Gaza und Ukraine: Wie wir ganz leise, sanft und systematisch manipuliert werden…

Die Schweiz, das „Musterland“ der Demokratie, der Meinungs- und Gedankenfreiheit. In keinem anderen Land der Welt würden die Menschen durch die Medien so ausgewogen und objektiv informiert wie hierzulande, heisst es meist im Brustton tiefster Überzeugung. Doch wir brauchen nur irgendeine beliebige Zeitungsseite aufzuschlagen, um sogleich festzustellen, dass dieses Bild nichts anderes ist als reines Wunschdenken. Die Art und Weise, wie westliche Medien ihr Publikum manipulieren, ist vermutlich sogar noch viel raffinierter als jene plumpen „Holzhammermethoden“, welche in Diktaturen oder rigiden Einparteiensystemen an der Tagesordnung sind. Und deshalb nicht weniger, sondern vielleicht sogar noch gefährlicher. Denn wenn man sich beim Lesen oder Hören einer Nachricht nicht einmal bewusst ist, dass man manipuliert wird, können Lügen viel leichter und schneller zu vermeintlichen „Wahrheiten“ heranwachsen, als wenn man Gelesenem und Gehörtem grundsätzlich misstraut.

Zum Beispiel Seite 7 des „St. Galler Tagblatts“ vom 14. April 2025. Scheinbar „objektiv“ wird auf der gleichen Zeitungsseite sowohl über einen russischen Raketenschlag gegen die ukrainische Stadt Sumy wie auch über einen israelischen Luftangriff gegen Ziele im Gaza-Streifen berichtet. Doch schauen wir uns die beiden Meldungen etwas genauer an…

Zunächst die Länge: Der links abgedruckte Artikel über die Attacke auf Sumy ist ungefähr drei Mal so lang wie der rechts abgedruckte über die Angriffe im Gaza-Streifen. Da beim Lesen unbewusst die Länge eines Artikels mit der Bedeutung der betreffenden Nachricht in Verbindung gebracht wird, bedeutet dies im Klartext: Was in Sumy geschehen ist, muss drei Mal schlimmer gewesen sein als das, was im Gaza-Streifen geschehen ist. Auch alle weiteren Unterschiede in der Gewichtung der beiden Ereignisse unterstreichen diese Aussage, die sich somit der Leserschaft gleich auf mehreren unterschiedlichen Ebenen nachhaltig einprägt.

Zweitens die Visualisierung: Im linken Artikel nimmt das Bild so viel Raum ein wie der gesamte Text des rechten Artikels, in welchem eine Visualisierung in Form eines Bildes sogar gänzlich fehlt. Das Bild über die Attacke auf Sumy zeigt riesige schwarze Rauchschwaden, lichterloh brennende Fahrzeuge, eine völlig zerschossene Häuserfassade, tote und lädierte Baumstämme, herumliegende Gebäudereste, eine mit Trümmern übersäte Strasse und einen einzelnen schwarz gekleideten Mann, der fassungslos daneben steht – selbst all denen, die den zugehörigen Text bloss überfliegen bzw. gar nicht zur Kenntnis nehmen, um rasch weiterzublättern, wird sich ein solches Bild zweifellos tief einprägen, zumal es noch mit der Legende, dass es sich dabei um eine „Zerstörung“ und eine „verheerende“ russische Raketenattacke gehandelt habe, versehen ist. Man kann nur erahnen, was auf einem Bild im rechten Artikel zu sehen gewesen wäre, hätte man die beiden Nachrichten auch nur ein ganz winziges bisschen neutraler und ausgewogener darzustellen versucht.

Drittens die Grösse und der Inhalt der beiden Titel: Der linke Titel ist mit einer mehr als drei Mal so grossen Schrift gedruckt. Zudem weckt er starke Emotionen, wenn von einem „Blutbad“ die Rede ist. Ganz im Gegensatz zum Titel des rechten Artikels, der nicht nur in einer viel kleineren Schrift erscheint, sondern auch völlig „sachlich“ und emotionslos formuliert ist: „Israel greift über 90 Ziele im Gaza-Streifen an“. 90 Ziele, man stelle sich das einmal vor. Das war dann höchstwahrscheinlich nicht bloss ein einziges Blutbad, sondern geradezu ein Meer von Blut!

Viertens der Untertitel. Gleich vierfach – wie wenn einmal nicht genug wäre – wird der Leserin und dem Leser eingehämmert, wie schlimm der russische Angriff gewesen sein muss: Er hat die „kriegsgeplagte“ Stadt Sumy getroffen, es war eine „Attacke“, diese war „verheerend“ und forderte „über 30 Tote“. Der rechte Artikel hingegen weist überhaupt keinen Untertitel auf. Untertitel sind aber in der Wirkung auf die lesende Person von grösster Wichtigkeit. Flüchtig und oberflächlich Lesende verschaffen sich häufig bloss aufgrund von Titel und Untertitel eine Meinung und nehmen den Text selber gar nicht zur Kenntnis. Fehlt, wie im rechten Artikel, ein Untertitel, bleibt bei der lesenden Person nicht einmal ein flüchtiger, sondern überhaupt kein Eindruck zurück.

Fünftens die Zahl der Opfer. Während im linken Artikel präzise die Zahl von 32 Toten genannt wird, fehlt im rechten Artikel jegliche Zahlenangabe. Die Rede ist nur von „90 Zielen“. Die Angriffe hätten sich auf „Waffenlager“, „Terrorzellen“ und „militärische Anlagen“ beschränkt – wobei solche sogenannte „chirurgische“ Angriffe, wie allgemein bekannt ist, stets auch verheerende Auswirkungen haben auf Wohngebiete oder zivile Einrichtungen in ihrem näheren und weiteren Umfeld. Zudem sei die laufende Bodenoffensive im Süden des Gaza-Streifens fortgesetzt worden und zuvor sei noch ein Krankenhauskomplex im Norden des Gaza-Streifens angegriffen worden. Zählt man die Opfer der 90 „Ziele“, der Bodenoffensive sowie der Attacke auf den Krankenhauskomplex zusammen, kommt man selbst bei vorsichtigen Schätzungen auf eine Zahl, die vermutlich die Opfer der russischen Attacke auf Sumy um mindestens das Zehnfache, wenn nicht das Zwanzigfache übertreffen dürfte. Dass dabei so ganz nebenbei auch noch ein Krankenhauskomplex ins Visier des israelischen Bombardements geriet, wird auch nicht mit einem einzigen Wort kritisch kommentiert, obwohl man hierfür objektiverweise wohl noch weitaus drastischere Begriffe verwenden müsste als das im linken Artikel genannte „Blutbad“.

Sechstens die Beschreibung der Opfer. Im linken Artikel werden die Opfer und die an ihnen begangenen Taten detailliert beschrieben, vermutlich, um an das Mitgefühl der lesenden Person zu appellieren und zugleich Hass- und Rachegefühle gegen die Täter zu erzeugen. Unter den 32 Toten seien auch „zwei Kinder“ gewesen, unter den 84 Verletzten „acht Kinder“. Die Menschen seien „am Palmsonntag“, also an einem heiligen Tag, in der Stadt gewesen, als die Raketen eingeschlagen hätten. Die Raketen hätten „Sprengsätze mit Streubomben“ getragen.“ Viele Menschen seien „mitten auf der Strasse, in Autos und öffentlichen Verkehrsmitteln sowie in Häusern“ verletzt worden. Auf Bildern hätte man „leblose Körper auf Strassen“ gesehen. Rettungskräfte hätten Menschen „mit blossen Händen“ getragen. Im rechten Artikel dagegen sucht man vergeblich nach vergleichbaren Details. Kein Hinweis darauf, ob es auch – was höchst wahrscheinlich ist – Opfer unter Kindern gegeben hat. Kein Hinweis darauf, wo und wie die Menschen getötet oder verletzt wurden. Kein Hinweis darauf, was für Waffen eingesetzt wurden. Alles schön emotionslos, „sachlich“, um nur ja nicht gegen die für diese Gewalttaten verantwortlichen israelischen Machthaber ähnliche Hass- oder Rachegefühle aufkommen zu lassen wie gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin, an dem westliche Medien geradezu schon notorisch nie auch nur den kleinsten guten Faden lassen.

Siebtens die Parteinahme. Zwar wird sie nicht offen ausgesprochen, ist aber auf Schritt und Tritt zwischen den Zeilen wahrzunehmen. Der Autor des linken Artikels steht unverkennbar auf der Seite der Ukraine. Der Angriff auf Sumy hätte „international Entsetzen ausgelöst“. Russland habe „eine möglichst hohe Zahl an Zivilpersonen treffen wollen“, der ukrainische Aussenminister hätte von einem „Kriegsverbrechen“ gesprochen, der deutsche Bundeskanzler hätte gesagt, solche Angriffe zeigten, „wie es um die angebliche russische Friedensbereitschaft bestellt“ sei. Und dass es Russland einzig und allein nur darum gehe, „seinen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine erbarmungslos fortzusetzen“. Auch Frankreichs Präsident Macron hätte geschrieben, dass „Russland menschlichem Leben keinen Wert beimisst“ und „den Krieg weiterführen will“. Der ukrainische Aussenminister Sybiha hätte gar vom „absoluten Bösen“ gesprochen, und das „an einem wichtigen christlichen Feiertag in einer friedlichen ukrainischen Stadt“. Er und Selenski würden „eine entschlossene Reaktion der internationalen Verbündeten fordern“, denn sonst „würde Russland seinen Terror immer mehr ausweiten“. Sybiha fordere zudem die westlichen Partner auf, „die Ukraine mit zusätzlichen Flugabwehrkapazitäten auszustatten und den Druck auf Moskau zu erhöhen“. Im rechten Artikel über die Angriffe der israelischen Luftwaffe sucht man dergleichen Zuspitzungen vergebens, obwohl diese israelische Militäraktion ohne alle Zweifel weitaus mehr Tote und Verletzte gefordert hatte als der russische Angriff auf Sumy. Kein Wort darüber, dass man das Zerstörungswerk Israels im Gazastreifen, wenn man schon den russischen Angriff auf Sumy als „Kriegsverbrechen“ bezeichnet, konsequenterweise als mindestens so schweres, wenn nicht noch schwereres Kriegsverbrechen bezeichnen müsste. Kein Wort darüber, dass, wenn die Ereignisse von Sumy „internationales Entsetzen ausgelöst“ hätten, dies für die Luftangriffe Israels auf 90 Ziele im Gaza-Streifen mindestens so sehr angebracht gewesen wäre. Kein Wort darüber, dass auch die israelische Regierung „menschlichem Leben“ offenbar „keinen Wert“ beimesse. Kein Wort darüber, dass die israelische Regierung vor wenigen Tagen den zwischen ihr und der Hamas ausgehandelten Waffenstillstand einseitig und ohne Begründung gebrochen hatte. Stattdessen wird nur hervorgehoben, dass die israelische Armee „die Einwohner von Chan Junis im Süden des Küstenstreifens vor einem bevorstehenden Angriff gewarnt“ und sie aufgefordert hätte, „sich zu den Schutzräumen zu begeben“. Auch das Personal des bombardierten Krankenhauskomplexes sei „vorab gewarnt und zur Evakuierung des Gebäudes aufgefordert“ worden. Und „vor der Attacke“ seien „Massnahmen“ ergriffen worden, „um die Schäden möglichst gering zu halten, etwa durch Warnungen und den Einsatz von Präzisionsmunition“. Mit anderen Worten: Alle, die durch die Angriffe Israels getötet oder verletzt worden sind, sind selber Schuld, sie hätten ja den Warnungen seitens des Militärs nur Folge leisten müssen. Was für ein grenzenloser Zynismus! Nicht nur, dass man damit jegliche noch so grenzenlose Brutalität und Missachtung elementarster Menschenrechte rechtfertigen kann – sie sind ja selber Schuld, sie hätten nur auf die Warnungen hören müssen -, sondern auch, weil ja die Evakuierung eines Spitals inmitten eines total verwüsteten Gebiets, indem kaum mehr ein Stein auf dem andern steht, nichts ist als reine Augenwischerei. Wohin sollen die Kranken und Schwerverletzten denn gebracht werden, wo soll man die medizinischen Geräte installieren, mit was für Material und Instrumenten soll das Personal denn arbeiten? Die „Warnungen“ sind doch nichts anderes als ein grenzenlos unverschämter Propagandatrick, um sich allenfalls zu befürchtete internationale Kritik möglichst vom Hals zu schaffen, indem man den Spiess umdreht und die Opfer zu Tätern macht: Selber Schuld, sie hätten ja nur den so gut gemeinten Ratschlägen ihrer potenziellen Mörder Folge leisten müssen. Und der Schweizer Journalist, der diesen Artikel geschrieben hat, spielt das üble Spiel brav und willfährig mit und äussert nicht einen Funken Kritik an einer dermassen perfiden, skrupellosen und aller minimalster Menschlichkeit entbehrenden Kriegsführung.

Achtens die zitierten Personen. Im Artikel über die russische Attacke in Sumy werden mit dem ukrainischen Präsidenten Selenski, dem ukrainischen Kanzleichef Jermak, dem ukrainischen Innenminister Klymenko, dem ukrainischen Aussenminister Sybiha, dem deutschen Bundeskanzler Scholz und dem französischen Präsidenten Macron fast ausschliesslich Personen zitiert, welche völlig einseitig und voreingenommen die Position der Ukraine vertreten. Neben diesen Stimmen werden nur noch jene des Kremlsprechers Peskow und jene von US-Präsident Trump erwähnt, nicht aber im Sinne einer Gegendarstellung. Peskow wird nur im Zusammenhang mit den laufenden Verhandlungen zwischen Russland und den USA zitiert, und von Trump wird nur die Aussage erwähnt, dass sich Russland „bewegen muss“, seien in diesem „schrecklichen und sinnlosen Krieg“ doch bereits „zu viele Menschen gestorben, Tausende pro Woche“. Im Artikel über die israelischen Luftangriffe hingegen wird mit einem israelischen Militärsprecher und anderen Wortführern der israelischen Armee ausschliesslich die israelische Position aufgezeigt, es fehlt gänzlich an Aussagen von Personen bzw. Organisationen, welche dieser Militäraktion oder allgemein der offiziellen israelischen Kriegspolitik kritisch gegenüber stehen oder sie sogar verurteilen. Selbst der Direktor des betroffenen Krankenhauskomplexes wird ausschliesslich mit der Aussage zitiert, das Personal sei „vorab gewarnt und zur Evakuierung des Spitals aufgefordert worden“, kein Wort über das unermessliche Leiden, das den Patientinnen und Patienten des Spitals angetan worden war, kein Zitat vom Internationalen Roten Kreuz, von Amnesty International oder von einer anderen NGO, welche militärische Anschläge auf Spitäler grundsätzlich als Kriegsverbrechen bezeichnen.

