Weshalb die Zeit schon längst reif wäre für die Einführung einer Volkspension

 

Rentenalter, Kompensationszahlungen für alle Frauen, die zukünftig erst mit 65 Jahren in Pension gehen können, Steuererhöhungen und Sparmassnahmen, um die Finanzierung der AHV auch in Zukunft zu sichern: Die Altersvorsorge und ihre Finanzierung ist in sozialpolitischen Debatten zwischen linken und bürgerlichen Politikern und Politikerinnen seit Jahren ein Dauerthema und schlägt gerade jetzt, im Zusammenhang mit einer Erhöhung des Frauenrentenalters, höhere Wellen denn je. 

Doch müsste man nicht einmal ganz grundsätzlich innehalten? Wäre es nicht an der Zeit, das heutige verschachtelte und komplizierte Rentensystem mit erster, zweiter und dritter Säule über Bord zu werfen, ein System, das einmal mehr die Reichen belohnt und die Minderbemittelten benachteiligt? Niemand sollte doch im Alter zusätzlich dafür bestraft werden, dass er oder sie bereits ein Leben lang in Form von schlechten Arbeitsbedingungen, engen Wohnverhältnissen, niedrigem Lohn und unbezahlt geleisteter Care-Arbeit schon mehr als genug gelitten hat. Wenigstens in der letzten Phase des Lebens, im wohlverdienten Ruhestand, sollten die sozialen Ungleichheiten aufgehoben sein. 

Es gibt keinen einzigen plausiblen Grund dafür, dass der pensionierte Banker wochenlange Ferien auf Teneriffa geniessen kann, während sich die pensionierte Putzfrau, die jahrelang sein Büro auf Hochglanz getrimmt hat, nicht einmal ein Zugbillett für einen Ausflug nach Genf leisten kann. Besonders stossend ist diese Ungleichheit, wenn man bedenkt, dass Schlechterverdienende eine statistisch weitaus geringere Lebenserwartung haben und daher nicht nur monatlich, sondern über die gesamte Zeitspanne bis zu ihrem Tod viel geringere Rentenleistungen beziehen als jene, die ein Leben lang schon besser verdient haben und mit einer längeren Lebenszeit rechnen können. 

Wenn man sich das alles so überlegt, dann gibt es eigentlich nur eine einzige wirklich gerechte Lösung: eine existenzsichernde Volkspension mit gleicher Rente für alle, von der Putzfrau bis zum Banker. Damit wenigstens im Alter jene Klassengesellschaft aufgehoben wäre, die ins Leben so vieler Menschen lebenslang auf die eine oder andere Weise so schmerzliche Wunden schlägt. Eine zweite und eine dritte Säule bräuchte es dann nicht mehr – so könnte man sich auch zugleich erhebliche Verwaltungskosten ersparen und all die Bürokratie, das akribische Hin- und Herschieben von Geldern, das eifrige Bemühen, sich Vorteile auf Kosten anderer zu ergattern – all das wäre dann überflüssig. 

1972 lehnte das Schweizer Volk die Einführung einer Volkspension mit 79 Prozent der Stimmen ab. Das heisst nicht, dass das Anliegen falsch war. Es heisst nur, dass die Zeit dafür noch nicht reif war. Die Einführung des Frauenstimmrechts nach jahrzehntelangen Rückschlägen zeigt, wie sehr sich das öffentliche Bewusstsein im Laufe der Zeit tiefgreifend ändern kann. Wäre es nicht an der Zeit, auch in Sachen Volkspension einen neuen Anlauf zu wagen? Eine Abstimmung darüber würde wohl kaum an den Argumenten scheitern, sondern höchstens an den machtpolitischen Interessen all jener, die vom heutigen System auf Kosten anderer profitieren und nicht bereit sind, den Kuchen, den alle miteinander gebacken haben, auch möglichst gerecht wieder unter allen zu verteilen.

