Ukraine: Krieg als eine Sache, „für die es sich zu sterben lohnt“?

 

„Im Krieg“, schreibt Chefredaktor Eric Guyer in seinem Leitartikel der „NZZ“ vom 3. Dezember 2022, „verlieren die harten Fakten – Truppenstärke und Bewaffnung – an Wert, wenn es an den weichen Faktoren fehlt: am unbedingten Siegeswillen und einer Sache, für die es sich zu sterben lohnt. Die Ukrainer haben diese weichen Faktoren, die demoralisierten russischen Soldaten nicht.“

So etwas kann nur einer schreiben, der in seinem behaglichen, gut geheizten Büro sitzt und sich bloss aufgrund von Durchhalteparolen der beiden Kriegsparteien oder von Landkarten, auf denen die Geländegewinne der einen oder der anderen Seite verzeichnet sind, jenes Bild des Geschehens zurechtzimmert, welches in sein Weltbild passt. Dass dieses Weltbild und die Realität nur wenig miteinander zu tun haben, hätte Guyer nur schon hinterfragen müssen, wenn er sich beispielsweise die „Frankfurter Rundschau“ vom 1. Dezember 2022 angeschaut hätte. Dort nämlich war Folgendes zu lesen: „Nicht nur auf russischer, sondern auch auf ukrainischer Seite leiden die Kämpfenden. Viele von ihnen werden nie mehr in ihre früheren Berufe zurückkehren können, weil sie ausgebrannt sind. Zahlreiche Einheiten leiden unter Fussbrand, einer Erkrankung, die durch das Tragen von nassen, kalten Socken oder Schuhen über mehrere Tage hinweg entsteht. Neben Schmerzen, Blasen und Taubheitsgefühlen können auch Infektionen zu den Folgen zählen. Die Soldaten kommen im unablässigen Gefechtssturm kaum zum Schlafen, alles durchdringender Regen und Morast, in dem sie immer wieder steckenbleiben, machen ihnen zu schaffen. Auch gibt es immer wieder Probleme mit der Nahrungsmittelversorgung. Es mehren sich die Berichte von Offizieren, die zu bedenken geben, dass es schwierig werden dürfte, die Moral der Soldaten auf längere Sicht aufrechtzuerhalten, vor allem angesichts des nahenden Winters. Einzelne Bataillone haben bereits die Hälfte ihrer Mitglieder verloren, die anderen leben in ständiger Todesangst. Einige benötigen psychologische Hilfe. Viele Soldaten bekunden einen Mangel an Kraft und Ressourcen. Ein Offizier berichtet, er schaffe es kaum mehr, mit den schrecklichen Erfahrungen auf dem Schlachtfeld und dem Anblick der gefallenen Kampfgefährten fertig zu werden, es raube ihm die Seele.“

Wie bei so viel sinnlosem Leiden ein vernünftig denkender Mensch auf die Idee kommen kann, Krieg könnte eine Sache sein, „für die es sich zu sterben lohnt“, ist mir schleierhaft. Für wen soll sich das Sterben lohnen? Für den Soldaten, der im Kampf gefallen ist? Für seine Freundin oder seine Frau? Für seine Eltern? Für seine Kinder? Für all die Schwerverletzten, die zeitlebens in einem Rollstuhl sitzen oder unter Kopf- und Bauchschüssen, zerfetzten Armen, verbrannten Körperteilen und unheilbaren Traumata leiden werden? Für all die Häuser, die kaputtgehen, für die Erde, die mit tödlichen Minen durchsetzt ist, für die Tiere und für die Pflanzen? Die Behauptung, Sterben im Krieg könnte sich auch nur im Entferntesten für irgendetwas lohnen, ist ein Rückfall in finsterste vergangene Zeiten, in der nur die Siege oder Niederlagen von Königen oder Kaisern eine Rolle spielten und die Menschen nichts anderes waren als „Kanonenfutter“ auf dem Schachbrett der Mächtigen. Diese Zeit, meinte ich immer, sei längst vorüber. Da habe ich mich offensichtlich ganz gewaltig getäuscht. 

„Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg“, schrieb der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque zur Zeit des Ersten Weltkriegs, „bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“ Wer behauptet, im Krieg zu sterben könnte sich für irgendetwas lohnen, macht sich, indem er den Krieg geradezu zur moralischen Pflicht emporstilisiert, für jeden einzelnen Tag, an dem das sinnlose Töten weitergeht, mitverantwortlich. Es gibt nur eine einzige vernünftige Alternative zum Krieg und diese lautet: kein Krieg. Wer, wie Erich Guyer, eine so grosse und wichtige Plattform öffentlicher Meinungsbildung wie die „NZZ“ zur Verfügung hat, sollte dies doch nicht dafür missbrauchen, einseitig für die eine oder andere Seite der Kriegsparteien Stellung zu beziehen, sondern alles daran setzen, sich zwischen die Fronten zu stellen und mit aller Entschiedenheit für einen sofortigen Waffenstillstand und ein Ende des Krieges einzutreten. Wenn sich etwas „lohnt“, dann gewiss nicht das Sterben auf dem Schlachtfeld, sondern einzig und allein die Forderung, diesem so schnell wie möglich ein Ende zu setzen, auch wenn diese Forderung augenblicklich noch so utopisch und unrealistisch erscheinen mag. „Lieber hundert Stunden umsonst verhandeln“, sagte der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, „als eine Minute schiessen.“ 

Schweizerische Bundesratswahlen: Ein mehrheitlich bürgerliches Parlament wählt die deutlich linkere von zwei sozialdemokratischen Kandidatinnen – ein kleines Wunder ist geschehen…

 

In ihren jungen Jahren engagierte sie sich in der „Revolutionären Marxistischen Liga“. In einem Interview mit der NZZ Ende November 2022 zeigte sie Verständnis für die jungen Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten, die sich auf Strassen kleben, sprach sich für die Aufnahme von Klimaflüchtlingen aus, wollte keinen Zusammenhang sehen zwischen Zuwanderung und Energieknappheit, schloss einen EU-Beitritt der Schweiz nicht aus und versicherte, gegen eine weitere Erhöhung des Frauenrentenalters „mit aller Kraft“ anzukämpfen. Elisabeth Baume-Schneider. Um von einem bürgerlich dominierten Schweizer Parlament zur Bundesrätin gewählt zu werden, machte sie buchstäblich alles falsch, was sie nur falsch mache konnte, zumal sie nicht einmal aus dem „richtigen“ Landesteil stammt, hätte doch sogar gemäss Bundesverfassung die deutschsprachige Schweiz den Anspruch auf den nach dem Rücktritt von Simonetta Sommaruga freigewordenen Sitz gehabt. „Mit dieser vollen Ladung linker Positionen“, so schrieb die Internetzeitung „Watson“ am 1. Dezember 2022, „hat sich Elisabeth Baume-Schneider selbst ein Bein gestellt. Es fehlt ihr eben am rhetorischen Gespür, ihr Gedankengut den bürgerlichen Bevölkerungsschichten ausserhalb der Romandie zu vermitteln. Baume-Schneider scheint auch nach drei Jahren im Ständerat den Berner Politikbetrieb nicht verstanden zu haben. Wer in den Bundesrat gewählt werden will, muss mit einer cleveren Taktik und Flexibilität auftreten, Frohnatur und die Vorliebe für Schwarznasenschafe allein genügen nicht.“

Und nun das: Am 7. Dezember wird Elisabeth Baume-Schneider mit 123 Stimmen gegen 116 Stimmen für ihre favorisierte Gegenkandidatin Eva Herzog zur Bundesrätin gewählt. Für einmal haben sich Meinungsforscher, Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter, Exponentinnen und Exponenten der politischen Parteien und die allermeisten Medien ganz gründlich geirrt. Ein kleines Wunder ist geschehen. Nicht die „kompromissfähige“, „abgeklärte“, mit allen politischen Wassern gewaschene Eva Herzog hat die Gunst der Mehrheit aller Parlamentarierinnen und Parlamentarier gefunden, sondern die deutlich linkere Elisabeth Baume-Schneider, die eben noch scheinbar alles unternommen hatte, um sich mit ihren Aussagen in der Öffentlichkeit unglaubwürdig zu machen und sich „ein Bein zu stellen“.

