Bundesrätin Viola Amherd möchte die Schweiz unter einen internationalen Raketenschirm stellen: Fragwürdiger Entscheid mit weitreichenden Folgen…

 

Die von der schweizerischen Bundesrätin Viola Amherd unterzeichnete Absichtserklärung, die Schweiz gemeinsam mit Deutschland und Österreich unter einen internationalen Raketenschirm zu stellen, wirft viele Fragen auf. Kann ein so weitreichender und möglicherweise folgenschwerer Entscheid tatsächlich, wie Amherd sagt, allein vom Bundesrat, ohne Mitwirkung des Parlaments und des Parlaments, getroffen werden? Lässt sich der Entscheid tatsächlich mit dem schweizerischen Grundsatz der Neutralität vereinbaren, wo er doch eindeutig als „Reaktion europäischer Länder auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine“ begründet wird? Amherd behauptet zwar, die Schweiz würde trotz dieser Absichtserklärung „jegliche Teilnahme an internationalen militärischen Konflikten ausschliessen“. Aber was soll es dann für einen Sinn machen, gemeinsam mit anderen Ländern Waffen anzuschaffen, gemeinsam zu trainieren und eine gemeinsame Logistik aufzubauen – um dann, wenn es tatsächlich drauf und dran käme, aus dem ganzen Projekt wieder auszusteigen? Viel wahrscheinlicher wäre es dann wohl, dass die Schweiz – mitgehangen, mitgefangen – wohl oder übel in einen internationalen militärischen Konflikt hineingerissen würde. Es ist schon bemerkenswert, mit was für einer Hektik und einem vorauseilenden Gehorsam die Schweiz hier in die Bresche springt, während etwa Länder wie Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, Irland, Griechenland, Polen und die Türkei noch abwartend beiseite stehen. Was noch viel erstaunlicher ist: Dass die Opposition gegen diesen Entscheid ausschliesslich von der SVP kommt, während sich die Linken und die Grünen trotz ihrer pazifistischen und neutralitätspolitischen Tradition vornehm in Schweigen hüllen. 

30 Jahre Diskussionssendung „Arena“ am Schweizer Fernsehen: Vielversprechende Chance verpasst…

 

In der Jubiläumssendung „30 Jahre Arena am Schweizer Fernsehen“ vom 30. Juni 2023 wurde umfassend und mit zahlreichen Einspielungen besonders spektakulärer Momente sowie Kommentaren und Erinnerungen sämtlicher bisheriger Moderatorinnen und Moderatoren dieser Sendung Rückschau gehalten. Es hätte aber auch um einen Blick in die Zukunft gehen sollen und zu diesem Zweck wurden Vertreterinnen und Vertreter jener vier Jungparteien eingeladen, deren „Mutterparteien“ im Bundesrat vertreten sind.

Doch erschreckend, wie wenige Visionen und wie wenige kritische, mutige Blicke in die Zukunft von den Vertreterinnen und Vertretern der Jungparteien zu hören waren. Mehr oder weniger unbesehen plapperten sie die ewig gleichen Parolen ihrer jeweiligen „Mutterpartei“ nach und verharrten weitgehend im gleichen Hickhack und in den gleichen gegenseitigen Anschuldigungen, von welchen schon seit 30 Jahren die Debatten der „Arena“ geprägt sind: Die Vertreterin der jungen SVP warnte vor „Masseneinwanderung“, der Vertreter der jungen FDP lobte die Vorzüge der freien Marktwirtschaft, die Vertreterin der jungen Mitte schob alle Schuld an gegenseitigen Blockierungen den „viel zu extremen Polparteien“ in die Schuhe und selbst der Vertreter der Juso begründete die Notwendigkeit der Zuwanderung von Fachkräften mit den existenziellen Bedürfnissen des Wirtschaftswachstums, obwohl doch nichts so nötig wäre, als, nicht zuletzt im Hinblick auf den Klimawandel, die Ideologie eines immerwährenden Wirtschaftswachstums ganz grundsätzlich in Frage zu stellen. Und ganz in der Tradition der Beharrlichkeit auch die Auswahl der Podiumsteilnehmerinnen und Podiumsteilnehmer: Hätte man, wenn es schon um die Zukunft hätte gehen sollen, nicht auch einen Vertreter oder eine Vertreterin der jungen Grünen einladen sollen? Oder einen Vertreter oder eine Vertreterin all jener jungen Menschen, die sich schon längst von der traditionellen Parteienpolitik verabschiedet haben und von denen wohl viele von einer friedlichen und sozial gerechten Zukunft in Einklang mit der Natur träumen, jenseits von rechthaberischer Selbstprofilierung der einen auf Kosten der anderen, von einer Welt, in der es vor allem darum geht, die grossen Zukunftsprobleme der Menschheit nicht gegeneinander, sondern gemeinsam anzupacken, so wie das Friedrich Dürrenmatt einmal gefordert hatte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ Dabei wären ja solche neue, unverbrauchte Stimmen durchaus greifbar gewesen, bei all den Dutzenden Schülerinnen und Schülern und Lehrlingen, die in den hinteren Rängen des Studios sassen und bei denen man sich wirklich fragen muss, wofür sie denn eigentlich in solche Sendungen eingeladen werden, wenn sie dann doch kaum je zu Wort kommen…

Die Jubiläumssendung der „Arena“ hatte, nach 30 Jahren, die Hoffnung auf eine Art Neubeginn geweckt. Doch leider wurde diese Chance ganz gründlich verpasst. Und so ist zu befürchten, dass man sich auch noch die nächsten 30 Jahre lang Argumente und Gegenargumente um den Kopf schlagen wird und man am Ende enttäuscht feststellen wird, dass man, wie eine Diskussionsteilnehmerin treffend sagte, keinen Schritt weitergekommen ist und man immer noch dort ist, wo man schon am Anfang gewesen war.

