Claudia Goldin: Abstruse Theorien einer Nobelpreisträgerin und Forscherin über Frauen in der Arbeitswelt

„Werden Frauen beim Lohn diskriminiert? Nein, sagt die Nobelpreisträgerin“ – dies der Titel eines Artikels über die Theorien von Claudia Goldin, Harvard-Professorin und Trägerin des Nobelpreises für ihre Forschung über Frauen im Arbeitsmarkt, in der „Sonntagszeitung“ vom 3. Dezember 2023. Kurz zusammengefasst, verficht Goldin folgende These: Frauen sind selber schuld, wenn sie weniger verdienen als Männer. Weil sie nämlich weniger ehrgeizig sind, sich häufig für die Haus- und Familienarbeit entscheiden statt für ausserhäusliche Erwerbsarbeit, öfters in Teilzeitpensen tätig sind und das Feld für lukratives Karrierestreben ihren Männern überlassen. Hätte ein Mann vor 100 Jahren so etwas geschrieben, wäre es nicht besonders erstaunlich gewesen. Aber eine Frau im Jahre 2023, und erst noch eine Nobelpreisträgerin?

Während ihrer langjährigen Studien scheint es Claudia Goldin völlig entgangen zu sein, dass Coiffeusen und Serviceangestellte vier Mal weniger verdienen als Informatiker, Krankenpflegerinnen fünf Mal weniger als Chefärzte, Kitaangestellte sechs Mal weniger als Universitätsdozenten, Putzfrauen hundert Mal weniger als Topmanager. Und Hausfrauen, obwohl sie einen der anspruchsvollsten und wohl den gesamtgesellschaftlich allerwichtigsten Beruf ausüben, für ihre Arbeit nicht einen einzigen Franken Lohn bekommen. Alle selber schuld? Liegt die Schuld nicht viel mehr bei einem zutiefst patriarchalen Gesellschaftssystem, in dem typisch weibliche Berufe, obwohl sie die eigentliche Grundlage für das gesellschaftliche Wohlergehen bilden, nach wie vor systematisch abgewertet und dementsprechend weitaus geringer entlohnt werden?

Wozu streben Frauen wie Claudia Goldin nach höchstem gesellschaftlichem Ansehen, wenn sie dieses dann bloss dazu verwenden, bestehende patriarchale Machtstrukturen „wissenschaftlich“ zu legitimieren und blindlings fortzuschreiben?

Henry Kissinger: Lobeshymnen und Friedensnobelpreis für einen der grössten Kriegsverbrecher unserer Zeit

„Wer ihn Henry nennen durfte, gehörte zum Kreis der Mächtigen“ – so titelt der „Tagesanzeiger“ vom 1. Dezember 2023 aus Anlass des Todes von Henry Kissinger, ehemaligem Sicherheitsberater und Aussenminister der USA, im Alter von 100 Jahren. In der Tat scheint dieser Kreis der Mächtigen geradezu eine magische Kraft zu besitzen. Und so einhellig ist auch das Urteil über den Verstorbenen: „Kissinger“, so die EU-Vorsitzende Ursula von der Leyen, „hat die Weltpolitik im gesamten 20. Jahrhundert geprägt.“ Für den französischen Präsidenten Emmanuel Macron ist Kissinger „ein Gigant der Geschichte“. Auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz ist voll des Lobes: „Henry Kissinger prägte die amerikanische Aussenpolitik wie nur wenige andere. Die Welt verliert einen besonderen Diplomaten.“ Der britische Aussenminister und frühere Premierminister David Cameron würdigt Kissinger als „grossen Staatsmann“ und „zutiefst respektierten Diplomaten“ und schreibt im Kurznachrichtendienst X: „Selbst mit 100 Jahren strahlten seine Weisheit und Nachdenklichkeit durch.“ Ex-Regierungschef Boris Johnson betrauert Kissinger als „Giganten der Diplomatie, der Strategie und der Friedensstiftung“: „Wenn es jemals einen Autor des Friedens und einen Liebhaber der Harmonie gab, dann war dieser Mann Henry Kissinger.“ Für den früheren US-Präsidenten George W. Bush hat Amerika „mit dem Tod von Henry Kissinger eine der verlässlichsten Stimmen in Fragen der Aussenpolitik verloren.“ Auch US-Aussenminister Antony Blinken pflichtet ihm bei: „Es gibt nur wenige Menschen, die die Geschichte besser studiert haben – und noch weniger Menschen, die die Geschichte mehr geprägt haben.“ Selbst Wladimir Putin ist des Lobes voll: „Kissinger war ein herausragender Diplomat, ein weiser und weitsichtiger Staatsmann, der jahrzehntelang in der ganzen Welt wohlverdientes Ansehen genoss.“ Und selbst China stimmt uneingeschränkt in die Reihe dieser Lobeshymnen ein, so sagte Xie Feng, der chinesische Botschafter in den USA: „Kissinger wird in den Herzen des chinesischen Volkes immer als ein sehr geschätzter Freund lebendig bleiben.“

An dieser Stelle muss man wohl zuerst einmal leer schlucken. Und dann ein zweites und ein drittes Mal. Zum weltweiten Kreis der Mächtigen zu gehören, scheint tatsächlich eine magische Kraft zu besitzen. Eine magische Kraft, die offensichtlich nichts weniger bewirkt als einen kollektiven Gedächtnisverlust in Bezug auf eine „Geschichte des 20. Jahrhunderts“, die anscheinend ohne die „prägende Kraft“ dieses einzigartigen „Diplomaten“ und „Friedensstifters“ so ganz anders verlaufen wäre. Ja, sie wäre wohl tatsächlich ganz anders verlaufen, bloss dass es in Tat und Wahrheit gerade umgekehrt gewesen ist…