Ein schönes Lehrstück in Sachen Demokratie. Ohne an dieser Stelle die Verdienste von Eva Herzog als langjährige Basler Regierungsrätin und Ständerätin klein zu reden, hatte Elisabeth Baume-Schneider ihr doch offensichtlich etwas Entscheidendes voraus: ihre spürbare Leidenschaft für die soziale Gerechtigkeit, ihren Humor, ihre Kraft der Vision, um immer wieder über die Nasenspitze des politischen Alltagsgeschäfts hinauszuschauen, und ihre Authentizität, mit der sie ihre persönlichen Ziele erklärt und bei der man stets spürt: Das ist alles andere als vorgespielt oder aufgesetzt, sondern kommt stets aus der tiefsten Seele. 

Ein kleines Wunder ist die Wahl von Elisabeth Baume-Schneider aber insbesondere auch deshalb, weil es alles andere als selbstverständlich ist, dass ein Parlament mit einer klaren bürgerlichen Mehrheit ausgerechnet der „linkeren“ der beiden Kandidatinnen den Vorzug gegeben hat. Als in den Medien berichtet wurde, Baume-Schneider sei in jungen Jahren bei der „Revolutionären Marxistischen Liga“ aktiv gewesen, hätte man erwarten können, dass sie nur schon allein aufgrund dieser Tatsache niemals von einem bürgerlichen Parlamentarier oder einer bürgerlichen Parlamentarierin gewählt würde. Doch vielleicht hat ja gerade diese Geradlinigkeit, diese Echtheit, dieses Feuer, das schon früh in ihrem Leben brannte, zu ihrer Glaubwürdigkeit und letztlich zu ihrer Wählbarkeit ganz wesentlich beigetragen – ein Zeichen und ein Vorbild für all jene jungen Menschen, die sich aller „Vernunft“, allen „Realitätssinns“, aller falsch verstandener „Kompromissbereitschaft“ zum Trotz nicht von ihren Träumen und Visionen einer gerechteren und friedlicheren Welt abhalten lassen. „Im Jugendidealismus“, sagte der Urwalddoktor Albert Schweitzer, „erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt eintauschen soll.“ Vielleicht ist genau dieses Junge, Lebendige, Idealistische, Leidenschaftliche, was Elisabeth Baume-Schneider ausstrahlt, der Schlüssel zu diesem Wahlerfolg, den kaum jemand erwartet hätte.

Die überraschend gewählte Bundesrätin und das Parlament mit seiner überraschenden Wahl – beides hat an diesem 7. Dezember zusammengespielt. Und so wurden für einmal nicht Mauern gebaut, sondern Brücken – nicht Elisabeth Baume-Schneider hat sich ein Bein gestellt, sondern all jene, die davon ausgegangen sind, alles müsse auch die nächsten 100 Jahre so weitergehen, wie es schon die letzten 100 Jahre gegangen ist.  

Von krankmachenden Arbeitsbedingungen über die Biodiversität und den Klimawandel bis zum Krieg: Therapieren müssen wir nicht die einzelnen Opfer des Systems, sondern das System als Ganzes…

 

„Die Fälle von Arbeitsunfähigkeit“, schreibt die „NZZ am Sonntag“ vom 4. Dezember 2022, „haben in der Schweiz dieses Jahr um 20 Prozent zugenommen und damit einen neuen Höchststand erreicht. Besonders gross ist die Zunahme bei den psychischen Erkrankungen und hier wieder speziell bei den 18- bis 24Jährigen, wo die Zahl der Neurentnerinnen und Neurentner viermal so hoch ist wie vor 25 Jahren.“

30 Seiten weiter hinten lese ich in der gleichen Zeitung, dass voraussichtlich weltweit bis zu einer Million Tier- und Pflanzenarten innerhalb der nächsten Jahrzehnte durch den Einfluss des Menschen aussterben werden. Auch in der Schweiz stehe es mit der Biodiversität nicht gut: Fast die Hälfte aller Lebensräume für Tiere und Pflanzen seien bedroht, was längerfristig zu einem Zusammenbruch des gesamten Ökosystems führen könnte.

30 Seiten zwischen den beiden Meldungen, die uns glauben machen wollen, das eine hätte mit dem anderen nichts zu tun. Tatsächlich aber hat beides letztlich die gleiche Ursache. Diese Ursache ist das kapitalistische Wirtschaftssystem, das auf permanenter Gewinn- und Profitmaximierung, dem blinden Glauben an ein nie endendes Wirtschaftswachstum und dem sich selber auferlegten Zwang beruht, aus den Menschen und aus der Natur in immer kürzerer Zeit eine immer höhere Leistung herauszupressen. Auch die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich ist eine Folge des kapitalistischen Wirtschafts- und Finanzsystems, das darauf ausgerichtet ist, ausgerechnet jene mit zusätzlichem Reichtum zu belohnen, die sowieso schon viel zu viel haben, Geld, das den Armen dafür umso schmerzlicher fehlt. Auch die Tatsache, dass weltweit über 800 Millionen Menschen unter Hunger leiden und jeden Tag 15’000 Kinder sterben, weil sie nicht genug zu essen haben, hat ihre Wurzeln im kapitalistischen Wirtschaftssystem, wo die Güter nicht dorthin fliessen, wo die Menschen sie am dringendsten bräuchten, sondern dorthin, wo am meisten Geld vorhanden ist, um sie tatsächlich auch kaufen zu können – es wäre ein Leichtes, alle Menschen weltweit genügend zu ernähren, mit den heute insgesamt vorhandenen Lebensmitteln könnte sogar, wären sie gerecht verteilt, mehr als die gesamte Weltbevölkerung ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt werden. Auch der Klimawandel ist eine Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems, denn endloses Wachstum von Gütern, Profiten und Gewinnsteigerung ist früher oder später nicht möglich in einer Welt begrenzter natürlicher Ressourcen. Und selbst der Krieg ist eine Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems, denn territoriale Expansion, die unablässige Jagd nach Rohstoffen und Absatzmärkten, der übersteigerte Nationalismus und der Wettlauf um Macht und möglichst grosse Einflusssphären sind wesensmässig aufs Engste miteinander verknüpft, was der französische Sozialist Jean Jaurès mit diesen Worten so treffend auf den Punkt brachte: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“

Therapieren müssen wir daher nicht die einzelnen Opfer des Systems. Therapieren müssen wir das System als Ganzes. Denn alles hängt mit allem zusammen. Wenn es jungen Menschen in einer immer hektischeren Arbeitswelt nicht gut geht, dann kann es auch den Tieren und Pflanzen, den Menschen im Krieg, den Menschen, die in Armut leben und unter Hunger leiden, und all jenen Menschen, die noch nicht einmal geboren sind und deren Lebensgrundlagen wir jetzt schon hier und heute zerstören, nicht wirklich gut gehen. „Was alle angeht, können nur alle lösen“, sagte der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt. Und auch der französische Philosoph Lucien Sève sagte es so deutlich, dass man sich allen Ernstes fragen muss, wie viel Leid, wie viel Ungerechtigkeit und wie viel Zerstörung es noch braucht, bis wir es endlich begriffen haben: „Der Kapitalismus wird nicht von selbst zusammenbrechen, er hat noch die Kraft, uns alle in den Tod zu reissen, wie der lebensmüde Flugzeugpilot seine Passagiere. Wir müssen das Cockpit stürmen, um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.“  

Bomben und Artillerie gegen kurdische Dörfer und Städte – und wo bleibt der Aufschrei des Westens?