Sparmassnahmen in Neukölln: Wohin das Geld, das früher offensichtlich in genügendem Masse vorhanden war, plötzlich verschwunden ist…

 

Wie die „Berliner Zeitung“ vom 28. Juni 2023 berichtet, hat der Bezirk Berlin-Neukölln drastische Sparmassnahmen beschlossen. Nach der Zuweisung durch den Senat fehlen dem Bezirksamt Neukölln für die Haushaltsjahre 2024/25 pro Jahr 22,8 Millionen Euro, um den Status Quo zu halten. Folgende Sparmassnahmen sind vorgesehen: Der Wachschutz an zwölf Neuköllner Schulen entfällt; die Tagesreinigung an den Neuköllner Schulen wird aufgehoben; die Obdachlosenhilfe wird reduziert; die aufsuchende Suchthilfe wird gestrichen; Wasserspielplätze werden geschlossen; kaputte Spielgeräte auf Spielplätzen werden nicht mehr repariert; die Müllentsorgung in Grünanlagen wird halbiert; drei Jugendfreizeitzentren und Familieneinrichtungen werden geschlossen; Jugendreisen für besonders betroffene Jugendliche werden nicht mehr finanziert; der Alt-Rixdorfer Weihnachtsmarkt fällt weg; freie Stellen im Bezirksamt werden temporär nicht mehr nachbesetzt. „Die Finanzplanungen des Senats“, so Bezirksbürgermeister Martin Hikel von der SPD, „werden auf viele Jahre die soziale Infrastruktur in Neukölln zerstören.“ Auch viele andere Kommunen in Deutschland sind überschuldet und müssen deshalb Schwimmbäder, Bibliotheken und Theater schliessen, Schulen warten auf dringende Renovierungen, in Kitas, Schulen, Krankenhäusern und Pflegeheimen herrscht massiver Personalmangel.

Schon erstaunlich, dass die Empörung in der betroffenen Bevölkerung zwar riesig ist, aber dennoch niemand fragt, wohin denn all das Geld, das früher für alle diese staatlichen Leistungen offensichtlich in genügender Menge vorhanden war, denn nun plötzlich verschwunden ist. So selten die Frage gestellt wird, so einfach wäre die Antwort: Das früher vorhandene Geld ist schlicht und einfach nach und nach aus den Taschen der Armen in die Taschen der Reichen geflossen, aus dem öffentlichen in den privaten Raum. So gehört heute dem reichsten Prozent der Bevölkerung, das entspricht etwa 840’000 Personen, etwas mehr als ein Drittel aller Vermögen, die wohlhabendsten zehn Prozent der Haushalte besitzen zusammen etwa 60 Prozent des Gesamtvermögens. 20 Prozent der Haushalte besitzen gar kein Vermögen, etwa neun Prozent sind verschuldet. 2022 gab es in Deutschland 1,63 Millionen Millionäre, 6,4 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Gemäss der Hans-Bröcker-Stiftung sind in fast keinem anderen Land die Vermögen so ungleich verteilt wie in Deutschland. Und so wird auch der soziale Graben immer tiefer und die Mauern der sozialen Apartheid werden immer dicker, zwischen denen, die sich bis zum Tiefseetauchen im privaten U-Boot über den Helikopterflug zum Skifahren auf den letzten kanadischen Gletschern und der Luxusreise mit einem Kreuzfahrtschiff immer verrücktere Vergnügungen leisten können, während die anderen schon froh sein müssen, wenn sie am Ende des Monats wenigstens noch eine einzige anständige Mahlzeit auf dem Tisch haben.

Geld wächst bekanntlich nicht auf Bäumen, es fällt auch nicht vom Himmel und man findet es auch nicht in irgendwelchen Muscheln tief auf dem Meeresgrund. Wenn es sich am einen Ort so gigantisch anhäuft, dann muss es an allen anderen Ecken und Enden umso schmerzlicher fehlen. Alle diese Millionen und Milliarden in den Händen der Reichen und Superreichen wurden dem Volk und dem öffentlichen Raum auf die eine oder andere Weise „geklaut“, auf scheinbar „legale“ Weise, etwa dadurch, dass über Generationen angehäufte Reichtümer auf die nächste Generation übertragen werden, ohne dass diese dafür eine entsprechende Arbeitsleistung erbringen müsste. Oder dadurch, dass Millionen von Beschäftigen für ihre Arbeit weit weniger Lohn erhalten, als ihre Arbeit eigentlich wert wäre, um auf diese Weise die Löhne der Besserverdienenden zu subventionieren und den Unternehmen grösstmögliche Profite zu ermöglichen, die in Form von Dividenden wiederum in den Taschen der Reichen landen, ohne dass diese hierfür einen Finger krumm machen müssen. Oder dadurch, dass es nebst Dividenden, Finanzgeschäften, Einnahmen aus dem Besitz von Immobilien, Spekulation und dem Handel mit Rohstoffen noch viele andere verschlungene Formen von Kapitalbeteiligungen gibt, die alle darauf hinauslaufen, dass insgesamt nicht jene reich werden, die besonders viel und hart arbeiten, sondern ausgerechnet jene, die sowieso schon zu viel besitzen. „Geld“, sagte der CDU-Politiker Heiner Geissler, „ist vorhanden wie Dreck, nur befindet es sich in den falschen Händen.“ Und seit die Vermögenssteuer in Deutschland im Jahre 1997 abgeschafft wurde, besteht nicht einmal mehr die Möglichkeit, zumindest einen kleinen Teil all dieses geklauten Geldes wieder in die Hände der arbeitenden Bevölkerung, in die Sicherung der Sozialwerke und in die soziale und kulturelle Infrastruktur des öffentlichen Raumes zurückzuholen.