Die einflussreichste treibende Kraft in der US-Regierung unter Präsident Nixon und damit einer der Hauptverantwortlichen für die Forcierung des Vietnamkriegs insbesondere ab 1968 war kein anderer als Henry Kissinger. Durch die von ihm vorangetriebene Kriegsausweitung kamen in den folgenden Jahren mehr als 100’000 Vietnamesinnen und Vietnamesen sowie mehr als 25’000 Angehörige der US-Armee ums Leben. Ab März 1969 wurde auch das Gebiet des neutralen Kambodschas völkerrechtswidrig bombardiert, um dortige Nachschublinien der kommunistischen Nordvietnamesen zu zerstören. Die Flächenbombardements in Kambodscha töteten über 100’000 Menschen, überwiegend Zivilpersonen, und trugen dazu bei, einen grossen Teil der Bevölkerung in die Arme der kommunistischen Widerstandsbewegung Rote Khmer zu treiben. Zwischen Januar und August 1973 warfen amerikanische B-52-Langstreckenbomber gegen die Kämpfer der Roten Khmer mehr Bomben ab als während des gesamten Zweiten Weltkriegs über Japan. Die damit verbundene Destabilisierung Kambodschas führte indirekt zum Kambodschanischen Bürgerkrieg, der 1975 die Machtübernahme der Roten Khmer zur Folge hatte, welche in der Folge bis 1979 einen Völkermord an der eigenen Bevölkerung mit 1,7 bis 2,2 Millionen Opfern begingen. Auch das benachbarte Laos geriet ins Visier der US-Armee, welche dort im Verlaufe des gesamten Vietnamkriegs mehr als zwei Millionen Tonnen Bomben abwarf, alle acht Minuten eine Flugzeuglandung, neun Jahre lang. Bis heute sind viele Gebiete des Landes immer noch nicht von allen Blindgängern geräumt. Laos ist bis heute das am meisten bombardierte Land der Welt.

1971 ergriffen die USA in der Auseinandersetzung zwischen Pakistan und dem nach einer grösseren Autonomie strebenden Bangladesch einseitig Partei auf der Seite der pakistanischen Militärdiktatur. Und wieder war es Henry Kissinger, der trotz Wirtschaftssanktionen, welche vom US-Kongress über Pakistan verhängt worden waren, durchzusetzen vermochte, dass US-Waffen an das pakistanische Militär geliefert wurden – für den als „kalten Krieger“ bekannten Kissinger war Pakistan im Kampf gegen den Kommunismus der bevorzugtere Verbündete als das auf der Seite Bangladeschs stehende demokratische Indien. Es kam zum Genozid in Bangladesch mit etwa einer Million Toten sowie rund 20 Millionen Menschen, welche nach Indien fliehen mussten.

Ebenfalls eine äusserst aktive und entscheidende Rolle spielte Henry Kissinger beim von der CIA unterstützten Putsch gegen Salvador Allende, den demokratisch gewählten Präsidenten Chiles, am 11. September 1973. Bereits ab Oktober 1970 hatte sich Kissinger mit allen Kräften dafür eingesetzt, dass sich in der gesamtamerikanischen Politik eine feindselige Haltung gegenüber Allende durchsetzen konnte. In welchem Ausmass Kissinger persönlich an diesem gewaltsamen Regierungsumsturz beteiligt war, ist bis heute umstritten. Zumindest räumte er in einem Telefonat mit Präsident Nixon Folgendes ein: „Nein, wir haben es nicht getan. Aber wir halfen ihnen und sorgten für möglichst gute Bedingungen.“ An die Stelle Allendes, der kurz darauf ermordet wurde, trat General Augusto Pinochet und es begann eine der fürchterlichsten Epochen in der Geschichte Chiles: Zwischen 30’000 und 100’000 Menschen landeten aus politischen Gründen im Gefängnis, die meisten von ihnen wurden auf grausamste Weise gefoltert. Im September 2002 verklagten elf Folteropfer des Pinochet-Regimes Kissinger und die amerikanische Bundesregierung auf Schmerzensgeld, doch es kam nie zu einem Gerichtsverfahren.

1975 plante der indonesische Präsident General Suharto eine völkerrechtswidrige Invasion Osttimors, um dieses Land unter seine Gewalt zu bringen. Er wurde dabei von US-Präsident Ford sowie Henry Kissinger ausdrücklich unterstützt – wieder ging es darum, das mögliche Aufkommen linksorientierter, marxistischer Kräfte, die in Osttimor eine wichtige Rolle spielten, von Anfang an mit aller Gewalt zu verhindern. Die folgende Invasion unter Präsident Suharto sowie eine 24 Jahre lang dauernde Besetzung des eroberten Gebiets kosteten insgesamt rund 183’000 Menschen das Leben, fast einem Drittel der Bevölkerung Osttimors.

„Ich glaube, wir müssen Fidel Castro zerschmettern“, sagte Henry Kissinger im März 1976 anlässlich eines geheimen Treffens hoher Sicherheitsbeamter, an dem auch John Brown, der Stabschef der US-Streitkräfte, sowie Verteidigungsminister Donald Rumsfeld teilnahm. Gegen Castro, den Kissinger als „halbe Socke“ bezeichnete, die man „früher oder später zerquetschen“ müsse, sollte gemäss dem Ansinnen Kissingers ein „begrenzter Kriegsplan“ ausgearbeitet werden, mit Bombardierungen und der Verbreitung von Minen in kubanischen Häfen, der Zerstörung militärischer und paramilitärischer Ziele sowie einer totalen Seeblockade. Erst Jimmy Carter, der im darauffolgenden Jahr zum US-Präsidenten gewählt wurde, vermochte Kissingers Kriegspläne zu stoppen.

Ab Juni 1976 traf sich der argentinische Aussenminister Guzzetti mehrmals mit Kissinger. Er forderte die Unterstützung seiner gegen die innenpolitische Opposition gerichtete nationale Sicherheitsdoktrin durch die USA. Kissinger sicherte Guzzetti – trotz Bedenken seitens des Botschafters der USA in Argentinien wegen möglicher Menschenrechtsverletzungen – seine volle Unterstützung zu. Guzzetti lehnte im Folgenden die Ermahnungen der US-Botschaft ab und berief sich dabei auf Kissingers „Verständnis“ für die Haltung Guzzettis. Es folgte die rasche Umsetzung der geplanten nationalen „Sicherheitsdoktrin“, was in der Folge zur Ermordung von rund 30’000 Menschen führte, welche grösstenteils vom argentinischen Militärapparat zu „spurlosem Verschwinden“ gebracht oder lebendigen Leibes aus Flugzeugen über dem Meer abgeworfen wurden.

Es mag wie die äusserste und letzte Perversion der Geschichte anmuten, wenn nun ausgerechnet dieser Henry Kissinger 1973 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, im gleichen Jahr, in dem er massgeblich am Sturz Allendes beteiligt gewesen war und bloss, weil er mit Nordvietnam ein Abkommen zur Beendigung jenes Krieges abgeschlossen hatte, den er selber an vorderster Front vorangetrieben hatte – wobei bezeichnenderweise nur Kissinger den Preis erhielt, nicht aber sein nordvietnamesischer Verhandlungspartner Le Duc Tho, der ihn fairerweise weitaus mehr verdient hätte.