 

„Seit knapp zwei Wochen“, so berichtet die schweizerische „Wochenzeitung“ in ihrer Ausgabe vom 1. Dezember 2022, „greift die Türkei mit Artillerie und Luftschlägen Rojava – die Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens – sowie weitere Gebiete in Syrien, etwa um Aleppo, und Teile des Nordiraks an. Überall dort werden Stellungen der in der Türkei verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vermutet, die angeblich, obwohl hierfür nach wie vor die Beweise fehlen, am 13. November einen Bombenanschlag in Istanbul verübt haben soll. Beim völkerrechtswidrigen Angriff der Türkei sollen bisher mindestens 67 Menschen getötet worden sein. Diese Angriffe richten sich nicht nur gegen militärische Ziele, sondern verursachen auch schwere Schäden an der Infrastruktur der Region, an Schulen, Krankenhäusern, Öl- und Gasfeldern sowie Elektrizitätswerken und zielen darauf ab, die Lebensgrundlage der Bevölkerung langfristig zu zerstören, weshalb auch vor allem Kleinstädte und Dörfer bombardiert werden. In einem Fernsehinterview sprach der türkische Präsident Erdogan gar davon, Nordsyrien ethnisch säubern zu wollen, da diese Region für den Lebensstil der Kurden nicht geeignet sei.

Eigentlich müsste jetzt ein gewaltiger Aufschrei all jener westlichen Regierungen ertönen, die eben noch so vehement den russischen Überfall auf die Ukraine verurteilt haben. Eigentlich müssten jetzt gegen türkische Oligarchen und Unternehmer ebenso harte Sanktionen ergriffen werden wie gegen russische Unternehmer und Oligarchen. Eigentlich müssten gegen die Türkei ebenso einschneidende Wirtschaftssanktionen verhängt werden wie gegen Russland. Eigentlich müssten jetzt Türkinnen und Türken ebenso mit Einreiseverboten, mit der Verweigerung von künstlerischen Auftritten und dem Verbot staatlicher Fernsehsender belegt werden, wie das alles gegen Russland praktiziert worden ist. Eigentlich müsste die deutsche Aussenministerin Analena Baerbock mit der gleichen Vehemenz, mit der sie die Zerstörung der russischen Wirtschaft forderte, auch die Zerstörung der türkischen Wirtschaft fordern. Und eigentlich müsste der ukrainische Präsident Selenski, dem angeblich nichts so sehr am Herzen liegt wie die Wahrung der Menschenrechte und der unlängst die Forderung nach einer Überführung des russischen Präsidenten Putin an ein internationales Kriegsverbrechertribunal in den Raum gestellt hat, dasselbe auch für den türkischen Präsidenten verlangen.  

Doch nichts davon geschieht. Der Westen hüllt sich in Schweigen. Keine offizielle Verurteilung, keine Wirtschaftssanktionen, keine Boykotte, keine Einreiseverbote, kein Einfrieren von Oligarchengeldern, nichts von alledem. Scheinheiliger, doppelzüngiger, widersprüchlicher, verlogener geht es nicht. Damit zeigen die westlichen Regierungen und ihr militärisches Bündnis ihr wahres Gesicht. Es geht und ging auch nie um das, was sie „Menschenrechte“, „Freiheit“ und „Demokratie“ nennen. Es geht und ging stets nur um nackte Machtpolitik. Wer auf unserer Seite ist, das sind die „Guten“, egal wie viele Verbrechen sie begehen. Und wer auf der anderen Seite ist, das sind die „Bösen“, selbst wenn es sich um Kinder, Frauen und Männer handelt, die in ihrem ganzen Leben noch nie jemandem etwas zuleide getan haben.

44 Militäroperationen vom Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki über den Vietnamkrieg bis zum Überfall auf den Irak 2003 haben die USA seit 1945 begangen – mit über 50 Millionen Todesopfern und über 500 Millionen Verwundeten. Dennoch wurde kein einziger der kriegführenden US-Präsidenten jemals einem Kriegsverbrechertribunal überwiesen, alle genossen und geniessen nach wie vor höchstes Ansehen oder wurden sogar, wie Barack Obama, mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Wann endlich erwacht die westliche Welt aus diesem verhängnisvollen Tiefschlaf, der es immer noch, dieses Mal in Rojava, möglich macht, dass unschuldige Menschen vor lauter Angst vor dem nächsten Bombenangriff nicht schlafen können und Kinder am nächsten Morgen erfahren müssen, dass ihre Mütter und Väter nicht mehr leben.

Es gibt keine „guten“ und „schlechten“ Kriege, jeder Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Und wer, zu Recht, den russischen Überfall auf die Ukraine verurteilt, müsste erst recht jede noch so kleine Kriegshandlung, die im Namen des „freien“ und „demokratischen“ Westens geschieht, aufs Schärfste verurteilen. Der uralte Spruch vom „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, die uralte Lehre von der stets wiederkehrenden Rache und Vergeltung, sie müsste endlich dort landen, wo sie hingehört: auf den Schrottplatz der Geschichte. Denn wenn man, wie Mahatma Gandhi so treffend sagte, das Prinzip vom „Auge um Auge“ zu Ende denkt, dann führt es zu nichts anderem, als dass am Ende alle blind sind. 

Das Patriarchat als grösster Sündenfall in der Geschichte der Menschheit und die Magie gesellschaftlicher Kipppunkte…

 

„Die Tänzerinnen des Oben-ohne-Clubs Star Garden in Los Angeles“, so berichtete der „Tagesanzeiger“ am 5. November 2022, „haben genug: Sie haben sich organisiert, um möglichst viele Leute von einem Besuch der Bar abzuhalten. Denn die Zustände im Star Garden sind katastrophal. Frauen werden von Kunden geohrfeigt oder an ihren Knöcheln durch die Bar geschleift. Gewaltsames Begrapschen, Bedrohen und tätliche Angriffe sind an der Tagesordnung. Dennoch ist es den Tänzerinnen verwehrt, das Sicherheitspersonal um Hilfe zu bitten. Dazu kommt ein Arbeitsumfeld, das an jedem anderen Ort als inakzeptabel gelten würde: Scherben am Boden oder gebrochene Tanzstangen, die zu Verletzungen führen, Löcher und herausstehende rostige Nägel auf der Bühne, verschmutzte Umkleidekabinen, fehlende Hygieneartikel.“

Das ist nur einer von zahlreichen Artikeln, die ich mir zum Thema Frauenrechte beiseitegelegt habe. Ein zweiter berichtet von den hauptsächlich aus Äthiopien und den Philippinen stammenden, in reichen Privathaushalten Dubais arbeitenden Dienstmädchen, die rund um die Uhr schikaniert, beschimpft, zu pausenloser harter Arbeit angetrieben werden und die Nacht auf dem Fussboden der Küche oder des Korridors verbringen müssen, weil ihnen nicht einmal ein eigenes Zimmer zur Verfügung gestellt wird. Ein dritter Artikel beschreibt die Zustände im Spitzensport, wo Mädchen und junge Frauen, insbesondere im Kunstturnen, im Synchronschwimmen und in den Tanz- und Ballettschulen, bis an ihre Schmerzgrenzen und darüber hinaus zu Höchstleistungen gezwungen werden und auf gröbste Art behandelt und ausgegrenzt werden, wenn sie die geforderten Leistungen nicht erbringen. Ein vierter Artikel zitiert eine 17Jährige, die in einem Schweizer Spital die Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit absolviert und erzählt, dass sie jeden Abend zuhause weinen müsse, weil sie einfach keine Kraft mehr habe und mehr als einmal am Rande eines psychischen Zusammenbruchs gewesen sei.

Das sind nur ein paar wenige, willkürlich herausgegriffene Meldungen über besonders unwürdige Zustände, von denen zur Hauptsache Frauen betroffen sind. Wollten wir das Thema erschöpfend behandeln, so würden die gesammelten Dokumente wohl so grosse Bibliotheken füllen, dass kein Mensch, auch wenn er zehntausend Jahre oder noch länger leben würde, jemals alles lesen könnte. Und doch werden Meldungen solcher Art von den Medien stets nur in Form von Einzelportionen vermittelt, so dass der Eindruck entsteht, alles sei bloss Zufall und nichts hätte mit dem andern etwas zu tun. Tatsächlich aber sind die Art und Weise, wie mit Prostituierten und Sexarbeiterinnen umgegangen wird, die erniedrigenden Lebensbedingungen von Hausmädchen und Putzfrauen, die grausamen Trainingsmethoden im weiblichen Spitzensport sowie sämtliche Formen von Unterdrückung und Diskriminierung von Frauen in Politik, Arbeitswelt und Alltagsleben aufs Engste miteinander verknüpft und Ausdruck einer ganz bestimmten, zeit- und länderübergreifenden Macht- und Herrschaftsordnung genannt Patriarchat, das wohl in den an Grausamkeit alle Vorstellungskraft übersteigenden Hexenverfolgungen des 15. bis 18. Jahrhunderts seinen Höhepunkt fand, aber in Abertausenden anderen Formen bis heute sein weiterhin zerstörerisches Unwesen treibt.

