einer Kompaniekommandantin zusätzlich angefeuert worden, unter anderem mit diesen Worten: „Ich toleriere bis zu zwei gebrochene Schlüsselbeine.“ In der Gerichtsverhandlung versuchte die Kompaniekommandanten ihr Verhalten damit zu rechtfertigen, dass sie als Frau im Ausbildungsalltag habe Härte demonstrieren wollen, weil sie befürchtet hätte, als „zu nett“ oder „nicht kämpferisch genug“ zu gelten.

Weitere Fälle, bei denen sich Frauen als besonders gewalttätig erweisen, konnte man wiederholten Berichten über Trainingsmethoden bei der Förderung jugendlicher Spitzensportlerinnen und Spitzensportlern in schweizerischen Ausbildungszentren entnehmen. Wiederholt war und ist dabei die Rede von Trainerinnen aus osteuropäischen Ländern, vor allem im Kunstturnen, Eiskunstlaufen, Synchronschwimmen und Balletttanzen. Jugendliche, vor allem Mädchen, erleiden dabei oft über Jahre kaum zu beschreibende physische und psychische Gewalt, so etwa kommt es immer wieder vor, dass trotz schwerer Verletzungen wie Knöchelbrüchen weitertrainiert werden muss, Synchronschwimmerinnen so lange unter Wasser bleiben müssen, bis sie in Einzelfällen schon das Bewusstsein verloren haben, Turnerinnen wegen zu geringem oder zu hohem Körpergewicht erniedrigt und in Anwesenheit ihrer Teamkolleginnen aufs Gröbste beschimpft werden oder sich sogar, auch darüber wurde schon berichtet, wegen kleinster Fehler beim Trainieren vor ihren Trainerinnen nackt ausziehen und auf den Knien vor ihnen um Vergebung bitten mussten.

Die schweizerische Kompaniekommandantin sowie nicht wenige der notabene als besonders erfolgreich geltenden Sporttrainerinnen mögen zwar seltene Ausnahmen sein, aber ihr Machtgebaren und ihr gewalttätiges Verhalten gegenüber Untergebenen zeigen, dass auch Frauen sich genauso „herrisch“ verhalten können wie all jene Männer, die Frauen respektlos behandeln, erniedrigen oder ihnen auf die eine oder andere Weise mehr oder weniger schwere Gewalt antun.

Selbstverständlich soll mit solchen Beispielen nicht ansatzweise all die immense Gewalt, welche von Männern gegenüber Frauen ausgeübt wird, verharmlost oder relativiert werden. Aber Männer bloss moralisierend an den Pranger zu stellen, bringt uns nicht zu einer Lösung des Problems, solange nicht auch die dahinterliegenden Machtstrukturen in aller Beharrlichkeit analysiert und offen gelegt werden.

Der Versuch einer These: Das Grundproblem ist nicht der Mann als solcher, sondern das bestehende gesellschaftliche Machtsystem, in dem die Mächtigeren weitaus häufiger Täter sind und die weniger Mächtigen in aller Regel ihre Opfer. Und da das herrschende Gesellschaftssystem so eingerichtet ist, dass Männer viel leichter und schneller Machtpositionen erlangen können als Frauen, sind Männer zweifellos in viel höherer Anzahl Täter, während Frauen in viel höherer Anzahl Opfer sind. Das ist nicht primär die Folge ihres Geschlechts, sondern die Folge einer Klassengesellschaft unterschiedlicher Rechte, Befugnisse und Privilegien sowie aller mit ihr verknüpfter und von ihr geprägter gesellschaftlicher Machtstrukturen. Der Mann wird nicht in dem Augenblick zum „Bösewicht“, da er – als Baby männlichen Geschlechts – geboren wird, sondern erst in dem Augenblick, da er in die vorgegebenen Denk-, Macht- und Verhaltensmuster hineinwächst und diese – wohl weitgehend unbewusst – nach und nach verinnerlicht.

Macht korrumpiert. Diese Aussage des Historikers Lord Acton aus dem Jahre 1887 gilt eben nicht nur für Männer, sondern gleichermassen auch für Frauen. Das mögen ein paar weitere im Folgenden ausgeführte Beispiele deutlich machen.