Neuntens die Rechtfertigung der Taten. Im Artikel über die Attacke in Sumy finden wir ausschliesslich die Aussage von Selenski, wonach es Russland bei diesem Anschlag nur darum gegangen sei, „eine möglichst hohe Anzahl an Zivilisten zu treffen“. Die Position Russlands, wonach der Angriff einem Treffen ukrainischer Offiziere gegolten habe und die Zivilbevölkerung bloss als „Schutzschild“ missbraucht worden sei, wird nicht erwähnt. Es mag ja legitim sein, diese Behauptung Russlands in Frage zu stellen, jedoch müsste sie im Rahmen einer einigermassen objektiven Berichterstattung zumindest Erwähnung finden. Auch das Zitat des Kreml-Sprechers Peskow, wonach die russische Armee ausschliesslich „militärische und mit dem Militär in Verbindung stehende Ziele angreift“, dürfte bei aller Skepsis gegenüber einer solchen Aussage doch zumindest Erwähnung finden, alles andere kann man nicht anders bezeichnen denn als Zensur und Bevormundung der Leserschaft. Sogar Wolodymyr Artjuch, Gouverneur des Gebiets Sumy, hat gemäss ARD inzwischen bestätigt, in der Stadt habe zur Zeit des russischen Angriffs eine Versammlung hochrangiger Militärs stattgefunden. Artjuch selber distanzierte sich vom Entscheid, dieses Treffen in Sumy abzuhalten. Es sei nicht seine Initiative gewesen, er sei nur eingeladen worden, über den Initiator des Treffens könne er keine Angaben machen, das sei „ein anderes Thema“. Kein Wort davon in der angeblich so neutralen und objektiven Schweizer Tageszeitung. Höchst bezeichnend ist auch, dass die identische Aussage, wonach Zivilpersonen häufig als Schutzschilde gegen militärische Attacken missbraucht würden, die man der russischen Seite offensichtlich nicht abnimmt, von den gleichen westlichen Medien, wenn sie von der israelischen Seite im Zusammenhang mit Angriffen auf die Hamas ins Feld geführt wird, kaum je kritisch hinterfragt wird. Bezeichnenderweise findet man daher im Artikel über die israelische Militäraktion im Gaza-Streifen die Aussage der israelischen Armeeführung, wonach die Luftschläge einer „Kommandozentrale der Hamas innerhalb des Spitals“ gegolten hätten, von der aus „die militant-islamistische Gruppe Anschläge auf israelische Zivilpersonen und Soldaten geplant“ habe. Das identische Argument also, dass der jeweilige Anschlag gar nicht Zivilpersonen, sondern einem militärischen Ziel gedient hätte, wird im Falle von Sumy nicht einmal erwähnt, im Falle der israelischen Luftschläge jedoch kommentarlos übernommen. Einseitiger und tendenziöser geht es nun wirklich nicht mehr.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich, wie das Beispiel des „St. Galler Tagblatts“ vom 14. April 2025 exemplarisch zeigt, die westliche Berichterstattung über zwei der zurzeit brisantesten Konfliktherde, die Ukraine und den Gaza-Streifen, durch alles andere auszeichnet als durch Objektivität und Ausgewogenheit. Im Gegenteil: Die meisten Politiker wie auch die allermeisten Medienschaffenden scheinen schon zum Vornherein auf ihrer Nase eine Brille sitzen zu haben, durch die sie die eine Seite nur in positivem Licht sehen, die andere nur in negativem. In diesem Licht braucht Putin bloss zwei Raketen abzuschiessen und 32 Menschen zu töten und schon ist das ein weiterer Beweis dafür, dass er nichts anderes ist als der Inbegriff des absolut „Bösen“, vergleichbar bestenfalls mit Hitler oder gar dem Teufel. Gleichzeitig kann der israelische Ministerpräsident Netanyahu Zehntausende von Kindern abschlachten und gilt dennoch nach wie vor als der Repräsentant der „einzigen Demokratie im Nahen Osten“. Gemäss Zählungen des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte OHCHR hat der Ukrainekrieg bis jetzt innerhalb von drei Jahren 12’910 zivile Todesopfer gefordert, im Gazastreifen wurden hingegen innerhalb von eineinhalb Jahren bereits über 70’000 Menschen getötet, einigen Schätzungen zufolge schon gegen 100’000, 70 Prozent davon Frauen und Kinder, über 10’000 noch unter den Trümmern verschüttete, noch nicht gefundene Tote nicht einmal mitgezählt. Was im Klartext nichts anderes heisst, als dass im Gaza-Streifen durchschnittlich täglich fast 20 Mal mehr Zivilpersonen getötet werden als in der Ukraine. Doch während auf der einen Seite stets vom russischen „Angriffskrieg“ gegen die Ukraine die Rede ist und die gesamte Vorgeschichte des Konflikts mit der NATO-Osterweiterung und sämtlichen weiteren Provokationen durch den Westen systematisch ausgeblendet wird, spricht man im Zusammenhang mit dem von Israel an den palästinensischen Männern, Frauen und Kindern begangenen Völkermord als einem von Israel rechtmässig in Anspruch genommenen „Recht auf Verteidigung“. Wobei auch der Begriff des „Terrorismus“ stets nur auf nichtstaatliche Rebellen oder Widerstandskämpfer angewendet wird, nie aber auf Staaten wie Israel oder die USA, welche zweifellos für die in ihrem Ausmass mit nichts anderem zu vergleichenden schwersten Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen der jüngeren Geschichte verantwortlich sind – rufe man sich doch nur kurz die über 40 seit 1945 von den USA angezettelten, grösstenteils völkerrechtswidrigen Kriege und Militäraktionen in Erinnerungen, mit insgesamt 50 Millionen Toten und 500 Millionen Verletzten, von Vietnam, Laos, Honduras, El Salvador über Jugoslawien bis zu Afghanistan. Libyen und dem Irak.

Ganz abgesehen davon, dass sich die Zustände in der Ukraine und jene im Gazastreifen ohnehin auch nicht annähernd miteinander vergleichen lassen. Während die Ukraine immer noch über eine weitgehend intakte Infrastruktur, ein funktionierendes Gesundheitswesen, einigermassen sichere Strassenverbindungen verfügt und niemand hungern muss, ist der Gazastreifen, wo inzwischen etwa drei Viertel aller Häuser dem Erdboden gleichgemacht wurden, das gesamte Gesundheitssystem zusammengebrochen ist und Millionen von Menschen vom Hungertod bedroht sind, im Vergleich dazu die wahre Hölle. Aber auch das ist noch nicht genug. Als Folge einer total verzerrten und die Realität geradezu ins Gegenteil verdrehenden Propaganda ist es den westlichen Machthabern gelungen, für die Ukraine zivile und militärische Unterstützung in Milliardenhöhe aufzubringen, inklusive Zusicherungen, nach dem Krieg alles wieder neu aufzubauen. Während auf der anderen Seite sogar die Schweiz als eines der reichsten Länder der Welt die finanzielle Unterstützung für das palästinensische Hilfswerk UNRWA um Haaresbreite gestrichen und damit den Hungertod von Millionen von Menschen bewusst in Kauf genommen hätte. Und US-Präsident Trump unter betretenem Schweigen des gesamten Westens die geradezu an Hybris grenzende Vision kundtat, sämtliche Palästinenserinnen und Palästinenser für immer aus ihrer Heimat zu vertreiben und an deren Stelle eine Riviera mit Strassencafés, Vergnügungslokalen, Spezialitätenrestaurants und Luxushotels für die Reichsten aus aller Welt aufzubauen.

Zufällig findet sich auf der gleichen Seite 7 des „St. Galler Tagblatts“ auch ein Artikel zu den bevorstehenden Atomverhandlungen zwischen den USA und dem Iran. US-Präsident Trump drängt auf ein Abkommen, um den Iran an der Entwicklung von Atomwaffen zu hindern. Die iranische Führung beteuert zwar, die Atomenergie nur für friedliche Zwecke nutzen zu wollen, dennoch hat Trump unlängst mit der Bombardierung des Iran gedroht, sollte es zu keinem Einlenken kommen. Was – wieder werden wir ganz leise und sanft manipuliert – mit keinem Wort erwähnt wird: Dass sich Israel bereits seit 1967 im Besitz von Atomwaffen befindet. Aber das ist halt eben etwas ganz anderes. Israel gehört ja zu den Guten und darf das, der Iran aber gehört zu der sogenannten „Achse des Bösen“, zu welcher der Westen auch Russland zählt, darf das deshalb eben nicht und müsste sogar damit rechnen, zur Strafe dafür dem Erdboden gleich gemacht zu werden. Vielleicht ja sogar noch mithilfe Israels. Man stelle sich mal das Gegenteil vor: Putin würde Israel auffordern, seine Atomwaffen zu verschrotten, andernfalls würde er erwägen, das Land in Schutt und Asche zu legen…

Muss der Westen seine Lügengebäude wohl deshalb mit allen Mitteln dermassen weit in die Höhe bauen und dermassen systematisch seine Bürgerinnen und Bürger manipulieren und blenden, weil die Wahrheit, wenn sie denn ans Licht käme, so unerträglich wäre, dass niemand vorausahnen kann, was für gesellschaftliche und politische Umwälzungen bis hin zum Zusammenbruch der gesamten kapitalistisch-imperialistischen „Weltordnung“ dies zur Folge haben könnte?

Diesen Artikel habe ich am 20. April 2025 auch an die Chefredaktion des „St. Galler Tagblatts“ geschickt, ergänzt mit der Frage, welche Richtlinien bezüglich Ausgewogenheit, journalistischer Sorgfaltspflicht und Objektivität der redaktionellen Arbeit zugrunde liegen und mit welchen Instrumenten die Einhaltung solcher Richtlinien überprüft werde.

(Ergänzung am 22. 4.25: Seltene Ausnahmen gibt es noch. Sie zeigen erst recht, wie einseitig und manipulativ die weitaus überwiegende Mehrzahl der Mainstreammedien „informiert“. So las und hörte ich in Bezug auf die von Putin über die Ostertage 2025 ausgerufene Waffenruhe in der Ukraine in sämtlichen Medien nur immer, es habe sich bloss um einen „Propagandatrick“ gehandelt und Russland selber habe sich überhaupt nicht an diese Waffenruhe gehalten, sondern sie im Gegenteil dazu benutzt, seine Angriffe unvermindert fortzusetzen. Bis ich auf diese Meldung im „Tagesanzeiger“ vom 22.4. stiess: „Moskau beschuldigte die Ukraine, die Pause, die 30 Stunden hätte dauern sollen, 4900-mal verletzt zu haben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr erklärte seinerseits, die Russen hätten die Pause 2935-mal verletzt.“ Manchmal findet die Wahrheit auch in der dicksten Mauer noch ein Schlupfloch…)

(Kommentar von Walter Tauber, Journalist und Filmemacher, am 22.4.25: „Danke für die tolle Analyse. So etwas sollte man flächendeckend zu allen Leitmedien und ständig machen – aber wer hat dazu die Zeit? Vielleicht als Kollektiv?“)

15. April 2025: Ein Brief an den Schweizer Bundesrat und Justizminister Beat Jans zum Thema Asylpolitik

Lieber Beat

Im „St. Galler Tagblatt“ vom 23. Januar 2025 äusserst du dich zur Schweizer Asylpolitik 2024 wie folgt: „Wir sind in verschiedenen Bereichen den europäischen Ländern deutlich voraus. Die Asylzahlen waren im September 40 Prozent tiefer als im September 2023. Die Zahl der Pendenzen sinkt. Wir haben 2024 25 Prozent von ihnen abbauen können. Auch die Rückkehrzahlen steigen, mit einer Rückführungsquote von annähernd 60 Prozent steht die Schweiz in Europa an der Spitze. Das SEM macht eine hervorragende Arbeit. Wir sind auf dem richtigen Weg. Doch wir sind noch nicht zufrieden. Der immer noch zu grosse Pendenzenberg muss rascher abgebaut werden.“

Aus meiner Sicht sind solche Aussagen zynisch und der humanitären Tradition der Sozialdemokratie unwürdig. Als Mitglied der SP seit 40 Jahren ist das wieder einmal so ein Moment, an dem ich mir ernsthaft überlege, ob ich weiterhin noch Mitglied einer Partei sein kann, die einen Bundesrat stellt, der sich mit solchen Worten öffentlich äussert.

Ich habe innerhalb der vergangenen neun Monate am Beispiel von zwei asylsuchenden Personen hautnah erlebt, wie sich die aktuelle schweizerische Asylpolitik auf die unmittelbar davon Betroffenen auswirkt. Ich fasse meine Erfahrungen im Folgenden kurz zusammen. Die Namen sind geändert.

Halime ist eine 25jährige Afghanin. Ihre Leidensgeschichte beginnt mit Zwangsverheiratung im Alter von 16 Jahren und schweren Misshandlungen durch ihren Ex-Mann, geht weiter mit der Flucht über den Iran und die Türkei mit zahlreichen weiteren Gewalterfahrungen und endet in Griechenland, wo sie den Flüchtlingsschutzstatus und damit das Bleiberecht erhält. Da die Verhältnisse für Flüchtlinge in Griechenland bekanntermassen katastrophal sind, nach 30 Tagen jegliche staatliche Unterstützung erlischt und viele Flüchtlinge in Elend und Obdachlosigkeit landen, wo sie weiteren  unzumutbaren Gewalterfahrungen ausgesetzt sind, ersucht Halime in der Schweiz um Asyl, insbesondere auch deshalb, weil sie befürchtet, ihr Ex-Mann oder Verwandte von ihm könnten sich ebenfalls bereits in Griechenland aufhalten und ihr nach dem Leben trachten. Schwer traumatisierte junge Frauen aus Afghanistan, die alleine unterwegs sind, erhielten bis vor etwa zwei Jahren in aller Regel in der Schweiz eine F-Aufenthaltsbewilligung, auch wenn sie über ein Bleiberecht in Griechenland verfügten. Diese Praxis wurde in den vergangenen zwei Jahren drastisch verschärft. Halimes Asylgesuch wird am 4. Oktober 2024 mit Bezugnahme auf das Dublin-Abkommen trotz der schweren Traumatisierung der jungen Frau und ihrer Todesängste vom SEM abgelehnt.

Im Gegensatz zu deiner Aussage, das SEM leiste „hervorragende“ Arbeit, ist das Argumentarium, mit dem Halimes Asylgesuch abgelehnt wird, an unzulässigen und widersprüchlichen Aussagen nicht zu übertreffen. Jede Aussage von Halime, auch wenn sie sie noch so glaubwürdig und überzeugend darlegt, wird mit der Begründung zurückgewiesen, sie könne sie „nicht beweisen“. Doch wie soll sie, um nur ein Beispiel zu nennen, die von ihrem Ex-Mann ausgesprochenen Morddrohungen beweisen, wenn ihr das Handy, wo die entsprechenden Nachrichten gespeichert waren, an der türkisch-griechischen Grenze gewaltsam entrissen wurde? Zudem nimmt das Argumentarium mehrfach Bezug auf eine Aussage des Bundesrates aus dem Jahre 2008 (!), wonach Griechenland ein „sicherer Drittstaat“ sei, was von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und anderen NGOs mit zahlreichen Studien in der Zwischenzeit mehrfach widerlegt wurde. Auch erscheint die schwere Traumatisierung der schwergeprüften Frau an keiner einzigen Stelle des Argumentariums als mögliche Begründung für ein Bleiberecht in der Schweiz. Im Gegenteil: Mehrfach wird betont, es handle sich bei Halime um eine „junge, gesunde Frau“, die „keinerlei Probleme“ haben werde, in Griechenland eine Unterkunft und einen Job zu finden – obwohl allgemein bekannt ist, dass die Arbeitslosigkeit in Griechenland zurzeit bei etwa 12 Prozent liegt und eine Frau, die weder über eine Berufsausbildung noch über Kenntnisse der Landessprache verfügt, bestenfalls die Chance auf einen Job in der Schattenwirtschaft hat, mit allen damit verbundenen Gefahren von Ausbeutung und Missbrauch.

Besonders stossend ist, dass sich die Anwältin, die Halime zugeteilt wurde, keinen Deut um das Schicksal ihrer Mandantin kümmert, obwohl das doch eigentlich ihre Aufgabe wäre. Auch habe ich mir sagen lassen, dass die Bearbeitung von Asylgesuchen stark vom jeweiligen Kanton abhängt, der den Fall führt, und ebenso stark von den jeweils zuständigen Mitarbeitenden des SEM. Eine reine Lotterie mit unter Umständen geradezu tödlichen Folgen.

Auch eine von mir unterstützte Beschwerde Halimes gegen den SEM-Entscheid, fristgerecht eingereicht ans Bundesgericht, wird abgewiesen. Anstelle einer erhofften seriösen Neubeurteilung übernimmt das Bundesverwaltungsgericht nahezu wortwörtlich die Argumentation des SEM. Und so muss Halime trotz bedenklichen gesundheitlichen Zustands mit hohem Fieber, Magenkrämpfen und nach mehreren schlaflosen Nächten infolge ihrer Ängste und Traumatisierungen und ohne jegliche medizinische, psychologische und finanzielle Unterstützung anfangs November 2024 die Schweiz verlassen. Hätte sie ihr Asylgesuch zwei Jahre früher eingereicht, so wurde mir von mehreren Fachpersonen, die im Asylwesen tätig sind, unabhängig voneinander bestätigt, wäre es höchstwahrscheinlich positiv beantwortet worden – während früherer Jahre fanden aus der Schweiz sogar überhaupt keine Rückschaffungen nach Griechenland statt. So massiv hat sich die schweizerische Asylpolitik in kurzer Zeit auf Druck der Rechtsparteien, insbesondere der SVP, verschärft. Und dies nicht nur in diesem Aspekt. Über fünf Mal ist die schweizerische Asylpolitik auf Druck der SVP und einer systematisch von ihr heraufbeschworenen fremdenfeindlichen Stimmung in der Bevölkerung im Verlaufe der vergangenen zehn Jahre immer restriktiver geworden.