 

Vom Skirennsport bis zu den Fleischfabriken: Tödliches Konkurrenzprinzip

Skirennfahrer und Skirennfahrerinnen: Sie rasen im Höllentempo gefährlichste Pisten hinunter, vor der Kälte und vor Stürzen nur durch einen hauchdünnen Rennanzug geschützt, ohne Unterwäsche, weil diese das Fahrtempo vermindern und der Konkurrenz den Vorteil von ein paar wenigen, doch entscheidenden Tausendstelsekunden verschaffen könnte, festgeschnallt auf Skiern mit immer schärfer geschliffenen Kanten, die bei Stürzen im Tempo von hundert und mehr Stundenkilometern schwerste Schnittverletzungen verursachen können, und auch dies nur mit dem einzigen Ziel, ein paar Tausendstelsekunden früher im Ziel zu sein als ihre Konkurrentinnen und Konkurrenten.

Kunstturnerinnen und Gymnastinnen: Sie werden gezwungen, ihren Körpern das Allerletzte abzuverlangen, zehn Stunden am Tag, im gnadenlosen Training am Barren, am Reck, auf dem Boden. Statt gelobt werden sie angeschrien, manchmal verweigert man ihnen, damit sie möglichst dünn bleiben, sogar das Essen und das Trinken, nicht selten müssen sie selbst dann noch weitertrainieren, wenn der Körper vor lauter Schmerzen fast zerbricht oder bereits von einer Verletzung betroffen ist, und dies alles nur, um an den nächsten Weltmeisterschaften der Konkurrenz eine Nasenlänge voraus zu sein.

Die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Fleischfabriken: Unerbittlich ist das Tempo, in dem gearbeitet wird, Schlag um Schlag, Messer um Messer, bis die Hände, die Arme und die Rücken fast auseinanderbrechen, Arbeiter um Arbeiterin dicht aneinandergedrängt, wie Teile einer riesigen Maschine, härteste Arbeit bei geringstem Lohn, und auch das alles nur, damit das solchermassen produzierte Fleisch um ein paar Cents billiger ist als jenes der Konkurrenz und dadurch einen höheren Gewinn abwirft, von dem sie, die Arbeiter und Arbeiterinnen, freilich nie etwas sehen werden.

Die Kinder und Jugendlichen in den Schulen: Auch sie, ängstlich und oft voller Selbstzweifel, angetrieben zu Höchstleistungen, manchmal bis in die Nacht hinein und unter Tränen, all die Verzweiflung, wenn das alles einfach zu gross und zu schwer geworden bist, und auch dies alles nur, um in der entscheidenden Prüfung nur auf keinen Fall zu versagen und, wenn irgend möglich, die Mitschülerinnen und Mitschüler um ein paar Zehntelspunkte zu übertrumpfen.

Ob im Skirennsport oder im Training der Kunstturnerinnen, ob in den Fleischfabriken oder den Schulen – und das sind nur vier von unzähligen weiteren Beispielen, die hier aufgezählt werden könnten -: Das Konkurrenzprinzip zwingt die Menschen dazu, gegeneinander statt miteinander und füreinander zu arbeiten. Je schärfer die Kante des einen Skirennfahrers ist, umso mehr zwingt er seine Konkurrenten dazu, ihre Kanten noch schärfer zu schleifen, ungeachtet der damit verbundenen Verletzungsgefahr. Je härter die Kunstturnerinnen des einen Landes trainieren, um so härter müssen die Kunstturnerinnen aller anderen Länder trainieren, nur um ja nicht ins Hintertreffen zu geraten. Je schneller die Arbeiterinnen und Arbeiter in der einen Fleischfabrik arbeiten, umso mehr zwingen sie sämtliche Arbeiterinnen und Arbeiter in allen anderen Fleischfabriken dazu, noch härter zu arbeiten, bloss um auf dem „freien“ Markt von Angebot und Nachfrage nicht ins Hintertreffen zu geraten. Und auch die Kinder und Jugendlichen in den Schulen: Je fleissiger das eine Kind lernt, je mehr Stunden es bis tief in die Nacht über seinen Büchern sitzt, je mehr es auf bisherige Freizeitbeschäftigungen verzichtet, umso mehr zwingt es seine Mitschüler und Mitschülerinnen dazu, es ihm gleich zu tun, denn wer möchte schon zu den Versagern und Verlieren gehören.