Der grösste Sündenfall in der Geschichte der Menschheit ist nicht der in der Bibel beschriebene Verzehr der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis. Der grösste Sündenfall in der Geschichte der Menschheit ist die Machtergreifung des Mannes über die Frau. Nicht umsonst sprechen indigene Völker von der Mutter Erde und nicht umsonst sind alle ihre wichtigen Götter weiblich. Die ganze Kolonisation und gewaltsame Unterwerfung aussereuropäischer Gebiete seit dem 15. Jahrhundert, der Kapitalismus als solcher und all die sinnlosen Kriege über Jahrhunderte bis in unsere Tage – alles ist das Werk von Männern, die nie gelernt haben, auf die Frauen und die Kinder zu hören.

Doch so, wie das Patriarchat seinen Anfang nahm, kann es auch wieder zu einem Ende kommen. Die gegenwärtige Protestbewegung im Iran, die hauptsächlich von Frauen getragen wird und eines der patriarchalsten Machtsysteme, die man sich nur vorstellen kann, nämlich jenes der Mullahs, radikal in Frage stellt, gibt einen kleinen hoffnungsvollen Blick in eine Zukunft, die schon bald Wirklichkeit werden könnte. Denn wir haben gar keine andere Wahl. Wird das Patriarchat nicht überwunden, dann wird auch das Überleben der Menschheit, das in nie dagewesenem Ausmass von Wirtschaftskrisen, von Armut, Hunger, dem Klimawandel und von Kriegen bedroht ist, nicht mehr lange möglich sein.

Auch die Klimabewegung ist ein Meilenstein auf diesem Weg. Kinder und Jugendliche, an ihrer Spitze weltweit junge Frauen, die keine andere Macht haben als ihre Stimmen, ihr Wissen, ihre Sorge um das Wohl der Menschen und ihre Sehnsucht nach einer anderen Welt. „Wir malen sie aus und wir wissen, dass wir sie erleben werden“, sagte die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer voller Hoffnung, „ja, sie ist es, die Zukunft, von der träumen. Das ist die Magie gesellschaftlicher Kipppunkte – wir wissen nicht genau, wann wir sie erreichen, aber wir wissen, dass sie kommen.“

Von der Französischen Revolution bis zu den Schulmädchen im Iran: Die innerste Sehnsucht der Menschen ist die Sehnsucht nach Freiheit…

 

Seit Mitte September 2022 demonstrieren im Iran Tausende Menschen gegen das Regime. Auslöser der Proteste war der Tod der 22jährigen Mahsa Amini. Sie war von der Sittenpolizei festgenommen worden, weil sie gegen die islamischen Kleidungsgesetze verstossen und ihr Kopftuch nicht vorschriftsgemäss getragen haben soll. Sie starb am 16. September in Polizeigewahrsam. An den Protesten beteiligen sich seither auch Schulmädchen, legen demonstrativ das obligatorische Kopftuch ab und singen das Lied „Baraye“, das zur Hymne der Protestbewegung geworden ist, mit dem Refrain „Frauen, Leben, Freiheit“. Dutzende von Videos sind seit dem Beginn der Protestbewegung ins Internet gestellt worden, in denen Schülerinnen zeigen, wie sie in ihren Schulen auf den Strassen protestieren, winken und ihre Kopfbedeckungen verbrennen. Gemäss Angaben von Human Rights Watch sind bisher über 50 Kinder und Jugendliche während der Proteste ums Leben gekommen, bis zu tausend Minderjährige befinden sich in Haft.

Es gibt wohl keine stärkere Kraft als die Sehnsucht nach Freiheit. Blättern wir in der Geschichte zurück, so kommen wir nicht am Jahr 1789 vorbei, als die Französische Revolution unter dem Leitspruch „Liberté, Egalité, Fraternité“ – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – die verhasste Herrschaft der absolutistischen Könige hinwegfegte und mit ihr jahrhundertelange Knechtschaft, Ausbeutung, Fremdbestimmung und ein Regierungssystem, in dem nur die oberen Zehntausend etwas zu sagen hatten und der Rest der Bevölkerung zur Unmündigkeit verdammt war.

Freiheit war auch das Leitmotiv der indischen Unabhängigkeitsbewegung unter der Führung Mahatma Gandhis, welche 1947 zur Befreiung Indiens von der britischen Kolonialherrschaft führte. Immer und immer wieder folgten sich im Laufe der Jahrzehnte weltweit politische Bewegungen und Freiheitskämpfe zur Überwindung von Unterdrückung, sozialer Benachteiligung, Ausbeutung und Bevormundung durch autokratische Staatsführer oder privilegierte, korrupte Oberschichten: die Oktoberrevolution in Russland, die amerikanische Bürgerrechtsbewegung unter der Führung von Martin Luther King, Nelson Mandelas Kampf gegen die Rassendiskriminierung in Südafrika, die Montagsdemonstrationen in der ehemaligen DDR, der weltweite Kampf der Frauen für politische Gleichberechtigung, der arabische Frühling in mehrere nordafrikanischen Ländern, die Befreiungsbewegung der mexikanischen Zapatisten, der Kampf der Palästinenser für Autonomie und staatliche Unabhängigkeit, die Metoo-Bewegung gegen sexuelle Belästigung, Missbrauch und Vergewaltigung von Frauen, die „Black-Lives-Matter“-Bewegung, die sich gegen Gewalt gegenüber Schwarzen bzw. People of Color einsetzt. Auch die aktuellen Klimastreiks lassen sich in diese Tradition von „Befreiungsbewegungen“ einreihen, geht es dabei doch um eine Überwindung und Befreiung aus einer vom kapitalistischen Wirtschaftssystem und seiner Wachstumsideologie ausgeübten Fremdbestimmung, um den Weg freizumachen in eine Zukunft, in der Mensch und Natur im Einklang stehen und auch zukünftige Generationen auf diesem Planeten ein gutes Leben haben können. 

Die Liste der politischen Bewegungen für Freiheit und Selbstbestimmung liesse sich noch lange weiterführen, die genannten Beispiele bilden bloss eine kleine Auswahl. Doch kann sie verdeutlichen, wie sehr die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung im Laufe der Geschichte eine treibende Kraft gewesen ist und gewiss auch weiterhin bleiben wird. Nicht alle diese Bestrebungen haben freilich zum Erfolg geführt, immer wieder gab es auch Rückschläge, dann aber auch wieder neue Hoffnung und neue Chancen, so wie 1994, als Nelson Mandela, langjähriger Vorkämpfer für eine Gleichberechtigung der Schwarzen in Südafrika, nach 30jähriger Haft zum Staatspräsidenten seines Landes gewählt wurde.