Das zweite Beispiel ist eine afrikanische Flüchtlingsfamilie, die aufgrund ihres negativen, aus verschiedenen Gründen noch nicht vollzogenen Asylentscheids seit acht Jahren täglich mit der Angst leben muss, von einem Tag auf den anderen gewaltsam ausgeschafft zu werden. Alle paar Tage bekommen sie mit, wie Asylsuchende frühmorgens von der Polizei aus ihren Betten geholt und in Handschellen abgeführt werden. Die 13jährige Chantal ist inzwischen so schwer traumatisiert, dass sie nächtelang wach und schweissgebadet in ihrem Bett liegt und sich immer wieder mit dem Gedanken herumschlägt, sich das Leben zu nehmen.

2024 wurden 7205 Asylsuchende aus der Schweiz in ihre Herkunftsländer zurückgeschafft, zwei Drittel von ihnen zwangsweise, gegen ihren Willen, täglich also rund zwölf Menschen, in Handschellen oder Ganzkörperfesselung, als handle es sich um Schwerverbrecherinnen und Schwerverbrecher.

Mir ist klar, dass die Schweiz nicht sämtliche Personen aufnehmen kann, die hier Asyl suchen. Aber ist eines der reichsten Länder der Welt tatsächlich mit durchschnittlich nicht einmal einem einzigen anerkannten Flüchtling pro 100 Einwohnerinnen und Einwohner schon am Limit? Wo ist die Solidarität mit anderen Ländern und Weltregionen? In Griechenland, wohin Menschen zurückgeschafft werden und das selbst mit massiven sozialen und wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat, gibt es pro 100 Einheimische doppelt so viele Flüchtlinge wie in der Schweiz. Im Libanon kommt auf jede einheimische Person ein Flüchtling. Bangladesch musste innerhalb eines einzigen Jahrs mit einer ganzen Million Flüchtlingen aus Myanmar fertigwerden. In Afrika gibt es Millionen von Binnenflüchtlingen. Und wir sind schon mit einem einzigen Flüchtling pro 100 Einheimische überfordert?

Dazu kommt, dass durch die grosszügige Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen der Druck, aus anderen Ländern noch weniger Flüchtlinge aufzunehmen, zusätzlich verstärkt wurde. Weshalb werden Flüchtlinge so unterschiedlich behandelt je nach dem Land, wo sie herkommen? Sind Menschenrechte nicht universell, gelten sie nicht für alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion?

 „Wenn das Unrecht zu Recht wird“, sagte Bertolt Brecht, „dann wird Widerstand zur Pflicht.“ Wie lange wollen wir als SP uns noch von der SVP in eine Richtung hetzen lassen, mit der wir uns von den ursprünglichen Idealen der Sozialdemokratie immer weiter entfernen? Wie lange noch lassen wir uns instrumentalisieren und lassen es zu, die schmutzige Arbeit für andere zu erledigen, die sich, wenn es drauf und dran kommt, vornehm zurücklehnen und so tun, als hätten sich nichts damit zu tun? Wann endlich gelingt es uns, die Bevölkerung darüber aufzuklären, dass nicht die „Linken“ schuld sind an den globalen Flüchtlingsbewegungen, sondern das kapitalistische Weltwirtschaftssystem, das im Verlaufe der vergangenen 500 Jahre eine immer tiefere Kluft aufgerissen hat zwischen armen, ausgebeuteten Weltregionen und reichen, von dieser Ausbeutung profitierenden?

Hätte man auf die Linken gehört – etwa auf die Forderung nach Beibehaltung des Botschaftsasyls, gerechte Preise für Rohstoffe, Konzernverantwortung, ressourcenschonende Wirtschaft, faire Handelsbeziehungen zwischen Norden und Süden, etc. –, dann hätten wir heute nicht mehr, sondern viel weniger Flüchtlinge, weil nämlich kein Mensch einen Grund hat, seine Heimat zu verlassen, wenn er unter menschenwürdigen Bedingungen dort leben kann.

„… wird der Widerstand zur Pflicht…“ Müsste ein SP-Justizminister als Repräsentant der Sozialdemokratie, der sozialen Gerechtigkeit und der Menschenwürde nicht aufstehen und öffentlich erklären, dass sein Gewissen es nicht länger zulasse, dieses grausame Spiel mitzuspielen? Wieso brüstet man sich sogar noch damit, innerhalb eines Jahres mehr Flüchtlinge ausgeschafft zu haben als in allen Jahren zuvor? Erringt man europäische Spitzenwerte neuerdings dadurch, dass man möglichst viele Träume von einem schöneren Leben zerstört? Kann man sich mit Humanität, Menschenfreundlichkeit und Gastfreundschaft heute nicht mehr profilieren, sondern nur noch mit möglichst hohen Zahlen abgewiesener Flüchtlinge?

Die SVP hat es geschafft, uns durch permanentes Schüren von Feindbildern und von Fremdenhass und vom Aufbauschen einzelner von Asylsuchenden begangener Delikte einzureden, wir würden von Flüchtlingen „bedroht“, „überflutet“ und das „Boot“ sei längst schon „voll“. Zu dieser von Hass und Fremdenfeindlichkeit geprägten Stimmungswelle, die mittlerweile schon geradezu zur kaum mehr hinterfragten gesellschaftlichen „Normalität“ geworden ist, braucht es dringendst eine mindestens so starke Gegenbewegung. Die Ausrede, die anderen europäischen Länder betrieben ja genau die gleiche oder sogar noch härtere Flüchtlingspolitik, kann das begangene Unrecht nicht rechtfertigen. Im Gegenteil: Mit ihrer humanitären Tradition wäre die Schweiz sogar in ganz besonderem Ausmass moralisch verpflichtet, an die Werte von Mitmenschlichkeit und Solidarität zu erinnern und sich für ihre Bewahrung tatkräftig einzusetzen, vielleicht sogar als Vorbild für andere. Sonst wird die Gefahr immer grösser, dass über Jahrzehnte hart erarbeitete Werthaltungen scheibchenweise nach und nach immer mehr verloren gehen, bis am Ende nichts mehr davon übrig bleibt.

Das Mindeste wäre, dass der Bundesrat seine 2008 gemachte und seither x-fach widerlegte Aussage, Griechenland sei ein „sicherer Drittstaat“, endlich widerrufen würde. Damit das SEM wenigstens dieses Argument, um Flüchtlinge ohne ernsthafte individuelle Überprüfung ihrer Gesuche möglichst rasch abzuschieben, nicht mehr verwenden könnte.

Es geht mir nicht darum, jemanden an den Pranger zu stellen. Aber die Gefahr ist gross, dass man, wenn man einfach seinen „Job“ macht, dadurch möglicherweise – ohne es eigentlich zu wollen – Unrecht begeht. Ich finde, darüber muss man mindestens offen und ehrlich diskutieren, gerade innerhalb einer politischen Partei, bei der doch die menschlichen Werte an oberster Stelle stehen müssten.

Eine Kopie dieses Schreibens ging am 15. April 2025 an das Zentralsekretariat der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz.

Frank Urbaniok und die „Ausländerkriminalität“

Schon das Titelbild des neuen Buches von Frank Urbaniok („Schattenseiten der Migration“) sagt alles: Zu sehen ist ein Messer – obwohl Urbaniok zweifellos weiss, dass nur 1,2 Prozent der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung Straftaten begehen und bei den Asylsuchenden die entsprechende Rate bei 4,4 Prozent liegt. Aber wie gewisse politische Hardliner scheint auch Urbaniok lieber den Fokus auf die kleine Minderheit Straffälliger zu richten statt auf die überwiegende Mehrheit derer, die sich nicht des geringsten Vergehens schuldig machen.

Dass der Anteil straffälliger Personen bei Asylsuchenden über dem gesamtschweizerischen Durchschnitt liegt, hat weniger mit der jeweiligen Nationalität zu tun, als damit, dass in diesem Bevölkerungssegment der Anteil junger, alleinstehender Männer mit schlechten Zukunftsperspektiven überproportional hoch ist. Auch bei den Schweizern ist dieses Bevölkerungssegment überdurchschnittlich delinquent. Es kommt dazu, dass die meisten Asylsuchenden in ihrer früheren Heimat und während der Flucht zahlreichen Gewalterfahrungen ausgesetzt waren, was mit ein Grund dafür sein kann, dass sie sich selber gegenüber anderen gewalttätig verhalten.

Mit dem auch von Urbaniok häufig verwendeten Begriff der „Ausländerkriminalität“ wird suggeriert, dass jeder Ausländer ein potentieller Krimineller ist, obwohl dies nur für eine verschwindend kleine Minderheit zutrifft. Nähme man aber nicht die Nationalität zum Massstab, sondern das Geschlecht, dann wären die Vergleichszahlen unvergleichlich viel dramatischer. Männer begehen nämlich nicht doppelt oder drei Mal, sondern sage und schreibe 189 Mal häufiger schwere Straftaten als Frauen, und dies über alle Nationalitäten hinweg. Dennoch spricht seltsamerweise niemand von „Männerkriminalität“. Und auch bei Straftaten wie Steuerhinterziehung, mit der dem schweizerischen Fiskus jährlich über 65 Milliarden Franken entzogen werden, kommt niemandem in den Sinn, von „Inländerkriminalität“ zu sprechen.

Am schlimmsten aber ist, dass Urbaniok ganze Nationalitäten pauschal in Sippenhaft nimmt. So weist er darauf hin, dass Menschen aus Kamerun in der Schweiz am häufigsten straffällig sind, ohne zu erwähnen, dass in fast keinem anderen Land die Menschenrechte dermassen mit Füssen getreten werden und Folter sowie Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren dort an der Tagesordnung sind.

Urbaniok geht sogar noch weiter und fordert, dass aus „gewaltbereiten“ Ländern wie Afghanistan zukünftig weniger Flüchtlinge aufgenommen werden sollten als bisher. Was nichts anderes bedeuten würde, als dass ausgerechnet für Frauen aus Afghanistan, die zu den weltweit am meisten von Gewalt betroffenen Menschen gehören, das Recht auf Asyl in der Schweiz erschwert oder gar verunmöglicht werden sollte.

Ich frage mich, mit welcher Absicht Urbaniok dieses Buch wohl geschrieben hat. Zu einer sachlichen und fundierten Diskussion trägt es gewiss nicht das Geringste bei, sondern zementiert nur bereits vorhandene Vorurteile und Schuldzuweisungen.

Kapitalistische Weltwirtschaft als eine andere Form von Krieg: Als hätte erst Donald Trump alles durcheinander gebracht…

Von einem „Handelskrieg“ mit unabsehbaren Folgen schreibt die „Sonntagszeitung“ vom 13. April 2025 im Zusammenhang mit Donald Trumps aggressiver und rücksichtsloser Zollpolitik. Im Interview mit der Unternehmerin Magdalena Martullo-Blocher ist die Rede von einbrechenden Finanzmärkten, unterbrochenen Lieferketten und einem drohenden Zusammenbruch der gesamten Weltkonjunktur.  

Erstaunlich ist die grosse Empörung über die jüngsten Ereignisse. Als wäre zuvor alles friedlich und problemlos gewesen. Dabei ist kapitalistische Wirtschaftspolitik doch seit eh und je nichts anderes als eine andere Form von Krieg. Nur war es vorher nicht so augenfällig und offensichtlich. Indem Trump alles dermassen auf die Spitze treibt, öffnet er nun sozusagen auch noch den letzten gutgläubigen Verfechtern einer möglichst „freien“ Marktwirtschaft die Augen. Einer Wirtschaftsweise, die noch nie etwas anderes war als eine möglichst raffinierte Ausbeutung der Armen durch die Reichen, der Agrarländer durch die Industrieländer, des Südens durch den Norden, der Natur durch die Menschen, der Arbeit durch das Kapital.

Kapitalistische Wirtschaftspolitik ist nichts anderes als eine andere Art von Krieg. Eine scheinbar harmlosere, in Tat und Wahrheit aber mit noch viel zahlreicheren Opfern, als es „richtige“ Kriege fordern. Denken wir nur an die zurzeit weltweit wütenden rund 60 Kriege. Fast in jedem dieser Kriege geht es um Rohstoffe und Bodenschätze und darum, dass der gegenseitige Kampf um diese Güter mit immer härteren Bandagen ausgefochten werden muss, weil einerseits die Weltwirtschaft weiterhin ungebremst wachsen soll, anderseits aber die hierfür notwendigen Ressourcen gleichzeitig immer knapper werden. Oder denken wir daran, dass jeden Tag weltweit rund 15‘000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben – nicht weil insgesamt zu wenig Nahrung vorhanden wäre, sondern nur, weil die Güter nicht dorthin wandern, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo sie möglichst gewinnbringend verkauft werden können. Nicht einmal alle Kriege weltweit zusammen fordern auch nur annähernd so viele Opfer wie die auf reine Profitmaximierung ausgerichtete Verteilung der vorhandenen Nahrungsmittel. Und all dies geschieht ganz still und heimlich und ohne dass es in der Öffentlichkeit auch nur ansatzweise jene Empörung auslösen würde, die sich zurzeit angesichts der „zerstörerischen“ Wirtschaftspolitik von Donald Trump manifestiert.

Aus einer kriegerischen Wirtschaftspolitik wird noch lange nicht eine friedliche, indem Zölle wieder auf ein „vernünftiges“ Mass hinunterschraubt, immer mehr bilaterale Freihandelsabkommen abgeschlossen oder dem globalen Warenfluss weniger Hindernisse in den Weg gestellt werden. Von einer wirklich friedlichen und gerechten Wirtschaftspolitik könnten wir erst dann sprechen, wenn ihre Grundlage nicht mehr das Recht der Stärkeren und der gegenseitige Konkurrenzkampf um Macht und Profite wäre, sondern das Wohlergehen aller durch eine möglichst gerechte Verteilung sämtlicher vorhandener Güter nicht nur für die heute lebenden, sondern auch alle zukünftigen Generationen.

Zunehmende Kriegseuphorie in Europa: Wer bedroht eigentlich wen?

„Es ist leichter, eine Lüge zu glauben, die man tausendmal hört, als die Wahrheit, die man nur einmal hört.“ Diese Worte des früheren US-Präsidenten Abraham Lincoln könnten in Anbetracht der zurzeit europaweit aufkommenden Kriegseuphorie aktueller nicht sein. Das tausendfach an allen Ecken und Enden verbreitete Bild vom „Aggressor Russland“ scheint sich bereits dermassen tief in den Köpfen der grossen Mehrheit der Bevölkerung verfestigt zu haben, dass gar nicht mehr darüber diskutiert wird, ob dieses Bild überhaupt stimmt, sondern nur noch darüber, was getan werden muss, um diesem „Aggressor“ möglichst rasch, wirkungsvoll und nachhaltig Einhalt zu gebieten, selbst auf die Gefahr hin, dass Abertausende von Menschen dies mit ihrem Leben bezahlen müssen.

Die Kriegstreiber scheinen, massiv unterstützt von den allermeisten Medien, derzeit auf Kurs zu sein. Doch liesse man sie gewähren, könnte es im schlimmsten Fall zu einer Katastrophe dermassen gigantischen Ausmasses kommen, dass wir uns deren Folgen gewiss auch nicht im Entferntesten vorzustellen vermögen. Um dies zu verhindern, muss alles getan werden, um die Kriegstreiber rechtzeitig zu stoppen. Oder, wie es der US-amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King sagte: „Jene, die den Frieden lieben, müssen sich ebenso wirkungsvoll organisieren wie jene, die den Krieg lieben.“

„Wenn wir uns Kriege ansehen, über die wir mehr wissen, zeigt sich, dass die Menschen vor allem wegen erfundener Geschichten gegeneinander kämpfen“, so der israelische Schriftsteller Yuval Noah Harari. Es bedarf daher, damit der Ukrainekonflikt nicht zu einem Flächenbrand mit unabsehbaren Folgen ausartet, an allererster Stelle der Entlarvung jener erfundenen Geschichte bzw. Lüge, wonach Russland der „Aggressor“ sei und der Westen sozusagen dessen „Opfer“, dem nichts anderes übrig bleibe, als sich gegen diesen „Aggressor“ unter Aufbietung aller seiner Kräfte zur Wehr zu setzen. Es gibt mehr als genug Argumente, um diese Lüge aufzudecken und die Frage aufzuwerfen, ob nicht sogar die genau gegenteilige Behauptung der tatsächlichen Wahrheit möglicherweise viel näher käme. Dies liesse sich dann sogar auch noch ganz simpel mit jener psychologischen Binsenweisheit erklären, wonach die eigene Denkensart und Verhaltensweise häufig in den vermeintlichen „Gegner“ hineinprojiziert wird und man ihm genau das zur Schuld legt, was man eigentlich ehrlicherweise sich selber zur Schuld legen müsste.

Hierzu im Folgenden einige Zitate, die dermassen selbstredend sind, dass sie keines weiteren Kommentars bedürfen.