Dem Konkurrenzprinzip ist eine geradezu zynische Logik eigen. Es zwingt die Beteiligten in einen permanenten gegenseitigen Überlebenskampf, bei dem der Glaube aufrechterhalten wird, alle könnten erfolgreich sein, wenn sie sich nur genug anstrengten. Tatsächlich aber beruht das Konkurrenzprinzip darauf, dass immer nur einer der Beste sein kann und alle anderen mehr oder weniger auf der Strecke bleiben, selbst wenn sie sich noch so viel Mühe gäben. Besonders krass zeigt sich das beim Skirennsport: Es wird niemand bestreiten, dass auch die Skirennfahrerin, die „nur“ auf dem zwanzigsten Rang gelandet ist, immer noch eine unmenschliche Leistung vollbracht hat, bloss ist sie halt ein paar Hundertstelsekunden langsamer gewesen als die Beste.

Und noch in einem zweiten Punkt ist das Konkurrenzprinzip in sich selber höchst widersprüchlich. Es kennt nämlich keine Grenze nach oben. Die Kanten der Skis können immer noch um ein paar Millimeter schärfer geschliffen und die Skirennzüge können immer noch ein wenig dünner gemacht werden, bis vielleicht eines Tages die Fahrerinnen und Fahrer splitternackt zu Tale rasen. Die Übungen, welche die Kunstturnerinnen zeigen, können immer noch ein wenig schwieriger gestaltet werden, bis zu dem Punkt, da die Körper es gerade noch ganz knapp aushalten, bevor sie auseinanderbrechen. Das Arbeitstempo in der Fleischfabrik kann immer noch ein ganz klein wenig erhöht und die Arbeitsabläufe können immer noch ein klein wenig optimiert werden, so lange nicht die körperlichen Leiden der Arbeiterinnen und Arbeiter ein so hohes Mass erreicht haben, dass die Gesundheitskosten den Nutzen aus der geleisteten Arbeit übersteigen. Und den Kindern und Jugendlichen in den Schulen kann ohne klare Grenze nach oben ein immer höheres Lernpensum aufgebürdet wurden, auch wenn das mit dem realen Leben der Kinder und den tatsächlichen Anforderungen der Arbeitswelt schon längst nichts mehr zu tun hat.

Aus der Spirale des zerstörerischen und in letzter Konsequenz tödlichen Konkurrenzprinzips können wir uns nur befreien, wenn Wirtschaft und Arbeitswelt, Kultur, Bildung und Gesellschaft auf eine neue Basis gestellt werden, auf die Basis des Miteinander anstelle des Gegeneinander, auf die Basis der Kooperation anstelle der gegenseitigen Konkurrenzierung. So etwas Verrücktes wie Skirennen gäbe es dann wahrscheinlich nicht mehr. Ebenso wenig wie Weltmeisterschaften im Kunstturnen. Sportliche Aktivitäten würden überall und jederzeit so angelegt, dass die sie Menschen nicht krankmachen und ihnen Verletzungen zufügen, sondern dass sie ihrem Wohlergehen und ihrer Gesundheit dienen. Fleischfabriken wie auch alle anderen industriellen Betriebe wären vertraglich miteinander verknüpft, so dass Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten einheitlich geregelt wären und stets die Gesundheit und das Wohlergehen der arbeitenden Menschen Vorrang hätten vor allem anderen. Und in den Schulen würde man endlich damit aufhören, die Kinder miteinander zu vergleichen und einem gegenseitigen Wettkampf auszusetzen. Jedes Kind ist einzigartig, einmalig, hat Begabungen und Talente, welche kein anderes Kind hat, sein Lernen soll stets seinem Wohlergehen und seiner körperlichen und seelischen Gesundheit zugutekommen.

