Höchst fadenscheinige Argumente gegen das von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht lancierte „Manifest für Frieden“

 

Es ist schon erstaunlich, mit was für Argumenten der von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht lancierte und mittlerweile von einer halben Million Menschen unterzeichnete Aufruf für Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine bekämpft wird. So schreibt zum Beispiel Stephan Israel, Korrespondent des „Tagesanzeigers“, am 16. Februar 2023, dieser Friedensappell blende die Tatsache aus, dass „Putin gar keinen Frieden will“. Weiter stellt er in Frage, ob Kompromisse überhaupt möglich seien, wenn „ein Land ein anderes grundlos überfällt“. Viel zu salopp zudem sei die Forderung nach einem „für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiss“. Es könne doch nicht angehen, dass „die Ukraine auf 20 Prozent ihres Territoriums verzichten müsste“. Überhaupt sei die ganze Debatte dadurch gekennzeichnet, dass „die Ukrainerinnen und Ukrainer darin kaum vorkommen“. Auch würden die Friedensappelle ausser Acht lassen, dass es schliesslich nicht nur um die „Existenz der Ukraine“ ginge, sondern auch um die „Stabilität des ganzen europäischen Kontinents“. Und schliesslich zieht Israel einen Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg: Da sei auch niemand auf die Idee gekommen, Churchill zu Verhandlungen mit Hitler aufzufordern. 

Putin wolle keinen Frieden? Stephan Israel scheint entgangen zu sein, dass Putin noch im Dezember 2021 der amerikanischen Regierung eine diplomatische Lösung des Ukrainekonflikts vorschlug, was aber von der US-Administration ohne nähere Begründung verworfen wurde. Zudem waren Russland und die Ukraine anfangs März einer unter der Vermittlung des israelischen Premierministers Bennett ausgehandelten Friedenslösung ganz nahe – dass sie schliesslich scheiterte, lag an der Intervention der USA und Grossbritanniens.

Putin habe die Ukraine „grundlos“ überfallen? Auch in diesem Punkt scheint dem Journalisten des „Tagesanzeigers“ ganz Wesentliches entgangen zu sein. Obwohl nämlich führende westliche Politiker nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 zugesichert hatten, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen, kamen in der Folge nach und nach 14 osteuropäische Länder zur NATO. Auch die Ukraine erhielt 2008 eine Beitrittsperspektive, die Zusammenarbeit zwischen NATO-Truppen und ukrainischen Truppen wurde intensiviert und militärische Einrichtungen wurden ausgebaut. Zudem wurden in mehreren NATO-Staaten Raketensysteme stationiert, mit denen auch Marschflugkörper abgeschossen werden können, welche in kurzer Zeit Russland erreichen können. An warnenden Stimmen vor dieser Entwicklung fehlte es nicht. So hatte bereits 1997 der US-Historiker George F. Kennan gesagt: „Die Entscheidung, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.“ Im gleichen Jahr sagte Joe Biden, damals US-Senator: „Das Einzige, was Russland zu einer heftigen Reaktion provozieren kann, ist die Erweiterung der NATO auf die baltischen Staaten.“ Und die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel meinte 2008: „Wenn die Ukraine Teil der NATO wird, dann bedeutet dies aus der Perspektive Russlands eine Kriegserklärung.“ Was die NATO-Osterweiterung bis hin zur Ukraine aus der Sicht Russlands bedeutet, kann man sich vor Augen führen, wenn man sich vorstellt, dass Mexiko und Kanada einem Militärbündnis mit Russland beitreten würden – es wäre wohl nicht anzunehmen, dass die USA dies sang- und klanglos hinnehmen würden. Erst recht kann man die Bedrohungsängste Russlands nachvollziehen, wenn man bedenkt, dass die USA weltweit über rund 1000 Militärstützpunkte verfügen, von denen der grösste Teil einen Ring rund um Russland bildet, während Russland weltweit gerade mal über 25 Militärstützpunkte verfügt. Ähnlich sieht es bei den Rüstungsausgaben aus: Die NATO verfügt über ein 20 mal höheres Militärbudget als Russland. Dies alles rechtfertigt zwar keineswegs den Überfall Russlands auf die Ukraine. Doch zu behaupten, dieser sei „grundlos“ erfolgt, zielt doch meilenweit an der Realität vorbei.

Die Forderung nach einem „für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiss“ sei viel zu salopp? Stephan Israel scheint nicht verstanden zu haben, dass doch genau dies die Voraussetzung für jeglichen Versuch erfolgsversprechender Friedensgespräche bildet. Friedensgespräche sind nur möglich, wenn jede Seite bereit ist, auf die Bedürfnisse und Interessen der Gegenseite einzugehen und nicht von Anfang an einen Standpunkt einzunehmen, an dem kompromisslos festgehalten wird.

Es könne nicht sein, dass die Ukraine 20 Prozent ihres Territoriums abgeben müsste? Wie war denn das 1991, als die Sowjetunion zusammenbrach und ebenfalls rund 20 Prozent ihres früheren Territoriums verlor? Und wird nicht auch die Abspaltung des Kosovo von Serbien im Westen als selbstverständlich betrachtet? Weshalb lässt man die Menschen in der Ostukraine nicht darüber abstimmen, ob sie zur Ukraine oder zu Russland gehören oder eine eigene Republik bilden wollen? Ist nicht jede friedliche Lösung, ganz unabhängig von der territorialen Zugehörigkeit der einzelnen Menschen, einem Krieg vorzuziehen, der alles in Schutz und Asche legt und Tag für Tag Hunderte von Menschen tötet, die auch nicht das Geringste davon gehabt haben, ob sie nun Bürgerinnen und Bürger des einen oder des anderen Landes gewesen waren.

Ukrainerinnen und Ukrainer kämen in der Debatte rund um den Friedensappell „gar nicht vor“? Was für eine abstruse Behauptung. Es geht ja, auf der Suche nach dem Friedens, um nichts anderes als um die Menschen in der Ukraine, um wen denn sonst? Der Vorwurf, hier würden Friedensgespräche „über den Kopf der Betroffenen“ hinweg gefordert, fällt doch ganz und gar auf jene zurück, die ihn erheben. Wenn etwas über die Köpfe der Betroffenen hinweg geschieht, dann bestimmt nicht das Ansinnen, Frieden zu stiften, sondern, ganz im Gegenteil, dieser furchtbare und sinnlose Krieg, von dem nie auch nur ein einziger Ukrainer oder eine einzige Ukrainerin gefragt wurden, ob sie ihn auch tatsächlich wollen.

Die Friedensappelle würden ausser Acht lassen, dass es doch um die „Stabilität ganz Europas“ gehe? Auch diese Feststellung kann höchstens Kopfschütteln auslösen. Soll Krieg etwas beitragen zur „Stabilität“ eines Kontinents? Ist es nicht vielmehr gerade das Gegenteil, das friedliche Zusammenleben der Völker und Staaten, welches die Grundlage bilden müsste für eine grösstmögliche Stabilität, nicht nur innerhalb dieses oder jenes Kontinents, sondern weltweit?