„Um Amerikas Vormachtstellung in Eurasien zu sichern, braucht es die NATO-Osterweiterung. Eurasien ist das Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um die globale Vorherrschaft abspielen wird.“ (Zbignew Brzezinski, US-Politberater 1977-1981)

„Liebe Amerikaner, es ist mir ein Vergnügen, Ihnen heute mitzuteilen, dass ich ein Gesetz unterzeichnet habe, das Russland für vogelfrei erklärt. Wir beginnen mit der Bombardierung in fünf Minuten.“ (Am 11. August 1984 als „Witz“ gemeinte Aussage des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, der die Sowjetunion stets als das „Reich des Bösen“ zu bezeichnen pflegte und später einräumte, dieser „Witz“ hätte durchaus seiner Denkensart entsprochen)

„Die neue Weltordnung wird gegen Russland errichtet, auf den Ruinen Russlands und auf Kosten Russlands.“ (Zbigniew Brzensinski am 4. Juni 2009)

„Russlands Bodenschätze sind zu gewaltig, als dass sie den Russen allein gehören dürfen.“ (Madeleine Albright, US-Aussenministerin 1997-2001)

„Ziel der USA ist Russlands Spaltung und Zerfall.“ (Ben Hodges, ehemaliger Befehlshaber der US-Armee in Europa)

„Die USA müssen in jeder Region der Welt die militärische Vormachtstellung innehaben und den aufstrebenden regionalen Mächten entgegentreten müssen, die eines Tages die globale oder regionale Vorherrschaft der USA herausfordern könnten, vor allem Russland und China. Zu diesem Zweck sollte das US-Militär in Hunderten von Militärstützpunkten auf der ganzen Welt in Stellung gebracht werden und die USA sollten darauf vorbereitet sein, bei Bedarf Kriege nach Wahl zu führen. Die Vereinten Nationen sollen von den USA nur dann genutzt werden, wenn dies für ihre Zwecke nützlich ist.“ (Paul Wolfowitz, ehemaliger US-Unterstaatssekretär und persönlicher Berater von Präsident George W. Bush)

„Denken Sie daran, wir haben acht Jahre damit verbracht, diese Armee in der Ukraine zu dem einzigen Zweck aufzubauen, um Russland anzugreifen. Dafür wurde sie entwickelt. Deshalb haben die Russen sie angegriffen.“ (Douglas McGregor, ehemaliger US-Sicherheitsberater und pensionierter US-Colonel)

„Seit 2014 haben wir die Ukraine massiv mit Waffen versorgt. Das ist natürlich eine sehr bewusste, starke Provokation. Es war uns bewusst, uns in einen Bereich einzumischen, den jeder russische Führer als untragbar ansehen muss.“ (Jens Stoltenberg, ehemaliger NATO-Generalsekretär)

„Mit einem Bruchteil des amerikanischen Verteidigungsbudgets konnten wir die russische Armee erheblich beschädigen und degradieren. Und deshalb sollten wir damit auch weitermachen.“ (Jens Stoltenberg)

„Ich hätte nicht gedacht, das einmal sagen zu müssen: Aber wir werden Russland noch einmal so niederringen müssen, wie wir das im Kalten Krieg mit der Sowjetunion gemacht haben.“ (Sigmar Gabriel, ehemaliger Bundesvorsitzender der SPD und deutscher Vizekanzler)

„Der Krieg muss nach Russland getragen werden. Russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere müssen zerstört werden. Wir müssen alles tun, damit die Ukraine in die Lage versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern Ministerien, Kommandoposten, Gefechtsstände.“ (Roderich Kiesewetter, CDU-Politiker)

„Wir haben einen Krieg begonnen, wie ihn die Welt seit 60 Jahren nicht mehr gesehen hat.“ (Yevhen Karas, ukrainischer Ultranationalist)

„Wir müssen die Wahrheit sagen. Amerika steht nicht aus Nächstenliebe an der Seite der Ukraine, sondern weil es in unserem strategischen Interesse ist.“ (US-Vizepräsidentin Kamala Harris am 15. Juni 2024)

„Die USA werden ihre Söhne und Töchter in den Krieg senden müssen, so wie wir unsere Söhne und Töchter in den Krieg senden, und diese werden kämpfen und sterben müssen.“ (Wolodomyr Selenskyi, Präsident der Ukraine)

„Unsere Sanktionen werden die russische Wirtschaft ruinieren.“ (Analena Baerbock, deutsche Aussenministerin)

„Ich würde einen Atomschlag gegen Russland durchführen, auch wenn das Ergebnis eine totale Vernichtung wäre.“ (Liz Truss, britische Premierministerin 2022)

„Die Russen sind Schweine, Hunde, Verbrecher, Tiere, Unrat und Barbaren, die in der Hölle brennen sollen.“ (Serhij Zhadan, in seinem Buch „Himmel über Charkiw“, welches mit dem Friedenspreis 2022 des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde)

„Alles, was russisch ist, muss verschwinden. Die russische Sprache, die russische Kultur, die russische Geschichte. Alle, die meinen, sie hätten das Recht, in der Ukraine Russisch zu sprechen, müssen das Land verlassen.“ (Vlad Omelyan, ukrainischer Minister für Infrastruktur)

„Hat denn Europa jemals nicht feindselig auf uns Russen geblickt, kann es das überhaupt?“ (Fjodor Michailowitsch Dostojewski, russischer Schriftsteller, in „Tagebuch eines Schriftstellers“)

„Russland wird immer ein Feind für uns bleiben.“ (Johann Wadephul, CDU-Politiker und Anwärter auf das deutsche Aussenministerium, am 30. April 2025)

Ein Sportkletterer auf dem Weg zur Sonne: Die Wahrheit erfuhr er erst, als es schon zu spät war…

Du warst noch nicht einmal vier Jahre alt, als du zum ersten Mal mit deiner Mutter und deinem älteren Cousin in der Kletterhalle standst. Was der grosse Cousin kann, wolltest du auch können, das war immer schon so, seit du auf der Welt warst. Da kann die Mutter noch lange sagen, du wärest dafür noch viel zu klein, das muss man dir nur einmal sagen und du wirst alles daran setzen, ihr das Gegenteil zu beweisen. Nur schon die unendlich scheinende Höhe der Kletterhalle forderte dich auf erobert zu werden. Du wirst noch in der folgenden Nacht von ihr träumen und dich zur nächsten Wolke hinaufhangeln, bis in den Himmel, bis zum Mond, bis zur Sonne…

Zehn Jahre später gehörst du zum Kader der Sportkletterer deiner Nation, auf halbem Weg zwischen jenem ersten Tag in der Kletterhalle und der Sonne. Sechs Stunden pro Tag umfasst das Training mittlerweile, weniger wäre nicht genug, um aus deinen Fingern jene übermenschlichen Kräfte herauszupressen, die es braucht, um der Sonne Tag um Tag ein bisschen näher zu kommen.

Wieder zwei Jahre später bist du der beste Kletterer deiner Nation, gewinnst einen World Cup nach dem anderen und qualifizierst dich sogar für Olympia. Du hast schon Hunderttausende von Followern auf Instagram und Facebook und es werden täglich mehr. Die Sonne kommt immer näher und ist doch noch unendlich weit entfernt. Doch immer öfters, ob du willst oder nicht, gibt es Tage, an denen wärst du am liebsten wieder jenes Kind am ersten Tag in der Kletterhalle. Und manchmal fragst du dich, ob es wohl wirklich eine gute Idee gewesen war, alles daran zu setzen, auf den Spuren deines Cousins in den Himmel hinaufsteigen zu wollen. Aber der Gedanke tut so weh, dass du ihn gleich wieder verscheuchst wie eine lästige Fliege. Denn das würde ja bedeuten, dass alles Leiden vergebens gewesen wäre und bloss verlorene Zeit. Und so kletterst du weiter, Griff um Griff, auch wenn die Abstände zwischen ihnen immer grösser werden und es einer immer gewaltigeren Anstrengung bedarf, um der Sonne auch nur ein paar weitere Millimeter näher zu kommen. Ob du es in deinem Leben jemals schaffen wirst? Oder ob das Leben vielleicht plötzlich zu Ende sein wird, bevor du etwas anderes davon gehabt hast als diese fast unerträglichen Schmerzen in den Fingern, die dich jetzt immer öfters schon quälen durch den ganzen Körper hindurch bis hinunter in die äussersten Enden deiner Zehen?

Denn da sind ja auch noch zahllose andere, die genau das Gleiche wollen wie du. Die links und rechts neben dir wie du der Sonne entgegen streben, unter Aufbietung aller ihrer Kräfte, erbarmungslos anderen und sich selber gegenüber. Gnadenlos. Sie würden dir sogar mit ihrem vollen Gewicht auf deine Hand treten und es nicht einmal bemerken, so sehr hat sie der gegenseitige Konkurrenzkampf unempfindlich gemacht gegenüber den Schmerzen anderer. Es ist verrückt. Vor und nach den Wettkämpfen scherzt und plaudert ihr zusammen und seid die besten Freunde. Während des Wettkampfs aber verwandelt ihr euch gegenseitig in die ärgsten Feinde, so dass du sie manchmal vor lauter Schmerzen, die sie dir, ohne es zu wollen, zufügen, richtiggehend zu hassen beginnst – die zwangsläufigen Folgen des Konkurrenzprinzips, um das sich alles dreht, sozusagen das Heilige, nicht in Frage zu Stellende, widerspruchlos zu Akzeptierende, das jeglichem Spitzensport erst seinen scheinbaren Sinn zu verleihen verspricht, nicht nur beim Sportklettern, auch beim Kunstturnen, beim Skirennsport, beim Rudern, im Tennis, überall. Ein unaufhörlicher Kampf aller gegen alle.

Doch der zerstörerische Konkurrenzkampf tobt nicht nur zwischen den einzelnen Kletterern, sondern gleichzeitig auch auf allen anderen Stufen der profitsüchtigen Ausbeutung junger Menschen ohne jegliche Grenzen. Auch die Sponsoren, die Medien, die Sportexperten, die Trainer, die Veranstalter der Wettkämpfe sind Teile davon. Besonders erbittert auch wird der Kampf geführt zwischen denen, welche die Parcours stecken. Ist es zufällig der Trainer eines besonders grossgewachsenen Kletterers mit überdurchschnittlicher Armlänge, welcher den betreffenden Parcours vorbereitet, wird er alles daran setzen, die Abstände zwischen den Haltegriffen innerhalb der vorgegebenen Normen so gross als möglich zu machen, sodass ein Kletterer mit kürzerer Armlänge kaum eine Chance hat, den jeweils nächsten Griff auch nur zu erlangen. Bis an die Grenzen des gesundheitlich gerade noch knapp Zumutbaren schrauben auch Ärzte, Gesundheitsberaterinnen, Physiotherapeuten und Psychologen an den Körpern der Sportler herum, als wären es Maschinen. Jedes Gramm des Körpergewichts wird auf die Waage gelegt, wenige Gramme zu viel oder wenige Gramme zu wenig werden in akribische und permanent peinlichst genau überwachte und kontrollierte Essenspläne umgemünzt.

Doch immer noch, denn es ist jetzt gerade dein einzig möglicher, unausweichlicher Weg, hievst du dich von der einen Wolke auf die nächste, immer weiter der Sonne entgegen, stärker und stärker vor Schmerzen brennend wie sie selber. Auf der nächsten Wolke sitzt ein dicker Mann mit Brille, der nur auf dich gewartet zu haben scheint. Er verkauft Sportartikel. Du kommst ihm wie gelegen. Er möchte deine Geschichte, deinen Kampf, deine Erfolge für seine nächste Werbekampagne, fuchtelt mit einem Bündel Hunderterscheine vor deinen Augen herum. Du sagst nicht nein, möchtest du doch unbedingt das Geld, das du dir von Bekannten und Verwandten im Laufe der letzten Jahre ausgeliehen hast, irgendwann wieder zurückzahlen.

Auf der nächsten Wolke sitzt schon eine ganze Gruppe von Menschen, die ebenfalls schon lange gierig auf dich gewartet zu haben scheinen: ein Versicherungsvertreter, ein TV-Reporter, eine Produzentin von Vitaminpräparaten, ein Immobilienhändler. Alle wollen etwas von dir bekommen und mit möglichst grossem Gewinn weiterverkaufen, als wollten sie dich bei lebendigem Leib zerreissen und jeder für sich alleine ein möglichst grosses Stück von dir in Besitz zu nehmen. Manchmal weisst du nicht mehr, wo dir die Sinne stehen. Und in alledem bist du so unendlich allein. Musst Entscheidungen treffen, ohne je auch nur im Entferntesten abwägen zu können, wohin dies alles führen mag.

Ohne dir dessen so ganz bewusst zu sein, bist du immer mehr zum gewaltsam angeeigneten Besitz anderer Menschen geworden. Immer weniger ist dein Leben wirklich noch dein eigenes, immer tiefer greifen andere in die täglichen Entscheidungen und in die zusehend winziger werdenden noch verbliebenen Freiräume deines Alltags ein. An welchen Wettkämpfen du teilzunehmen hast und an welchen nicht, dazu hast du schon längst nichts mehr zu sagen, du kennst nicht einmal mehr die Namen derer, die an irgendeinem weit entfernten Sitzungstisch irgendeines dir gänzlich unbekannten Sportverbands darüber entscheiden. Du musst grösste Distanzen zu den einzelnen Anlässen in Kauf nehmen, ohne je gefragt zu werden, ob du das überhaupt möchtest. Von anderen Wettkämpfen wirst du ausgeschlossen, obwohl du dir eine Teilnahme so sehnlichst gewünscht hättest – die Gründe dafür erfährst du nie, kommst dir vor wie eine Schachfigur, die von unsichtbaren Spielern über das Feld hin- und hergezogen wird. Du schläfst in fremden Hotelzimmern, hast niemanden zur Seite, verbringst Stunden voller Langeweile in irgendwelchen Wartesälen. Du wirst um vier Uhr morgens für eine Dopingkontrolle geweckt und wehe, du bist nicht an dem Ort aufzufinden, den du für genau diesen Zeitpunkt angegeben hast – du würdest auf der Stelle deine Lizenz verlieren und auch sämtliche Sponsorengelder, du würdest von all den Wolken, auf die du dich über so viele Jahre hinweg mit allen dir zur Verfügung stehenden Kräften hochgehangelt hast, augenblicklich wieder bis ganz nach unten zurückfallen und alles wäre für nichts gewesen.

Um das Training zu intensivieren und der Sonne vielleicht doch noch ein wenig näher zu kommen, werden dir jetzt, während sich deine Fingerspitzen an die Haltegriffe klammern, immer schwerere Gewichte an den Körper gehängt. Bis du die Schmerzen nicht mehr aushältst und dein Arzt dir rät, eine längere Pause einzuschalten, denn sonst könnten die Wachstumsfugen zwischen den Fingern nicht mehr zusammenwachsen und es könnte zu lebenslang bleibenden Schäden kommen. Du stehst am Rande eines Abgrunds und hast nur zwei Wege vor dir, von denen beide in diesen Abgrund führen und keiner hinaus. Entweder brichst du jetzt die Reise zur Sonne ab und wirst kaum je wieder die Chance bekommen, an der gleichen Stelle später weiterzumachen, zu gross wird der Abstand zu deinen Konkurrenten in der Zwischenzeit geworden sein, zu unaufholbar der Trainingsrückstand. Oder du nimmst es bewusst in Kauf, deinen Körper für immer zu zerstören.