Eine neue Welt, die nicht mehr vom selbstzerstörerischen gegenseitigen Konkurrenzprinzip beherrscht wird: nicht mehr eine Treppe, die gegen oben immer schmaler wird und auf der die meisten früher oder später auf der Strecke bleiben. Auch nicht ein Karussell, das sich immer schneller dreht und alle, die sich nicht mehr festhalten können, nach und nach fortschleudert. Sondern ein Garten oder eine Werkstatt, in der Platz ist für alle, die gleichberechtigt dort leben und arbeiten und in der das Wohlergehen des Ganzen zugleich das Wohlergehen jedes Einzelnen ist.

Wenn 55 Prozent der Deutschen finden, dass der Kapitalismus mehr schadet als nützt

 

„Die CDU ärgert sich rot und grün“ – so kommentiert die Tagesschau des Schweizer Fernsehens das Ergebnis der Landtagswahlen in den deutschen Bundesländern Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz vom 14. März 2021. Und der „Tages-Anzeiger“ spricht gar von einem regelrechten „Debakel für die CDU“. In der Tat: Während in Baden-Württemberg die Grünen mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann und in Rheinland-Pfalz die SPD mit Ministerpräsidentin Malu Dreyer obenaus schwangen, brach die CDU auf historische Tiefstwerte ein. Bei den übrigen Parteien hielten sich Verluste und Gewinne in engen Grenzen, auffallend ist einzig das schlechte Abschneiden der AfD in beiden Bundesländern. So weit so gut – oder eben so schlecht, je nachdem von welcher politischen Warte aus man es betrachtet. Doch handelt es sich bei solchen „demokratischen“ Wahlen nicht letztlich um eine Farce, eine immense Selbsttäuschung, ein in letzter Konsequenz durch und durch inszeniertes Nullsummenspiel? Wie komme ich auf diesen Gedanken? Nun, wenn man sich die Inhalte der einzelnen Parteien etwas näher anschaut, dann gibt es zwar durchaus gewisse graduelle Unterschiede. Doch letztlich stehen alle auf dem Boden der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Keine der zur Wahl angetretenen Parteien fordert klar und deutlich die Überwindung des Kapitalismus und aller mit ihm verbundenen Zwangsläufigkeiten von der laufend weiter sich öffnenden Schere zwischen Arm und Reich über die unverminderte Ausbeutung von Mensch und Natur zwecks endloser Gewinnmaximierung bis hin zum blinden Glauben an ein immerwährendes Wirtschaftswachstum, der Hauptursache für den Klimawandel mit all seinen unabsehbaren Folgen. Selbst die „Linke“, die man sich noch am ehesten als antikapitalistische Kraft vorstellen könnte, führte einen überaus moderaten Wahlkampf. Schaue ich mir die Website der „Linken“ an, so wird zwar an wenigen Stellen der Begriff Kapitalismus mit dem Hinweis auf seine Unzulänglichkeiten erwähnt, die ganze Palette der von der Partei vorgeschlagenen Reformen bewegt sich aber insgesamt innerhalb der kapitalistischen Logik, man hat den Eindruck, dass die Partei den Kapitalismus nicht wirklich überwinden will – sonst müssten ihre Forderungen viel radikaler sein -, sondern bestenfalls zähmen, so wie dies, weniger weit gehend, auch die SPD anstrebt. Selbst die als Aussenseiterpartei angetretene „Klimaliste“ beschränkt sich auf die Forderung nach „konsequenten Klimaschutzmassnahmen“ und verzichtet auf die Forderung nach einer Überwindung des Kapitalismus, obwohl der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Kapitalismus zweifellos unverkennbar ist. Grob gesagt: Eine Demokratie, welche diesen Namen verdient, müsste den Menschen nicht nur die Wahl zwischen ein bisschen mehr oder weniger Umweltschutz, zwischen ein bisschen