Wie ist es möglich, dass die Wahrheit in ihr pures Gegenteil umgedreht wird? Und dass selbst fast alle Medien – zumindest in der westlichen Welt – dieses Spiel mitmachen? Was ist daran noch „demokratisch“? Was ist „gerecht“? Und es ist ja nicht das erste Mal. Auch Ronald Reagan, US-Präsident von 1981 bis 1989, wurde bei seinem Tod im Jahre 2004 als „Gigant der Geschichte“ gefeiert, und dies, obwohl er, indem er die Sowjetunion stets als „Reich des Bösen“ bezeichnete, den Kalten Krieg gefährlich anheizte, zudem infolge der Unterstützung der Militärdiktatur El Salvadors in den 80er-Jahren den Tod von rund 40’000 Oppositionellen auf dem Gewissen hatte und erst noch zwischen 1981 und 1990 einen verdeckten Krieg gegen die sandinistische Regierung Nicaraguas führte, der die gesamte Wirtschaft des Landes zerstörte und insgesamt über 50’000 Menschenleben forderte. Auch für Madeleine Albright, US-Aussenministerin zwischen 1997 und 2001, gab es bei ihrer Beerdigung am 23. März 2022 nur lobende Worte, und dies, obwohl die von ihr in den Neunzigerjahren gegen den Irak verhängten Wirtschaftssanktionen zum Tod von einer halben Million Kinder führten und sie sich noch Jahre später damit brüstete, der Tod dieser Kinder sei, in Anbetracht der damit verfolgten Ziele der US-Politik, den „Preis wert gewesen“. Und auch George W. Bush, verantwortlich für den völkerrechtswidrigen und aufgrund reiner Lügenpropaganda angezettelten Krieg gegen den Irak 2003, dem mehr als eine halbe Million überwiegend unschuldiger Menschen zum Opfer fielen, läuft immer noch frei herum und geniesst sogar nach wie vor höchstes gesellschaftliches Ansehen.

Längst schon verläuft der tiefste Graben nicht mehr zwischen Ost und West, zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Der tiefste Graben verläuft zwischen denen, die zur grossen Familie der Mächtigen und der ewigen Sieger gehören und sich schon längst über alle Grenzen hinweg in gegenseitiger Beweihräucherung zu einer globalen „Elite“ zusammengeschlossen haben, für die geschichtliche Erinnerung offensichtlich nur noch ein Schimpfwort ist und an denen all das unermessliche von ihnen verursachte Leiden und Sterben von Millionen Namenloser, systematisch zum Schweigen gebracht, unerbittlich abprallt. Allerhöchste Zeit, die Geschichte neu zu schreiben. Aber dieses Mal nicht von oben, sondern von unten.

Gaza mitten in der Nacht: Ein dreijähriger Bub rennt um sein Leben

Mitten in der Nacht
rennt der dreijährige Bub in seinem
schwarzzerfetzten Hemd
barfuss
ohne Eltern
ohne Bruder
ohne Schwester
alle verloren
verzweifelt die
Strasse voller Leichen entlang aus dem
Norden wo jetzt
wieder Bomben fallen in den
Süden wo gleichermassen wieder
Bomben fallen werden
Hunger
Durst
Kälte
blutende Füsse ein
blutendes Herz
ein drei Jahre alter Bub ohne
alle Hoffnung
mitten in der Nacht kann ich immer noch
nicht schlafen das
Bild lässt mich nicht los und selbst
wenn ich schliefe ich sähe ihn
augenblicklich wieder im Traum die
Strasse voller Leichen entlang rennen
hilflos kritzle ich ein paar Gedanken auf ein leeres Blatt Papier
bloss um irgendetwas zu TUN
ich schaue hinaus doch alles
ist dunkel und ich frage mich
wie können die alle jetzt so
ruhig schlafen wenn doch der
kleine Palästinenserbub
und Hunderte andere Kinder
mitten in der Nacht
hungrig durstig frierend mit
blutenden Füssen
immer noch um ihr
Leben rennen
aber vielleicht steckt doch allem zum Trotz
tief in uns drinnen immer noch jene unendliche Sehnsucht nach einer
Welt voller Frieden und Gerechtigkeit
vielleicht träumen ja alle die jetzt schlafen von diesem
kleinen Buben der um sein Leben rennt auch wenn sie sich am
nächsten Morgen nicht mehr daran erinnern werden
vielleicht wird ja dieser Traum von einer
ANDEREN WELT
allem zum Trotz doch noch eines
Tages wahr
von einer Welt in der nie mehr ein dreijähriges Kind
mitten in der Nacht
ohne seine Eltern
hungrig und durstig und frierend um sein
Leben rennen muss und andere
mitten in der Nacht
hilflos ein paar Gedanken auf ein
leeres Blatt Papier kritzeln
bloss um irgendetwas zu TUN
der Traum von einer Welt in der endlich
ALLE friedlich
schlafen können.


Die Schweiz werde in den grossen Konflikten als Friedensvermittlerin keine Rolle mehr spielen – wer hat denn diese „Wahrheit“ in die Welt gesetzt und weshalb glauben schon fast alle daran?

Es sei, so Aussenminister Ignazio Cassis, nicht die Rolle der Schweiz, mit der Hamas zu verhandeln. Auch die NZZ am Sonntag vom 26. November 2023 stellt fest: „Die Schweiz spielt in den grossen Konflikten keine Rolle mehr als Vermittlerin“ und, noch deutlicher: „Die Welt braucht uns nicht mehr.“ Und auch Mitte-Präsident Gerhard Pfister bläst ins gleiche Horn: „Es braucht einen realistischen Blick und das Eingeständnis, dass wir nicht die grossen Friedensstifter sind, für die wir uns halten.“ Was für ein Armutszeugnis. Weshalb soll die Schweiz nicht das schaffen können, was soeben das vier Mal kleinere Katar geschafft hat, indem es im Kontakt mit der israelischen Regierung und der Hamas eine Waffenpause und den gegenseitigen Austausch von Geiseln und Gefangenen ausgehandelt hat? Wer hat denn diese Behauptung, die Schweiz werde zukünftig nicht mehr als Vermittlerin von Friedenslösungen eine Rolle spielen, in die Welt gesetzt? Irgendeine „höhere“, unsichtbare Macht? Irgendein „Zeitgeist“? Irgendeine „Zeitenwende“?