Wir bilden uns ein, von politischen Parteien regiert zu werden. Tatsächlich aber werden wir vom Kapitalismus regiert. Und solange nicht der Kapitalismus als herrschendes Wirtschafts-, Gesellschafts- und Denksystem überwunden wird, solange werden auch die zunehmende Schere zwischen Arm und Reich, die unaufhörliche Umverteilung von unten nach oben, von der Arbeit zum Kapital und aus dem öffentlichen in den privaten Raum nicht beendet werden können. Wie viele kaputtgesparte Schulen, wie viele Schliessungen von Schwimmbädern, Theatern, Kultur- und Jugendzentren, wie viele soziale Sparprogramme wird es noch brauchen, bis eine Mehrheit der Bevölkerung dies erkennen und daraus die folgerichtigen Schlüsse ziehen wird? 

Helene Fischer: Früher musste eine Sängerin ganz einfach gut singen können – das war einmal…

 

„Helene Fischer“, so berichtet der „Tagesanzeiger“ am 20. Juni 2023, „hat sich am Sonntag in Hannover während einer Akrobatiknummer über der Bühne hängend verletzt und brach daraufhin mit Blut im Gesicht die Show ab.“ Sie sei mit dem Gesicht mit voller Wucht in eine Metallstange geknallt. Trotzdem hätte sie ihr Lied bis zum Ende tapfer durchgesungen, um dann von der Bühne zu verschwinden und ins Spital gebracht zu werden. „Dieser Trick“, so der Basler Akrobat Jason Brügger in „20minuten“ vom 20. Juni, „ist schwierig und birgt ein hohes Unfallrisiko. Er braucht mentale Stärke und verlangt Präzision auf höchstem Niveau. Die körperlichen Voraussetzungen müssen stimmen und es erfordert enorme Körperspannung, die sich Profiartisten über viele Jahre antrainieren.“

Wir erinnern uns: Auch die Sängerin Pink erlitt bei einem ihrer Konzerte einen schweren Unfall, dies am 16. Juli 2020. Pink wollte einen Song schwebend über dem Publikum vortragen. Zu diesem Zweck wurde sie von zwei Tänzerinnen an Seilen befestigt. Doch während des Befestigens wurde die Sängerin von den Seilen fortgeschleudert und landete unsanft auf dem Boden vor der Bühne. Die 20’000 Fans waren geschockt, das Konzert musste abgebrochen werden und Pink landete im Spital.

Früher musste eine gute Sängerin vor allem eines: Sie musste gut singen können, alles andere war Nebensache. Heute muss sie, um erfolgreich zu sein und mit ihren Konkurrentinnen mithalten zu können, auch möglichst gut aussehen, sich möglichst aufreizend kleiden, sich möglichst gut bewegen und tanzen, möglichst waghalsige Akrobatikkünste bestreiten, in jedem Interview auf jede noch so dumme Frage eine gescheite Antwort geben können und in den sozialen Medien rund um die Uhr präsent sein. Alles getreu dem kapitalistischen Lehrsatz vom Ausbeutungs- und Profitmaximierungsprinzip, wonach aus jedem Menschen in möglichst kurzer Zeit der grösstmögliche Profit herauszuquetschen sei – bis, was im Showbusiness und insbesondere in der Musikszene nicht selten ist, die ausgepowerten Stars am Ende völlig ausgebrannt sind, in eine Depression verfallen oder ihnen buchstäblich die Stimme versagt, kein Wunder, wenn an 50 oder mehr Auftritten in 50 oder mehr Städten hintereinander Abend für Abend fast ohne Pause stets von neuem eine Höchstleistung erwartet wird, in der buchstäblich alles gegeben werden muss und die möglichst alle bisherigen Höchstleistungen noch um ein Vielfaches übertreffen soll.

Doch genau so funktioniert der Kapitalismus, nicht nur im Showbusiness, sondern auch in der gesamten Arbeitswelt, in der gesamten Wirtschaft: Auf Teufel kommt raus die Menschen im gegenseitigen Konkurrenzkampf ums Überleben zu immer höheren Leistungen anzustacheln, die Kassen all derer, die davon profitieren, immer lauter klingeln zu lassen und all die „Kollateralschäden“ achselzuckend hinzunehmen…

 

Tragischer Todesfall auf der Tour de Suisse: Doch das ist nur die Spitze jenes tödlichen Konkurrenzkampfs, der immer gefährlichere und absurdere Formen annimmt…

 

Der Schweizer Radprofi Gino Mäder ist den schweren Verletzungen, die er sich infolge seines fürchterlichen Sturzes an der Tour de Suisse bei über hundert Stundenkilometern auf der Abfahrt vom Albulapass zugezogen hatte, erlegen. „Die Radwelt steht still“, titelt der „Tagesanzeiger“ am 17. Juni 2023. Anstelle der nächsten Etappe findet am folgenden Tag eine Gedenkfahrt zu Ehren Gino Mäders statt. Als die sechs Fahrer seines Teams geschlossen über die Ziellinie fahren, brandet in den Zuschauerrängen Applaus auf. Auf einer Grossleinwand ist Mäders Bild zu sehen, versehen mit dem Schriftzug „We ride for you, Gino!“ Nach der Gedenkfahrt finden die Athleten nur wenige Worte. Einer sagt: „Das Leben ist nicht immer fair.“ Und ein anderer: „Ich hatte immer das Gefühl, dass er wieder auftaucht, leider ist es aber so, dass er nicht mehr bei uns ist.“