Schliesslich noch der Verweis auf den Zweiten Weltkrieg. Immer wieder: die Vergangenheitskeule, indem man von gegenwärtigen Konflikten auf frühere Konflikte zurückverweist, als würde sich die Geschichte stets von Neuem wiederholen. Doch um den Ukrainekonflikt zu lösen, brauchen wir nicht den Blick in die Geschichte, sondern eigentlich nur den gesunden Menschenverstand und den Mut, heutige Probleme geschickter, kreativer und zukunftsgerichteter zu lösen, als unsere Vorfahren dies getan haben. Denn: „Probleme“, sagte Albert Einstein, „kann man nie mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Nach so langer Zeit des Grauens, der Zerstörung, des Leidens besteht nun endlich, mit der von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht ergriffenen Friedensinitiative, die Chance zu einer Kehrtwendung. Wie dumm wären wir, würden wir sie nicht ergreifen…

Selenski in London und Brüssel, „Flügel für die Freiheit“ und immer noch kein Ende der Tragödie in Sicht…

 

„Überraschungsbesuch“ von Selenski in London – so der „Tagesanzeiger“ am 9. Februar 2023. Und weiter: „Mit mehr Ehren hätten die Briten den ukrainischen Präsidenten nicht überhäufen können. An der Downing Street wurde der beste aller roten Teppiche ausgerollt. Drinnen in der Regierungszentrale wurde Selenski, was sonst völlig unüblich ist, mit begeistertem Applaus empfangen. Und im Parlament, wo er seine Ansprache hielt, brach ebenfalls mächtiger Beifall aus, als er auftrat. Und was ebenfalls höchst ungewöhnlich ist: Premierminister Sunak fuhr persönlich mit Selenski vom Flughafen Stansted nach London.“ Dementsprechend überschwänglich auch die Beteuerung Sunaks, man werde die Ukraine solange unterstützen, bis sie einen „entscheidenden Sieg gegen die russischen Aggressoren“ erringe und Putin mit seinem Krieg „gescheitert“ sei. Zudem werde man zusätzliche Langstreckenwaffen liefern und mehr als doppelt so viele ukrainische Soldaten als bisher ausbilden – darunter auch Piloten und Marinesoldaten. Und so bedankte sich auch gleich schon Selenski zum Vornherein für die zukünftige Lieferung von Kampfflugzeugen, welche er als „Flügel für die Freiheit“ bezeichnete, eine Aussage, für die er wiederum begeisterten Beifall erhielt. Das gleiche Bild einen Tag später, beim Auftritt Selenskis vor dem EU-Parlament in Brüssel. In seiner Rede rief Selenski alle Bürgerinnen und Bürger der EU zum gemeinsamen Kampf gegen Russland auf. „Nur unser unweigerlicher Sieg“, sagte er, „kann die gemeinsamen europäischen Werte wahren“. Und auch hier wieder minutenlanger Applaus, ehe sowohl die ukrainische wie auch die Europahymne gespielt wurden und die EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola an der Seite Selenskis sagte, nun sei es an den europäischen Staaten, als nächsten Schritt rasch „weitreichende Systeme und Flugzeuge“ bereitzustellen.

Haben die alle miteinander eigentlich den Verstand verloren? Merken die wirklich nicht mehr, dass jeder einzelne dieser Schritte, welche sie planen, ein Schritt hin zu einem möglichen Weltkrieg sein könnte? Die allgemeine Euphorie für immer mehr Waffen, immer mehr Krieg und das Hochstilisieren der Ukraine zu jener angeblichen Bastion, an der sich der finale Kampf zwischen dem „Guten“ und dem „Bösen“ entscheiden werde, erinnert unweigerlich an eine Sekte, in der jeder so denkt wie alle anderen, aber nicht so sehr, weil er davon wirklich überzeugt wäre, sondern einfach deshalb, weil alle anderen auch so denken. Eine Sekte voller Einmütigkeit und voller Rituale, vom besten aller roten Teppiche über innigste gegenseitige Umarmungen bis zu einer Sprache, die mit allen Mitteln der Redekunst das Denken der Menschen in die gewünschten Bahnen bewegt. Eine Sekte, in der es kein kritisches und abweichendes Verhalten mehr gibt, sonst hätte nämlich schon längst jemand die Frage stellen müssen, wie denn die hehren Ziele von Demokratie und Freiheit mit all jenen Beschlüssen der ukrainischen Regierung vereinbar sind, welche unter anderem zum Verbot zahlreicher Parteien, Zeitungen und Fernsehstationen geführt hat, zur Eliminierung der russischen Sprache im öffentlichen Raum, zur Entfernung sämtlicher Werke russischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus den öffentlichen Bibliotheken sowie zum Verbot von Konzerten mit Werken russischer Komponistinnen und Komponisten, ganz abgesehen davon, dass die Ukraine als korruptestes Land von ganz Europa gilt.

Dass blindwütige Kriegseuphorie nicht der einzige Weg sein muss, hat, wie die „Berliner Zeitung“ am 6. Februar berichtete, der israelische Premier Naftali Bennett bewiesen, als er anfangs März 2022 Verhandlungen mit Selenski, Putin, Biden, Scholz und Macron führte und dabei erstaunliche Fortschritte erzielte: Putin erklärte sich unter anderem bereit, auf sein ursprüngliches Kriegsziel einer Demilitarisierung der Ukraine zu verzichten, und Selenski seinerseits erklärte sich zu einem Verzicht auf einen Nato-Beitritt bereit. Doch, wie Bennett berichtet, hätten insbesondere die USA und Grossbritannien auf einen Abbruch der Verhandlungen gedrängt und auf eine Fortsetzung des Kriegs gesetzt. Man stelle sich einmal vor, wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wie viele Häuser heute noch bewohnbar wären und wie friedlich das Leben in den heute umkämpften Gebieten wäre, wenn dieser Friedensschluss damals zustande gekommen wäre. „Wir haben“, so der UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths, „vor der toxischen Mischung aus Tod, Zerstörung, Vertreibung und Verlust gewarnt, die dieser Krieg verursacht. Wir haben über das psychologische Trauma gesprochen, das er hinterlässt. Wir haben verurteilt, welchen tödlichen Preis er von der Zivilbevölkerung fordert. Und trotzdem entfaltet sich die Tragödie weiter, ohne ein Ende in Sicht.“

Doch für den Frieden ist es nie zu spät. Auch heute noch, hier und jetzt, können Friedensverhandlungen beginnen. Das Beispiel von Deutschland, das ganz zu Beginn des Krieges nur ein paar tausend Helme liefern wollte und jetzt schon bei Kampfpanzern angelangt ist und möglicherweise schon bald selbst vor der Lieferung von Kampfflugzeugen nicht mehr zurückschrecken wird, zeigt auf drastische Weise, in welche Richtung sich Eskalation und Kriegslogik, sofern man sich ihr nicht mit aller Entschiedenheit entgegenstellt, bewegen. Es wird oft behauptet, die Idee eines Waffenstillstands, einer Friedenslösung und eines Endes des Kriegs wären naiv oder, wie Olaf Scholz einmal sagte, „aus der Zeit gefallen“. Das wirklich Naive und gänzlich „aus der Zeit Gefallene“ aber ist die Idee, mit kriegerischen Mitteln einen Konflikt zwischen verfeindeten Ländern oder Völkern lösen zu können. Denn, wie schon der frühere US-Präsident John F. Kennedy sagte: „Entweder setzt die Menschheit dem Krieg ein Ende, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.“