Frieden ist doch keine Frage von Zeitgeist oder Zeitenwende. Wer immer etwas zur Aussöhnung zwischen Völkern und Staaten beitragen kann, hat doch schlicht und einfach die moralische Pflicht, dies zu tun, auch wenn es anfänglich noch so aussichtslos erscheinen mag, selbst wenn es am Ende vielleicht scheitert. Aber man muss es doch wenigstens versuchen. Nur wenige Länder hätten hierfür so optimale Voraussetzungen wie die Schweiz mit ihrer jahrhundertelangen Neutralität und humanitären Tradition. Haben wir vergessen, wie unglaublich viel beispielsweise Mahatma Gandhi oder Martin Luther King mit ihrem unerschütterlichen Glauben an die Gewaltlosigkeit und ihrem radikalen Einstehen für Frieden und Gerechtigkeit erreicht haben? Müssten wir uns nicht vermehrt wieder solche charismatische Persönlichkeiten zum Vorbild nehmen und alles daran setzen, ihren Spuren zu folgen? Denn nicht die Geschichte sollte die Menschen lenken, sondern die Menschen sollten die Geschichte lenken.

Urban Studies an der Universität Basel: „Fanatismus“ oder längst fällige, vorurteilsfreie Aufarbeitung historischer Realitäten?

Seit es in der Schweiz Universitäten gibt, waren diese ein Abbild westlich-kapitalistischer Machtverhältnisse, wo stets die Lehre der freien Marktwirtschaft verbreitet wurde, als gäbe es nichts Vernünftiges ausserhalb davon. Ausbeutungsverhältnisse zwischen profitierenden und ausgebeuteten Ländern waren selten ein Thema und im Geschichtsstudium lernt man sogar bis heute, die Schweiz sei nie aktiv an Kolonialismus und Sklavenhandel beteiligt gewesen. Und dies, obwohl der Historiker Hans Fässler bereits 2005 in seinem Buch „Reise in Schwarz-Weiss“ die engen Verstrickungen der Schweiz mit dem transatlantischen Sklavengeschäft aufgezeigt hat und die Schweiz als Drehscheibe im globalen Rohstoffhandel und als weltweit führender Finanzplatz mehr als die meisten anderen Ländern bis heute von den durch den Kolonialismus geschaffenen Abhängigkeits- und Ausbeutungsstrukturen profitiert, was sich nur schon darin zeigt, dass die Schweiz im Handel mit „Entwicklungsländern“ gemäss der Entwicklungsorganisation Oxfam einen 50 Mal höheren Profit erwirtschaftet, als sie diesen Ländern in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückgibt.

Dies alles löste nie einen Aufschrei aus. Erst jetzt, seitdem aus dem Fach Urban Studies an der Universität Basel im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt Begriffe wie „Landkarten als Terrains der Macht“, „systematischer Rassismus“ oder „Apartheid“ zu vernehmen sind, bricht die grosse Empörung aus und die „Sonntagszeitung“ spricht gar von einem „Fanatismus an der Universität Basel“. Die Frage ist bloss, was denn wohl fanatischer ist, ein über so lange Zeit aufrechterhaltendes Vertuschen historischer Realitäten oder der Mut, die Aufarbeitung dieses wichtigen Themas endlich vorurteilsfrei in Angriff zu nehmen.

Voice of Germany: Die Absurdität des Wettbewerbs

Von sämtlichen Hobbysängerinnen und Hobbysängern, die sich für den Songcontest „Voice of Germany“ 2023 angemeldet hatten, durften 150 an den sogenannten „Blind Auditions“ teilnehmen. Ende November kämpfen nun 36 Kandidatinnen und Kandidaten um den Einzug ins Halbfinale, wo noch zwölf von ihnen dabei sein werden, um dann ein letztes Mal gegeneinander anzutreten, bis der Sieger oder die Siegerin des diesjährigen Contests definitiv feststeht.

Noch sitzt sie auf einem der vier Stühle, wo die Gewinnerinnen und Gewinner der ersten Runde vor dem Einzug ins Halbfinale Platz genommen haben. Eben noch hat ihre Engelsstimme, ohne auch nur einen einzigen Misston, die Herzen des Publikums berührt. Doch jetzt stampft ihr Herausforderer mit lauter Stimme und wild gestikulierend über die Bühne, viele im Publikum beginnen zu kreischen, immer mehr haben sich von ihren Sitzen erhoben, klatschen und stampfen begeistert mit. Und schon längst weiss sie, dass es nur noch eine oder zwei Minuten gehen wird, bis sie ihren Sitz räumen und ihrem Herausforderer Platz machen muss, mit zu grosser Wucht ist er aufgefahren, hat von allem Besitz ergriffen, alles Vorherige weggefegt und die Erinnerung an ihre eben noch so leisen, sphärenhaften Töne ausgelöscht. Mit Tränen in den Augen verlässt sie die Bühne, der monatelange Traum, eine weltberühmte Sängerin zu werden, hat sich innerhalb von drei Minuten in Nichts aufgelöst. Strahlend sitzt der Wilde jetzt auf dem Stuhl, wo eben noch der Engel sass. Doch bereits steht die nächste Herausforderin am Mikrofon und das gnadenlose Spiel geht unerbittlich weiter…

Weshalb um alles in der Welt muss es immer Sieger und Verlierer geben? Weshalb müssen 999 Träume platzen, damit am Ende EIN Traum in Erfüllung geht? Wozu all die Tränen, die Enttäuschungen, das gebrochene Selbstvertrauen? Ist es für das TV-Publikum so viel prickelnder, schafft es so viel höhere Einschaltquoten, wenn man die Menschen gegeneinander um Sieg und Niederlage kämpfen lässt, als wenn man sie ganz einfach gemeinsam ein grosses Fest der Talente feiern liesse, das Fest einer unendlichen Vielfalt an Begabungen, die man so wenig miteinander vergleichen kann, wie man auch die Menschen als solche in ihrer Einzigartig ganz und gar nicht miteinander vergleichen kann? Lässt sich das, was der berühmte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi vor über 250 Jahren in Bezug auf die Kinder sagte, nämlich, dass man keines mit einem anderen vergleichen dürfe, sondern stets nur jedes mit sich selber, nicht gleichermassen auf die Erwachsenen zu? Oder haben wir uns an die gesellschaftliche „Normalität“ ständigen Bewertens, Messens, Vergleichens und Aufspaltens der Menschen in Gewinner und Verlierer schon so sehr gewöhnt, dass wir sie unbesehen auch in all jenen Lebensbereichen anwenden, wo sie rein gar nichts zu suchen haben?