Kaum zu glauben. Da wird seit Jahren alles daran gesetzt, Wettkämpfe im Spitzensport – vom Kunstturnen über das Skirennfahren und Tennisspielen bis zum Radfahren – immer schneller, härter, spektakulärer und gefährlicher zu machen – und dann wundert man sich, wenn die geschundenen Körper nicht mehr mitmachen, schwere Verletzungen oft zu lebenslangen Beeinträchtigungen führen oder gar Menschen zu Tode kommen. Als würden Kinder mit Streichhölzern bei einem Heustall spielen und sich dann wundern, wenn plötzlich der ganze Stall in Flammen aufgeht.

Der Spitzensport bildet die augenfälligste, extremste und zerstörerischste Spitze des Konkurrenzprinzips, das die Menschen in einen gnadenlosen gegenseitigen Konkurrenzkampf zwingt, der naturgemäss immer absurdere Formen annimmt, nicht nur bei sportlichen Wettkämpfen, sondern auch in der Wirtschaft, der Arbeitswelt und ganz besonders früh schon in den Schulen, wo die Kinder dazu angehalten werden, nicht gemeinsam, miteinander und füreinander zu lernen, sondern in gegenseitigem Wettstreit möglichst gute Noten, Zeugnisse und Zukunftschancen zu erkämpfen. Dass es dabei immer absurder und zerstörerischer zu- und hergeht, liegt daran, dass es ganz vorne, an der Spitze, immer enger wird: Wenn eine Kunstturnerin eine neue Figur entwickelt hat, die an Schwierigkeit und Gefährlichkeit alles Bisherige in den Schatten stellt, dann sind alle anderen Kunstturnerinnen gezwungen, sich diese Figur ebenfalls anzueignen oder, wenn möglich, eine noch schwierigere und gefährlichere Figur einzuüben. Wenn der schnellste Fahrer an der Tour de Suisse mit hundert Stundenkilometern vom Albulapass hinunterrast, sind alle anderen Fahrer gezwungen, sich mindestens so schnell, oder wenn möglich noch schneller, den Berg hinunterzustürzen. Wenn der „beste“ Schüler so lange mit zusätzlichem Privatunterricht gedrillt wurde, bis er unangefochten an der Spitze der Klasse steht, dann sind alle seine Mitschülerinnen und Mitschüler dazu gezwungen, einen mindestens so hohen oder, wenn möglich, noch einen grösseren Aufwand zu bestreiten, um den Anschluss nicht zu verlieren. Das Konkurrenzprinzip führt sich selber ad absurdum, weil es für einen immer kleineren Erfolg einen immer grösseren Aufwand erfordert und dabei allen daran Beteiligten, die gar keine andere Wahl haben, immer grössere Leiden, Zerstörungen und Opfer abverlangt. 

Tragische „Einzelfälle“ wie der Tod eines Radprofis sollten nicht bloss dazu führen, dass die Sportwelt für einen Tag lang „still steht“, Tränen vergossen werden, man hilflos um Worte ringt, Trauerfahrten und Gedenkfeiern zelebriert werden. Sie sollten vielmehr dazu führen, das so zerstörerische und immer absurdere Formen annehmende Konkurrenzprinzip grundsätzlich zu hinterfragen. Daran werden all jene, denen – als Unternehmen, Sponsoren, Werbeträgern, Sportverbänden, usw. – fette Gewinne entgehen könnten, sowie all jene, die sich – als Zuschauende – nicht mehr an der Waghalsigkeit und dem prickelnden Gefühl, es könnte jederzeit etwas ganz Furchtbares geschehen, ergötzen können, freilich keine Freude haben. Umso grössere Freude dürften wohl all jene haben, die nicht mehr dazu gezwungen wären, im gegenseitigen Wettkämpfen solche Opfer zu erbringen und gar ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Einer der Fahrer sagte, Gino schaue jetzt allem „von oben“ zu. Eines ist sicher: „Dort oben“ wird er sich nicht mehr mit hundert Stundenkilometern auf zwei wackligen Rädern in die Tiefe stürzen…

Rede Selenskis vor dem Schweizer Parlament: Ein Funken Hoffnung, der nicht erlöschen darf…

 

Erstaunlich massvoll war die Rede Wolodomir Selenskis ans Schweizer Parlament am 15. Juni 2023. Er hielt sich mit Vorwürfen an die Schweiz wegen ihrer neutralen Haltung zurück, sagte, jedes Land müsse „gemäss seiner eigenen Expertise“ helfen, und dankte der Schweiz sogar dafür, dass sie, die „liebe Schweiz“, in diesem Konflikt „nicht gleichgültig geblieben“ sei. Damit nicht genug: Er skizzierte sogar eine neue Rolle für die Schweiz. Diese solle einen „globalen Friedensgipfel“ durchführen, hier könne die Schweiz „ihre Kernkompetenz“ umsetzen.