„Der Mensch ist für eine freie Existenz gemacht“, sagte der deutsche Dichter Matthias Claudius um 1800, „und sein innerstes Wesen sehnt sich nach dem Vollkommenen, Ewigen und Unendlichen, als seinem Ursprung und Ziel.“ Und der Dalai Lama formulierte es so: „Der Körper kann eingesperrt und versklavt werden, nie jedoch der menschliche Hunger nach Freiheit.“ Ja, das innerste Wesen des Menschen ist seine Sehnsucht nach Freiheit. Seine innerste Stimme ist die Stimme nach Selbstverwirklichung. Das können wir nicht nur von den iranischen Schulmädchen lernen, die zurzeit ihr Leben für die Freiheit aufs Spiel setzen. Das können wir auch von unseren eigenen Kindern lernen. Nichts hassen sie so sehr, als wenn man sie dazu zwingt, Dinge zu tun, die sie nicht lieben. Ihre ganze Widerspenstigkeit gegen Fremdbestimmung und Bevormundung ist nichts anderes als zutiefst ihre Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung. Denken wir nur an ihre Partys, wenn sie erst einmal 17 oder 18 Jahre alt geworden sind, an ihr ausgelassenes Tanzen, Lachen und Spass haben. In solchen Momenten wünschte man sich, sie würden möglichst nie so richtig „vernünftige“ Erwachsene werden. Und man fühlt sich unweigerlich an diesen berühmt gewordenen Satz des deutschen Schriftstellers Heinrich Böll erinnert: „Das Einzige, wovor Jugendliche geschützt werden müssen, sind die Erwachsenen.“

Ja, diese innerste Stimme der Menschen ist die Stimme nach Freiheit und Selbstbestimmung. Doch nur, wenn auch die beiden anderen Leitideen der Französischen Revolution, die „Egalité“ und die „Fraternité“, gleichermassen verwirklicht werden, ist echter gesellschaftlicher Fortschritt möglich. „Liberté“ alleine genügt noch nicht. Eine Gesellschaftsform, die alles nur auf „Liberté“ setzt und dabei die „Egalité“ und die „Fraternité“ vernachlässigt, ist ebenso längerfristig zum Scheitern verurteilt wie eine Gesellschaftsform, die alles dem Diktat von „Egalité“ und „Fraternité“ unterstellt, dabei aber die „Liberté“ ausser Acht lässt.

Die Geschichte der Menschen ist eine nicht enden wollende Geschichte der Sehnsucht nach Freiheit, eine Geschichte der Emanzipation. Das Stärkste, Positivste, Hoffnungsvollste, das wir in all den dunklen Zeiten von Krieg, Ausbeutung, Menschenverachtung, sozialer Ungerechtigkeit und Zukunftsängsten nicht vergessen dürfen. Der liebe Gott oder wer immer die Natur und den Menschen erschaffen hat, schickt uns jeden Tag Millionen von Kindern auf die Erde, gibt nicht auf und hofft immer noch, dass wir seine Botschaft endlich verstehen: Werdet wie die Kinder, so voller Leben, so voller Phantasie, so voller Sehnsucht nach Freiheit und Gerechtigkeit, dann braucht ihr euch nicht mehr zu hassen, gegenseitig zu unterdrücken, Kriege zu führen, die Natur und unsere eigene Zukunft zu zerstören. „Man muss den Zorn in sich aufnehmen“, sagte Mahatma Gandhi, „und so wie gestaute Wärme in Energie umgesetzt werden kann, so kann unser gestauter Zorn in eine Kraft umgesetzt werden, die die Welt zu bewegen vermag.“ 

„Freiheit“ und „Demokratie“ tönen ja gut, aber nur in den Ohren jener, die das nötige Kleingeld haben, um sich diese auch tatsächlich leisten zu können.

 

Die Demokratie befindet sich weltweit auf dem Rückzug. Zu diesem ernüchternden Schluss, so berichtet Radio SRF am 30. November 2011, kommt die globale Demokratieagentur Idea in Stockholm in ihrem jüngsten Jahresbericht. Noch nie seit 1990 hätte es so wenige und so schwache Demokratien gegeben wie heute. Als positives Beispiel wird explizit die Schweiz genannt: Sie gehöre zu den entwickeltsten und stabilsten Demokratien der Welt.

Doch gerade am Beispiel der Schweiz zeigen sich – stellvertretend für alle anderen demokratischen Länder – die Grenzen des Begriffs der „Demokratie“ in einer kapitalistischen Welt. Und zwar unter mindestens drei Aspekten: dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit, dem Aspekt individueller Freiheitsrechte und dem Aspekt der Erhaltung zukünftiger Lebensgrundlagen.

Demokratie und soziale Gerechtigkeit. In sämtlichen „demokratischen“ Ländern hat die Kluft zwischen armen und reichen Bevölkerungsschichten im Verlaufe der vergangenen 30 Jahre kontinuierlich zugenommen. Das hat nichts mit der Demokratie zu tun, dafür umso mehr mit den Gesetzen des kapitalistischen Wirtschaftswachstums- und Finanzsystems, das dafür sorgt, dass jene, die reich sind, immer noch reicher werden, während jene, die ihre Einkommen „nur“ aus Erwerbsarbeit gewinnen, am unteren Rand der Wohlstandspyramide hängen bleiben. Das heisst: Die Instrumente des „demokratischen“ Staates reichen nicht aus, eine grundlegend sozial gerechte Gesellschaft mit möglichst kleinen sozialen Unterschieden zu schaffen, sondern beschränkt sich darauf, nur gerade die allerschlimmsten Auswüchse ein klein wenig abzufedern. Dies widerspiegelt sich auch in der Tatsache, dass ausgerechnet die auf der untersten und am schlechtesten entlohnten Ebene der Arbeitswelt Tätigen in geringster Zahl in Parlamenten und Regierungen vertreten sind oder dort sogar gänzlich fehlen.

Demokratie und individuelle Freiheitsrechte. Auch hier ist die „Demokratie“ weit davon entfernt, die von ihr abgegebenen Versprechungen auch nur annähernd einzulösen. Freiheit ohne Gerechtigkeit ist nämlich nie echte Freiheit, es sind bloss Privilegien, welche sich ein Teil der Bevölkerung leisten kann, während ein anderer Teil darauf verzichten muss. Hat die gutbetuchte Arztfamilie die Freiheit, ob sie ihre nächsten Ferien auf den Malediven, auf Teneriffa, auf einem Kreuzfahrtschiff, auf der eigenen Segelyacht am Zürichsee oder doch lieber im Ferienhaus auf der Lenzerheide verbringen möchte, so bleibt der alleinerziehenden Verkäuferin gerade mal die „Freiheit“, ob sie mit ihrem Kind den Spielplatz am nächsten Waldrand aufsuchen oder mit der Eisenbahn, sofern ihr Geld überhaupt für ein Zugbillett reicht, die kranke Grossmutter besuchen soll. „Freiheit“ und „Demokratie“ tönen ja gut, aber nur in den Ohren jener, die das nötige Kleingeld haben, um sich diese auch tatsächlich leisten zu können.

Demokratie und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Die Demokratie wäre eine schlechte Staatsform, wenn sie nur für die Bürgerinnen und Bürger sorgen würde, die hier und heute leben. Deshalb heisst es zum Beispiel auch in Artikel 20a des deutschen Grundgesetzes: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen.“ Doch auch in diesem so wichtigen und existenziellen Punkt versagt die kapitalistische „Demokratie“ kläglich, indem sie nämlich der zerstörerischen kapitalistischen Wachstumsideologie und der Überproduktion von Luxusgütern für die reichen Oberschichten, welche eigentliche „Klimakiller“ sind, freien Lauf lässt oder höchstens so wenig einschränkt, dass die Zerstörung der zukünftigen Lebensgrundlagen zwar ein klein wenig langsamer voranschreitet, aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. Denn, wie eine junge Klimaaktivistin einmal sagte: „Man kann die Welt auch demokratisch an die Wand fahren.“

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die kapitalistische „Demokratie“ weit davon entfernt ist, die hauptsächlichen Herausforderungen unserer Zeit von der sozialen Gerechtigkeit bis hin zur Erhaltung zukünftiger Lebensgrundlagen in den Griff zu bekommen. Das ist einfach zu erklären. Entgegen dem Begriff „Volksherrschaft“, der eigentlichen Grundbedeutung des Worts „Demokratie“, regieren sich die Völker in der Welt der kapitalistischen „Demokratien“ nicht selber, sondern werden von einer letztlich „autokratischen“ Macht bevormundet und regiert, der Macht des Kapitals, des blinden Wirtschaftswachstums um jeden Preis, des Geldes und aller davon profitierenden reichen Bevölkerungsgruppen. So gesehen sind die einzelnen politischen Parteien in der kapitalistischen „Demokratie“ nicht Ausdruck echter demokratischer Vielfalt, sondern bloss Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei.