In den Fabrikgesetzen des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde Kinderarbeit verboten, vor allem bis zu einem Alter von sieben Jahren, Arbeitszeiten von über zehn Stunden waren nicht erlaubt, ebenso wenig wie Arbeit an Sonn- und Feiertagen. Heute trainieren schon vierjährige zukünftige Kletterinnen und Kletterer bis zu zwanzig Stunden an sieben Tagen pro Woche, ab sechs Jahren kommt dann noch ein volles Schulpensum dazu, mit bis zu zwei Stunden Hausaufgaben pro Tag. Siebenjährige müssen schon morgens um fünf, drei Stunden vor Schulbeginn, zum Schwimmtraining antreten und Länge um Länge absolvieren bis zur Erschöpfung, lautstark angetrieben von ihren Trainerinnen und Trainern, die mit ihren Stoppuhr in der Hand dem Schwimmbecken entlang gehen. Neunjährige zukünftige Kunstturnerinnen und Kunstturner werden von ihren Trainern als Weichlinge beschimpft, wenn sie sich weigern, mit einem gebrochenen Knöchel weiter zu trainieren. Arbeitszeiten, welche die Arbeitszeiten der meisten Erwachsenen um bis zum Doppelten übersteigen. Kinderarbeit. Sonntagsarbeit. Und Nachtarbeit, wenn dann zu alledem noch für die Englisch- oder Mathematikprüfung des folgenden Tages so lange gebüffelt werden muss, bis das Kind vor Erschöpfung buchstäblich vom Stuhl fällt, zugleich noch begleitet von der Angst, sich durch ungenügende Schulleistungen möglicherweise eine Zukunft jenseits des Spitzensports, in fünf oder zehn Jahren, für immer zu vermasseln. Doch damit immer noch nicht genug. In jedem anderen gesellschaftlichen oder privaten Umfeld würde man, wenn Kindern und Jugendlichen das angetan würde, was man minderjährigen zukünftigen Spitzensportlern und Spitzensportlerinnen in Form von falschen Hoffnungen und Versprechen, Demütigungen, Übergriffen, Fremdbestimmung, Eingriffen in ihre körperliche und seelische Entwicklung und Vermarktung ihrer Körper und ihres Aussehens antut, von „Kindsmissbrauch“ sprechen, die hierfür Verantwortlichen mit entsprechenden Strafen zur Rechenschaft ziehen und auch vor all den Vätern und Müttern nicht Halt machen, die sich bloss über die sportlichen Erfolge ihrer Kinder zu definieren trachten und tatenlos zuschauen, wie diese schon im Alter von fünf oder sieben Jahren bis aufs Blut gequält werden. Nur die ungeschriebenen Gesetze des Spitzensports erlauben einen geradezu unerklärlichen Rückfall um Jahrhunderte, als handle es sich um eine Art von Religion, die jegliche Vernunft und Menschenliebe ausschaltet. Wir sind zwar entsetzt darüber, dass die südamerikanischen Inkas vor 3000 Jahren ihre eigenen Kinder dem Gott der Sonne opferten. Aber 3000 Jahre später opfern wir unsere eigenen Kinder noch immer dem gleichen Gott und schicken sie auf Reisen zur Sonne, auf denen viel zu viele von ihnen scheitern, zerbrechen und gezwungen sind, ihre Kindheitsträume von einem fröhlichen, unbeschwerten, lustvollen Leben für immer zu begraben.

Als du in einem Interview sagst, dass es deiner Seele nicht gut gehe, wirst du von den Verbandsverantwortlichen aufs heftigste zurückgepfiffen und mit gröbsten Vorwürfen eingedeckt. Mit einer solchen Offenheit würdest du dir bloss das Grab schaufeln, heisst es. Und: „Leute, die immer wieder Tiefs haben, können wir nicht brauchen.“ Dein Cousin meint, nun sei es endgültig Zeit zum Aufhören.

Jetzt bist du nicht mehr ein Teil davon. Burnout nennt man es. Und verbindet damit meistens die Vorstellung, dass der betreffende Mensch überfordert war und die an ihn gestellten Anforderungen nicht zu bewältigen vermochte. Nur selten wird gesagt, dass diese Anforderungen von Anfang an so vermessen waren, dass sie gar nicht, auch nicht mit grenzenloser, übermenschlicher Anstrengung, bewältigt werden konnten. Als du zuoberst auf dem Podest standst, erschien dein Bild in allen Zeitungen und jeden Tag wuchs die Zahl deiner Follower. Jetzt, wo du alleine tief in deinem Bett liegst, alles nur noch grau und schwarz ist, alle Jalousien auch tagsüber tief heruntergezogen sind und ohrenbetäubende Musik all deine Sinne zudröhnt, spricht kein Mensch mehr von dir.

Ob du damals als Dreijähriger auch deinem Cousin gefolgt wärest, wenn man dir die Wahrheit gesagt hätte und du gewusst hättest, wo deine Reise zur Sonne enden würde?

Chantal, 15, aus Angola: Die Sonne Afrikas im Appenzellerland

Chantal war vier und ihr Bruder Léo zwei Jahre alt, als die Polizei ihre Mutter zum ersten Mal ins Gefängnis holte. Das war in Luanda, der Hauptstadt Angolas, im Herbst 2013. Die Mutter war fünf Jahre zuvor aus dem Kongo, wo seit über 30 Jahren ein unvorstellbar grausamer Krieg wütet und wo sie nicht nur ihre Eltern, sondern auch die ganze übrige Verwandtschaft verloren hatte, nach Angola geflüchtet. Dort kamen Chantal und Léo zur Welt. Der Grund dafür, dass die Mutter in Luanda in der Folge insgesamt fünf Mal über kürzere oder längere Zeit im Gefängnis sass, war nicht, dass sie etwas Unrechtes getan hätte. Der Grund war einzig und allein, dass sie eine Kongolesin ist. Und dass viele Menschen in Angola Menschen aus dem Kongo hassen. Und dass Nachbarn nur genug lange und genug oft über andere Menschen Schlechtes reden müssen, und dass das dann schon genügt, dass eines Nachts die Polizei in dein Haus einbricht und du die nächsten Tagen und Wochen hinter Gittern verbringst.

Die Kinder waren, während die Mutter im Gefängnis sass, gänzlich auf sich alleine gestellt. Manchmal halfen ihnen Leute, manchmal nicht. Manchmal fanden sie in einem Haus Unterschlupf, manchmal lebten sie einfach auf der Strasse, bettelten um Essen. Ausser einem Kehrichtsack besassen sie nichts, um sich in der Nacht gegen die Kälte zu schützen. In einem Land, wo Gewalt gegen Frauen und Kinder nicht die Ausnahme ist, sondern die ganz „normale“, alltägliche Regel.

Chantal war fünf Jahre alt, als sie das Schlimmste erlebte, was ein Kind in diesem Alter erleben kann. Es war so schlimm, dass sie es bis heute, zehn Jahre später, noch nie jemandem erzählt hat, nicht einmal ihrer eigenen Mutter. Und es war so schlimm, dass sie noch heute immer wieder mitten in der Nacht aufwacht und zitternd und schweissgebadet im Bett liegt und sich genau so fühlt, wie sie sich damals gefühlt hatte.

In dieser Zeit war der Vater von Chantal und Léo schon längst bei einer anderen Frau. Mit dieser hatte er vier weitere Kinder und dann mit zwei weiteren Frauen noch einmal sieben weitere Kinder.

Als Chantal sieben und Léo fünf Jahre alt waren, beschloss die Mutter, mit ihren Kindern Angola zu verlassen und in Europa Schutz zu suchen. Der Landweg kam nicht in Frage, es sind bis zum Mittelmeer über 6000 Kilometer, durch Länder, wo in zahlreichen Regionen Krieg herrscht und insbesondere Flüchtlinge alltäglicher Gewalt schutzlos ausgeliefert sind. Fast ein halbes Jahr verkaufte die Mutter von früh bis spät auf dem Markt Gemüse und Früchte, bis sie das nötige Geld für einen Flug in die Schweiz beisammen hatte. Doch es war nicht genug, um beide Kinder mitzunehmen. Sie musste sich entscheiden, welches der beiden Kinder sie mitnehmen und welches sie seinem Schicksal überlassen wollte. Da für elternlose Mädchen die Gefahr, früher oder später in die Gewalt von Menschenhändlern zu geraten und sexueller Ausbeutung ausgeliefert zu sein, ungleich viel grösser ist als für Knaben, entschloss sie sich, die siebenjährige Chantal mitzunehmen und den fünfjährigen Léo einer Nachbarin zur Obhut zu überlassen.

Das Asylverfahren in der Schweiz zog sich über mehrere Jahre hinweg. Während dieser Zeit schwebten Chantal und ihre Mutter beständig zwischen der Hoffnung, in der Schweiz bleiben zu können, und der Angst, nach Angola zurückgeschafft zu werden, hin und her. Dazu kam die quälende Ungewissheit, wie es Léo ging und ob er überhaupt noch lebte.

Es kam, wie Chantal und ihre Mutter trotz aller zeitweiliger Hoffnungen es insgeheim befürchtet hatten: Ihr Asylgesuch wurde abgelehnt. Sie wurden in ein Flüchtlingsheim eingewiesen, wo ausschliesslich Asylsuchende untergebracht sind, die bereits einen negativen Entscheid bekommen haben, aber aus unterschiedlichen Gründen noch nicht in ihr früheres Heimatland ausgeschafft werden können, sei es, weil es die dortigen Zustände nicht zulassen, oder weil das betreffende Land nicht bereit ist, sie zurückzunehmen. Über 80 Männer, Frauen und Kinder leben dort auf engstem Raum, oft über Jahre hinweg, und jeden Abend, wenn sie sich zur Ruhe legen, wissen sie nicht, ob nicht schon in der gleichen Nacht Polizisten auftauchen, sie aus ihren Betten reissen und zu einem Flugzeug bringen werden, mit dem sie das Land ihrer letzten Hoffnung für immer verlassen müssen.

Und genau das geschah in dieser Nacht, vor etwa drei Jahren, Chantal war jetzt zwölf Jahre alt. Drei Polizisten kamen und rissen die Mutter und das Kind morgens um vier aus ihren Betten und führten sie in Handschellen ab, als wären sie Schwerverbrecher. Man sieht die Narben, welche die Handschellen an den Armen des Mädchens hinterlassen haben, noch heute.

Doch die drei Polizisten hatten nicht mit der Kraft einer 37jährigen Kongolesin gerechnet, die nichts mehr zu verlieren hat. Als die Polizisten sie und Chantal ins Flugzeug zu schieben versuchten, bäumte sie sich auf wie ein tödlich verwundetes Tier, es gelang den Polizisten trotz Aufbietung aller ihrer Kräfte nicht, die Mutter und das Kind in ihre Gewalt zu bringen. Als die Mutter bereits am ganzen Körper blutete, gaben die Polizisten auf. Das ist die sogenannte „Stufe 1“. Es gibt eine gesetzlich festgeschriebene Linie, welche die Polizisten in dieser Phase einer versuchten Ausschaffung von Gesetzes wegen nicht überschreiten dürfen.

Was Chantal und ihre Mutter nicht wussten: Zur gleichen Zeit, als dies geschah, befand sich Léo auf dem Weg in die Schweiz. Ein Familienvater in Angola hatte sich des verlorenen Kindes angenommen und ihm ein Flugbillett in die Schweiz bezahlt. Drei Wochen später hatte er seine Mutter und seine Schwester gefunden. Es sei, sagte Chantal, der glücklichste Tag ihres Lebens gewesen.

Seither geht das bange Warten weiter, die schlaflosen Nächte, die Erinnerungen an Dinge, an denen fünf- oder siebenjährige Kinder eigentlich zerbrechen müssten, wenn da nicht irgendeine unerklärliche Kraft wäre, die ihnen hilft, das alles zu überleben. Die Panikattacken, die Chantal noch vor einem Jahr fast täglich hatte, überfallen sie jetzt nur noch alle zwei oder drei Wochen. Geholfen hat ihr wohl auch sehr, dass sie alle Kinder und Jugendlichen im Heim so lieben. Sie ist die gute Seele für alle. Keine, auch nicht die professionellen Flüchtlingsbetreuerinnen im Heim, spürt so schnell, wenn es anderen nicht gut geht, und keine ist so schnell mit Aufmerksamkeit, Trost und Liebe zur Stelle.

Glücklicherweise hat sich ein engagierter Anwalt ihres Verfahrens angenommen, das jetzt in Form eines Wiedererwägungsgesuchs auf Asyl beim Bundesverwaltungsgericht liegt. Niemand weiss, wie lange es geht, bis der definitive Entscheid vorliegt, gegen den es dann endgültig keine Rekursmöglichkeit mehr gibt.

Letzten Dienstag war Chantal zum vierten Mal bei mir in der Deutschstunde. Da sie nun schon seit acht Jahren in der Schweiz ist und im Flüchtlingsheim täglich an einer Lerngruppe teilnimmt, sind ihre Deutschkenntnisse, was das Mündliche betrifft, hervorragend, zudem versteht sie Schweizerdeutsch problemlos. Einzig beim Lesen und Schreiben hapert es noch, da scheinen noch Blockierungen vorzuliegen, die möglicherweise mit ihren traumatischen Kindheitserlebnissen zusammenhängen. Aber sie macht Fortschritte, ihr Selbstvertrauen ist im Wachsen begriffen. Und ja, ich habe ihr auch gesagt, was für ein Genie sie ist, was für eine Sprachkünstlerin, und wie ich das bewundere und sie mich, obwohl ich ein ausgebildeter Sprachlehrer bin, bei Weitem übertreffe . Die 15Jährige beherrscht fünf Sprachen, drei davon nahezu perfekt. Lingali, eine afrikanische Ursprache. Portugiesisch, weil sie in Angola aufgewachsen ist. Französisch, die Sprache ihrer Mutter aus dem Kongo. Englisch, das sie im Internet selber gelernt hat. Deutsch, weil sie den grössten Teil ihres Lebens in der Schweiz verbracht hat. Und dann hat sie mir sogar noch gesagt, dass sie, wenn jemand Italienisch oder Spanisch spreche, fast alles verstehe.

Gestern war sie wieder bei mir, hat ein selber gemaltes Bild mitgebracht und mir geschenkt: Ein Landschaftsbild, im Vordergrund schwarze Erde, schwarze Blumen, schwarze Bäume, darüber schwarze Wolken. Im Hintergrund: Ein leuchtender gelboranger Himmel, eine riesige gelbe Sonne. Jedes Wort, die Bedeutung des Bildes zu erklären, wäre eines zu viel.

Anschliessend haben wir in ihrem speziell für anderssprachige Kinder konzipierten Deutschbuch weitergearbeitet. In einer der Übungen musste sie Fragen zu ihrer Person beantworten, Name, Alter und so weiter. Dann die Frage: „Wo bist du geboren?“ Und auf die Linie, wo andere Kinder vielleicht den Namen einer albanischen Stadt oder eines afghanischen Dorfes schreiben, hat sie geschrieben: „Auf der Strasse.“

Heute Morgen sitzen wir im Zug Richtung St. Gallen, um dann von dort nach Stein im Kanton Appenzell weiterzufahren, wo auf zehn Uhr ein Vorstellungsgespräch abgemacht ist, nachdem Chantal letzte Woche ihre Bewerbungsunterlagen für eine zweijährige Lehre als Angestellte für Gesundheit und Soziales (AGS) an das dortige Altersheim geschickt hat. Es ist das vierte Vorstellungsgespräch innerhalb der letzten zwei Wochen. Auch konnte sie schon an mehreren Stellen schnuppern. Eine Zusage aber hat sie zurzeit noch nicht. So reifeln wir mittlerweile alle paar Tage quer durch die Kantone St. Gallen und Appenzell, ich begleite sie immer und auf den Wegen und in den Zeiten zwischendurch erzählt sie mir ihr ganzes Leben. Wir sind schon ein richtig gut eingespieltes Team.

Noch bevor wir in St. Gallen ankommen, erhält Chantal auf ihrem Smartphone eine Nachricht: Lehrstelle in Stein abgesagt. Ein weiterer Hoffnungsschimmer ist zerschlagen. In St. Gallen also einfach umsteigen und wieder nachhause statt nach Stein fahren? Ich rufe im Altersheim Stein an. Ob es möglicherweise ein Missverständnis sei? Chantal hätte ja heute einen Termin für ein Vorstellungsgespräch. Es tue ihm leid, so der Mann am Apparat, aber die Heimleitung hätte heute Morgen angesichts der so zahlreichen Bewerbungen eine Vorauswahl treffen müssen. Aber wenn wir ja jetzt schon auf dem Weg seien, würde er nochmals fragen und mir so schnell wie möglich Bescheid geben. Und tatsächlich, fünf Minuten später: Es sollte ja nicht sein, dass wir vergeblich die Fahrt auf uns genommen haben. Wir sollen kommen. Was für eine Erleichterung.

Als wir das Altersheim betreten, ruft Chantal, wie überall bei unseren bisherigen Besuchen, den in ihren Rollstühlen sitzenden oder an Stöcken gehenden Menschen ihr so unbeschreiblich warmes und fröhliches „Hallo“ zu, so dass die Leute gar nicht anders können, als ihr eben noch fest verschlossenes Gesicht zu öffnen und der jungen Afrikanerin ebenso warm und fröhlich entgegenzulachen. Da kommt sie, niemand kennt sie, und wie eine Zauberfee verwandelt sie tiefe Trübseligkeit innerhalb weniger Augenblick in hellste Freude.