Man könnte bei solchen Worten schon fast ein wenig aufatmen. Endlich ist nicht nur von Waffen die Rede, sondern sogar von einem „globalen Friedensgipfel“ – was könnte man sich angesichts so sinnlosen Blutvergiessens im täglich erbittert geführten Kampf um ein paar Quadratkilometer so genannt gegenseitig „befreiter“ Gebiete sehnlicher wünschen? Mit der Rolle, welche Selenski der Schweiz bei einer möglichen Friedenslösung zuschreibt, hat ausgerechnet die SVP, welche die Rede Selenskis boykottierte, im Nachhinein Recht bekommen, indem sie nämlich schon von Anfang an eine möglichst neutrale Haltung der Schweiz gefordert hatte, damit diese einen glaubwürdigen Beitrag zu einer friedlichen Lösung des Konflikts leisten könnte. Während sich am anderen Ende der Skala Balthasar Glättli, Präsident der Grünen, einen „schärferen Appell“ Selenskis gewünscht hätte und auch, dass Selenski „den Finger noch stärker in die Wunden “ hätte legen sollen. Verkehrte Welt: Die SVP, die man traditionell näher mit Militarismus und Kriegsrhetorik assoziiert, fordert Neutralität, um Frieden zu schaffen – während ausgerechnet die Grünen in totalem Widerspruch zu ihrer pazifistischen Tradition nach mehr Waffen und nach einem härteren militärischen Kurs schreien.

Mit seiner Rede hat Selenski für einmal einen Funken Hoffnung in die Welt gesetzt. Die Hoffnung nämlich, dass dieser Konflikt zwischen Russland und der Ukraine möglicherweise auch anders gelöst werden könnte als durch militärische Gewalt. Erstaunlicherweise hat Selenski dabei ausgerechnet gegenüber der Schweiz – wohl aufgrund eines gewissen Respekts gegenüber ihrem eigenständigen Kurs – sanftere Töne angeschlagen als beispielsweise in seinen Reden an das deutsche, britische oder US-Parlament. Doch, kaum zu glauben: Das schweizerische Aussendepartement EDA verzichtet darauf, zur Rede Selenskis Stellung zu nehmen. Bisher hatte sich das EDA dahingehend geäussert, dass eine Vermittlerrolle der Schweiz „zu gegebenem Zeitpunkt“ allenfalls in Frage käme, es hierfür aber noch „zu früh“ sei. Was heisst „zu früh“? Wie viele Tote, wie viele zerstörte Dörfer und Städte, wieviel verbrannte Erde wird es denn noch noch brauchen, bis es für Friedensverhandlungen nicht mehr „zu früh“ ist? Für den Frieden ist es nie zu früh, für den Krieg immer zu spät. Wenn schon Selenski einen noch so kleinen Wink in die Richtung einer Friedenslogik gegeben hat, dann müsste man doch diesen Zipfel, und wäre er noch so klein, mit aller Entschlossenheit und Tatkraft ergreifen und sich nicht mehr länger hinter irgendwelchen nebulösen Ausreden verstecken. China, Indien, Brasilien, Indonesien, mehrere afrikanische Länder und die Türkei haben schon Initiativen für eine friedliche Lösung des Ukrainekonflikts ergriffen. Was hält die Schweiz davon ab, sich in die Reihe dieser Länder zu stellen, um gemeinsam genau das, was Selenski forderte, auf die Weltbühne zu bringen: nicht nur eine friedliche Lösung des Ukrainekonflikts, sondern nichts weniger als einen „globalen Friedensgipfel“. Denn es geht nicht nur um die Ukraine, weitere über 20 Kriege wüten zur Zeit und auch der Taiwankonflikt zwischen den USA und China droht sich gefährlich zuzuspitzen. Frieden ist nicht partiell machbar. Entweder ist er überall oder nirgends. Wer einen weltweiten Frieden, einen Abbau aller Spannungen zwischen den Grossmächten oder sogar eine Abschaffung aller Waffen und Armeen fordert, darf sich ab dem 15. Juni 2023 sogar – oh Wunder – auf den ukrainischen Präsidenten Selenski berufen. Was für eine Chance… 

Hunger und Gewalt in Haiti: Doch immer noch wird uns Menschen in den reichen Ländern des Nordens vorgegaukelt, unser Reichtum hätte nichts zu tun mit der Armut und dem Hunger in den Ländern des Südens…

 

„Laut den Vereinten Nationen“, so berichtet der „Tagesanzeiger“ am 14. Juni 2023, „gab es allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres mehr als 800 Morde in Haiti. Dazu kommen Hunderte Entführungen und systematische, massenhafte Vergewaltigungen.“ Haiti, das ärmste Land der westlichen Hemisphäre, stehe am Abgrund, insgesamt 4,9 Millionen Menschen – fast die Hälfte der Bevölkerung – wüssten nach Angaben der Vereinten Nationen nicht, wie sie sich dauerhaft ernähren könnten. In dieser verzweifelten Lage würden immer mehr Menschen das Gesetz selber in die Hand nehmen: „Am 24. April schlug die Verzweiflung endgültig in Wut um, Passanten zerrten in Port-au-Prince Gangmitglieder, die bereits verhaftet worden waren, aus einem Polizeiauto, verprügelten sie, wuchteten Reifen auf sie, kippten Benzin darüber und verbrannten sie bei lebendigem Leib. Von da an war es, als hätte sich eine Schleuse geöffnet: Bilder und Videos von den Lynchmorden machten im Nu die Runde und bald zogen auch anderswo Mobs mit Stöcken und Macheten bewaffnet durch die Strassen und jagten Kriminelle, es entstand eine eigentliche Selbstjustiz- und Bürgerrechtsbewegung.“