Ich rede nicht von denen, die nicht gut singen, nicht gut tanzen oder keine schönen Gedichte schreiben können. Wenn jemand nur schiefe Töne hervorbringt, beim Tanzen über seine eigene Beinen stolpert oder Gedichte schreibt, die keine einzige Seele berühren, dann darf man ihm ruhig sagen, dass er sich vielleicht besser andere Wege suchen soll, um herauszufinden, wo seine tatsächlichen Begabungen schlummern. Wenn aber ein Engel singt und jeder Ton durch Mark und Bein geht, dann wurde in diesem Augenblick ein Star geboren und ein Talent entdeckt, das man dann doch nicht mir nichts dir nichts gleich wieder zuschütten darf, bloss weil eine andere Stimme noch ein ganz klein wenig schöner klingt oder ein anderer Song einen Rhythmus hat, der das Publikum viel schneller von den Stühlen zu reissen vermag. Weshalb kann man Talentshows nicht so gestalten, dass es zwar durchaus eine hohe Messlatte geben darf, dass aber, wer diese erreicht, zum Talent erkoren wird und so etwas wie einen „Mastertitel“ zugesprochen bekommt, den ihm dann niemand mehr wegnehmen kann. Dann würden, je nach dem Gesamtpotenzial der vorhandenen Begabungen, in der einen dieser Talentshows vielleicht neunzig „Mastertitel“ verliehen, in einer anderen vielleicht tatsächlich nur ein einziger. Kein einziger Traum, der auf einer tatsächlichen Begabung beruht, müsste dann platzen, alle, die es verdient haben, könnten sich freuen, alle wären erfolgreich und die alte Geschichte vom Siegen und Verlieren wäre damit endlich überwunden.

Wie absurd, einer einzigen von 150 Stimmen zu Weltruhm zu verhelfen und gleichzeitig 149 Stimmen für immer verstummen zu lassen. Wie wenn du in einen Wald gehen und „Voice of Forest“ spielen würdest, alle Vögel des Waldes gegenseitig um die Wette singen liessest, bis am Ende nur noch ein einziger von ihnen übrig geblieben wäre und alle anderen, zu Tode erschöpft, für immer aufgehört hätten, ihre Lieder weiter zu singen. Glücklicherweise kommen Tiere nicht auf so absurde Gedanken…

Objektive, unvoreingenommene und aufklärende Berichterstattung wichtiger denn je

Fällt es mir erst jetzt, zurzeit des Nahostkonflikts, immer wieder so deutlich auf, oder war es immer schon so? Anstelle sachbezogener Informationsvermittlung beinhalten Zeitungsartikel häufig ziemlich einseitige, voreingenommene, um nicht zu sagen tendenziöse Aussagen. Dazu im Folgenden zwei Beispiele aus dem „Tagblatt“ vom 18. November 2023.

Zunächst der Wochenkommentar von Patrik Müller zum „Fall der Klimaaktivistin Greta Thunberg“ mit dem bereits schon reichlich tendenziösen Titel VORSICHT VOR MORALAPOSTELN UND FANATIKERINNEN.

Müller unterstellt Greta Thunbergs Klimabewegung „religiöse Züge“, ohne dies allerdings näher zu begründen, und nennt sie eine „Erlöserfigur“, bedient sich also selber eines religiösen Vokabulars, ausgerechnet das, was er ihr vorwirft. Weiter schreibt er, am WEF in Davos seien ihr alle „zu Füssen gelegen“ und hätten ihr „entrückt“ zugehört – was erstens krass übertrieben ist und zweitens offen lässt, ob dies nun ein Vorwurf an Greta Thunberg sein soll oder eher an ihr Publikum. Auch wirft er Greta Thunberg vor, sie sei an einer Veranstaltung „in ein Palästinensertuch gehüllt“ aufgetreten, „Seite an Seite mit Aktivisten, die antisemitische Parolen skandierten“, von denen eine sogar behauptet hätte, Israel begehe im Gazastreifen „Völkermord“ – erstens ist es Greta Thunbergs gutes Recht, aus Solidarität mit den berechtigten Anliegen des palästinensischen Volks nach politischem Selbstbestimmungsrecht ein Palästinensertuch zu tragen, zweitens kann man sie nicht für Aussagen von anderen Menschen verantwortlich machen, die zufällig neben ihr standen, sonst müsste man noch manchen Politiker für irgendetwas verantwortlich machen, bloss weil er irgendwo mal an der Seite von irgendwem stand, und drittens ist das, was diese Aktivistin sagte, nämlich, dass Israel im Gazastreifen Völkermord begehe, nichts anderes als das, was unlängst auch mehrere Minister der spanischen Regierung sowie 30 unabhängige Berichterstatter der UNO gesagt haben. Müller wirft sodann die Frage auf, weshalb sich Greta Thunberg nicht auf ihr „Kerngeschäft“ beschränke. Doch weshalb soll sie sich nicht zum Nahostkonflikt äussern und eine pointierte Haltung einnehmen dürfen? Will man ihr dies nur deshalb verwehren, weil man sie ausschliesslich auf die Rolle der Klimaaktivistin reduzieren möchte? Oder hat man Angst davor, sie könnte dank ihrer Popularität andere Menschen zu sehr beeinflussen? Schliesslich steigert sich Patrik Müller zur Behauptung, die zwanzigjährige Greta Thunberg sei „komplett überfordert“. Ich sehe die Überforderung allerdings eher bei denen, die nichts Gescheiteres wissen, als eine so mutige, idealistische junge Frau, der es nicht egal ist, wie unsere Erde in zehn, zwanzig oder dreissig Jahren aussehen wird, mit weit hergeholten Unterstellungen, Schlagwörtern und Schuldzuweisungen in ein schiefes Licht zu rücken, bloss weil sie Dinge sagt, die nicht allen passen.

Zweitens ein Artikel von Julian Schütt mit dem Titel „Wenn die Hamas fortbesteht, geht unsere Zivilisation zu Ende“.