Syrien: Wenn man ein ganzes Volk einfach im Stich lässt…

 

Wenn du dir ein Bild davon machen möchtest, wie es in der Hölle aussieht, dann brauchst du nicht deine Phantasie anzustrengen. Es genügt, wenn du dich an einen der Orte in der Türkei oder in Syrien begibst, die in diesen Tagen von verheerenden Erdbeben heimgesucht worden sind. Eltern, die verzweifelt nach ihren unter dem Schutt begrabenen Kindern suchen, auch noch mitten in der Nacht bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt, Menschen, die all ihr Hab und Gut verloren haben, Notfallstationen, die bis zum Erdboden zertrümmert sind und wo nicht mehr die geringste Hilfe zu holen ist, Hunger, Durst, Kälte, schmerzende Wunden, Hoffnungslosigkeit…

Dabei sind die Menschen im syrischen Teil des Erdbebengebiets noch um einiges härter betroffen. Denn das Erdbeben ist bei Weitem nicht die einzige Katastrophe, die im Verlaufe der vergangenen Jahre über sie hereingebrochen ist. Da ist auch ein Bürgerkrieg, der vor 13 Jahren begann, weite Teile des Landes in Schutt und Asche gelegt, weit über 500’000 Todesopfer gefordert und 13 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben hat. Da sind auch die katastrophalen hygienischen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern, der weitgehende Zusammenbruch des Gesundheitssystems und eine Choleraepidemie, die sich im Verlaufe des vergangenen Jahrs nach und nach im ganzen Land ausgebreitet hat. Da ist auch der Mangel an Nahrungsmitteln, von dem mehr als zwölf Millionen Menschen betroffen sind, davon 2,6 Millionen Kinder. Da ist auch der Zusammenbruch der Elektrizitätsversorgung und des Transportsystems. Und da sind vor allem auch die Wirtschaftssanktionen, die kurz nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs von den USA und der EU verhängt wurden und wiederholt von verschiedensten humanitären Organisationen aufs Schärfste verurteilt worden sind, so zum Beispiel vom „Global Network for Syria“, das im Februar 2021 mit folgender Begründung ein Ende der Sanktionen forderte: „Die derzeitigen Wirtschaftssanktionen gegen Syrien blockieren den Zugang zu lebenswichtigen Gütern, verhindern den Wiederaufbau und tragen zu einem beispiellosen Zusammenbruch der Wirtschaft und des Gesundheitssystems bei. Sie bilden eine kollektive Bestrafung der syrischen Zivilbevölkerung.“ Oder von Chalid Hbubati, dem Vorsitzenden des Syrisch-Arabischen Roten Halbmonds, der sagte, die Sanktionen hätten sich in ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verwandelt. Nicht zu fassen, dass ausgerechnet westlich-demokratische Staaten immer noch zu diesem Machtmittel greifen, wo doch spätestens seit den Sanktionen gegen den Irak 1991, denen über eine halbe Million Kinder zum Opfer fielen, endgültig klar sein müsste, dass Wirtschaftssanktionen stets nur die Schwächsten treffen. Wer das immer noch nicht glaubt, sollte sich nur mal die Bilder jener verzweifelten Männer und Frauen vor Augen führen, die jetzt in syrischen Dörfern und Städten mit blossen Händen in den Trümmern zerfallener Häuser nach Überlebenden graben, weil infolge der Sanktionen kein geeignetes Bergungswerkzeug vorhanden ist.

Und, wie bei so vielen Katastrophen: Wieder einmal sind die Frauen und die Kinder die Hauptleidtragenden: In den innersyrischen Flüchtlingscamps sind 20 bis 40 Prozent der Schwangeren und der stillenden Mütter unterernährt, fast jedes Kind in den Camps leidet Hunger. Und es ist nicht nur die Gegenwart. Auch die ganze Zukunft der Kinder und Jugendlichen, die alle von einem Leben in Glück und Frieden träumen, wird Tag für Tag systematisch zerstört. Letzten Endes sind sie allesamt Opfer männlicher Machtdemonstration, patriarchaler Herrschaftsgewalt, herrschsüchtiger Eroberungslust, von den Anführern islamistischer Rebellen über den syrischen Regierungsapparat bis hin zu den Heerführern, den Chefs von Rüstungskonzernen und den fein säuberlich in Anzug und Krawatte gekleideten Politikern sich gegenseitig zerstrittener Grossmächte. Wie eine Welt aussähe, die nicht von Männern, sondern von Frauen und Kindern regiert wäre, kann man sich nur in seinen schönsten Träumen ausmalen…

Und noch einmal wird die schreiende Ungerechtigkeit in ihrem ganzen Ausmass deutlich, wenn wir uns das Verhalten der Schweiz, die sich doch so gerne ihrer humanitären Tradition rühmt, vor Augen führen. Werden Flüchtlinge aus der Ukraine mit offenen Armen aufgenommen und mit einem besonderen Aufnahmestatus privilegiert, geniessen Flüchtlinge aus Syrien, obwohl auch sie aus einem Kriegsgebiet stammen, keine vergleichbare Rücksichtnahme. Und während die Schweizerische Rettungskette unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Erdbebens eine Kolonne in die Türkei abdelegierte, erklärten die zuständigen Verantwortlichen des EDA, eine vergleichbare Aktion für Syrien sei nicht geplant, da „nicht genügend Kapazitäten für zwei Rettungskettenstaffeln“ bestünden. „Wir können nicht verstehen“, so Michael Albs, Generalsekretär des Kirchenrats des Nahen Ostens, „dass der Westen sich immer wieder auf das Christentum und die Bibel beruft und dann ein ganzes Volk einfach im Stich lässt.“

„Es wird“, sagte Papst Franziskus, „in dem Masse Frieden herrschen, in dem es der ganzen Menschheit gelingt, ihre ursprüngliche Berufung wiederzuentdecken, eine einzige Familie zu sein.“ Davon sind wir leider offensichtlich noch weiter entfernt denn je.

Die Schweiz und der Ukrainekonflikt: Noch wie war Neutralität so wichtig wie heute…

 

Scheibchen um Scheibchen, Rad um Rad: Nachdem bisher für die Schweiz die Regelung gegolten hatte, keine Waffen an kriegsführende Staaten zu liefern, zeichnet sich nun im Ständerat und im Nationalrat eine Mehrheit ab, welche die Lieferung von Waffen schweizerischer Herkunft aus Ländern wie Deutschland oder Schweden an die Ukraine ermöglichen soll. Eine überaus scheinheilige Umgehung des schweizerischen Neutralitätsprinzips, etwas, was Sandro Brotz, Moderator der „Arena“ am Schweizer Fernsehen vom 3. Februar 2023, zu recht als „Buebetrickli“ bezeichnete. Denn indirekte Lieferungen und Umgehungsgeschäfte sind nicht grundsätzlich etwas anderes, als wenn man die Waffen gleich direkt an den Bestimmungsort liefern würde. Selbst die SP hat nun auf diese Linie eingeschwenkt, nur die Grünen halten kompromisslos daran fest, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, auch nicht mittels Umweg über andere Staaten. 