mehr oder weniger sozialer Sicherheit oder ein bisschen mehr oder weniger Förderung des öffentlichen Verkehrs anbieten. Sie müsste den Menschen auch die Wahl anbieten, ob sie weiterhin im Kapitalismus leben möchten, oder ob die Zeit reif wäre dafür, diesen Kapitalismus mit allen mit ihm verbundenen Unzulänglichkeiten und Zerstörungen zu überwinden. So gesehen sind die herrschenden „demokratischen“ Parteien nicht wirkliche Alternativen, zwischen ihnen liegen keine Welten, ihr Denken und ihre Sprache sind beinahe deckungsgleich, sie sind, einfach gesagt, nur Nuancen und Fraktionen einer Grossen Kapitalistischen Einheitspartei, zu der eine antikapitalistische Gegenpartei als echte Alternative schlicht und einfach nicht vorhanden ist. Wenn die „Sieger“ dieser Landtagswahlen nun jubeln und die „Verlierer“ am Boden zerstört sind, dann jubelt, unsichtbar, vor allem einer: Der Kapitalismus. Er ist noch einmal davon gekommen. Er ist wieder für vier Jahre an der Macht – egal ob ganz vorne die CDU, die SPD oder die Grünen stehen. Nun könnte man einwenden, dass die Menschen mit dem kapitalistischen „Einheitsbrei“ offensichtlich einverstanden seien und sich eine Alternative zum kapitalistischen System gar nicht wünschen. Für diese These würde auch die Tatsache sprechen, dass die „Linke“, die noch am ehesten einer antikapitalistischen Kraft entspricht, weder in Baden-Württemberg noch in Rheinland-Pfalz die 5-Prozent-Hürde der Wählerinnen- und Wählerstimmen geschafft hat. Offensichtlich aber klafft die tatsächliche Lebensrealität der Bevölkerung und die Welt der Politik meilenweit auseinander. Denn, wie eine Umfrage der Kommunikationsagentur Edelman anfangs 2020 ergeben hat, finden nur zwölf Prozent der befragten Deutschen, dass das „System für sie arbeitet“, 55 Prozent finden, dass der Kapitalismus in seiner heutigen Form „mehr schadet als nützt“. Woher dieser immense Widerspruch? Die Menschen scheinen immer deutlicher zu spüren, dass irgendetwas „nicht mehr stimmt“. Aber sie sehen noch keine Alternative. Die einzige Alternative, die sie kennen, sind der Kommunismus und der Sozialismus der früheren DDR und der Sowjetunion. Und das, nämlich die Wiederholung gescheiterter Gesellschaftsmodelle, will freilich niemand, und deshalb klammert man sich lieber an den Kapitalismus, den man wenigstens kennt und von dem man Tag für Tag, Jahr für Jahr, Wahl für Wahl, erhofft, dass trotzdem alles eines Tages besser wird. Das Fazit: Es müsste darum gehen, eine Gesellschaftsutopie zu entwickeln, die nicht nur den Kapitalismus überwindet, sondern ebenso den Sozialismus und den Kommunismus früherer Zeiten. Eine solche Alternative muss es geben – will sich die Menschheit nicht ihr eigenes Grab schaufeln. Das beste Potenzial, um eine solche Alternative zu entwickeln, hätte wohl die „Linke“. Hierzu freilich müsste sie mehr als eine Überwindung des Kapitalismus fordern. In jedem einzelnen Punkt müsste sie aufzeigen, wie jenes Leben aussähe, von der wir doch alle insgeheim träumen, ein Leben ohne gegenseitige Ausbeutung und gegenseitigen Konkurrenzkampf, ein Leben in sozialer Gerechtigkeit und Harmonie zwischen Mensch und Natur. Und selbstverständlich muss eine solche Vision länderübergreifend entwickelt werden – so wie der Kapitalismus international vernetzt ist, genau so müssten sich auch die antikapitalistischen Kräfte international vernetzen. Im September sind die deutschen Bundestagswahlen. Es bleibt noch Zeit, an der Vision für eine Überwindung des Kapitalismus zu arbeiten…