Ohne die Terrorattacke vom 7. Oktober auch nur im Entferntesten rechtfertigen zu wollen, muss man schon daran erinnern, dass dies nicht das einzige und nicht einmal das schlimmste Verbrechen war, von dem die Welt in diesem Jahrhundert bis jetzt betroffen war. Denken wir nur, um ein einziges Beispiel zu nennen, an den Irakkrieg 2003, der von den USA in Verletzung des internationalen Völkerrechts und aufgrund einer reinen Lügenpropaganda angezettelt wurde und den Tod von über einer halben Million unschuldiger Zivilpersonen zur Folge hätte. Da hätte man dann noch mehr Grund gehabt, ein „Ende unserer Zivilisation“ heraufzubeschwören. Weiter behauptet Schütt: „Schweizer Demonstranten, die einen sofortigen Waffenstillstand fordern, und Politiker, die im Namen der ganzen Schweiz jener antiisraelischen UNO-Resolution zustimmten, behandeln die Hamas als ernst zu nehmende Gesprächspartnerin und helfen ihr so.“ Da wird nun wirklich alles in einen Topf geworfen. Erstens behandeln bei weitem nicht alle Schweizer Demonstranten, die einen sofortigen Waffenstillstand fordern, die Hamas als ernst zu nehmende Gesprächspartnerin, sondern haben im Gegenteil grösstenteils den Angriff der Hamas stets aufs Schärfste verurteilt, trotzdem fordern sie einen sofortigen Waffenstillstand, was wohl angesichts der aktuellen Lage das einzige Vernünftige ist, oder sollen noch weitere Tausende unschuldige Männer, Frauen und Kinder sterben? Zweitens war die UNO-Resolution, der die Schweizer Delegation zustimmte, alles andere als antiisraelisch. Diese Resolution verurteilt “jegliche Gewalt gegen israelische und palästinensische Zivilpersonen” (damit also auch den Angriff der Hamas), fordert die „sofortige und bedingungslose Freilassung aller Zivilpersonen“, die „illegal festgehalten“ werden, verlangt „ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe in den Gazastreifen“, eine „sofortige Waffenruhe“ und eine „Einstellung aller Feindseligkeiten“. Was soll an dieser Resolution „antiisraelisch“ sein? Schliesslich schreibt Schütt: „Die Schweizer Politik, besonders auf der linken Seite, täte gut daran, wirksamer gegen den grassierenden Antisemitismus und gegen antiisraelische Tendenzen in unserem Land vorzugehen.“ Wieder wird alles durcheinandergemischt. Erstens kommt – wie gerade eine kürzlich publizierte Untersuchung ergeben hat – Antisemitismus weitaus häufiger von der politischen Rechten als von der politischen Linken. Zweitens kann man Antisemitismus und antiisraelische Tendenzen nicht im gleichen Atemzug nennen, im Gegenteil, eine klare Differenzierung ist wichtig. Antisemitismus bedeutet, das jüdische Volk als etwas Minderwertiges zu bezeichnen, dies ist fraglos klar zu verurteilen. Wer aber die heutige Machtpolitik der israelischen Regierung kritisiert, ist deswegen noch lange kein Antisemit. Man darf die israelische Regierung genauso kritisieren, wie man auch jede andere Regierung der Welt kritisieren darf. Leider wird Kritik an der israelischen Regierung häufig mit dem Argument abgeblockt, dies sei etwas Antisemitisches, was ganz und gar nicht der Fall ist.

Einseitige Schuldzuweisungen, fehlende Differenzierung und Vermischung von Begriffen, die nichts miteinander zu tun haben, bringen uns nicht weiter. In einer emotional so aufgeladenen Zeit wie der unseren ist möglichst objektive, unvoreingenommene und aufklärende Berichterstattung wichtiger denn je.

Oliver Diggelmann: Ein „Völkerrechtler“ erklärt uns den Krieg und dass Töten „legal“ sein kann und alles bloss die Frage einer „angemessenen Güterabwägung“ ist…

Oliver Diggelmann ist Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich. In einem Interview mit dem „Tagesanzeiger“ vom 18. November 2023 verbreitet Diggelmann Theorien, von denen man die eine oder andere wohl durchaus kritisch hinterfragen müsste.

So etwa beantwortet er die Frage, ob Israels Einsatz gegen das Al-Shifa-Spital völkerrechtlich legal sei, wie folgt: „Wenn wirklich feststeht, dass sich unter dem Spital eine Kommandozentrale, ein Waffenlager oder ein Versteck für Soldatinnen und Soldaten befindet, und sofern gewarnt und eine Frist eingeräumt wurde, ist der Einsatz Israels im Grundsatz legal. Erwartbare militärische Vorteile und Opfer müssen in einem vertretbaren Verhältnis sein. Das ist natürlich eine teuflische Abwägung.“ Geht es da um Mathematik oder um Menschen? „Sofern gewarnt und eine Frist eingeräumt wurde“ – Was heisst das konkret für Schwerverletzte, für Babys, für Patientinnen und Patienten, die an Infusionen hängen, was für eine „Frist“ benötigen die, um aus dem Spital evakuiert zu werden, und wohin sollen sie dann gebracht werden, auf die Strasse, wo sie Bombardierungen noch schutzloser ausgeliefert sein werden als im Spital selber? „Erwartbare militärische Vorteile und Opfer müssen in einem vertretbaren Verhältnis sein“: Was ist „vertretbar“ und wem gegenüber, kann man Menschenleben überhaupt gegeneinander aufrechnen, ist nicht jede Vernichtung auch nur eines einzigen Menschen ein Verbrechen, das durch nichts zu rechtfertigen ist? Und was meint Diggelmann, wenn er von einer „teuflischen Abwägung“ spricht? Wenn es schon „teuflisch“ ist, müsste er dann als Professor für Völkerrecht nicht einen sofortigen Waffenstillstand fordern und nichts, absolut nichts anderes, kein Abwägen, kein Aufrechnen, kein Relativieren, einfach nichts?

Auf die Frage, ob ein unterirdisches Waffenlager ausreiche, um ein Spital als militärisches Ziel zu betrachten, sagt Diggelmann, dass ein paar Gewehre das Spital noch nicht zu einem militärischen Objekt machen würden, ein „substanzielles Waffenlager“ aber schon. Was bedeutet in diesem Zusammenhang „substanziell“ und wer definiert das? Gibt es „böse“ Waffen – die Gewehre der Hamas – und „gute“ Waffen – die Bomben der israelischen Armee -, mit denen man die „bösen“ Waffen zerstören darf, egal, ob dabei ein paar Dutzend schwerverletzte Kinder ihr Leben verlieren? Kann man Leben retten, indem man Leben zerstört?

„Wenn die Hamas“, sagt Diggelmann, „das Spital dazu nutzt, Kampfhandlungen von sich fernzuhalten – und vieles spricht dafür, dass dies der Fall ist -, so ist das klarerweise ein Kriegsverbrechen.“ Aber wenn die israelische Armee über 12’000 zum allergrössten Teil unschuldige Kinder, Frauen und Kinder ermordet, dann soll dies kein Kriegsverbrechen sein?