Was der „Tagesanzeiger“ verschweigt: Dass zur gleichen Zeit, da die Hälfte der haitianischen Bevölkerung hungert und sich die Gewalt im Lande immer hemmungsloser ausbreitet, Unmengen an Kaffee, Kakao, Zuckerrohr, Sisal, Mango und Vetiveröl aus Haiti in die reichen Länder des Nordens exportiert werden. Beim Vetiveröl, das für die Herstellung von Parfüms und für Aromatherapien verwendet wird, beträgt der Anteil Haitis an der gesamten Weltproduktion sogar rund 50 Prozent. Auch verschwiegen wird, dass Haiti im Jahre 2022 Waren im Wert von etwa 910 Millionen US-Dollar exportierte, gleichzeitig aber Waren im Wert von drei Milliarden US-Dollar importierte, was die ohnehin schon verheerende Verschuldung des Landes erheblich weiter verschärfte, und das nur, weil exportierte Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt einen so viel tieferen Preis haben als die importierten, industriell gefertigten Fertigprodukte. Und schliesslich wird auch verschwiegen, dass die katastrophale Ernährungssituation des Landes vor allem damit zu tun hat, dass in den 1980er und 1990er Jahren die meisten für die Versorgung mit lebensnotwendigen Nahrungsmitteln arbeitenden Kleinproduzentinnen und Kleinproduzenten verdrängt wurden, während gleichzeitig die Importe von subventioniertem US-Reis und Zucker massiv gesteigert wurden.

So hängen auch heute noch die Armut im Süden und der Reichtum im Norden unauflöslich miteinander zusammen und die kolonialistische Ausbeutung geht allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz bis in unsere Tage nahtlos weiter. Doch immer noch wird uns Menschen in den reichen Ländern des Nordens vorgegaukelt, unser Reichtum hätte nichts zu tun mit der Armut und dem Hunger in den Ländern des Südens. In Tat und Wahrheit aber machen wir uns mit jeder Tasse Kaffee, die wir trinken, mit jeder Tafel Schokolade, die wir essen, und mit jedem Tropfen Parfüm, das wir uns auf die Haut spritzen, am Elend, am Hunger und an der gegenseitigen Gewalt all jener Menschen schuldig, denen die eigene Erde entrissen wurde und die in einen nicht endenden Sklavendienst gezwungen wurden, nur damit multinationale Konzerne laufend wachsende Milliardengewinne scheffeln können und unser „Wohlstand“, der im Grunde nichts anderes ist als reiner Luxus auf Kosten anderer, ungehindert weiter bestehen kann. Weshalb eigentlich müssen nur Zigarettenpackungen mit der Etikette „Rauchen ist tödlich“ versehen werden und nicht auch die Packungen mit Kaffeebohnen, Mango, Schokolade und die Fläschchen mit Aromen und Parfüms in Hotels und Wellnessoasen? Oder haben 500 Jahre kapitalistischer Gehirnwäsche in unseren Köpfen schon so unauslöschlich ihre Spuren hinterlassen, dass uns nicht einmal mehr dies zu erschrecken und aufzuwecken vermöchte? 

Frauenlöhne und Männerlöhne: Sowohl der Arbeitgeberverband wie auch die Gewerkschaften beschönigen die tatsächlich herrschende Ungleichheit…

 

Laut Arbeitgeberverband beträgt der Unterschied zwischen „vergleichbaren“ Männer- und Frauenlöhnen nur 3,3 Prozent. Die Gewerkschaften sprechen von deutlich höheren Zahlen. Bei alledem wird aber noch nicht berücksichtigt, dass in typisch „weiblichen“ Berufen wie Coiffeuse, Putzfrau, Serviceangestellte, Krankenpflegerin, Kitaangestellte oder Detailhandelsangestellte weit weniger verdient wird als in typisch „männlichen“ Berufen wie etwa in der IT-Branche, im Bankenwesen, im Immobilien- und Versicherungsgeschäft oder in den Kadern von Grosskonzernen. Am krassesten ist es, wenn man den typisch „weiblichsten“ Beruf, die Hausfrau, mit dem typisch „männlichsten“ Beruf, Managern oder Verwaltungsratspräsidenten eines Grosskonzerns, miteinander vergleicht. Diese „verdienen“ nämlich bis zu 10’000 Franken, nicht pro Monat, sondern pro Stunde – während die Hausfrau ihre anspruchsvolle, anstrengende und gesellschaftlich so wichtige Arbeit zum Nulltarif leistet. Mit der längeren Ausbildungsdauer lassen sich solche gewaltige Lohndifferenzen auch nicht annähernd begründen. Würde man schweizweit alle Männerlöhne zusammenzählen und mit der Summe aller Frauenlöhne vergleichen, dann erst würde man erkennen, wie weit wir von einer tatsächlichen Lohngerechtigkeit noch entfernt sind und dass sowohl der Arbeitgeberverband wie auch die Gewerkschaften die tatsächliche Problematik um ein Vielfaches beschönigen. Wenn es im gleichen Tempo wie bisher weitergeht, wird es wohl noch unzählige Frauenstreiks brauchen, bis tatsächlich geschlechtsabhängige Lohnunterschiede aus der Welt geschafft sind…

„Moderne“ Partnerschaften und Arbeitsteilung: An erster Stelle müsste immer die Gerechtigkeitsfrage stehen…

 