Doch die Kernfrage ist nicht jene zwischen mehr oder weniger Waffen. Die eigentliche Kernfrage ist die zwischen Krieg und Frieden. Denn Waffen dienen stets nur einzig und allein dem Zweck, Kriege unnötig und sinnlos in die Länge zu ziehen. Selbst die vermeintlichen Sieger sind am Ende Verlierer, es gibt im Krieg keine Gewinner, jeden Krieg verlieren die, welche den Krieg führen, an jedem einzelnen Tag ein bisschen mehr, durch jeden Soldaten, der sein Leben verliert, durch jedes Haus, das dem Boden gleichgemacht wird, durch alle Felder, die vernichtet werden, durch alle Frauen und Kinder, die alleine und schutzlos zurückbleiben. Als neutrales Land hätte die Schweiz die einmalige Chance, nicht in den europaweiten, immer lauter werdenden Chor der Kriegstreiber und Waffenlieferanten einzustimmen, sondern sich stark zu machen für den Frieden, jene Rolle also einzunehmen, welche alle anderen tragischerweise schon längst aufgegeben haben. 

Wenig beachtet, aber umso bemerkenswerter hat in diesen Tagen der brasilianische Präsident Lula da Silva eine vielversprechende Friedensinitiative ergriffen, in welche er nebst Brasilien auch China, Indonesien, Südafrika und Indien einbinden möchte, Länder, die zusammen immerhin weit mehr als einen Drittel der gesamten Weltbevölkerung repräsentieren. Alle diese Länder haben zwar den russischen Angriffskrieg klar verurteilt, aber keine Sanktionen ergriffen und sich auch nicht an Waffenlieferungen beteiligt. Was für ein Vorbild! Länder des Südens und des Ostens, die oft genug schmerzvoll und über genug lange Zeit unter Besserwisserei und Belehrungen kolonialistischer Grossmächte gelitten haben und nun mutig einen möglichen Ausweg zeigen aus einem Konflikt, in den sich zwei Länder der nördlichen Hemisphäre auf heillose und höchst gefährliche Weise verbissen haben.  

Und ja: Weshalb beteiligt sich die Schweiz nicht an diesem Friedensprojekt? Mehr als jedes andere Land wäre sie dafür prädestiniert. Die Neutralität darf auf keinen Fall etwas sein, was jetzt unter immer stärkerem internationalen Druck so langsam zerbröckelt und zwischen unseren Fingern zerrinnt. Nein, im Gegenteil: Noch nie war Neutralität so wichtig wie heute. „Lieber hundert Stunden lang verhandeln“, sagte der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, „als eine Minute lang schiessen“. Es gibt schon genug andere Länder, die Waffen liefern, da muss nicht die Schweiz auch noch Waffen liefern und weiteres Öl ins Feuer giessen. Die Schweiz hat etwas Besseres zu bieten als Panzer, Artillerie und Raketen. Sie hat die Kunst des Verhandelns und der Diplomatie anzubieten, das facettenreiche Suchen nach innovativen Lösungen, bei denen die unterschiedlichen Interessen der Konfliktpartner konstruktiv eingebunden werden. Ist die Schweiz nicht stets so stolz auf ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, darauf, der EU nicht anzugehören und mit möglichst vielen Ländern gute Beziehungen zu pflegen? Jetzt wäre der Moment gekommen, diesen Weg der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit mutiger und entschiedener zu gehen denn je, auch und wenn gerade der allgemeine Wind total in die andere Richtung bläst. 

„Dieser Krieg“, schreibt die „Berliner Zeitung“ am 2. Februar 2023, „wird nur durch eine diplomatische Lösung beendet werden. Dabei wird keine Seite Maximalforderungen durchsetzen können. Es wird aller Voraussicht nach am Ende eine neutrale Ukraine geben, die nicht eindeutig dem westlichen oder russischen Einflussgebiet zufällt. Jede andere durchsetzbare Option ist schlechter, weil sie entweder einen jahrelangen und verlustreichen Abnützungskrieg oder aber eine militärische Eskalation mit Russland zur Folge hätte. Wenn mithin am Ende eines langen oder weiter eskalierenden Krieges das gleiche Ergebnis herauskommt, das auch heute bereits möglich wäre, dann ergibt es keinen Sinn, immer weiterzukämpfen mit zehntausenden Toten und traumatisierten Menschen. Warum also nicht die Chancen auslosten, die Lulas Initiative bieten könnte?“

Kriegstreiber und Kriegstreiberinnen, Pazifistinnen und Pazifisten: Wer ist denn da aus der Zeit gefallen?

 

Wenn es nach dem „Tagesanzeiger“ vom 3. Februar 2023 geht, dann ist die deutsche Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann die „mächtigste Gegenspielerin“ von Bundeskanzler Olaf Scholz und neben Christian Lindner die „bekannteste Figur der deutschen Liberalen“. Sie sei „nie lau“, eine „Wucht“, „schlagfertig und streitbar, sachlich und kompetent“ und eine „leidenschaftliche Motorradfahrerin“, die es „rasant“ liebe.

Weniger lobend sind die Worte, die der „Tagesanzeiger“ für Strack-Zimmermanns Gegenspieler findet: Bundeskanzler Olaf Scholz zeichne sich durch „Zögerlichkeit“ aus, Rolf Mützenich, SPD-Fraktionschef und bekennender Pazifist, „keile“ in der Diskussion um Waffenliegerungen „postwendend zurück“ und argumentiere „ätzend“. 

Auf der einen Seite also die „nie laue“, „streitbare“ und „sachliche“ FDP-Frau und auf der anderen Seite ein „zögerlicher“ Bundeskanzler und sein „keilender“ und „ätzender“ Parteikollege, dem seitens der Befürworter zusätzlicher Waffenlieferungen „Ansichten von gestern“ vorgeworfen werden. Ein Lehrstück, wie Sprache ganz subtil das Denken formt und in eine ganz bestimmte Richtung steuert. Entschlossenes Handeln für militärische Gewalt wird unbestritten als „Stärke“ ausgelegt, Zurückhaltung bei der Eskalation als „Zögerlichkeit“, „Unentschlossenheit“ und „Schwäche“. Solche Worthülsen verbauen jegliches tiefergehendes Nachdenken über Hintergründe und Auswirkungen politischen Handelns. Ein paar martialische Schlagworte und das bedingungslose Einstehen für Waffengewalt genügen schon, um zu den beliebtesten Politikerinnen und Politikern des Landes zu gehören, während Friedenspolitikerinnen und Friedenspolitikern, die nicht eine Zuspitzung, sondern eine Lösung des Konflikts suchen, unverhohlen „Ansichten von gestern“ vorgeworfen werden. 