„Wenn Terroristen inmitten von Zivilisten kämpfen“, so Diggelmann, „kommt es zu einer Güterabwägung. Wenn Zivilpersonen quasi als Nebenfolge des Einsatzes gegen ein militärisches Ziel getötet werden, kann dies legal sein – sofern Verhältnismässigkeit vorliegt. Man spricht dann von Kollateralschäden. Gleichermassen kann es legal sein, Gewalt gegen Sanitätseinrichtungen auszuüben, wenn sie militärisch genutzt werden.“ Unschuldige Menschen töten könne legal sein, „Kollateralschäden“ seien in Kauf zu nehmen? „Güterabwägung“, „Verhältnismässigkeit“ – spricht Diggelmann hier eigentlich von Kartoffelsäcken, von Plastikeimern oder von Menschen? War er jemals selber mitten in einem Kriegsgebiet, hat er jemals die Schreie eines zu Tode verwundeten Kindes gehört, das zuerst seine beiden Eltern und kurz darauf seine beiden Beine verloren hat? Oder hat Diggelmann alle seine Theorien nur in der Schreibstube seiner Universität entwickelt?

„Die israelische Offensive“, erklärt Diggelmann, „ist gerechtfertigt, soweit die Kampfhandlungen der Abwehr des Angriffs dienen und die Gesamtintensität noch als verhältnismässig gelten kann.“ Ist sich Diggelmann der Widersprüchlichkeit seiner Aussage eigentlich nicht bewusst? Er rechtfertigt den Angriff Israels auf den Gazastreifen, der bisher über 12’000 Menschen das Leben gekostet hat, als Antwort auf den Angriff der Hamas auf israelische Zivilpersonen, welche etwa 1400 Menschenleben gekostet hat, würde aber vermutlich jeden Versuch, diesen Angriff der Hamas als Antwort auf die 75jährige Leidensgeschichte des palästinensischen Volkes nicht einmal rechtfertigen, sondern lediglich erklären zu wollen, in aller Entschiedenheit weit von sich weisen. Was ist da noch „verhältnismässig“?

„Verhältnismässigkeitsfragen“, sagt Diggelmann, „haben immer etwas sehr Vages, wenn sie Ereignisse in der Zukunft betreffen. Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit wirkt begrenzender, wenn er auf bereits feststehende Tatsachen angewandt wird.“ Verstehe das, wer wolle. Zurück bleibt so oder so die beklemmende Frage, wofür ein „Völkerrechtler“ an einer schweizerischen Universität forscht und lehrt, solange er nicht seine ganze Kompetenz, sein ganzes Wissen, seine ganze Erfahrung, seine ganzen Studien und sein ganzes Ansehen in die Waagschale wirft und dafür benützt, um sich nur schon von der leisesten Idee, ein Konflikt wie der zwischen Israel und der Hamas könne mit militärischen Mitteln auch nur ansatzweise sinnvoll gelöst werden, in aller Entschiedenheit zu distanzieren und ohne jeglichen Hinweis auf „Verhältnismässigkeit“, „Güterabwägung“, „legales“ Töten Unschuldiger, „militärische Vorteile“ und „Kollateralschäden“ nichts anderes zu fordern als einen sofortigen, bedingungslosen Waffenstillstand und eine Lösung des Konflikts mit friedlichen Mitteln.

10’000 Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten auf dem Bundeshausplatz in Bern: Kämpfen für etwas, was schon längst selbstverständlich sein müsste…

Bern, Bundeshausplatz, 17. November 2023. Rund 10’000 Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten aus allen Landesteilen haben sich eingefunden, stellvertretend für über 280’000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner einer Petition, mit der die Zurückweisung einer vom Bundesrat vorgeschlagenen Tarifänderung in der Physiotherapie gefordert wird. Die Umsetzung dieser Tarifänderung hätte zur Folge, dass neu eine kurze Sitzung mit einer Dauer von 20 Minuten eingeführt würde, wobei maximal fünf Minuten für die Wechselzeit, die Konsultation und das Führen des Patientendossiers aufgewendet werden dürften und somit neu nur noch 15 Minuten für die Behandlung zur Verfügung stehen würden, eine Zeit, in der gemäss dem Verband Physioswiss „keine zweckmässige Behandlung“ möglich wäre. Zudem würden auch die fünf Minuten zwischendurch bei weitem nicht für sämtliche anfallende Zusatzarbeiten, Terminabsprachen, Telefonate, usw. ausreichen, sodass erhebliche Zusatzarbeit ohne Bezahlung geleistet werden müsste. Dies alles innerhalb eines Tarifsystems, das seit 30 Jahren nicht mehr angepasst worden ist, sodass sich bereits heute, gemäss Physioswiss, viele Therapeutinnen und Therapeuten „zunehmend an der Existenzgrenze bewegen“. Kein Wunder, geben 54 Prozent von 1200 befragten Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten an, dass sie sich bei einer Tarifänderung überlegen, ganz aus dem Beruf auszusteigen. 42 Prozent der Praxisbesitzer würden sich überlegen, die Praxis zu schliessen. 90 Prozent der Befragten sagen, dass sie bei einem Tarifeingriff finanzielle Einbussen erleiden würden, und 73 Prozent geben an, dass gewisse Patientengruppen nicht mehr behandelt werden könnten, weil die Kosten für den Aufwand nicht mehr gedeckt wären.

Doch eigentlich könnten an diesem 17. November 2023 auch 10’000 Verkäuferinnen auf dem Bundeshausplatz stehen. Oder 10’000 Coiffeusen. Oder 10’000 Kosmetikerinnen. Oder 10’000 Bauarbeiter. Oder 10’000 Angestellte von Callcentern. Oder 10’000 Landarbeiter. Oder 10’000 Krankenpflegerinnen. Oder 10’000 Fabrikarbeiterinnen. Oder 10’000 Köche. Oder 10’000 Zimmermädchen. Oder 10’000 Serviceangestellte. Oder 10’000 Prostituierte. Oder 10’000 alleinerziehende Mütter. Oder 10’000 Bäcker. Oder 10’000 LKW-Fahrer. Oder 10’000 Paketboten. Sie alle würden fast mit den gleichen Worten die fast genau gleichen Geschichten erzählen. Die Geschichten von harter, oft zermürbender, stressiger, krankmachender Arbeit für wenig Lohn und mit geringer gesellschaftlicher Wertschätzung. Während oben, am anderen Ende der gesellschaftlichen Machtpyramide, immer mehr Geld in die Hände von Reichen und Superreichen fliesst, die sich immer noch verrücktere und überflüssigere Dinge einfallen lassen müssen, um ihr viel zu vieles Geld irgendwie wieder loszuwerden.