Erstes Beispiel: Die treibende Kraft hinter den von den USA über den Irak zwischen 1991 und 1995 verhängten Wirtschaftssanktionen war die damalige US-Aussenministerin Madeleine Albright. Sie liess sich von ihrem Ziel, dem Irak bleibenden Schaden zuzufügen, auch dann noch nicht abbringen, als die ersten Meldungen an die Öffentlichkeit gelangten, irakische Kinder würden infolge dieser Sanktionen in grosser Zahl sterben. Bis zuletzt hatten die Sanktionen einer halben Million irakischer Kinder das Leben gekostet. Noch Jahre später gab Albright einem TV-Reporter, der sie nach der Rechtfertigung für diese Sanktionen befragte, offensichtlich frei von jeglichem schlechtem Gewissen zur Antwort, sie würde sich wieder genau gleich verhalten, hätte sich der Tod dieser halben Million Kinder doch gelohnt, weil er dazu beigetragen hätte, die Interessen der USA gegen dem Irak möglichst wirkungsvoll durchzusetzen.

Zweites Beispiel: Es war eine Aussage der britischen Premierministerin Margret Thatcher aus dem Jahr 1987, auf die sich bis heute all jene berufen, die alles Gesellschaftliche dem freien Markt und dem freien Unternehmertum überlassen wollen und für die fast alles Staatliche des Teufels ist. Diese Aussage lautete: „Menschen sind Individuen, nur sie alleine können denken, handeln und frei sein, Das alles kann das Kollektiv nicht. Insofern gibt es keine Gesellschaften, nur Individuen.“ Heute, über 30 Jahre später, wird uns nach und nach bewusst, was für ein immenses Zerstörungspotenzial in diesen Worten einer der heftigsten Vorkämpferinnen des Neoliberalismus lag, jetzt, wo immer härter und erbarmungsloser der Egoismus überhand genommen hat im Kampf aller gegen alle und bald auch noch die letzten sozialen Netze zu zerreissen drohen. Wenn es eine typische Eigenschaft gibt, die sich, auch in grosser historischer Dimension, Frauen zuschreiben lässt, dann ist dies wohl das Soziale, die Fürsorge, die Gemeinschaft, die gegenseitige Verantwortung zwischen Stärkeren und Schwächeren. Und dann kommt ausgerechnet eine Frau und zerstört dieses Jahrtausendwerk ihrer unzähligen Vorfahrinnen innerhalb eines einzigen Tages, männlicher als der denkbar männlichste, herrschsüchtigste und machtbessenste Mann.

Drittes Beispiel: Aktuell treten sie sogar nicht nur einzeln auf, sondern geradezu reihenweise, als wollten sie der Öffentlichkeit endgültig beweisen, dass Frauen sogar noch weitaus „männlicher“ sein können als die schlimmsten Männer. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula Van der Leyen, die ihre Macht, demokratische Abläufe wo immer möglich auszuhebeln zugunsten ihrer eigenen Machtinteressen, geradezu strahlend auszukosten scheint. Die ehemalige deutsche Aussenministerin Analena Baerbock, die am liebsten ganz Russland zerstören würde. Die EU-Aussenbeauftragte Kaya Kallas, die auch von den irrwitzigsten Lügen nicht zurückschreckt, um möglichst viel Angst vor einem Angriff Russlands auf die baltischen Staaten und den Rest Europas zu schüren, damit auch niemand auf die Idee kommt, die bereits in Gang gesetzte Rüstungseuphorie der europäischen Länder in Frage zu stellen. Die sogenannte Sicherheitsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die mit ihrem aggressiven und hasserfüllten Gehabe nur darauf zu warten scheint, mit dem Gewehr an die Ostfront geschickt zu werden, denn dort, wie sie einmal sagte, könnte man sie gewiss „gut gebrauchen“.

Die Welt ist nicht primär von herrschsüchtigen, skrupellosen und machtgierigen Männern bestimmt, sondern primär von „männlichen“ Machtstrukturen, Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen. Wer – ob als Mann oder als Frau – in dieser Gesellschaft in Bezug auf Ansehen und Karriere erfolgreich sein will, muss sich, solange diese Machtstrukturen unangetastet bleiben, ihnen so weit als nur irgendwie möglich anpassen. Dann hat man es sogar bis über den Tod hinaus geschafft. So wie Madeleine Albright: Bei ihrem Begräbnis im März 2022 war allenthalben nur von ihrem Mut, ihrer Tapferkeit, ihrer Geradlinigkeit und ihrer Hartnäckigkeit die Rede und niemand erwähnte auch nur mit einem einzigen Wort, dass eine halbe Million irakischer Kinder für die ausserordentlichen „Qualitäten“ dieser Frau ihr Leben hatten opfern mussten. Während – um ein Gegenbeispiel zu nennen – die ehemalige, frühzeitig freiwillig aus ihrem Amt geschiedene neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern nicht als Siegerin, sondern als Versagerin in eine immer noch zutiefst von „männlichem“ Erfolgsdenken geprägte Geschichte eingehen wird, nicht, weil sie über keinerlei Qualitäten für dieses Amt verfügt hätte, sondern ganz im Gegenteil deshalb, weil ihre tägliche politische Arbeit so sehr von Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeitsliebe getragen war, dass sie schliesslich an den Widerständen und Hindernissen der herrschenden Machtstrukturen scheitern musste. Machtstrukturen, die sich unter anderem in Chatrooms manifestierten, die voll waren mit beleidigenden, wütenden und drohenden Mitteilungen sowie täglichen Vergewaltigungs- und Morddrohungen und in denen Jacinda Ardern als „dämonisch“ und „böse“ dargestellt und sogar mit Adolf Hitler verglichen wurde, sodass sie auch heute noch und vielleicht sogar für den Rest ihres Lebens für ihre Sicherheit besonderen Polizeischutz benötigt.