Besonders dramatisch, wie sich durch diese schleichende Verformung von Sprachbildern und medialer Aufbereitung das Denken selber schrittweise verändert. „Ansichten von gestern“ werden, bewusst oder unbewusst, mit Denkvorstellungen gleichgesetzt, die heute keine Gültigkeit mehr hätten. Alles Vergangene wird in den Abfallkübel der Geschichte geworfen. Dass der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt einmal gefordert hatte, es sei besser, hundert Stunden lang umsonst zu verhandeln, als auch nur eine einzige Minute lang zu schiessen, scheint längst vergessen zu sein. Doch die Vergangenheit ist nicht dazu da, auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen zu werden. Sie ist dazu da, aus ihr zu lernen. Denn es handelt sich um Wahrheiten, die aus tiefer Weisheit entstanden sind, aus den Visionen einer friedlichen und gerechten Zukunft ohne Waffengewalt und Kriege, die noch nicht vom allgemeinen Kriegsgetümmel und alles beherrschender Kriegstreiberei vernebelt waren. Dass diese Stimmen heute so wenig Gehör finden, während sich Politikerinnen und Politiker, deren einzige „Leistung“ darin besteht, mehr Waffenlieferungen zu fordern, höchster Beliebtheit erfreuen, hat nicht das Geringste mit „zeitgemässem“ Denken zu tun, sondern ist einzig und allein ein Rückfall in finsterste Vergangenheit.

Das für diesen „Zeitenwandel“ schreiendste Beispiel ist die radikale Kehrtwendung der Grünen, die mit dem Slogan „Keine Waffen in Kriegsgebiete“ noch zu den jüngsten Bundestagswahlen angetreten waren und nun an vorderster Front für mehr Waffenlieferungen an die Ukraine kämpfen. Ist ihnen nicht bewusst, dass jeder Panzer auf der einen Seite der Front einen Panzer auf der anderen Seite der Front auffahren lässt? Dass jeder ukrainische Soldat, der im Krieg getötet wird, das Leben eines russischen Soldaten fordert? Dass jedes Haus, das auf der einen Seite der Front zerschossen wird, ein Haus aus der anderen Seite der Front in Grund und Boden zerstört? Kriege kann man nicht gewinnen, man kann sie nur verlieren, mit jedem Menschen, der dabei sein Leben verliert. „Probleme“, sagte Albert Einstein, „kann man nie mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Brasilien, China, Südafrika und Indien beraten gegenwärtig, ohne Schuldzuweisung an die eine oder andere Seite, einen Friedensplanung für die Ukraine. Was für eine Chance! Wäre es nicht allerhöchste Zeit, das Blatt zu wenden, ein wahrhaft neues Kapitel in der Geschichte aufzuschlagen und die Kriegslogik durch eine Friedenslogik abzulösen, bevor nicht vielleicht alles schon zu spät ist?

Vom Massenstreik in Grossbritannien bis zum Klimawandel: Alles hängt mit allem zusammen

 

In Grossbritannien streiken rund eine halbe Million Menschen für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. In Frankreich demonstrieren Hunderttausende in 250 Städten gegen eine Erhöhung des Rentenalters. In Italien verschärft die neue rechte Regierung ihre Politik gegenüber privaten Organisationen, die sich für die Rettung von Bootsflüchtlingen einsetzen. Der Krieg in der Ukraine dauert unvermindert an, macht ganze Dörfer und Städte dem Erdboden gleich und fordert eine wachsende Zahl von Todesopfern. Und über allem hängt, schon fast vergessen, das Damoklesschwert des Klimawandels, der schon in naher Zukunft durch Hitze, Dürre, Überschwemmungen und steigendem Meeresspiegel weite Teile heute noch intakter Lebensgebiete für immer unbewohnbar machen könnte.

Das Eine hätte mit dem anderen nichts zu tun? Und ob! Ist es doch letztlich das kapitalistische Wirtschaftssystem, das auf permanenter Profitmaximierung durch grösstmögliche Ausbeutung von Mensch und Natur beruht, welches die Hauptursache bildet für all die gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Fehlentwicklungen, mit denen wir uns heute herumschlagen. Wenn in Grossbritannien eine halbe Million Menschen für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen streiken, dann geht es nicht nur um diese konkreten Forderungen. Es geht auch um grenzenlose Wut und den Aufschrei gegen ein System, das einigen Wenigen sagenhaften Reichtum beschert, während Tausende andere in  ungeheizten Wohnungen ausharren oder auf nur einigermassen ausreichendes Essen verzichten müssen, weil für beides zusammen ihr Einkommen schlicht nicht ausreicht. Wenn Französinnen und Franzosen gegen eine Rentenerhöhung auf die Strasse gehen, so ist auch das wiederum ein Aufschrei gegen das kapitalistische Grundprinzip, aus den arbeitenden Menschen in immer kürzerer Zeit eine immer höhere Leistung herauszupressen. Wenn europäische Länder wie Italien ihre Asylpolitik verschärfen, so hat auch dies ganz offensichtlich mit dem Kapitalismus zu tun, indem nämlich durch jahrhundertelange koloniale Ausbeutung zwecks kapitalistischer Gewinnmaximierung die Unterschiede zwischen reichen und armen Ländern so gross geworden sind, dass der Wohlstand des Nordens die verarmten und ausgebeuteten Menschen des Südens geradezu magisch anzieht. Selbst der Krieg in der Ukraine wurzelt in der gleichen Logik wie das kapitalistische Dogma der unbegrenzten Expansion, der kolonialen Unterwerfung möglichst grosser Territorien und der Gewinnmaximierung auf Kosten anderer. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Ukraine, die USA und Russland nicht wesentlich. Wie sehr in diesem Krieg wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielen, zeigt sich auch darin, dass mehrere US-Agrarkonzerne bereits 17 Millionen Hektar Agrarfläche, mehr als die gesamte Landwirtschaftsfläche Italiens, aufgekauft haben und sich in der Ostukraine eines der grössten Lithiumvorkommen Europas befindet. „Der Kapitalismus“, sagte der französische Sozialist Jean Jaurès, „trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ Schliesslich der Klimawandel. Auch er ist eine direkte Folge des kapitalistischen Dogmas, wonach die Wirtschaft endlos wachsen müsse und hierzu jedes Mittel recht sei, um aus der Erde, dem Boden und der Natur den grösstmöglichen Mehrwert herauszupressen – selbst auf die Gefahr hin, das gesamte Ökosystem früher oder später in sich zusammenbrechen zu lassen.

Wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. So geht es uns mit dem Kapitalismus. Wir sehen die einzelnen Bäume, aber nicht das System als Ganzes, in dem alles mit allem zusammenhängt und alles eine gemeinsame Ursache hat. Wie eine Hydra. Kaum haben wir ihr einen Arm abgeschlagen, schon wachsen dutzende neue nach. Nur wenn sich die weltweiten sozialen und ökologischen Bewegungen, die heute noch unabhängig voneinander für ihre jeweiligen spezifischen Interessen kämpfen, zu einer weltweiten antikapitalistischen Bewegung zusammenschliessen, kann an das Grundübel, das kapitalistische Ausbeutungssystem, wirksam herangegangen werden. Das Potenzial wäre längst vorhanden. Wir müssen es nur wollen. Denn, wie der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Plädoyer für eine Welt, in der so etwas Absurdes wie Kriege für immer der Vergangenheit angehören

 

Unglaublich, wie hartnäckig sich weiterhin der Mythos am Leben erhält, wonach die Ukraine ein mustergültiges, demokratisches Land sei und sozusagen den Vorpfosten bilde des demokratisch-freiheitlichen Westens im Kampf gegen das autokratische russische „Reich des Bösen“. Dieser Mythos beherrscht wohl nur deshalb den öffentlichen Diskurs, weil Fakten, welches dieses Bild in Frage stellen könnten, in den westlichen Medien systematisch unterdrückt werden.