Sämtliche Artikel, Bücher, Fernsehdiskussionen und Zukunftsideen über „Frauenrollen“ und „Männerrollen“, „Emanzipation“ und zeitgemässe Aufgabenteilung zwischen Haus- und Erwerbsarbeit, die ich bisher gelesen oder gesehen habe, sprechen immer generell von Männern und Frauen, als sei es völlig unerheblich, in welchen sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen die betroffenen Menschen leben. Dabei ist es doch offensichtlich: Was für die einen schon fast selbstverständlich scheint, davon wagen andere nicht einmal zu träumen. Der Informatiker kann es sich locker leisten, nur zu 70 oder 80 Prozent zu arbeiten und sich während der übrigen Zeit an der Haushaltsarbeit und der Kinderbetreuung zu beteiligen, selbst wenn seine Frau keiner Erwerbsarbeit nachgeht – das Einkommen reicht immer noch für ein gutes Leben. Ganz anders der Schichtarbeiter, der mit seinem kärglichen Lohn mindestens zu 100 Prozent arbeiten muss, um seine Familie durchzubringen, er hat schlicht und einfach keine andere Wahl. Vielleicht muss sogar seine Frau ebenfalls einer Erwerbsarbeit nachgehen, um gemeinsam über die Runden zu kommen und sich trotz widrigster äusserer Umstände den einen oder anderen kleinen „Luxus“ leisten zu können.

So müssen Artikel, Bücher, Fernsehdiskussionen und Zukunftsideen über „moderne“ Partnerschaften und Arbeitsteilung für all jene, die sich dies, selbst wenn sie es möchten, schlicht und einfach gar nicht leisten können, so etwas sein wie eine schallende, ohrenbetäubende Ohrfeige, welche die ohnehin schon tiefe Kluft zwischen privilegierten und weniger privilegierten Gesellschaftsschichten nur noch weiter ins Unermessliche vertieft. „Modern“ zu sein, ist den Privilegierten vorbehalten, die weniger Privilegierten müssen sich damit abfinden, zugleich zu allen anderen Diskriminierungen auch noch als „altmodisch“ oder „ewiggestrig“ zu gelten.

Deshalb müsste jedem Artikel, jedem Buch, jeder Fernsehdiskussion und jeder Zukunftsidee über „moderne“ Partnerschaften und Rollenverteilung die Gerechtigkeitsfrage vorausgehen. Echter gesellschaftlicher Fortschritt kann nur erfolgen, wenn die materiellen Verhältnisse so sind, dass sich auch alle das tatsächlich leisten können.

Der erste Ansatz wäre ein Mindestlohn, der nicht bloss knapp zum Überleben reicht. Ein erster kleiner Schritt, der immerhin schon einiges bewirken kann, wie das Beispiel des Kantons Genf zeigt, wo mit 23 Franken der höchste Mindestlohn der Welt gesetzlich eingeführt wurde und damit die finanzielle Lage von rund 30’000 Arbeitnehmenden verbessert werden konnte.

Der zweite Ansatz wäre ein Einheitslohn. Eine Vision, die zugegebenermassen in schier unerreichbarer Ferne liegt. Und doch gäbe es dafür tausend Argumente, ist doch in jeder Gesellschaft und jeder Volkswirtschaft jegliche berufliche Tätigkeit unauflöslich mit allen anderen beruflichen Tätigkeiten verbunden, von ihnen abhängig und auf sie angewiesen. Kein Bankdirektor könnte seinen Job ausüben, wenn nicht irgendwer das Brot backen und das Gemüse ernten würde, das er isst, und niemand die Kleider nähen würde, die er trägt – um nur ein einziges von Millionen von Beispielen zu nennen. Jahrhundertelanges Unrecht hat sich so tief in unser Denken eingegraben, dass wir uns einen gleichen Lohn für sämtliche berufliche Tätigkeit schon gar nicht vorstellen können, während wir uns gleichzeitig kaum an der Tatsache stören, dass Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdiener bis zu 10’000 Franken pro Stunde verdienen, während es schon als sozialpolitisches Erdbeben gefeiert wird, wenn in irgendeinem Kanton ein Mindestlohn von 23 Franken eingeführt wird. 

Zurück zur Realität. Einen Einheitslohn werden wir weder heute noch morgen verwirklichen können, obwohl er die logischste Sache der Welt wäre. Aber was wir können, ist, bei jeder sozialpolitischen Diskussion die Gerechtigkeitsfrage nie aus den Augen zu verlieren. Denn echter gesellschaftlicher Fortschritt ist nicht möglich, solange solche „Fortschritte“ bloss Privilegien einzelner Gesellschaftsschichten sind auf Kosten anderer.

Die EU und die „Flüchtlingskrise“: Eine tiefgreifende Lösung des Flüchtlingsproblems ist nur möglich durch eine Überwindung des Kapitalismus…

 

Die EU-Mitgliedstaaten konnten sich am 8. Juni 2023 auf die Konturen einer gemeinsamen zukünftigen Flüchtlingspolitik einigen. „Die EU“, so schreibt der „Tagesanzeiger“ am 10. Juni 2023, „will an den Aussengrenzen für Migrantinnen und Migranten ein härteres Regime einführen und gleichzeitig Asylsuchende mit Bleiberecht unter den Mitgliedsstaaten fairer verteilen.“ Konkret sollen „Schnellverfahren in Erstaufnahmeländern für Migrantinnen und Migranten mit geringen Chancen“ eingeführt und zu diesem Zweck 30’000 Plätze eingerichtet werden. Doch bleibe weiterhin unklar, was mit jenen Migrantinnen und Migranten geschehen solle, die einen negativen Bescheid bekämen.