Dazu kommt ausserdem der globale Aspekt. Wenn die Schweiz über eine der vorbildlichsten Demokratien verfügt, so verdanken wir dies nicht zuletzt dem Umstand, dass sich unser Land über Jahrhunderte auf Kosten anderer bereichert hat. So etwa erwirtschaftet die Schweiz nach wie vor fast 50 Mal mehr aus dem Handel mit „Entwicklungsländern“, als sie diesen Ländern in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückgibt. Demokratie muss man sich auch leisten können. Es ist kein Zufall, dass praktisch alle „demokratischen“ Länder der Welt vergleichsweise reiche und wohlhabende Länder sind. Soll Demokratie wirklich tiefgreifend weltweit verwirklicht werden, so geht das nur in einer Welt gegenseitiger Kooperation und Partnerschaft, ohne gegenseitige Ausbeutung und ohne Privilegien der einen auf Kosten anderer.

Demokratie ist, wie schon Winston Churchill sagte, zwar eine schlechte Regierungsform, aber immer noch besser als alle anderen. Ihre weltweite Verwirklichung wäre zweifellos eine der grössten gesellschaftspolitischen Herausforderungen unserer Zeit. Doch nicht nur in den sogenannt „autokratisch“ regierten, sondern auch in den sogenannt „demokratisch“ regierten Ländern des weltweit herrschenden Kapitalismus sind wir von einer echten Demokratie im Sinne einer „Volksherrschaft“ noch meilenweit entfernt. Um echte Demokratie zu verwirklichen, genügt es nicht, Parlamente und Regierungen einzuführen, die vom Volk gewählt werden. Auch überall dort, wo sie scheinbar schon existiert, braucht sie eine permanente, radikale Erneuerung von unten, aus dem Volk, um nicht in einem von Geld- und Wirtschaftsinteressen dominierten Machtsystem sozialer Apartheid, Ausbeutung und der Vernichtung zukünftiger Lebensgrundlagen zu erstarren. Anders gesagt: Es geht darum, die Demokratie zu revolutionieren, um sie zu retten.

Ein Universitätsprofessor und seine seltsame Theorie: Als wären Frauen selber Schuld, wenn sie weniger verdienen als Männer…

 

„Es gibt kaum Lohndiskriminierung“, sagt Rainer Eichenberger, Finanz- und Wirtschaftsprofessor an der Uni Freiburg, in „20Minuten“ vom 28. November 2022, „denn Frauen haben andere Ausbildungen als Männer und arbeiten mehr Teilzeit und seltener in Führungspositionen sowie in Branchen und Firmen mit hohem Lohnniveau.“

Was uns der Wirtschaftsprofessor damit wohl weismachen will: Dass Frauen ja selber Schuld seien, wenn sie weniger verdienten. Sie müssten halt bloss höhere Ausbildungen absolvieren, weniger Teilzeit arbeiten, häufiger in Führungspositionen aufsteigen und in Branchen und Firmen mit höherem Lohnniveau arbeiten. Doch wenn alle Frauen in „höhere“ Positionen aufstiegen, wer würde dann noch all jene Arbeiten erledigen, die heute noch fast ausschliesslich in den Zuständigkeitsbereich von Frauen fallen? Wer würde sich in den Kitas um das Wohl der Kleinkinder kümmern? Wer wäre in Spitälern, Alters- und Pflegeheimen für das Wohl der kranken und pflegebedürftigen Menschen besorgt? Wer würde in den Restaurants die Gäste bedienen, in den Hotels die Zimmer saubermachen und spät in der Nacht dafür sorgen, dass Korridore, Empfangsräumlichkeiten, Büros und Toiletten sich am nächsten Morgen stets wieder in Hochglanz präsentieren? Wer würde in den Fabriken Hemden nähen, Lebensmittel verpacken und Holzspielzeug bemalen? 

Der eigentliche Skandal besteht nicht darin, dass Frauen für die „gleiche“ Arbeit rund 18 Prozent weniger verdienen als Männer. Der eigentliche Skandal besteht darin, dass in typisch „weiblichen“ Berufen drei, vier oder fünf Mal weniger verdient wird als in typisch „männlichen“ Berufen. An diese Ungleichheit haben wir uns offensichtlich so sehr gewöhnt, dass wir sie sozusagen als „gottgegeben“ hinnehmen und kaum jemand auf die Idee zu kommen scheint, sie grundsätzlich in Frage zu stellen.

Dabei gäbe es mehr als genug gute Gründe, dies zu tun. Hierzu bedürfte es aber eines radikalen Perspektivenwechsels und einer neuen Sicht darauf, was denn die tatsächlich „wichtigen“ und „weniger wichtigen“ beruflichen Tätigkeiten sind. Nehmen wir als Beispiel das Erziehungswesen. Es ist längst bekannt, dass die Zuwendung, Unterstützung und Anregung, die ein Kind im Laufe seines Aufwachsens erfährt, im frühesten Alter am allermeisten Bedeutung hat für eine spätere gesunde Entwicklung, für das Lernen, das Selbstvertrauen und die Persönlichkeitsbildung. Hier leisten auch heute noch immer die Mütter den Löwenanteil. Je älter das Kind wird, umso weniger entscheidend wird der Einfluss durch Betreuungs- und Erziehungsperson, von der Betreuerin in der Kindertagesstätte über die Kindergärtnerin, die Primarlehrerin, die Lehrpersonen auf der Oberstufe, der Berufsschule oder des Gymnasiums bis hin zur Hochschuldozentin oder zum Hochschuldozenten. Doch in gleichem Masse, wie die Bedeutung der pädagogischen Begleitung und Erziehung von Jahr zu Jahr abnimmt, nimmt in gleichem Masse der Lohn von Stufe zu Stufe zu, sodass am Ende ein Hochschuldozent fast fünf Mal so viel verdient wie eine Kitaangestellte – von der Mutter, die ihre so unerlässliche und wesentliche Basisarbeit zum reinen Nulltarif leistet, gar nicht erst zu reden…

Eine buchstäblich verkehrte Welt. Denn es ist nicht nur im Erziehungswesen so. Auch der Wirt eines Restaurants könnte augenblicklich zusammenpacken, wenn es keine Serviererinnen gäbe, die seine Gäste bedienen. Das Hotel, das keine Zimmermädchen hätte, müsste schliessen und die Aktionärinnen und Aktionäre kämen augenblicklich nicht mehr in den Genuss ihrer Dividenden. Auch Chefärzte und Chefärztinnen verdanken ihre hohen Gehälter einzig und allein dem Umstand, dass genügend Krankenpflegerinnen und Physiotherapeutinnen all die Basisarbeit leisten, die für die Betreuung vor und nach den Operationen notwendig ist. Und auch die Abteilungsleiter und Manager von Supermärkten sind darauf angewiesen, dass Tausende von Verkäuferinnen bienenfleissig unablässig all die Gestelle immer wieder auffüllen, damit die Kundschaft ihre Bedürfnisse befriedigen kann.

Die heute immer noch bestehenden Lohnunterschiede widerspiegeln nicht die Bedeutung und die Wichtigkeit eines Berufs, sondern einzig und allein seine Stellung auf jener Machtpyramide, die dereinst von Männern geschaffen wurde und  erstaunlicherweise – trotz einer vieljährigen breiten „Gleichstellungsdiskussion“ – bis heute immer noch weitgehend unangetastet geblieben ist. Es genügt nicht, wenn Frauen in „vergleichbaren“ Berufen gleich viel verdienen wie Männer. Echte Gleichstellung ist erst dann erreicht, wenn in den Berufen, die als typisch „weiblich“ gelten, genauso viel verdient wird wie in jenen Berufen, die als typisch „männlich“ gelten. Das ist nicht nur eine Frage der jeweiligen Lohnsumme, sondern vor allem auch eine Frage der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit so tief in unseren Köpfen festsitzenden Wertvorstellungen, dass es einer umso grösseren Anstrengung bedarf, um diese zu überwinden. 