Die Tatsache zum Beispiel, dass die Ukraine eines der korruptesten Länder der Welt ist. Die Tatsache, dass das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe schon mehrfach die Haftbedingungen in ukrainischen Gefängnissen, wo Foltermethoden an der Tagesordnung sind, kritisiert hat. Die Tatsache, dass – gemäss Amnesty International – ukrainische Regierungssoldaten und insbesondere das berüchtigte Asowregiment seit 2014 schwerste Menschenrechtsverletzungen in der Ostukraine begangen haben. Die Tatsache, dass seit dem 2019 erlassenen ukrainischen Sprachengesetz die Verwendung der russischen Sprache in der öffentlichen Verwaltung, den Schulen und an den Universitäten untersagt ist. Die Tatsache, dass sämtliche Werke russischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus den ukrainischen Bibliotheken entfernt wurden und Musikstücke russischer Komponistinnen und Komponisten nicht mehr öffentlich aufgeführt werden dürfen. Die Tatsache, dass oppositionelle politische Parteien, Zeitungen und Fernsehstationen verboten und Gewerkschaftsrechte massiv eingeschränkt worden sind. Die Tatsache, dass ukrainische Bürgerinnen und Bürger, die sich gegenüber der Regierung kritisch äussern, auf öffentlichen Plätzen an Laternenpfähle festgebunden und vor den Augen der Passantinnen und Passantinnen verprügelt werden. Die Tatsache, dass selbst Bürgerinnen und Bürger anderer Länder, die unliebsame Aussagen machen, ins Visier der ukrainischen Staatsbehörden geraten, so zum Beispiel der deutsche SPD-Politiker Rolf Mützenich, der sich für einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine aussprach und deshalb auf einer staatlichen Terrorliste landete.

Grundsätzlich sind drei mögliche Positionen gegenüber dem Ukrainekonflikt denkbar. Die erste besteht darin, die alleinige Schuld dem russischen „Aggressor“ und insbesondere Wladimir Putin in die Schuhe zu schieben, der sozusagen aus heiterem Himmel in eklatanter Verletzung des internationalen Völkerrechts am 23. Februar 2022 ein friedliches, demokratisches und wehrloses Land überfallen habe und dem es um nichts anderes gehe, als kaltblütig und ohne Rücksicht auf menschliche Opfer sein Herrschaftsgebiet auszudehnen, so wie das blutrünstige Diktatoren im Laufe der Geschichte immer wieder getan hätten. Es ist dieses Bild, das in den allermeisten westlichen Medien vorherrscht und auch als Argument dient, um die Ukraine mit immer mehr Waffen zu beliefern, um damit den heldenhaften Verteidigungskampf des kleinen David gegen den übermächtigen Goliath zu unterstützen.

Die zweite Position ist genau das Gegenteil. Sie sieht das „Böse“ nicht primär bei Russland und Putin, sondern bei den USA, der Nato und einer ukrainischen Regierung, die sich in die Macht- und Expansionspolitik des Westens einspannen lasse. Aus dieser Sicht bilden die Nato-Osterweiterung, die seit dem Zerfall der Sowjetunion systematisch vorangetrieben wurde, die Ausbildung und Aufrüstung der ukrainischen Armee durch die USA seit 2014, die vom ukrainischen Militär begangenen Menschenrechtsverletzungen im Donbass, die Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerungsminderheit sowie der mutmasslich von der CIA gesteuerte Regierungsputsch auf dem Maidan anfangs 2014 die entscheidenden Ursachen für den Angriff Russland im Februar 2022. Anhängerinnen und Anhänger dieser Sichtweise erinnern auch immer wieder daran, dass Putin noch im Dezember 2021 den USA Gespräche zum zukünftigen Status der Ukraine vorgeschlagen hatte, was aber von der US-Regierung ohne nähere Begründung verworfen wurde.

Die dritte Position geht davon aus, dass die „Wahrheit“ möglicherweise nicht zur Gänze nur auf der einen oder anderen Seite liegen könnte. Sie geht davon aus, dass sowohl Russland wie auch der Westen einen wesentlichen Anteil am Ausbruch dieses Konflikts und seiner weiterführenden Eskalation haben. Sind die beiden ersten Positionen von reinem Schwarzweissdenken und einer Haltung des „Ich bin im Recht, der andere ist im Unrecht“ oder „Der eine ist der Gute, der andere ist der Böse“ geprägt, so versucht die dritte Position, dieses Freundfeinddenken zu durchbrechen, hinter die gängigen Feindbilder zu schauen, die herrschenden Fronten aufzubrechen, das Gespräch, dort, wo es verstummt ist, wieder ins Leben zu rufen. Und noch etwas zeichnet diese dritte Position aus: Sie klammert sich nicht so sehr an die Vergangenheit und an die Fixierung auf Fehler, die gemacht worden sind, sondern auf die Zukunft: Sie fragt nicht, ob der Konflikt erst 2014 begonnen hat oder vielleicht schon 1991 oder möglicherweise noch früher – was dann stets wieder andere Begründungen und Erklärungsmuster zur Folge hat. Nein, sie fragt vielmehr, wie die Koexistenz Russlands und der Ukraine, das Verhältnis zwischen Osten und Westen, das Leben und die politischen Verhältnisse in den ostukrainischen Dörfern und Städten im Jahre 2024 aussehen könnte, um für alle Menschen, unabhängig von Sprache und nationaler Zugehörigkeit, ein gutes Leben in Sicherheit, Wohlstand und Frieden möglich zu machen. „Mehr als die Vergangenheit“, sagte Albert Einstein, „interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“

Dieses Einstehen für die Zukunft mmüsste in der politischen Diskussion im Vordergrund stehen. Visionen, wie die Welt in fünf, zehn oder zwanzig Jahren aussehen müsste, um gut zu sein für alle Menschen und nicht bloss für diejenigen, die auf der „falschen“ oder „richtigen“ Seite stehen. Eine Welt, in der so etwas Absurdes wie Kriege für immer der Vergangenheit angehören. Dazu ist eine radikale Revolution unumgänglich, nicht im bewaffneten Kampf zwischen vermeintlich „Guten“ und vermeintlich „Schlechten“, sondern auch in unserem Denken, in unseren Köpfen. Denn, wie Albert Einstein sagte: „Probleme kann man niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Eigentlich ist das doch etwas so Einfaches und Logisches, dass man sich nur wundern kann, dass es nicht schon längst geschehen ist.