Naturwissenschaften und Politik: Als lebten wir in zwei verschiedenen Welten

 

Seltsam. Während Naturwissenschaften, Medizin, Technologie und Digitalisierung schon längst im 21. Jahrhundert angekommen sind und weiterhin jeden Tag neue Fortschritte erzielen, scheint die Welt der Politik buchstäblich im 19. Jahrhundert stecken geblieben zu sein. Gilt in der naturwissenschaftlichen Entwicklung die Regel, dass ein einmal erzielter Fortschritt nicht mehr rückgängig gemacht wird und alle weiteren Entwicklungsschritte darauf aufbauen, so ist in der Welt der parlamentarischen Demokratie von einem vergleichbaren Konsens keine Spur davon zu finden: Immer noch, wie eh und je, liefert man sich in den Parlamenten gegenseitige Redeschlachten, versucht den politischen Gegner kleinzureden, buhlt mit möglichst bunten und attraktiven Plakaten, Flugblättern und Internetauftritten um eine möglichst grosse Anhängerschaft für die kommenden Wahlen und verspricht das Blaue vom Himmel, um es, kaum ist man wieder gewählt, möglichst schnell zu vergessen. Würden Chirurgen, Weltraumforscherinnen und Brückenbauer ähnlich fahrlässig arbeiten, stünden wir schon längst vor einem Chaos unvorstellbaren Ausmasses. Dabei wäre nichts so dringend, als dass Politiker und Politikerinnen ebenso seriös arbeiten sollten wie die Forscherinnen und die Fachleute der naturwissenschaftlichen Welt. Würde man für die Bewältigung der Klimakrise, für die Überwindung von Armut, Hunger, Ausbeutung und Rassismus und für eine friedliche Lösung zwischenstaatlicher Konflikte nur einen Bruchteil jener Sorgfalt und Energie aufwenden, mit der fahrerlose Automobile entwickelt, ausgeklügeltste Sonden zu fernen Planeten geschickt und auch noch die anspruchsvollsten medizinischen Operationen mitten in unserem Gehirn durchgeführt werden, dann sähe die Welt wohl schon in Bälde ganz anders aus. Liegt das Problem darin, dass die Forscherinnen und Fachleute der naturwissenschaftlichen Welt schon längst über alle Grenzen hinweg zusammenarbeiten, während sich die Politik immer noch hauptsächlich im engen Rahmen der einzelnen Nationalstaaten bewegt? Wäre es nicht endlich Zeit, das Politische weltweit so zu vernetzen wie das Naturwissenschaftliche? Angesichts der drohenden Klimakrise müsste das eigentlich keine Frage mehr sein. Denn, wie schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

Plädoyer für die Arbeit der Hausfrau und des Hausmanns

„50 Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts und zahlreicher Debatten über Gleichstellung später dominiert nach wie vor das traditionelle Rollenmodell: Bei rund 70 Prozent der Paare mit Kleinkindern arbeitet er Vollzeit, sie gar nicht oder Teilzeit, wie Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen.“ Soweit ein Kommentar im „St. Galler Tagblatt“ vom 10. März 2021 zu einem Urteil des Bundesgerichts, wonach sich Frauen nach einer Scheidung wieder schneller in den Arbeitsmarkt eingliedern sollten.