Am Tisch sitzen drei für die Lehrlingsausbildung zuständige Pflegefachfrauen und begutachten Chantal zunächst etwas skeptisch. Wir erfahren den Grund für die Absage heute Morgen: Sie sei vorgenommen worden aufgrund der eingereichten Schulzeugnisse. Und da in Chantals Zeugnis bei den einzelnen Fächern keine Noten stehen, sondern nur das Wort „besucht“, hätte man angenommen, ihre schulischen Leistungen seien so schlecht, dass man ihr gar keine Noten hätte geben können. Ich erkläre den drei Frauen, dass es in der Heimschule keine eigentlichen Klassen gäbe, sondern nur eine Lerngruppe mit Kindern und Jugendlichen unterschiedlichsten Alters und daher auch keine vergleichenden Prüfungen und Noten. Dass aber Chantal über hervorragende Deutschkenntnisse verfüge und weitere vier Sprachen nahezu perfekt beherrsche, zudem sehr ehrgeizig, lernfreudig und neugierig sei und beim Lernen rasch Fortschritte mache und im Flüchtlingsheim wegen ihrem fröhlichen Wesen und ihrer Fürsorglichkeit bei sämtlichen Bewohnerinnen und Bewohnern überaus beliebt sei. Die Gesichter der drei Frauen hellen sich unverkennbar nach und nach auf.

Auf die Frage, weshalb sich Chantal ausgerechnet für diesen Beruf interessiere, sagt sie, sie hätte in ihrem Leben schon so viel Schlimmes erlebt, dass sie einfach alles daran setzen möchte, andere Menschen so glücklich zu machen wie nur irgend möglich. Und wieder, wie so oft in den letzten Tagen, frage ich mich, woher diese Kraft und diese Überfülle an Liebe aus einer 15jährigen Jugendlichen kommen mag, die in ihrem Leben bisher schon so viel unvorstellbar Schlimmes erleiden musste, dass sie nicht einmal ihrer eigenen Mutter alles davon zu erzählen vermochte. Und wieder finde ich auf diese Frage keine Antwort.

Und dann sagt sie etwas, was ich ganz gewiss nie mehr in meinem ganzen Leben vergessen werde: „Ich möchte einfach diesen Menschen, bevor sie sterben, ein Lächeln mitgeben, das sie dann mitnehmen können in ihr nächstes Leben, um dieses möglichst gut zu beginnen.“ Die erste der drei Pflegefachfrauen macht sich, sichtlich gerührt, Notizen, die zweite wischt sich eine Träne aus dem Gesicht und die dritte sagt: „Du kannst nächste Woche zwei Tage zu uns schnuppern kommen, wir nehmen dich in unsere engste Auswahl.“ Für einmal ist die Menschlichkeit stärker gewesen als alles andere.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle verströmt Chantal weiterhin ihre Heiterkeit. Selbst einer Gruppe von Bauarbeitern unweit der Strasse ruft sie ihr unwiderstehliches „Hallo“ zu. Und, so etwas habe ich noch nie erlebt: Der eine von ihnen, der sich in diesem Moment wegen einer Schaufel, die er in die Hand nahm, von unseren Blicken abgewendet hat, dreht sich um, ruft „Hallo“ zurück und entschuldigt sich sogar, dass er sich gerade abgewendet und nicht sofort zurückgerufen habe.

Und so geht es weiter. Auch ein paar Kinder am Strassenrand lächeln Chantal zurück, auch ein jüngerer Mann, der stechenden Schrittes mit einer Aktenmappe unter dem Arm die Strasse überquert. Am liebsten würde ich jetzt, wenn ich genug Zeit hätte, ein ganzes Buch schreiben. Den Titel wüsste ich schon: „Die Sonne Afrikas im Appenzellerland“.

Auf dem weiteren Weg plaudert Chantal wie ein nie versiegender Bergbach weiter. Nichts hasse sie so wie den Krieg. Und nichts liebe sie so wie Menschen, die einfach so seien, wie sie am liebsten sein möchten: Homosexuelle Männer liebe sie besonders, die würden sich so elegant bewegen, aber auch alle anderen, die sich nicht von anderen unterkriegen lassen, denn niemand solle anderen vorschreiben oder dazu zwingen, wie sie zu leben hätten, das müsste jeder Mensch ganz alleine für sich selber entscheiden. Und so weiter und so vieles mehr, ein Füllhorn von 15 Jahren Lebenserfahrung, die wohl die allermeisten Menschen hierzulande nicht einmal im Alter von 90 oder 100 Jahren je auch nur annähernd erreicht haben werden und von der wir so unermesslich privilegierten Menschen so unglaublich viel lernen könnten.

Wir haben in den nächsten Tagen weitere Vorstellungsgespräche und Schnuppertermine vor uns. An fünf Orten ist Chantal mittlerweile in der engsten Auswahl. Meine anfängliche Angst hat zunehmend einem stärker werdenden Optimismus Platz gemacht. Wenn Chantal auf diesen Sommer einen Lehrvertrag hat, ist die Chance gross, dass sie, ihre Mutter und ihr Bruder dauerhaft in der Schweiz bleiben können.

Wenn nicht, könnte ein definitiv negativer Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts dazu führen, dass „Stufe 2“ in Kraft tritt. „Stufe 2“ bedeutet: Es kommen nicht nur drei Polizisten, sondern mindestens zehn. Und Chantal, Léo und ihre Mutter werden nicht in Handschellen abgeführt, sondern am ganzen Körper so gefesselt, dass selbst der stärkste Mann der Welt nicht die geringste Chance hätte, sich daraus zu befreien.

Im Jahre 2024 wurden aus der Schweiz 7205 Asylsuchende in ihre Heimatländer zurückgeschafft, ein Drittel freiwillig, zwei Drittel mit Gewalt, das waren etwa zwölf an jedem einzelnen Tag dieses Jahres. SP-Bundesrat und Justizminister Beat Jans, zuständig für die schweizerische Asylpolitik, sagte am 23. Januar 2025: „Wir sind in verschiedenen Bereichen den europäischen Ländern deutlich voraus. Wir haben in diesem Jahr 25 Prozent aller Pendenzen abbauen können. Auch die Rückkehrzahlen steigen, mit einer Rückführungsquote von annährend 60 Prozent steht die Schweiz in Europa an der Spitze. Das Staatssekretariat für Migration SEM macht eine hervorragende Arbeit. Wir sind auf dem richtigen Weg. Doch wir sind noch nicht zufrieden. Der immer noch zu grosse Pendenzenberg muss rascher abgebaut werden.“

Fragst du Leute auf der Strasse, wie viele definitiv in der Schweiz aufgenommene Flüchtlinge auf 100 Personen der einheimischen Bevölkerung kommen, nennen die meisten von ihnen Zahlen zwischen 20 und 50. Einer sagte sogar, es gäbe in der Schweiz mehr Flüchtlinge als Einheimische und das Boot sei schon längst „übervoll“. Das ist das Resultat jahrelanger systematischer fremdenfeindlicher Politpropaganda. Tatsächlich kommt in der Schweiz auf 100 Einheimische nicht einmal ein einziger anerkannter Flüchtling mit Bleiberecht. Und allen Ernstes soll das reichste Land der Welt nicht einmal das verkraften können?

Während kein Mensch davon spricht, dass in einem Land wie dem Libanon tatsächlich auf 100 Einheimische 100 Flüchtlinge kommen, Bangladesch trotz bitterer Armut im eigenen Land allein im Jahre 2024 gleichzeitig mit einem der schlimmsten Zyklone aller Zeiten, verheerenden Überschwemmungen – über fünf Millionen Menschen mussten ihre Häuser verlassen -, einem Regierungsumsturz, politischen Unruhen und mit einem Zustrom von über einer Million Flüchtlinge aus dem Bürgerkrieg im benachbarten Myanmar fertig werden musste und im Sudan in Folge des seit zwei Jahren wütenden Bürgerkriegs über zehn Millionen Menschen innerhalb der eigenen Landesgrenzen auf der Flucht sind…

Als die Faschisten in der Ukraine an die Macht kamen: Eine Rede von Gregor Gysi 2014 im deutschen Bundestag…

Folgender Ausschnitt aus einer Rede von Gregor Gysi im deutschen Bundestag nach der Machtergreifung der neuen ukrainischen Regierung nach dem Maidan im Frühjahr 2014 bedarf wohl kaum eines weiteren Kommentars…

Die neue ukrainische Regierung wurde sofort von US-Präsident Obama, von der EU und der Bundesregierung anerkannt. Frau Merkel: Der Vizepremierminister, der Verteidigungsminister, der Landwirtschaftsminister, der Umweltminister, der Generalstaatsanwalt sind Faschisten. Der Chef des Nationalen Sicherheitsrates war Führungsmitglied der faschistischen Swoboda-Partei. Faschisten haben wichtige Posten und dominieren beispielsweise den Sicherheitssektor. Und noch nie sind Faschisten von der Macht freiwillig wieder ausgetreten, wenn sie einmal einen Teil davon erobert hatten, und zumindest die Bundesregierung hätte hier eine Grenze ziehen müssen, schon aufgrund unserer Geschichte. Als Haiders FPÖ in die österreichische Regierung kam, gab es Kontaktsperren. Und bei den Faschisten in der Ukraine machen wir nichts. Swoboda hat engste Kontakte zur NPD und zu anderen Naziparteien in Europa. Und der Vorsitzende, Oleg Tjahnybok, hat Folgendes wörtlich erklärt: „Schnappt euch die Gewehre, bekämpft die Russensäue, die Deutschen, die Judenschweine und andere Unarten.“ Es gibt jetzt schon Übergriffe gegen Jüdinnen und Juden und gegen Linke und gegen all das sagen Sie nichts. Mit diesen Swoboda-Leuten reden Sie! Ich finde das einen Skandal!

Frank Urbaniok und die Frage, woher das Böse in der Welt kommt: Individualgewalt und Systemgewalt…

In der Welt der Wissenschaften treffen wir immer wieder auf einzelne herausragende Repräsentantinnen oder Repräsentanten ihres Fachgebiets, die oft ein so grosses öffentliches Ansehen geniessen, dass die von ihnen verkündeten Sichtweisen oder Lehren kaum noch jemals kritisch hinterfragt werden. Einer dieser Koryphäen ist Frank Urbaniok, Professor für forensische Psychiatrie mit Schwerpunkt Sexual- und Gewaltstraftaten, der während mehr als 20 Jahren den Psychiatrisch-Psychologischen Dienst des damaligen Amtes für Justizvollzug des Kantons Zürich leitete. Heute ist er als Gutachter, Berater, Supervisor und Buchautor tätig. Gemäss SRF vom 12. September 2019 ist Urbaniok „der bekannteste und einflussreichste forensische Psychiater der Schweiz“, der, „welcher uns die Seelen von Verbrechern erklärt.“

Als ich kürzlich einen öffentlichen Vortrag von Urbaniok besuchte, war förmlich zu spüren, wie die Zuhörerinnen und Zuhörer seine Worte nahezu andächtig in sich aufsaugten, als spräche da ein Wesen aus einer höheren Welt zu ihnen – quer durch die Reihen war breiteste Zustimmung zu spüren, allenthalben Kopfnicken und manchmal sogar begeisternder Zwischenapplaus. Gleichzeitig verspürte ich zunehmend ein mulmiges Gefühl in mir aufkommen, das ich mir zunächst nicht erklären konnte, das dann aber im Verlaufe des Vortrags dennoch immer stärker wurde, sodass ich dann zuhause, in Ruhe und aus einem gewissen Abstand heraus, darüber nachzudenken begann, woher und weshalb sich dieses ungute Gefühl wohl eingestellt hatte…

Vor mir habe ich den „Tagesanzeiger“ vom 28. Februar 2024 mit einem ganzseitigen Interview mit Urbaniok. Es geht um die Frage, ob man junge Erwachsene , die als Minderjährige einen Mord begangen haben, zukünftig verwahren können sollte. Urbaniok befürwortet das und weist darauf hin, dass es Fälle gäbe, bei denen sich die „erste Auffälligkeit“ schon „früh in der Kindheit“ zeige und sich das dann „im Jugendalter bis hin zu schweren Gewaltdelikten kontinuierlich steigern“ könne. In der „Luzerner Zeitung“ vom 26. Juli 2016 sagt Urbaniok, dass „ausgeprägte Risiko-Eigenschaften“ im Verhalten eines Menschen „früher oder später durchdrücken“ würden. Und im „Tagesanzeiger“ vom 14. Februar 2023 beantwortet er die Frage nach seinem Menschenbild wie folgt: „Ich würde es als skeptisch beschreiben. Ich mache mir keine Illusionen, es steckt zwar viel positives Potenzial im Menschen, aber leider auch sehr viel Negatives. Wenn man bedenkt, wie sich manche Menschen in Politik und Wirtschaft oder gegenüber der Umwelt verhalten, wie sie andere Menschen foltern, Kriege führen – das Repertoire an schädlichen Verhaltensweisen ist erschreckend gross.“

Langsam komme ich meinem Unbehagen auf die Spur…

Ist es nicht viel zu kurz gegriffen, von Missständen in Politik und Wirtschaft, von Respektlosigkeit gegenüber der Natur und von Krieg und Folter auf das Böse im Menschen zu schliessen und dabei gleichzeitig alles in den gleichen Topf zu werfen? Müsste ein seriöser Wissenschaftlicher hier nicht ganz klar und deutlich unterscheiden: Auf der einen Seite die ursprünglichen, natürlichen, abgeborenen Anlagen des Menschen, auf der anderen Seite all jene Verfehlungen, welche von Erwachsenen begangen werden, die sich bereits in einem ganz bestimmten Machtsystem bewegen und dort ganz bestimmte Rollen einnehmen und Verhaltensweisen ausüben, die sich auf ihre Mitmenschen schädlich oder gar zerstörerisch auswirken können? Denn Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Kind bereits als potenzieller Mörder oder Vergewaltiger geboren wird, ich kann mir aber sehr wohl vorstellen, dass ein Mensch im Verlaufe seines Heranwachsens mit so vielen schädlichen Einflüssen, mit so vielen Enttäuschungen und so viel Gewalt konfrontiert wird, dass sich negative und zerstörerische Einstellungen und Verhaltensweisen nach und nach heranbilden können. Es besteht doch ab dem Moment, da ein Mensch auf die Welt kommt, eine permanente Wechselwirkung zwischen seinem eigenen Verhalten und der Umgebung, in welcher er aufwächst. Es ist doch auch längst schon erwiesen, dass erlittene Gewalt häufig wiederum späteres gewalttätiges Verhalten der Opfer zur Folge haben kann. Auch besteht erwiesenermassen ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Armut und Kriminalität, zwischen erlittenen Demütigungen und späterem übertriebenem Machtgebaren, zwischen den Wertvorstellungen der Gesellschaft – wie etwa Materialismus und Egoismus – und der Art und Weise, wie die Heranwachsenden mit diesen Wertvorstellungen zurecht kommen, sich ihnen anpassen, sich dagegen auflehnen oder daran zerbrechen.

Offensichtlich hat Urbaniok, anders kann ich mir das nicht erklären, im Laufe seiner beruflichen Tätigkeit schon mit so vielen „bösen“ Menschen zu tun gehabt, dass er früher oder später unweigerlich zum Schluss gekommen ist, das Böse müsse wohl in der Natur des Menschen liegen, etwas, was sich dann im Laufe des Lebens „kontinuierlich steigern“ und im Verhalten der betreffenden Menschen „früher oder später durchdrücken“ könne. Wer sich erst einmal auf eine solche Sichtweise festgelegt hat, kommt offensichtlich gar nicht mehr auf die Idee, das „Böse“ könnte auch ausserhalb des Individuums liegen, in den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnissen. Man erinnert sich bei einer solchen Sichtweise unweigerlich an religiöse Glaubenssätze früherer Zeiten, wie etwa jenem von der „Erbsünde“, wonach jeder Mensch als grundsätzlich „sündiges“ Wesen geboren werde und nur durch die Unterwerfung unter ein bestimmtes Glaubensbekenntnis von diesen Sünden „erlöst“ werden könne. Von einer solchen Sichtweise zu der Auffassung, dass „böse“ Menschen eher bestraft und von der Gesellschaft weggesperrt als „therapiert“ werden müssen, ist es dann freilich nur noch ein kleiner Schritt.