Eigentlich geht es an diesem 17. November 2023 nicht nur um ein neues Tarifsystem in der Physiotherapie. Eigentlich geht es, obwohl niemand dieses Wort in den Mund nimmt, um den Kapitalismus. Um ein Wirtschaftssystem, das darauf abzielt, aus den arbeitenden Menschen in immer kürzerer Zeit eine immer höhere Leistung herauszupressen. Ein Wirtschaftssystem, das auf dem gegenseitigen Konkurrenzkampf um Lohn, Anerkennung und sozialen Aufstieg beruht und das stets aufs Neue und in wachsendem Ausmass diejenigen belohnt, welche auf den unsichtbaren Karriereleitern immer weiter in die Höhe klettern, während alle jene, die ganz unten, an der Basis, die Aufrechterhaltung der Grundversorgung sicherstellen, für alle ihre Opfer zu allem Überdruss noch mit geringem Lohn und geringer Wertschätzung bestraft werden. Ein Wirtschaftssystem, das unaufhörlich die Arbeit der einen in den Reichtum und den Luxus der anderen verwandelt. Ein Wirtschaftssystem, das nicht nur die Menschen, sondern auch die Natur unaufhörlich ausbeutet, um die verrückte und zerstörerische Idee eines unbegrenzten Wachstums aller Vernunft zum Trotz aufrechtzuerhalten.

Aber es geht ja noch weiter. Wer und wo, zu welchen Arbeitsbedingungen und mit was für einem Lohn, hat die Tausenden von gelb-blauen Schals genäht, die der heutigen Kundgebung einen so farbenfrohen Ausdruck verleihen? Wer und wo, zu welchen Arbeitsbedingungen und mit was für einem Lohn, hat die Tausenden von Handys, mit denen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Kundgebung gegenseitig fotografieren, Informationen zuspielen und Termine abmachen, zusammengebaut und wer und wo, zu welchen Arbeitsbedingungen und mit was für einem Lohn, hat all die seltenen Erden aus dem Boden geschürft, ohne welche alle diese Handys keine Sekunde lang funktionieren würden? Und wer und wo, zu welchen Arbeitsbedingungen und mit was für einem Lohn, hat die Milliarden von Kaffeebohnen gepflückt, ohne den es nicht den Kaffee gäbe, den wir dann nach der Kundgebung bei Starbucks, Tschibo oder am Bahnhof genüsslich schlürfen werden? Fast immer steht nur ein einzelnes Phänomen im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, aber eigentlich hängt alles mit allem auf unsichtbare Weise zusammen: Ausbeutung über alle Grenzen hinweg in einer Welt, in der die einen auf Kosten der anderen reich werden und „erfolgreich“ sind und die Kluft zwischen Reich und Arm immer schärfer an die Oberfläche tritt. Gegen einzelne Missstände anzukämpfen, ist gut und wichtig. Aber es genügt nicht und es würde dann nur bei der reinen Symptombekämpfung bleiben. Es geht um das Ganze. Es geht darum, an die Stelle gegenseitiger Ausbeutung die gegenseitige Solidarität zu setzen, Gemeinschaftsdenken anstelle von egoistischem Machtstreben, Teilen statt Raffgier, soziale Gerechtigkeit. „Was alle angeht“, sagte Friedrich Dürrenmatt, „können nur alle lösen.“

„Eigentlich bin ich keine Rednerin“, sagt eine junge Physiotherapeutin, die gegen den Schluss der Kundgebung das Wort ergreift, „aber mein Herz ist so traurig, dass ich einfach hier stehen und zu auch sprechen muss.“ Es wird an diesem Tag die berührendste, kürzeste und zugleich stärkste Rede gewesen sein. Vielleicht sind ja die, welche bisher am längsten geschwiegen haben, am längsten geduldig gewesen sind, es sich am wenigsten zugetraut haben, öffentlich das Wort zu ergreifen, genau die, welche uns und der ganzen Welt am meisten zu sagen haben…

Schweizerischer Bundesbeamter gegen Antisemitismus: Und wer befasst sich mit der Islamophobie?

Der „NZZ am Sonntag“ vom 12. November 2023 ist zu entnehmen, dass die Staatspolitische Kommission des Nationalrates aufgrund einer Anfrage des jüdischen Autors Thomas Meyer eine Motion verabschiedet hat, die verlangt, dass der Bund einen Aktionsplan gegen Antisemitismus und Rassismus vorlegt. Auch die Schaffung einer neuen Stelle nach dem Vorbild des Antisemitismusbeauftragten in Deutschland, der als Ansprechperson für jüdische Gruppen fungiert, steht zur Debatte. Weiter lese ich, dass der Schweizerische Israelitische Gemeindebund SIG den Entscheid der Kommission explizit begrüsst, denn es brauche die „sichtbare Stimme des Bundes, mit der nötigen Kompetenz explizit gegen Antisemitismus Stellung zu beziehen“.

Zwar scheint die Motion auf den ersten Blick einen Aktionsplan gegen „Antisemitismus und Rassismus“ zu verlangen. Im Folgenden ist dann aber nur noch von „Antisemitismus“ die Rede, vor allem auch mit der Bezugnahme auf Deutschland (Antisemitismusbeauftragter) und der Stellungnahme des SIG, wo ebenfalls ausschliesslich von Antisemitismus die Rede ist.

Dies erscheint mir angesichts der heutigen Situation betreffend Nahostkonflikt doch eine zu einseitige Parteinahme zu sein. Wenn man sich nämlich in den sozialen Medien umschaut, ist Rassismus gegenüber Moslems und insbesondere gegenüber Palästinenserinnen und Palästinensern mindestens so weit verbreitet wie Antisemitismus, bis hin zur oft gehörten Meinung, jeder Moslem bzw. Palästinenser sei ein Hamas-Sympathisant oder sogar ein potenzieller Terrorist. Mehrfach waren in den letzten Wochen in den Tageszeitungen Artikel zu lesen, die belegen, wie sehr Moslems in der Schweiz von Rassismus und pauschalen Schuldzuweisungen betroffen sind.

Es kann doch nicht sein, dass die offizielle Schweiz die eine Form des Rassismus so klar verurteilt und die andere Form gänzlich verschweigt. Hätte die Staatspolitische Kommission des Nationalrats, wenn ein Schriftsteller mit palästinensischen Wurzeln auf sie zugekommen wäre, wohl ebenso spontan und bereitwillig eine Motion verabschiedet zur Einführung eines Aktionsplans gegen Islamophobie und die Ernennung eines hierfür zuständigen Bundesbeamten?

Mit diesem Schreiben gelangte ich am 12. November an das Präsidium und mehrere Mitglieder der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats. Eine Antwort steht zur Zeit noch aus.