Es – aus Frauensicht – als „Erfolg“ zu feiern, wenn immer mehr Frauen machtvolle Positionen in der Politik, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Forschung, an den Universitäten, auf den Chefetagen multinationaler Konzerne und ganz allgemein an möglichst vielen Schalthebeln der Macht einnehmen, ändert an den tieferliegenden Machtverhältnissen auch nicht das Geringste. Im Gegenteil: Sie werden dadurch erst recht zementiert, kann doch die Tatsache, dass, sobald die entsprechenden „Frauenquoten“ auf den politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsebenen erreicht sind, zum verhängnisvollen Trugschluss führen, dass damit das Ziel der Gleichberechtigung von Frauen erreicht sei und es deshalb keiner weiteren diesbezüglichen Anstrengungen mehr bedürfe. Tatsächlich aber werden die bestehenden Machtverhältnisse damit nicht überwunden, sondern höchstens verschoben, in eine andere Richtung gedrängt oder umgelagert. Denn für die Kaffeebäuerin in Kenia, die sich von früh bis spät bis an die Grenzen ihrer körperlichen Kräfte abrackert und dennoch kaum genug Geld verdient, um sich und ihre Kinder ausreichend zu ernähren, spielt es auch nicht die geringste Rolle, ob Frauen auf den Chefetagen von Nestlé oder anderen Lebensmittelkonzernen zu fünf, 20, 50 oder 70 Prozent vertreten sind, solange diese Frauen nur die traditionellen, bisher Männern vorbehaltenen Rollen einnehmen, sich somit zu Komplizinnen und Mittäterinnen herrschender Ausbeutungsmechanismen machen und nicht mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Kräften für den Aufbau neuer, ausbeutungsfreier Wirtschaftsformen kämpfen.

Es ist kein Zufall, dass parallel zum Fortschreiten gnadenloser Profitmaximierung durch immer raffiniertere Methoden der Ausbeutung von Mensch und Natur auch die Gewalt gegen Frauen und Kinder und die Anzahl der Femizide laufend zunimmt. Alles hängt mit allem zusammen, in all den unzähligen Macht-, Ausbeutungs-, Unterdrückungs- und Diskriminierungsverhältnissen, in denen nicht nur Frauen Opfer von Männern sind, sondern auch Männer Opfer von Frauen sein können, „ausländische“ Menschen, unter ihnen insbesondere Flüchtlinge, Opfer von „einheimischen“ bzw. „sesshaften“ Menschen sind, Kinder und Jugendliche Opfer bloss aufgrund ihres jüngeren Alters Opfer von Erwachsenen, kulturelle und ethnische Minderheiten Opfer von sich als etwas „Höheres“ und „Besseres“ fühlenden Mehrheiten, sogenannt „Ungebildete“ Opfer von sogenannt „Gebildeten“, sogenannte Laien Opfer von sogenannten „Experten“, Gelegenheitsdiebe und „Kleinkriminelle“ Opfer von all jenen, die sich ganz „legal“ auf Kosten anderer bereichern, so etwa durch den Besitz von Aktien, was ihnen ermöglicht, selber nicht mehr arbeiten zu müssen, sondern nur noch von der Arbeit anderer leben zu können. Bei allen punktuellen Bemühungen um den Abbau einzelner Macht- und Ausbildungsverhältnisse darf nicht das grosse Ganze aus den Augen verloren werden: Dass die einzelnen dieser Machtsysteme, und damit eben auch das Patriarchat, nur dann dauerhaft überwunden werden können, wenn gleichzeitig auch das heute weltweit in Form einer rigorosen Klassengesellschaft herrschende immense und weit verzweigte kapitalistische Macht- und Ausbeutungssystem überwunden wird.