Urbaniok hat diesen so einseitigen Blick auf das Wesen des „Bösen“ sogar dermassen akribisch systematisiert, dass daraus ein eigens von ihm entwickeltes und in der Fachwelt höchst umstrittenes Diagnosesystem unter der Bezeichnung FOTRES (Forensisches Operationalisiertes Therapie-Risiko-Evaluations-System) mit einem dazugehörigen 654-seitigen Handbuch entstanden ist, bei dem aufgrund ausschliesslich individueller Persönlichkeitsmerkmale mithilfe eines Algorithmus, von dem niemand weiss, wie er tatsächlich funktioniert und wie viel Gewicht jedes einzelne der insgesamt 80 Kriterien hat, ermittelt werden kann, wie „gefährlich“ ein Mensch ist – Hinweise darauf, dass auch Faktoren in der Umgebung, in der ein Mensch aufwächst, für seine Entwicklung „gefährlich“ sein könnten, sucht man vergebens.

Dabei gäbe es genug andere Sichtweisen auf das Wesen des „Bösen“, die genau zu einem gegenteiligen Schluss kommen und dieses „Böse“ nicht vor allem in der Seele des Individuums orten, sondern vielmehr in den äusseren Verhältnissen, unter denen ein Mensch aufwächst. Schon der begnadete Pädagoge und Menschenfreund Johann Heinrich Pestalozzi sagte vor über 250 Jahren: „Der Mensch ist gut und will das Gute. Und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“ Auch Rutger Bregman kommt in seinem Buch „Im Grunde gut“ zum Schluss: „Dass Menschen von Natur aus egoistisch und aggressiv sind, ist ein hartnäckiger Mythos. Ein positives Menschenbild ist durchaus realistisch und lässt sich mit unzähligen Beispielen aus der Geschichte der Menschheit belegen, über die aber in den Geschichtsbüchern und den Medien leider viel zu wenig zu lesen ist.“

Ein Grossvater, auch darüber ist im Buch von Bregman zu lesen, sagte einst zu seinem Enkel: „In mir findet ein Kampf statt, ein Kampf zwischen zwei Wölfen. Einer ist schlecht, böse, habgierig, eifersüchtig, arrogant und feige. Der andere ist gut – er ist ruhig, liebevoll, bescheiden, grosszügig, ehrlich und vertrauenswürdig. Diese beiden Wölfe kämpfen auch in dir und in jeder anderen Person.“ Der Junge dachte einen Moment nach und fragte dann: „Welcher Wolf wird gewinnen?“ Der alte Mann lächelte und sagte: „Der Wolf, den du fütterst.“ Dazu Bregman: „Wenn wir glauben, dass die meisten Menschen im Grund nicht gut sind, werden wir uns gegenseitig auch dementsprechend behandeln. Dann fördern wir das Schlechteste in uns zutage. Jeder Mensch hat eine gute und eine schlechte Seite, die Frage ist, welche Seite wir stärken wollen.“ Auch Mooji, ein spiritueller Lehrer, der aus Jamaika stammt und heute in Portugal lebt, hat einmal gesagt: „Man sieht die Welt nicht so, wie sie ist, sondern so, wie man selber ist.“ Mit anderen Worten: Die Kategorien von „Gut“ und „Böse“ sind nicht in Stein gemeisselt. Sie sind fliessend und veränderbar. Es kommt darauf an, wie wir Menschen damit umgehen, wie wir sie sehen, formen und gestalten. Liebe kann sich in Hass verwandeln, aber ebenso kann sich auch Hass wieder in Liebe verwandeln.

Ich kenne ein 15jähriges Mädchen aus Angola, das wegen des dortigen Bürgerkriegs vor acht Jahren mit ihrer Mutter fliehen musste, heute in einem schweizerischen Flüchtlingsheim lebt und jederzeit damit rechnen muss, aufgrund eines negativen Asylentscheids in ihre Heimat zurückgeschafft zu werden. Sie erzählt, dass ihre Mutter in Angola fünf Mal im Gefängnis war, nicht, weil sie etwas verbrochen hatte, sondern einzig und allein aufgrund ihrer Nationalität als Kongolesin, leiden doch Menschen aus dem Kongo in Angola unter extremster Diskriminierung und kaum vorstellbarem Fremdenhass. Das Mädchen war damals sieben Jahre alt und musste, während die Mutter im Gefängnis war, jeweils im Freien übernachten, auch bei bitterer Kälte. Um sich ein klein wenig gegen die Kälte zu schützen, hätte sie nichts anderes zur Verfügung gehabt als einen Kehrichtsack. Auch hätte sie nie genug zu essen gehabt und sei häufig von Männern grundlos verprügelt worden. Doch auch der Schutz und die vermeintliche Sicherheit, die ihr und ihrer Mutter gewährt sind, seit sie als Asylsuchende in der Schweiz leben, hängen an einem hauchdünnen Faden. Vor zwei Jahren wurde ihr Asylgesuch bereits ein erstes Mal abgelehnt und es wäre beinahe zu einer zwangsweise Ausschaffung gekommen: Eines Morgens stürmten Polizisten ihr Zimmer und führten sie und ihre Mutter in Handschellen ab. Hätte nicht ihre Mutter in dem Augenblick, da man sie ins Flugzeug zu schieben versuchte, übermenschliche Kräfte entwickelt und es den drei Polizisten verunmöglicht, sie durch den Eingang ins Flugzeug hindurchzuzwängen, wären sie heute nicht mehr in der Schweiz. Seit der erfolglosen Abschiebung liegt der Fall nun beim Bundesverwaltungsgericht. Sollte das Gericht den negativen Asylentscheid bestätigen, droht erneut die zwangsweise Rückschaffung, dann aber auf der sogenannten Stufe zwei, was bedeutet, dass nicht nur drei, sondern etwa zehn Polizisten aufmarschieren werden und die Mutter und das Kind am ganzen Körper so eng gefesselt werden, dass Widerstand nicht mehr möglich ist. Hat das Mädchen aus Angola nicht schon dermassen viel Schlimmes erlebt, dass man eigentlich erwarten müsste, nun einen völlig aggressiven, gewaltbereiten Menschen vor sich zu haben? Doch genau das Gegenteil ist der Fall! Die 15Jährige hat trotz allem die Hoffnung nicht aufgegeben, mit ihrer Mutter dauerhaft in der Schweiz bleiben zu können. Sie möchte einen Beruf erlernen, mit dem sie andere Menschen glücklich machen könne. Wenn sie andere Menschen fröhlich machen und sie zum Lachen bringen könne, das sei für sie das Schönste, mehr brauche sie nicht, um glücklich zu sein. Woher nur kann bei so viel erlittenem Hass und so viel erlittener Gewalt so viel Liebe kommen? Gibt es vielleicht so etwas wie eine unbegreifliche innere Kraft des Guten im Menschen, die sich auch unter widrigsten Umständen dennoch im Verlaufe des Lebens nach und nach durchzudrücken vermag?

Ich selber habe, im Gegensatz zu Urbaniok, zwar keine wissenschaftlichen Studien vorzuweisen. Aber immerhin Berufserfahrung von 38 Jahren als Oberstufenlehrer von insgesamt über all die Jahre wohl an die tausend ganz unterschiedlichen Jugendlichen. Mein Befund ist zu 100 Prozent: Ich hatte bei keinem einzigen dieser jungen Menschen je den Eindruck, es versuchte von „unten“ etwas Schlechtes, sich im Laufe der Zeit mehr und mehr „durchzudrücken“. Nein, wenn etwas Schlechtes sich durchzudrücken versuchte, kam es nie von „unten“, sondern stets von „aussen“ oder von „oben“, in Form überrissener Strafen oder anderer Disziplinarmassnahmen durch Lehrpersonen, übertriebener, nicht erfüllbarer Erwartungen seitens der Eltern, Verlust an Selbstvertrauen durch das permanente Verglichenwerden mit den Mitschülerinnen und Mitschülern in Form von Prüfungen, Noten, Zeugnissen oder Diskriminierung und Stigmatisierung infolge von in diesem Alter ganz natürlichen, aber gesellschaftlichen nicht akzeptierten Verhaltensweisen. Die Schlussfolgerung ist eigentlich ganz banal: Wenn ich in den Menschen vor allem das Gute sehe, dann wird das Gute immer stärker, ebenso wie das „Schlechte“ immer stärker wird, wenn ich in den Menschen in erster Linie das Schlechte sehe.

Immer klarer wird mir, woher mein Unbehagen während des Vortrags von Frank Urbaniok gekommen war: Genau von daher, dass er keinen Unterschied macht zwischen Individualgewalt, die von einzelnen „Übeltätern“ oder „Bösewichten“ verübt wird, und der weitgehend unsichtbaren Systemgewalt, die doch das eigentliche Grundübel ist und den Menschen daran hindert, so zu werden, wie er eigentlich von Natur aus „gedacht“ war.

Im Gratisblatt „20minuten“ vom 21. Februar 2025 lese ich ein Interview mit Frank Urbaniok zur Frage, wie mit gewalttätigen Asylsuchenden umzugehen sei. Nur schon der Titel des Interviews ist mehr als tendenziös: „Endlich über Schattenseiten sprechen“ – als würden die meisten Menschen nicht sowieso schon am meisten und am liebsten über „Negatives“ sprechen und sich darüber aufregen, statt über möglichst viel „Positives“ zu sprechen und sich darüber zu freuen. Urbaniok behauptet, es sei „kein Zufall“, dass bei Delikten häufig Asylsuchende die Täter seien. Er erwähnt, dass zum Beispiel Afghanen bei „schweren Gewaltdelikten“ mit „554 Prozent überrepräsentiert“ seien. Tönt, als würden Afghanen 554 Prozent aller schweren Straftaten begehen, was allein schon aus mathematischen Gründen ziemlich schwierig sein dürfte, aber halt schon ziemlich krass tönt. Tatsächlich meint er, dass auf 100’000 Schweizer 100 ein Gewaltdelikt begehen, auf 100’000 Afghanen aber 554. Woher Urbaniok diese Zahlen hat, bleibt schleierhaft, es wird keine Quelle genannt. Ich bin auf eine andere Zahl gekommen: Schaut man sich die Homepage der SVP an, wo täglich akribisch sämtliche auch noch so geringfügige, von Asylsuchenden begangene Delikte aufgelistet werden, findet man, in Bezug auf Afghanen, beispielsweise im ersten Halbjahr 2023 gerade mal zwei schwere Delikte und zehn zumeist ziemlich harmlose wie zum Beispiel Telefonbetrügereien, und dies bei einer Gesamtzahl von zurzeit etwa 35’000 in der Schweiz lebenden Afghaninnen und Afghanen. Urbaniok lässt sich hier auf das Niveau all jener herab, die lieber von zwei Afghanen sprechen, die im Laufe eines halben Jahres eine schwere Straftat begangen haben, als von den 34’988, die sich während des gleichen Zeitraums nicht eines einzigen Delikts schuldig gemacht haben. Mindestens müsste er als einigermassen seriöser Wissenschaftler zumindest darauf hinweisen, dass Menschen, die in ihrem bisherigen Leben so viel Leid erfahren haben, deren ganzes Land durch einen Krieg zerstört wurde, die zahllose engste Verwandte, oft ihre Eltern oder selbst ihre eigenen Kinder verloren haben und auch auf der Flucht, bis zu 7500 Kilometer zu Fuss, unsäglichen Gefahren, Entbehrungen und Todesängsten ausgeliefert waren, verständlicherweise eher zu einer verzweifelten Gewalttat neigen als Menschen, die ihr gesamtes bisheriges Leben lang gänzlich wohlbehütet und in einer sicheren Umgebung aufwachsen konnten. Doch kein Wort von alledem. Urbaniok nimmt auch unbesehen den unsäglichen Begriff der „Ausländerkriminalität“ in den Mund, der zwei Begriffe miteinander verknüpft, die nichts miteinander zu tun haben, aber unbewusst den Eindruck erweckt, jeder Ausländer sei ein potentieller Krimineller, während es keinem Menschen je in den Sinn käme, im Zusammenhang mit Delikten wie Steuerhinterziehung, Mietzinswucher oder irgendwelchen dubiosen Finanzgeschäften, die eher typisch sind für Einheimische, von „Inländerkriminalität“ zu sprechen.

Besonders aufschlussreich ist ein beinahe zweiseitiges Interview mit Urbaniok, das in der „Sonntagszeitung“ vom 23. Februar 2025 erschienen ist und in dem er den Zustand Deutschlands zur Zeit der zurzeit stattfindenden Bundestagswahlen unter die Lupe nimmt. Darin wirft er unter anderem der deutschen Justiz vor, stets den Opfern recht zu geben, nie den Opfern. Es gehe, so Urbaniok, nicht mehr um die „individuelle Schuld“, sondern nur noch um „Ideologie“. Mit „Ideologie“ meint er wohl nichts anderes als die mittlerweile in der Fachwelt weitherum anerkannte Praxis, bei jedem Verbrechen auch die Einflüsse des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfelds zu berücksichtigen, eine Erkenntnis, die ihm, der stets die Schuldhaftigkeit des einzelnen „Bösewichts“ in den Vordergrund stellt, freilich nicht gefällt. „Die Idee, man müsse nur die Waffen abschaffen, dann hätten wir Frieden, ist vollkommen naiv“, sagt er weiter, „genauso die Idee, man müsse nur besonders lieb sein miteinander, verhandeln und reden, dann komme es schon gut.“ Einerseits zieht er mit solchen Worten auch Methoden der Friedensförderung durch Dialog offensichtlich ganz bewusst ins Lächerliche, anderseits bleibt er die Erklärung schuldig, was denn aus seiner Sicht eine bessere Alternative zum „Verhandeln“ und „Reden“ wäre. Etwa der kompromisslos weitergeführte Krieg? Das getraut er sich dann aber wohl doch nicht zu sagen und so schweigt er lieber darüber. Im Folgenden ist zu lesen: „Es ist zwar eine sympathische Idee, dieses romantische Multikulti, dass sich alle lieb haben, vertragen, gleich sind und am selben Strick ziehen, doch es ist höchst einseitig und darum sehr unrealistisch.“ Wieder zieht er etwas, was ihm nicht gefällt, ins Lächerliche, und wieder äussert er sich mit keinem einzigen Wort darüber, was denn die Alternative zur Idee eines für alle Seiten möglichst fruchtbaren interkulturellen Zusammenlebens sein könnte. „Eine intelligente Migration“, so nachfolgend, „fördert das riesige Potenzial von Einwanderung, bekämpft aber gleichzeitig Schäden und Risiken.“ Im Klartext: Solange uns Migrantinnen und Migranten wirtschaftlich etwas bringen und für wenig Lohn die Drecksarbeit verrichten, die von den besser gebildeten Einheimischen schon längst gemieden wird, sind sie uns willkommen. Wenn sie aber mit „Schäden“, Verletzungen und Traumatisierungen zu uns kommen – an denen gerade im Fall von Afghanistan Deutschland durch seine Kriegsbeteiligung an der Seite der USA grösste Mitschuld trägt -, dann sollen sich gefälligst andere darum kümmern. Schliesslich geht Urbaniok sogar so weit, zu fordern, man dürfe vor härteren Massnahmen gegen missliebige Menschen auch dann nicht zurückschrecken, „wenn man dafür heute geltende Regeln ganz abschaffen oder ändern muss.“ Besonders interessant ist folgende Aussage: „Weil man die sogenannte kognitive Dissonanz vermeiden will, hat man ein bestimmtes Weltbild, und alles, was nicht reinpasst, wird ignoriert, weil es sonst unbequem wird.“ Besser als mit dieser Definition könnte Urbaniok wohl sich selber nicht beschreiben. In der Fachsprache der Psychologie nennt man so etwas eine klassische „Projektion“. Aber das müsste Urbaniok als einer der berühmtesten Psychiater Europas selber eigentlich am besten wissen…

Dass in der Öffentlichkeit die sichtbare, gut beschreibbare und durch die Medien stets emotional bestens aufbauschbare Individualgewalt im Vordergrund steht und die dahinter liegenden, weitgehend unsichtbaren und dennoch omnipräsenten Formen von Systemgewalt kaum je ernsthaft thematisiert und offen gelegt werden, wissen wir zur Genüge. Umso mehr wäre es die Aufgabe von Wissenschaftlern, genau diese Zusammenhänge aufzuzeigen. Denn wohin uns das Ausblenden und das Ablenken von der Systemgewalt auf die Individualgewalt geführt haben, müssten wir eigentlich nach Jahrhunderten von Kreuzzügen gegen Andersgläubige, Hexenprozessen, Judenverfolgung und zahlloser weiterer Verbrechen im Zuge von Rassismus, Fremdenhass und Diskriminierung ethnischer Minderheiten schon längst gelernt haben.