Wenn sich das Geld am einen Ort so sündhaft auftürmt, dann muss es an anderen Orten umso schmerzlicher fehlen…

 

Die 40jährige Ivana G., so schreibt das „Tagblatt“ am 23. November 2022, mache sich heftige Vorwürfe, dass sie ihrer Tochter für die kommende Wintersaison keinen neuen Skianzug kaufen könne. Und seit sie vor vier Monaten ihren Job bei Coop Pronto in Chur verloren habe, gäbe es zuhause kein Fleisch mehr, dafür viel Brot. Gemüse kaufe sie nur noch, wenn es Aktion sei. Da sie zeitweise beim RAV arbeiten könne, stünden ihr je nach Monat zwischen 1500 und 3000 Franken zur Verfügung. Mit Miete und Krankenkasse sei sie bereits bei Fixkosten von fast 2000 Franken, dann fehle aber noch das Geld fürs Essen, für den Strom, für Kleidung und Telefonrechnungen. Am schmerzlichsten sei, dass sie ihrer Tochter nicht einmal die dringend notwendige Zahnspange bezahlen könne.

Ivana G., ihre 15jährige Tochter und ihr 18jähriger Sohn gehören zu den etwa 25’000 von Armut Betroffenen Menschen im Kanton St. Gallen. Die Statistik zeigt, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich in den vergangenen zehn Jahren weiter geöffnet hat: Gehörten 2009 noch 31,2 Prozent des Gesamtvermögens des Kantons St. Gallen dem reichsten Prozent der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter, so waren es 2020 bereits 36,2 Prozent. Die obersten fünf Prozent besitzen heute 58,9 Prozent des Vermögens, das oberste Viertel 89,6 Prozent. Gleichzeitig hält das unterste Viertel der Bevölkerung im Erwerbsalter 0,1 Prozent des Gesamtvermögens. Bei den untersten 10 Prozent ist sogar überhaupt kein Vermögen mehr vorhanden. Diese Zahlen aus dem Kanton St. Gallen decken sich mit gesamtschweizerischen Vergleichszahlen: Zurzeit sind schweizweit zwischen 700’000 und 800’000 Menschen von Armut betroffen und führen ihren täglichen Überlebenskampf, kratzen Monat für Monat ihre letzten paar Franken zusammen, müssen sich verschulden so wie Ivana G. und ihre beiden Kinder – und machen sich am Ende sogar noch Vorwürfe, als seien sie selber an alledem Schuld…

Und dann lese ich, ein paar Seiten weiter, dass die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer über ein Gesamtvermögen von 821 Milliarden Franken verfügen, viermal so viel wie vor 30 Jahren! 821 Milliarden Franken, eine unvorstellbare Summe, deren Ausmass man nur ermessen kann, wenn man entsprechende Vergleiche zieht: 821 Milliarden, das entspricht ungefähr der jährlichen Wirtschaftsleistung der gesamten Schweiz. Oder dem jährlichen Militärhaushalt der USA. Würde man dieses Geld an alle Menschen weltweit verteilen, so gäbe dies für jede Person über 100 Franken!

Und doch gibt es immer noch die ewiggestrigen und unverbesserlichen Verfechter des kapitalistischen Gesellschaftssystems, die uns weismachen wollen, das eine – der sagenhafte Reichtum – und das andere – die bittere Armut – hätten nichts miteinander zu tun. Dabei ist es doch offensichtlich: Noch nie hat man Geld auf Bäumen wachsen gesehen und noch nie wurde es in Muscheln tief auf dem Meeresgrund gefunden. Wenn es sich am einen Ort so sündhaft auftürmt, dann muss es an anderen Orten umso schmerzlicher fehlen.

In der Tat: Es ist das gleiche Geld, das sich in den Taschen der Reichen ansammelt, welches in den Taschen der Armen fehlt. Ob in Form eklatanter Lohnunterschiede, in Form von Erbschaften, in Form von Mieterträgen aus Immobilienbesitz, ob in Form von Gewinnen aus Finanzgeschäften, Kapitalerträgen oder Börsenspekulationen – stets fliesst das Geld von unten nach oben, von denen, die viel arbeiten und wenig besitzen, zu denen, die viel weniger arbeiten und umso mehr besitzen. Die berühmte Schere, die sich immer weiter öffnet, weltweit und in jedem einzelnen kapitalistischen Land. „Wäre ich nicht arm“, sagt der arme Mann in einer Parabel Bertolt Brechts, „dann wärst du nicht reich.“ Noch deutlicher sagte es der französische Schriftsteller Honoré de Balzac: „Hinter jedem grossen Vermögen steht ein grosses Verbrechen.“ Ja, Kapitalismus ist nichts anderes als ein grenzenloser, institutionalisierter, legalisierter, unsichtbar gemachter Raubzug der Reichen gegen die Armen.

Deshalb führt uns auch das ständige Gerede, man müsse den Armen „helfen“ oder die Armut „bekämpfen“, bloss auf eine falsche Fährte. Die Armen brauchen keine Hilfe, sondern schlicht und einfach nur Gerechtigkeit. Und niemand muss die Armut bekämpfen, denn bekämpfen muss man nur den Reichtum. Wenn man den Reichtum bekämpft, dann verschwindet die Armut ganz von selber. Und dann, ja dann, wird Ivana G. nicht mehr auf sich selber wütend sein, dass sie ihrer Tochter keinen neuen Skianzug kaufen kann. Sie wird wütend sein auf all jene, die sie so lange belogen haben, bloss um ihre eigenen Privilegien, ihre Macht und all ihr geraubtes Gut nicht zu verlieren.  

Der Fall Brian Keller: Deine Gewalt ist nichts anderes als ein stummer Schrei nach Liebe…

Im „Club“ des Schweizer Fernsehens SRF1 vom 22. November 2022 ging es um den mittlerweile 27jährigen Brian Keller, den wohl „berühmtesten Häftling der Schweiz“, der rund ein Drittel seines bisherigen Lebens in Gefängnissen und Haftanstalten verbracht hat. Es diskutierten eine Strafrechtsprofessorin, ein Psychiater, ein ehemaliger Oberstaatsanwalt, eine Journalistin, ein Lehrbeauftragter für Strafvollzug und der Anwalt von Brian.

Gemäss eines Berichts der Menschenrechtsorganisation „Humanrights“ hatte alles begonnen, als Brian zehn Jahre alt war: Fälschlicherweise der Brandstiftung verdächtigt, wurde Brian in Handschellen von zuhause abgeführt und in Untersuchungshaft genommen, seine Eltern durften ihn nicht begleiten. Brian verbrachte einen Tag im Gefängnis und anschliessend fast zwei Monate in geschlossenen Einrichtungen. Infolge einer leichten Auseinandersetzung mit seinem Vater wurde Brian im Alter von zwölf Jahren zunächst in ein Polizeigefängnis, dann ins Gefängnis Horgen und schliesslich ins Untersuchungsgefängnis Basel eingewiesen. Die monatelange Inhaftierung wurde damit begründet, sie erfolge „zu seinem eigenen Schutz“.

Zwischen Juni 2008 und November 2009 verbrachte Brian acht Monate lang in Einzelhaft, 23 Stunden am Tag in einer Zelle. Seine Eltern durften ihn während dieser Zeit nur einmal pro Woche hinter einer Trennscheibe besuchen. Am 15. Juni 2011 beging der 15Jährige ein schweres Gewaltdelikt: Nach einer verbalen Auseinandersetzung mit einem 18Jährigen stach er diesem zweimal mit einem Messer in den Rücken. Es folgten neun Monate in Untersuchungshaft, später in einer „vorsorglichen Unterbringung“ im Gefängnis Limmattal. Schliesslich wurde er zu einer neunmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt.

Am 5. Juli 2011 versuchte Brian sich zu erhängen, worauf er für einen Tag in die Psychiatrische Universitätsklinik eingeliefert wurde. Nach einem zweiten Suizidversuch kam er erneut in die Psychiatrische Universitätsklinik, wurde während 13 Tagen ununterbrochen ans Bett fixiert und mit starken Medikamenten vollgepumpt. Im Folgenden wurde für Brian in Form einer Individualtherapie und gezielter sportlicher Aktivitäten ein Sondersetting eingerichtet, Brian hielt sich an alle vorgegebenen Regeln und war 13 Monate lang deliktfrei. Als jedoch vom „Blick“ die Kosten des Settings – 29’000 Franken pro Monat – publik gemacht wurden, löste das in der Öffentlichkeit einen derart grossen Aufschrei der Empörung aus, dass das Sondersetting abrupt abgebrochen wurde. Mit der Begründung, ihn vor der öffentlichen Empörung und vor den Medien zu schützen, kam Brian erneut ins Gefängnis.