Was schon als „Durchbruch“ gefeiert wird, ist doch, bei Lichte besehen, nichts anderes als reine Symptombekämpfung. Denn allen diesen Massnahmen zum Trotz, werden die Flüchtlingsströme vom Süden in den Norden gewiss auch zukünftig nicht abreissen, sondern eher noch zunehmen. Die Kriterien, wer ein Bleiberecht bekommen soll und wer nicht, werden weiterhin höchst unterschiedlich bleiben und die Frage, was mit all jenen Migrantinnen und Migranten geschehen soll, die kein Bleiberecht bekommen, wird weiterhin ungelöst sein. Solange nicht endlich die Ursachenbekämpfung anstelle der Symptombekämpfung in Angriff genommen wird, kann das Problem nicht gelöst werden und wird sich in Zukunft eher noch weiterhin verschärfen.

Doch welches sind die hauptsächlichen Ursachen dafür, dass Menschen ihre Heimat verlassen, um in einem fernen, unbekannten Land eine bessere Zukunft zu finden? Erstens die soziale und wirtschaftliche Kluft zwischen reichen und armen Ländern. Jahrhunderte kolonialistischer Ausbeutung haben bis in die heutige Zeit ihre verheerenden Spuren hinterlassen. Immer noch gründet der Wohlstand in den reichen Ländern des Nordens zu einem überwiegenden Teil auf der Tatsache, dass billig und zu Hungerlöhnen produzierte Nahrungsmittel und Rohstoffe aus dem Süden in den Norden exportiert und dort zu teuren Fertigprodukten weiterverarbeitet werden. So erwirtschaftet beispielsweise die Schweiz gemäss Angaben der Entwicklungsorganisation Oxfam im Handel mit „Entwicklungsländern“ einen fast 50 Mal höheren Gewinn, als sie diesen Ländern in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückgibt. Alle multinationalen Konzerne, welche dank dem Handel mit Nahrungsmittel und Rohstoffen Milliardengewinne scheffeln, haben ihren Sitz Im Norden, keiner von ihnen im Süden, dort, wo all die gewinnbringenden Nahrungsmittel und Rohstoffe herstammen. Wie die Mücken ans Licht, so drängen die Menschen aus dem ausgebluteten Süden in die Wohlstandsparadiese des Nordens, dies alles zusätzlich befeuert durch Massenmedien, Internet und soziale Medien, wo weltweit tagtäglich das Bild einer Welt gezeichnet wird, wo Milch und Honig fliessen, alle Menschen mit Autos unterwegs sind und Millionäre und Milliardäre nur so aus dem Boden schiessen.

Die zweite Ursache für die wachsenden Flüchtlingsströme sind Kriege, derzeit weltweit über 20 an der Zahl, der wohl unmittelbarste und drängendste Grund dafür, die geliebte Heimat zu verlassen und in einem anderen Land Schutz und Sicherheit zu suchen. Schliesslich die dritte Ursache: der Klimawandel. Schon heute leiden Hunderte von Millionen von Menschen unter zunehmender Hitze, Dürren und Überschwemmungen. Und es ist zu befürchten, dass auch weiterhin immer mehr bisherige Lebensräume für immer verloren gehen werden, was die Menschen dazu zwingt, dorthin auszuweichen, wo noch eine einigermassen gesicherte Existenz möglich ist.

Schauen wir uns die drei Hauptursachen für die wachsenden Flüchtlingsströme genauer an, dann stellen wir unschwer fest: Sie alle sind eine unmittelbare Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Eines Wirtschaftssystems, das auf die unaufhörliche Ausbeutung von Mensch und Natur, Profitmaximierung und Wachstum ausgerichtet ist und weltweit zu zu immer drastischeren sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Zerstörungen führt. Auch Kriege haben meist ihren Ursprung im Streben nach Machtausdehnung, wirtschaftlicher Ausbeutung und Einverleibung gewinnbringender natürlicher Ressourcen. „Der Kapitalismus“, so der französische Sozialist Jean Jaurès, „trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ 

Es wäre daher die reinste Illusion, das Flüchtlingsproblem dadurch in den Griff bekommen zu wollen, dass man Grenzen schliesst, Grenzkontrollen verschärft und immer effizientere Massnahmen ergreift, um „richtige“ und „falsche“ Flüchtlinge voneinander zu unterscheiden. Eine tiefgreifende Lösung des Flüchtlingsproblems ist nur möglich durch eine Überwindung des Kapitalismus, weltweite soziale Gerechtigkeit und ein Ende aller Kriege. Denn kein Mensch verlässt freiwillig seine Heimat, wenn er dort, wo er geboren wurde, in Frieden, Sicherheit und Wohlstand leben kann. Wie die 150 Tier- und Pflanzenarten, die Tag für Tag aussterben, und die rund zehntausend Kinder, die weltweit jeden Tag vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben,, während sich die Menschen im Norden den Luxus leisten können, einen Drittel aller gekauften Lebensmittel fortzuwerfen, so sind auch die unzähligen Flüchtlinge, die an unsere Türen klopfen, allesamt Alarmzeichen einer Welt, die aus allen Fugen geraten ist. Wie viel Leiden braucht es eigentlich noch, bis uns endgültig die Augen dafür aufgehen, dass es auf diesem Planeten nur eine einzige glaubwürdige Zukunftsvision geben kann, nämlich, alle Formen von Ausbeutung zu überwinden und alles unter alle gerecht zu verteilen?