Zugegeben: Die Diskussion darüber, wie stark Gewalt in Form des herrschenden Gesellschaftssystems möglicherweise die eigentliche Ursache fast aller bei einzelnen Individuen auftretenden Formen von Gewalt bildet, ist viel aufwendiger, komplizierter und braucht weitaus mehr Zeit und Geduld, als mit dem moralischen Zeigefinger auf einzelne „Bösewichte“ und „Übeltäter“ wie renitente Jugendliche, ausrastende Sozialhilfebezüger, militante Klimaaktivisten oder potentiell kriminelle Flüchtlinge zu zeigen. Es braucht auch die Bereitschaft, bestehende Denkmuster radikal zu hinterfragen. Dann freilich könnte man wohl schon sehr bald einmal zum Schluss gelangen, dass etwa die Art und Weise, wie sich die Schweiz über Jahrhunderte dank Ausbeutung von Rohstoffen aus Ländern des Südens masslos bereichert hat und dies dies bis heute tut, oder die Tatsache, dass in einzelnen Unternehmen die am besten Verdienenden einen 300 Mal höheren Lohn haben als die am schlechtesten Verdienenden, oder die Verweigerung von Mindestlöhnen durch Arbeitgeberverbände, existenzbedrohende plötzliche Entlassungen infolge von unternehmerischer „Gesundschrumpfung“, entwürdigende Behandlung durch Vorgesetzte, massiver und stetig weiter zunehmender Leistungsdruck in den Schulen und die wie riesige Damoklesschwerter über allen hängenden Bedrohungen durch einen möglichen dritten Weltkrieg und die Zerstörung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen – dass all dies eben auch Formen von Gewalt sind, die man zwar nicht so deutlich als solche erkennen kann wie etwa eine Messerstecherei oder einen Bombenanschlag oder eine Schlägerei zwischen Jugendlichen, die aber in ihrer Gesamtheit unvergleichlich viel verheerendere und länger andauernde Auswirkungen haben.

Es wird durch seine eigene Biografie erklärbare und nachvollziehbare Gründe dafür geben, dass Urbaniok zu einem eher negativen oder zumindest „skeptischen“ Menschenbild gekommen ist und daher das „Böse“ vor allem im einzelnen Individuum sieht und nicht in herrschenden Machtsystemen . Man kann das verstehen und es soll ja auch niemandem verwehrt sein, sich im Laufe seines Lebens jenes Menschen- und Weltbild aufzubauen, das seinen eigenen Lebenserfahrungen am ehesten entspricht. Gefährlich wird es aber dann, wenn man einseitige Menschen- und Weltbilder so sehr verabsolutiert, dass sie am Schluss sozusagen als einzige mögliche „Wahrheit“ im Raum stehen. Denn wenn im Umfeld dominanter und meinungsbeherrschender „Koryphäen“ wie Urbaniok so etwas wie ein Vakuum entsteht, in dem keine Kontroversen und kein kritisches Denken mehr stattzufinden vermag, dann hört die Wissenschaft auf, wissenschaftlich zu sein, und droht selber zu einem Teil der Systemgewalt zu werden.

Der deutsche Wahlkampf: Seltsame Figuren, die irgendwann nur noch Karikaturen sein werden in den Geschichtsbüchern der Zukunft…

Seit Wochen tobt in Deutschland der Wahlkampf um die zukünftige Sitzverteilung im Bundestag. Wobei Kampf genau das richtige Wort ist. Vielleicht fällt es mir als Schweizer, der das alles als Zuschauer mit einer gewissen Distanz von aussen mitverfolgt, noch stärker auf als denen, die selber mittendrin sind. Was ich vor allem wahrnehme: Viel Hass, viel Aggressivität, gegenseitige Schuldzuweisungen aller Art, sture Rechthaberei, wenig Bereitschaft, anderen zuzuhören, Phrasen und Schlagwörter, mit denen man den politischen Gegner klein zu machen versucht. Nur selten Humor, fast nie ein verzeihendes Lächeln, kaum je die Bereitschaft, gegensätzliche Meinungen ernst zu nehmen, etwas daraus zu lernen oder gar eigene Fehler einzugestehen.

Es kommt mir vor wie Mäuse in einem zu engen Käfig. Man kennt das von Experimenten: Ist zu wenig Platz vorhanden, nimmt die Aggressivität zwischen den einzelnen Tieren immer mehr zu, und jede Zunahme von Aggressivität erzeugt wiederum ein noch höheres Mass an Aggressivität. Wobei es in diesem Wahlkampf nicht, wie im Fall der Mäuseexperimente, um die Anzahl der Quadratmeter oder Quadratzentimeter geht, welche dem Einzelnen zur Verfügung stehen, sondern um den geistigen Raum, in dem man sich bewegt.

Dieser geistige Raum, in dem sich die deutschen Bundestagswahlen zurzeit gerade bewegen, scheint ziemlich eng zu sein. Und so nimmt die Aggressivität der darin Agierenden ebenso laufend zu wie die Aggressivität der sich in einem zu engen Käfig befindlichen Mäuse. Dieser beschränkte geistige Raum nämlich ist letztlich nichts anderes als das kapitalistische Wirtschafts- und Denksystem. Ob es sich um den wachsenden Zeitdruck, Stress und Konkurrenzkampf am Arbeitsplatz handelt, die permanente Zunahme psychischer Erkrankungen, die soziale Ausgrenzung eines wachsenden Teils der Bevölkerung, die immer tiefer werdende Kluft zwischen Arm und Reich, die Ängste vor „Überfremdung“ und Bedrohung eigener kultureller Werte, den Klimawandel oder die sich insbesondere bei jungen Menschen immer weiter ausbreitende Resignation und Ohnmacht in Bezug nicht nur auf die individuelle, sondern auch auf die Zukunft der gesamten Menschheit, noch zusätzlich verstärkt durch die Angst vor einem drohenden dritten Weltkrieg – alle diese und beliebig viele weitere Missstände und Fehlentwicklungen , unter denen viel zu viele und immer mehr Menschen nicht nur in Deutschland, sondern weltweit leiden, lassen sich, ohne dass es hierfür irgendwelcher aufwendiger Analysen oder Studien bedürfte, unmittelbar auf das herrschende Machtsystem eines globalisierten Kapitalismus zurückführen, das beinahe ausschliesslich auf unbeschränkte Profitmaximierung und nicht enden wollende Bereicherung und Privilegierung einzelner Bevölkerungsgruppen auf Kosten anderer ausgerichtet ist. Kein Wunder, äussern sich in Umfragen, in Deutschland ebenso wie in anderen Ländern, regelmässig eine Mehrheit der Befragten dahingehend, dass der Kapitalismus insgesamt mehr Schaden als Nutzen anrichte.

Doch statt dass sich Politikerinnen und Politiker über alle Grenzen hinweg zusammensetzen und endlich darüber nachzudenken beginnen, wie denn eine Alternative zum Kapitalismus aussehen könnte und wie sich eine solche verwirklichen liesse, klammern sie sich unerbittlich am eingeschlagenen Irrweg fest. Radikal antikapitalistisches Denken findet höchstens noch in ein paar winzigen Nischen „Ewiggestriger“ statt und wird von den Mächtigen in aller Regel schon nach zaghaftestem kurzen Aufblitzen unmittelbar ins Reich des Bösen und der ewigen Finsternis verbannt. Als hätte das Denken in Alternativen zu jenem Zeitpunkt endgültig aufgehört, als der amerikanische Politologe Francis Fukuyama im Jahre 1989, berauscht vom scheinbar endgültigen Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus, verkündete, nun sei die Menschheit am „Ende ihrer Geschichte“ angelangt. Und nicht einmal in Deutschland wurde diese Behauptung Fukuyamas in den vergangenen 35 Jahren jemals ernsthaft in Frage gestellt, als hätte es in diesem Land nie einen Georg Friedrich Hegel gegeben, der schon vor über 200 Jahren in seiner wegweisenden Lehre der Dialektik genau das Gegenteil postulierte, nämlich, dass die Geschichte nie am Ende sei, sondern sich, ausgehend von Thesen und ihnen widersprechenden Antithesen, zu stets wieder neuen Synthesen weiterentwickeln kann. Es wäre im Jahre 1989 wohl um vieles zukunftsträchtiger gewesen, nicht auf Fukuyama zu hören, sondern auf eben diesen Georg Friedrich Hegel, um das kapitalistische Primat individueller Selbstverwirklichung und das sozialistische Primat sozialer Gerechtigkeit nicht gegeneinander auszuspielen und den Sieg des Ersteren gegen das Zweite zu feiern, sondern aus diesen beiden Ansätzen im Sinne einer Synthese etwas Neues, Drittes, Besseres zu schaffen.

Nun gibt es aber nebst dem Stillstand alternativen Denkens und der Absage an die Dialektik wohl auch noch einen weit handfesteren Grund dafür, dass sich die bestehenden politischen Parteien nicht aus dem kapitalistischen Denksystem zu lösen vermögen bzw. dies auch gar nicht wirklich wollen. Denn sie selber gehören ja in der kapitalistischen Klassengesellschaft zu 99 Prozent zu den Privilegierten, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, und haben deshalb auch kein echtes Interesse an einer grundsätzlichen Überwindung eines Machtsystems, das ihnen selber so viele Vorteile verschafft. Und so verlaufen die tatsächlich entscheidenden Konfliktlinien eben nicht zwischen den einzelnen politischen Parteien, sondern vielmehr zwischen den einzelnen Schichten der kapitalistischen Klassengesellschaft von ganz oben im Paradies der Reichsten bis ganz unten in der Hölle der Ärmsten und am meisten Ausgebeuteten. Tiefgreifende politische Veränderungen können daher nur von aussen oder von unten kommen, nicht aus dem Inneren des bestehenden Politsystems.

Einmal mehr ist auch der gegenwärtige, von Hass und Schuldzuweisungen geprägte deutsche Wahlkampf ein Paradebeispiel dafür, wie von den tatsächlich lebensbedrohenden Problemen, welche der Kapitalismus Tag für Tag verursacht, abgelenkt wird, indem man sich am untersten Rand dieses Machtsystems gezielt einzelne individuelle Sündenböcke aussucht, auf denen dann alle, gegenseitig sich anstachelnd und miteinander wetteifernd, bis zum Gehtnichtmehr herumhacken können. Da das „Böse“ ja nicht in den Grundprinzipien der herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung liegen darf, muss es demzufolge im Wesen oder in der Herkunft von ganz besonders „bösen“ Individuen liegen, die, wie man ihnen unterstellt, nichts anderes im Schilde führen, als den angeblich so ehrlich erschaffenen Wohlstand ihres „Gastlandes“ zu missbrauchen, zu gefährden oder gar zu zerstören: Die typische Ablenkung von der Systemgewalt auf die Individualgewalt, um die Existenz des herrschenden Machtsystems nicht zu gefährden, wie das auch schon zur Zeit der Hexenverfolgungen oder anderer Progrome so hervorragend funktionierte. Denn, wie schon Karl Marx sagte: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“

Ein einzelner Afghane oder Syrier, der eine Mordtat begeht, wird über Tage und Wochen zum fast einzigen Thema sämtlicher Zeitungsartikel, TV-Nachrichten, Talkshows und öffentlichen Debatten emporstilisiert, während allein in Deutschland gleichzeitig durchschnittlich jeden Tag eine Frau von ihrem eigenen Mann umgebracht wird, jeden Tag rund 50 unschuldige palästinensische Kinder von den Machthabern eines Staats getötet werden, mit dem man eng befreundet ist und dem man sogar in grossem Stil Waffen zum Töten dieser Kinder liefert, und jeden Tag weltweit rund 15’000 Kinder unter fünf Jahren sterben, weil sie nicht genug zu essen haben, und zwar nicht etwa deshalb, weil insgesamt zu wenig Nahrungsmittel vorhanden wären, sondern aus dem einzigen und alleinigen Grund, dass im globalisierten Kapitalismus – der angeblich einzig möglichen und besten Wirtschaftsweise aller Zeiten – die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo die multinationalen Nahrungsmittelkonzerne damit am meisten Geld verdienen können. Doch Meldungen und Nachrichten dieser Art sucht man in den allermeisten Medien vergebens, und erst recht nicht in den Verlautbarungen all jener Politikerinnen und Politiker, die jetzt gerade im Wahlkampf stehen. Wie man auch nie etwas davon hört, dass auf jeden Flüchtling, der eine Straftat begeht, etwa zehntausend andere kommen, die sich noch nie auch nur des geringsten Vergehens schuldig gemacht haben. Und man auch nie etwas davon hört, dass die vielbeklagte Migration aus dem Süden in den Norden nichts anderes ist als die zwangsläufige Folge von 500 Jahren kolonialer Ausbeutung, welche die Voraussetzung dafür war, dass die Länder des Nordens trotz weitgehenden Mangels an Rohstoffen und Bodenschätzen überhaupt so reich werden konnten, wie sie heute sind, Reichtum also, der letztlich nur entstehen konnte aus der Ausbeutung, Beraubung, Plünderung, Fremdbestimmung und Verelendung des Südens. Was nichts anderes bedeutet, als dass Menschen, die aus dem Süden in den Norden fliehen, nichts anderes versuchen, als sich einen winzigen Teil dessen, was ihnen und ihren Vorfahren über Jahrhunderte gestohlen wurde, wieder zurückzuholen.

Diese systematische Täter-Opfer-Umkehr, das geradezu hysterische Herumhacken auf den Schwächsten, hat mittlerweile schon fast dermassen pseudoreligiöse, wahnhafte Dimensionen angenommen, dass selbst eine durchaus intelligente und kritische Politikerin wie Sahra Wagenknecht das „Migrationsproblem“ an die oberste Stelle ihrer politischen Agenda gesetzt hat, weil sie genau weiss, dass sie sonst im gegenseitigen Macht- und Konkurrenzkampf mit den anderen Parteien kläglich untergehen würde. Erfolgreich ist heute offensichtlich nur noch, wer die dicksten Muskeln zeigt, gnadenlos auf den Allerschwächsten herumhackt und die eigentlichen Ursachen aller wirklich grossen Probleme systematisch verschweigt und von ihnen ablenkt. Hass als politisches Programm.

Luisa Neubauer spricht in Bezug auf den Klimawandel von „Kipppunkten“, kürzesten Zeitfenstern, in denen Dinge geschehen können, die sich definitiv nie mehr rückgängig machen lassen werden. Auch die Schwelle zu einem dritten, alles vernichtenden Weltkrieg als letzte, perverseste Konsequenz kapitalistisch-patriarchaler Weltherrschaft könnte ein solcher Kipppunkt sein.

Aber könnte es nicht auch Kipppunkte in die umgekehrte Richtung geben? Ist nicht denkbar, dass der Hass, den so viele sich heute an der Macht Befindliche um sich herum verbreiten, doch noch eines Tages ins Gegenteil kippen könnte? So etwas wie Menschenliebe scheint aus der heutigen Politik nahezu gänzlich ausgelöscht worden zu sein. Aber das heisst doch nicht, dass sie sich deshalb in nichts aufgelöst hat. Irgendwo anders staut sie sich doch gewiss wieder auf, wie Wasser im See hinter einer Staumauer, wie Blumen, die aus den Ruinen zerstörter Städte wieder neu herauswachsen, wie ein jedes Kind, das voller Hoffnung und Sehnsucht nach einer Welt voller Frieden, Gerechtigkeit und einem Leben voller Glück und voller Lachen neu geboren wird. Irgendwann werden doch diese seltsamen Figuren, die heute noch das Weltgeschehen dominieren, für immer der Vergangenheit angehören müssen und nur noch Karikaturen sein in den Geschichtsbüchern der Zukunft, die in den Händen neuer Generationen, die das alles fast nicht mehr glauben können werden, die Runde machen werden. Ja, so utopisch es klingen mag, aber die Liebe ist der einzige Schlüssel, der die althergebrachten Denkmuster, die schon viel zu viel Schaden angerichtet haben, aufzubrechen und den Blick in eine neue, von Grund auf andere Zukunft zu öffnen vermag. Nicht die am meisten von Hass, Arroganz und Rechthaberei Besessenen werden in dieser neuen Zeit die verantwortungsvollsten Posten in der Gesellschaft einnehmen, sondern die Liebevollsten, Zärtlichsten, Dünnhäutigsten, Empfindsamsten. Die, welche sich selber so stark lieben, dass sie auch jeden anderen Menschen voll und ganz lieben, in allem zuallererst das Gute sehen, auch noch das „Fremdeste“ in ihr Herz hereinlassen, auch noch mit den „Verrücktesten“ das Gespräch suchen und die auch selber erst dann wirklich ruhig schlafen können, wenn auch alle anderen Menschen auf dieser Welt frei von Hunger, Armut, Ausbeutung, Verfolgung und Kriegen ebenso ruhig schlafen können…