Habe ich richtig gelesen? Bei rund 70 Prozent der Paare mit Kleinkindern arbeiten die meisten Frauen gar nicht oder höchstens Teilzeit? Was für eine Beleidigung all jener Frauen, die „nur“ Hausfrauen sind, sich „nur“ um die Pflege und Erziehung ihrer Kinder kümmern, „nur“ den Haushalt besorgen und „nur“ kochen, waschen, putzen und aufräumen. Wenn ich bei meiner Schwiegertochter und ihren vier Kindern zu Besuch bin, dann habe ich jedenfalls nie den Eindruck, sie würde „nicht arbeiten“. Ganz im Gegenteil: Ihre Arbeitstage sind lange und anstrengend, oft kommt sie nicht einmal nachts zur Ruhe und so etwas wie eine Pause, in der sie auch mal eigenen Gedanken und Beschäftigungen nachgehen kann, gibt es frühestens am Abend, wenn alle Kinder im Bett sind.

Die Arbeit, die von „Nur-Hausfrauen“ geleistet wird, ist immens und gar nicht genug hoch einzuschätzen. Man könnte wohl sogar sagen, dass dieser Beruf einer der wichtigsten und elementarsten ist. Denn egal, ob jemand später einmal als Ingenieur, als Architektin, als Bauarbeiter oder als Krankenpflegerin arbeiten wird, sie alle waren einmal ein Kind, das nur deshalb gross werden konnte, weil es getragen von Liebe, Geduld und Aufmerksamkeit aufwachsen durfte. Dass sich auch Väter zunehmend in diese Aufgabe einbringen, ist zwar höchst erfreulich, vermag aber nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es sich dabei nach wie vor um eine kleine Minderheit handelt. Aber es ist noch viel krasser: Frauen bewältigen nicht nur den Löwenanteil von Haus- und Familienarbeit, sie kümmern sich zusätzlich häufig um kranke oder pflegebedürftige Nachbarn, Eltern oder Schwiegereltern und engagieren sich in Vereinen und Hilfsorganisationen, und dies alles zum Nulltarif: Der Anteil der Frauen an dieser so genannten Care-Arbeit beträgt in der Schweiz zurzeit über 61 Prozent, die Anzahl der von Frauen in diesem Bereich geleisteten Arbeitsstunden beläuft sich schweizweit jährlich auf über 8200 Millionen.

Emanzipation darf nicht bloss darin bestehen, dass möglichst viele Frauen in Branchen und Berufsfelder vordringen, die bisher den Männern vorbehalten waren. Sie darf sich auch nicht darauf beschränken, dass die Frauen möglichst schnell nach der Geburt ihrer Kinder wieder einer ausserhäuslichen Erwerbsarbeit nachgehen. Emanzipation muss vor allem auch darin bestehen, dass die Arbeit einer Hausfrau oder eines Hausmannes vollständige gesellschaftliche Gleichwertigkeit, Wertschätzung und in letzter Konsequenz auch die entsprechende Entlöhnung erfährt. Hoffentlich dauert es nicht noch einmal 50 Jahre, bis der Beruf der Hausfrau und des Hausmannes das genau gleiche Ansehen und die genau gleiche Bedeutung geniessen wie jeder andere Beruf.

Konzernverantwortungsinitiative und Freihandelsabkommen mit Indonesien: Die Zeiten ändern sich…

 