Kindsmisshandlungen als Folge der kapitalistischen Leistungsgesellschaft

 

Wie das „Tagblatt“ am 26. Januar 2023 berichtet, sind im letzten Jahr am Universitätskinderspital Zürich 647 Verdachtsfälle von Kindsmisshandlungen gemeldet worden. Das sind 22 mehr als 2021. Gemäss Kinderspital steigt das Risiko für eine Misshandlung, je mehr Stress in einer Familie vorhanden ist.

Meistens enden solche Zeitungsmeldungen genau dort, wo sie eigentlich erst so richtig anfangen müssten. Einfach zu sagen, Stress führe zu Gewalt, genügt nicht. Viel entscheidender ist die Frage, woher denn dieser Stress kommen könnte. Nun, Stress kann unterschiedliche Ursachen haben. Er kann zum Beispiel entstehen, wenn die sozialen Verhältnisse sehr angespannt sind, wenige materielle Mittel zur Verfügung stehen, Familien von Armut betroffen sind und vom täglichen Überlebenskampf in Daueranspruch genommen werden. Auch enge Wohnverhältnisse, zu wenig Platz für natürliche Bewegungsbedürfnisse können Stress bewirken. Ein überaus starker Stressfaktor kann auch in der Situation einer über längere Zeit anhaltenden Arbeitslosigkeit begründet sein. Stress auslösend ist auch die Kehrseite davon: der Zwang, gleich mehrere Jobs parallel zueinander bewältigen zu müssen, da einer allein nicht ausreicht, um die minimalen Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Ein weiterer wichtiger Faktor sind der Zeitdruck und die Konkurrenzsituation, der die Menschen am Arbeitsplatz ausgesetzt sind, unabhängig davon, ob es um gut oder schlecht bezahlte Jobs geht.

Wie und auf welche Weise auch immer: Stress ist ein wesentliches Merkmal der kapitalistischen Arbeitswelt und ihrer mannigfachen Auswirkungen. In der Hierarchie derer, die davon profitieren, und derer, die darunter leiden, sind ganz unten die Kinder das schwächste Glied in der Kette, jener Gewalt, die an vielen anderen Orten in das System eindringt und von ihm weiter verstärkt wird, schutzlos ausgeliefert. Misshandelte Kinder zu behandeln, betroffene Eltern aufzuklären, Informationskampagnen zu lancieren, alles gut und recht, doch dies alles ist reine Symptombekämpfung, so lange nicht an das Grundübel, die kapitalistische Leistungsgesellschaft mit ihrem immer höheren Tempo, den laufend zunehmenden Erwartungen an die Menschen und der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich radikal herangegangen wird. 

Der FDP Schweiz scheint auch noch das absurdeste Argument gut genug zu sein, um Waffenlieferungen an die Ukraine zu befürworten…

 

„Brisante Kehrtwende bei Waffenexporten“, schreibt das schweizerische „Tagblatt“ am 26. Januar 2023. Nachdem die Schweiz als neutrales Land bisher an der Doktrin festgehalten hat, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, wird nun wegen des Ukrainekriegs der Druck auf die Schweiz, das Kriegsmaterialgesetz zu lockern, immer grösser. Insbesondere Vertreter Deutschlands, Dänemarks und Spanien äusserten bereits mehrmals lautstark ihr Unverständnis für die Schweizer Position. Entgegen dem Bundesrat, der keine Anstalten macht, das Gesetz zu lockern, liegen nun aus dem Parlament mehrere Vorstösse vor, die es ermöglichen sollen, dass Länder, die schweizerisches Kriegsmaterial gekauft haben, dieses weitergeben können. Am weitesten geht der Vorschlag der Freisinnig Demokratischen Partei FDP, welche die Nichtwiederausfuhrerklärungen für gewisse Länder abschaffen will, welche „vergleichbare Werte vertreten wie die Schweiz“. Es liegt auf der Hand, dass damit im Speziellen die Ukraine gemeint ist.

Wie man behaupten kann, die Ukraine würde „vergleichbare Werte wie die Schweiz“ vertreten, ist mir schleierhaft. Die Ukraine gilt als eines der korruptesten Länder der Welt. Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe hat schon mehrfach die Haftbedingungen in den ukrainischen Gefängnissen kritisiert, zu denen auch die Anwendung von Foltermethoden gehört. Amnesty International wirft ukrainischen Regierungssoldaten und insbesondere dem berüchtigten Asowregiment schwerste Menschenrechtsverletzungen in der Ostukraine ab 2014 vor. Seit dem 2019 erlassenen Sprachengesetz ist das Ukrainische die einzige offizielle Landessprache und die russische Sprache darf im öffentlichen Raum, in der Politik oder an den Universitäten nicht mehr verwendet werden. Sämtliche Werke russischer Autorinnen und Autoren wurden aus den Bibliotheken entfernt, selbst Liebesromane und Kinderbücher. Musikstücke russischer Komponistinnen und Komponisten dürfen nicht mehr öffentlich aufgeführt werden. Mehrere politische Parteien und Zeitungen wurden verboten, oppositionelle Fernsehstationen geschlossen,  Gewerkschaftsrechte eingeschränkt. Bürgerinnen und Bürger, die sich gegenüber der Regierung kritisch äussern, werden auf öffentlichen Plätzen an Laternenpfähle gebunden und vor den Augen der Passatinnen und Passanten durchgeprügelt. Auch Bürgerinnen und Bürger anderer Länder, die unliebsame Aussagen machen, geraten ins Visier der ukrainischen Staatsbehörden: So zum Beispiel wurde der deutsche SPD-Politiker Rolf Mützenich, der sich für einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine aussprach, auf eine staatliche Terrorliste gesetzt. 

Das sollen sie also sein, die mit der Schweiz vergleichbaren Werte? Es braucht schon ein recht hohes Mass an Unverfrorenheit oder Naivität, Waffenlieferungen an die Ukraine mit diesem Argument zu begründen. Indessen muss nicht verwundern, dass es so weit kommen konnte. Seit elf Monaten wird der Öffentlichkeit durch unsere Medien in Bezug auf die Ukraine beinahe ausschliesslich das Bild eines tapferen, heldenhaften, demokratischen, freiheitlichen Landes vermittelt, welches an vorderster Front nicht nur sich selber, sondern gleich auch noch die gesamte westliche „Wertegemeinschaft“ verteidigt und deshalb unserer uneingeschränkten Unterstützung bedarf. Gewiss, auch wenn die Ukraine noch so korrupt ist, gegenüber der russischsprachigen Bevölkerungsminderheit eine noch so unentschuldbare Apartheidpolitik betreibt und sich noch so zahlreicher Menschenrechtsverletzungen in der Ostukraine schuldig gemacht hat, ist das alles noch lange keine Rechtfertigung für den russischen Angriffskrieg. Doch die Schweiz als neutrales Land hätte in diesem Konflikt eine viel wesentlichere und wichtigere Aufgabe, als Waffenlieferungen an die eine der beiden Konfliktparteien zu erleichtern. Diese Aufgabe würde darin bestehen, alles nur Erdenkliche zu tun, um auf diplomatischem Weg eine Friedenslösung zwischen Russland und der Ukraine in die Wege zu leiten. Je mehr sich die Schweiz auf die eine der beiden Seiten schlägt, umso mehr gibt sie das Heft einer friedlichen Lösung dieses Konflikts leichtfertig aus der Hand. 