Am 18. Februar 2014 entschied das Bundesgericht, dass die erneute Inhaftierung von Brian, der sich nichts hätte zuschulden kommen lassen, widerrechtlich gewesen sei. Brian kam zurück ins Sondersetting. Im März 2016 traf Brian im Tram einen Kollegen, den er von einem Kickbox-Turnier kannte. Es kam zu einer verbalen Auseinandersetzung, worauf Brian seinem Kollegen einen Faustschlag verpasste. Brian brach dem Kollegen den Unterkiefer und zog sich selbst einen Fingerbruch zu. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte Brian wegen versuchter schwerer Körperverletzung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten.

Anfangs 2017 wurde Brian im Bezirksgefängnis Pfäffikon in eine Sicherheitsabteilung verlegt. Er schlief über zwei Wochen lang auf dem nackten Boden, nur mit einem Poncho bekleidet. In der Zelle gab es weder Bett, Stuhl noch Matratze, er durfte nicht duschen und sich nicht die Zähne putzen. Drei Wochen lang trug er ununterbrochen Fussfesseln und der Hofgang wurde ihm verweigert. Anschliessend landete Brian in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, wo es am 28. Juni 2017 zu einem folgenschweren Zwischenfall kam. Zwei Mitarbeiter teilten Brian mit, dass er vom offenen Gruppenvollzug ins Einzelhaftregime der Sicherheitsabteilung versetzt würde – Brian verlor die Beherrschung und es kam zu einem Gerangel mit den beiden Mitarbeitern, welche dabei Prellungen erlitten. Die Aufseher machten eine Anzeige und Brian landete für drei Monate in Untersuchungshaft.

Am 10. April 2018 wurde Brian ins Regionalgefängnis Burgdorf versetzt, wo er grössere Freiheiten genoss und sogar ein Weiterbildungsprogramm absolvieren konnte. Dennoch wurde Brian – weil das Programm in Burgdorf infolge fehlender Ressourcen abgebrochen wurde – am 18. August 2018 wieder zurück ins JVA Pöschwies versetzt, wo er sich durchgehend isoliert in einer zwölf Quadratmeter grossen Zelle aufzuhalten hatte, die Sitztoilette befand sich offen in der Zelle, das Fenster war mit einer Folie abgedeckt, sodass er nicht nach draussen blicken konnte. Über zwei Jahre wurde er nur mit Hand- und Fussfesseln in den Hof geführt.

Im Januar 2019 demolierte Brian eine Sicherheitsscheibe und warf ein Stück davon gegen die Zellentür, die ein paar Zentimeter geöffnet war und hinter der Aufseher standen. Dabei zog sich ein Aufseher blutige Kratzer zu. Am 18. Februar 2019 ersuchte Brians Grossmutter die Behörden, dass sie ihren Enkel zu ihrem 93. Geburtstag ausnahmsweise ohne Trennscheibe besuchen dürfe – das Gesuch wurde abgelehnt. Im Mai 2021 verurteilte das Obergericht Brian wegen des Vorfalls vom Juni 2017 in der JVA Pöschwies zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und vier Monaten. Im Januar 2022 wurde Brians Langzeithaft von der Zürcher Justizdirektorin aufgehoben. Brian wurde in ein Zürcher Untersuchungsgefängnis verlegt und dort in ein normales Haftregime eingeliefert. Am 31. Oktober 2022 ordnete das Zürcher Obergericht eine Freilassung von Brian an. Dieser Entscheid wurde am 8. November vom Zürcher Zwangsmassnahmengericht widerrufen.

Zurück zur Sendung „Club“ vom 22. November. Dort wurde nur ansatzweise thematisiert, inwieweit zwischen den äusseren Umständen, unter denen Brian Keller den grössten Teil seines bisherigen Lebens verbracht hat, und den von ihm verübten Straftaten ein Zusammenhang bestehen könnte. Ist die Gewalt, die Brian in Form von ungerechtfertigtem Freiheitsentzug, erniedrigenden Haftbedingungen, unverhältnismässigen Gerichtsentscheiden und Liebesentzug in Form von Trennung von seinen Eltern erlitten hat, nicht mindestens so gross wie die Formen von Gewalt, die er selber verübt hat? Ist es nicht längst eine Binsenweisheit, dass Gewalt stets nur Gegengewalt erzeugt? Dass hier sehr wohl ein direkter Zusammenhang besteht, zeigt sich auch darin, dass Brian immer dann, wenn er sich in offeneren Formen des Strafvollzugs befand, viel besser „funktionierte“ und seine eigene Gewaltbereitschaft markant zurückging. Die Annahme, man müsse nur, um einen Menschen auf den „richtigen“ Weg zu bringen, seinen „Willen brechen“, ist einer der grössten Irrtümer und geistert nicht nur im Strafvollzug, sondern selbst in Erziehungsbüchern für ganz „normale“ Kinder auch heute noch herum. Tatsache ist, dass man den Willen eines Menschen nicht brechen kann, es sei denn, man töte ihn. Der Wille, den man zu brechen versucht, sucht sich dann einfach andere Bahnen, oft viel gefährlichere und zerstörerischere. „Wenn man einem Menschen verbietet, das Leben zu leben, das er für richtig hält“, sagte der südafrikanische Freiheitskämpfer und späterer Staatspräsiden Nelson Mandela, „dann hat er keine andere Wahl, als ein Rebell zu werden.“

Tragisch, wenn man sich an den Anfang des Dramas zurückerinnert: Ein zehnjähriges Kind wird fälschlicherweise der Brandstiftung verdächtigt, mit Handschellen ohne seine Eltern von zuhause abgeführt. Damit war eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt in Gang gesetzt, die bis heute noch kein Ende gefunden hat. Kann ein zehnjähriges Kind so etwas verkraften? Schlägt das nicht Wunden, die nie mehr verheilen werden? Ist diese Verletzlichkeit eines Zehnjährigen nicht gerade ein Zeichen für ein besonders hohes Mass an Empfindsamkeit und Liebesbedürfnis? Ist die „Gewalt“, die Brian in den folgenden Jahren an den Tag legte, vielleicht nicht eine besonders heftige Reaktion auf die verschüttete Sehnsucht nach Liebe? „Deine Gewalt“, singen die „Ärzte“ in einem ihrer bekanntesten Lieder, „ist nur ein stummer Schrei nach Liebe, deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.“

„Der Mensch ist gut und will das Gute“, sagte Johann Heinrich Pestalozzi, „und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“ Brians Geschichte hätte einen ganz anderen Verlauf nehmen können, wenn diese Hindernisse rechtzeitig beiseitegeschafft worden wären und man ihm den Weg zu seiner Selbstverwirklichung nicht so gewalttätig „verrammelt“ hätte. Längst ist allgemein bekannt, dass in Ländern, wo die Menschen sehr arm sind, auch die Kriminalitätsrate viel höher ist. Das ist so einleuchtend, dass es höchst verwunderlich ist, dass wir nicht schon längst den logisch daraus resultierenden Schluss gezogen haben, dass es eigentlich nur die äusseren Umstände sind, welche darüber entscheiden, wie „gut“ oder wie „schlecht“ Menschen in einer Gesellschaft aufwachsen können. Ich wage zu behaupten, dass in einer Gesellschaft, in der die Liebe, die Gerechtigkeit und die gegenseitige Fürsorge an alleroberster Stelle stehen, solche Dinge wie Gewalt, Strafen und Gefängnisse überflüssig geworden wären. Vielleicht liegt das „Gute“ an der Geschichte von Brian Keller ja darin, uns hierfür die Augen geöffnet zu haben. „Brian ist kein Mörder“, sagt der Zürcher Oberrichter Christian Prinz, „er ist kein Vergewaltiger, er ist kein Räuber und kein Brandstifter, seine Gewalt ist eine Frage seines Kampfes mit der Justiz.“