(Quellen: „Tagblatt“ 26.1.23; Wikipedia; www.zdf.de; www.voltairenet.org)

Serbien: Auf der falschen Seite der Geschichte?

  

Zähneknirschend, so berichtet das schweizerische „Tagblatt“ vom 25. Januar 2023, gibt der serbische Präsident Aleksandar Vucic bekannt, dem von der EU diktierten „Kosovoplan“ zuzustimmen, wonach Serbien und der Kosovo zwar einander nicht formell anerkennen, jedoch ihre staatliche Existenz in den gegenwärtigen Grenzen akzeptieren, was unter anderem zur Folge hat, dass Serbien die Mitgliedschaft des Kosovos in internationalen Organisationen nicht mehr verhindern kann.

Der „Kosovoplan“ mag zwar ein taugliches Instrument sein, um die Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo abzubauen. Fragwürdig ist und bleibt aber die Art und Weise, wie dieser Plan Serbien gegenüber vom Westen aufgezwungen wird, ein Vorgehen, bei dem man schon fast von Erpressung sprechen müsste, haben die westlichen Staaten doch gedroht, sämtliche Handelsbeziehungen mit Serbien abzubrechen, wenn es dem Plan nicht zustimme. „Dabei“, so Vucic, „kann es für uns keine schlimmeren Sanktionen als den Rückzug der ausländischen Investitionen geben.“ Und weiter: „Beide Seiten müssen Zugeständnisse machen, das haben wir verstanden. Aber das Problem ist, dass die andere Seite alles tun kann, was sie will, und dafür noch vom Westen belohnt wird.“

Serbien bezahlt jetzt bitter dafür, dass Präsident Vucic bisher einen Mittelkurs gefahren hat und sowohl freundschaftliche Beziehungen zu Russland gepflegt hat wie auch zum Westen. Dies lässt sich in der aktuell aufgeheizten und polarisierten Stimmung im Zuge des Ukrainekriegs offensichtlich nicht mehr aufrechterhalten. Entweder gehört man zu den „Guten“ oder zu den „Bösen“, nichts dazwischen. Egal, ob Vucic sich mehr nach Osten oder mehr nach Westen ausrichten möchte, stets ist er auf der falschen Seite der Geschichte. Dabei wären doch Staaten, die anstelle gegenseitiger Konfrontation Brücken zwischen den verfeindeten Lagern bauen möchten, gerade angesichts der heutigen globalen Spannungen dringender nötig denn je.

Doch Serbien steht nicht zum ersten Mal auf der falschen Seite der Geschichte. Schon am 24. März 1999 wurde es zum Opfer westlicher Machtpolitik, als die Nato das Land zu bombardieren begann mit der Begründung, Serbien hätte dem Vertrag von Rambouillet, der den Konflikt zwischen serbischen Sicherheitsbehörden und der kosovarischen Befreiungsarmee UCK hätte beenden sollen, nicht zugestimmt. Tatsächlich war der Vertrag von Rambouillet aber sowohl am Widerstand der Serben wie auch an jenem der UCK gescheitert. „Der Rambouillettext“, so der frühere US-Aussenminister Henry Kissinger, „war ein ungeheuerliches diplomatisches Dokument, das niemals in dieser Form hätte präsentiert werden dürfen. Kein Serbe mit Verstand hätte Rambouillet akzeptieren können.“ Weil nämlich, so Kissinger, dieses Dokument den Durchmarsch von Nato-Truppen durch Serbien genehmigt hätte und eigentlich bloss dem Westen als Vorwand dafür gedient hätte, Serbien bombardieren zu können. Die am 24. März 1999 von der Nato begonnene Militäroperation war der erste Krieg, den die Nato sowohl ausserhalb des Bündnisfalls, als auch ohne ausdrückliches UN-Mandat führte und  der daher bis heute unter dem Aspekt des internationalen Völkerrechts höchst umstritten ist.

An diesem 24. März 1999 also schlug die Nato mit 200 Flugzeugen und 50 Lenkwaffen zu. Nachdem zuerst nur militärische Ziele ausgewählt worden waren, erfolgte in einer zweiten Phase die Ausweitung auf die zivile Infrastruktur, zahlreiche Wohngebäude, Schulen, Krankenhäuser, Fernsehstationen und Brücken wurden zerstört. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch geht davon aus, dass die Militäroperation der Nato den Tod von rund 500 Zivilpersonen verursacht hat. Von der US Air Force und der Royal Air Force wurden auch die später international geächteten Streubomben eingesetzt, zahllose Blindgänger stellen bis heute eine erhebliche Gefahr für die Zivilbevölkerung dar. Ebenfalls beschossen wurden zahlreiche Chemieanlagen, Mediziner machen die dabei freigesetzten, enormen Mengen an Schadstoffen sowie die verwendete Uranmunition dafür verantwortlich, dass Serbien heute die höchste Rate von Lungenkrebs in Europa aufweist.

Das Beispiel Serbien zeigt, wie weit wir immer noch von einer Welt entfernt sind, in der Demokratie und Selbstbestimmung nicht nur für jene Gültigkeit haben, die auf der „richtigen“ Seite der Geschichte stehen. Das Recht scheint nach wie vor stets nur das Recht der Starken und Mächtigen zu sein. Je nachdem, auf welcher Seite der Geschichte man steht, erlebt man demzufolge dann auch die Welt sehr unterschiedlich. Man braucht die Augen vor der komplexen Geschichte ethnischer Spannungen auf dem Gebiet des früheren Staates Jugoslawien keineswegs zu verschliessen. Aber wenn man sich auch nur ein klein wenig in die Gefühlslage der Serbinnen und Serben hineinzuversetzen versucht, dann werden wohl die Nato-Militäroperation vom 24. März bis 10. Juni 1999 und die aktuelle Erpressungspolitik durch den Westen tiefe Wunden hinterlassen, die nicht so schnell verheilen werden…

(Quellen: „Tagblatt“ 25.1.23; Wikipedia)  

„Der Rambouillet-Text, der Serbien dazu aufrief, den Durchmarsch von NATO-Truppen durch Jugoslawien zu genehmigen, war eine Provokation, eine Entschuldigung dafür, mit den Bombardierungen beginnen zu können. Kein Serbe mit Verstand hätte Rambouillet akzeptieren können. Es war ein ungeheuerliches diplomatisches Dokument, das niemals in dieser Form hätte präsentiert werden dürfen. […] Die Serben haben sich vielleicht in der Bekämpfung des KLA- (UÇK-)Terrors barbarisch verhalten. Jedoch wurden 80 % der Brüche des Waffenstillstandes, zwischen Oktober und Februar, von der KLA begangen. Es war kein Krieg der ethnischen Säuberung zu dieser Zeit. Wenn wir die Lage korrekt analysiert hätten, hätten wir versucht den Waffenstillstand zu unterstützen und nicht die ganze Schuld auf die Serben geschoben.“

 Henry Kissinger[21]