Zuerst die Konzernverantwortungsinitiative, die von einer Mehrheit der Schweizer Bevölkerung angenommen wurde. Und jetzt das Freihandelsabkommen mit Indonesien, das bloss eine knappe Mehrheit von 51,6 Prozent erreicht, und dies erst noch nur dank den Männern, während es von einer Mehrheit der Frauen abgelehnt wurde. Ja, die Zeiten scheinen sich zu ändern. Dabei geht es ganz offensichtlich nicht nur um den einen oder anderen Vertragstext, um die eine oder andere Massnahme zum Schutz von Mensch und Natur. Es geht um etwas viel Grösseres, Grundsätzlicheres, Umfassenderes. Es geht um die Frage der weltweiten Handelsbeziehungen. Es geht um das Machtgefälle zwischen Industrieländern und Agrarländern. Es geht um Reichtum und Armut. Es geht um die Ausbeutung von Menschen, Tieren und der Natur durch multinationale Konzerne. Es geht um die Globalisierung. Es geht um den Kapitalismus. Es geht um die soziale Gerechtigkeit. Es geht um das Überleben der Menschen auf diesem Planeten. Ich wage zu behaupten, dass in Abstimmungen wie jener über die Konzernverantwortungsinitiative oder jener über das Freihandelsabkommen mit Indonesien alle diese grossen, übergreifenden Fragen Themen nicht nur ein wenig mitschwingen, sondern im Gegenteil eine ganz entscheidende Rolle spielen. Und ich wage weiter zu behaupten, dass das Unbehagen über eine Wirtschaftsordnung, die immer noch primär auf Wachstum, Profitgier und Ausbeutung von Mensch und Natur ausgerichtet ist, immer weiter und weiter um sich greift. Anders wäre nämlich nicht zu erklären, dass sich gut die Hälfte der Schweizer Bevölkerung für die Konzernverantwortungsinitiative und gegen das Freihandelsabkommen mit Indonesien ausgesprochen hat, obwohl nur eine Minderheit der politischen Parteien diese Positionen vertreten hat. Und aus dieser Hälfte könnte, wenn es so weitergeht, schon sehr bald eine satte Mehrheit werden. Darauf deutet beispielsweise auch eine Umfrage hin, die von der Kommunikationsagentur Edelman anfangs 2020 in 28 Ländern bei 34’000 Menschen durchgeführt wurde und ergeben hat, dass 56 Prozent der Befragten im Kapitalismus eher etwas „Schädliches“ als etwas „Nützliches“ sehen. Schon bald werden wir über ein weiteres Freihandelsabkommen abstimmen, diesmal mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten. Die Wirtschaftsverbände, heisst es, stehen schon zitternd in den Startlöchern. Ob die Hälfte der Bevölkerung schon bald zur Mehrheit wird? Man darf gespannt sein…

Die Abstimmung über das Verhüllungsverbot: Wenn das Absurde mehrheitsfähig wird…

„Eine Mehrheit der Stimmbevölkerung“, so SRF-Bundeshauskorrespondent Andy Müller in der Tagesschau vom 7. März 2021, „setzte heute ein Zeichen gegen den politischen und radikalen Islam, und das schon zum zweiten Mal nach der Minarettinitiative.“

Das Egerkinger Komitee, welches die Verhüllungsinitiative lanciert hat, lässt für diese Aussage danken! Denn Andy Müller scheint mit seiner Analyse den Initianten recht zu geben: Es sei ein Kampf gegen den „politischen und radikalen Islam“ und das Egerkinger Komitee um Nationalrat Walter Wobmann habe ihn nun schon zum zweiten Mal gewonnen, zuerst gegen das Minarett, jetzt gegen Burka und Niqab. Bewusst oder unbewusst hat der Bundeshausredaktor des Schweizer Fernsehens die Argumentation von Wobmann und seinen Gesinnungsgenossen übernommen, es handle sich doch bei alledem doch nur um den – berechtigten und notwendigen – Kampf gegen religiösen Fanatismus und Extremismus.

Dabei müsste es Andy Müller doch besser wissen: Der angebliche Kampf gegen Fanatismus und Extremismus ist doch nur das vorgeschobene Argument, hinter dem sich nichts anderes verbirgt als die Ablehnung und der Hass gegen andersgläubige und anders aussehende Menschen. Denn mit Fanatismus und Extremismus haben die rund dreissig Burka und Niqab tragenden Musliminnen in der Schweiz nun beileibe nichts zu tun, ebenso wenig wie jene Touristinnen aus arabischen Ländern in Interlaken oder in St. Moritz, von denen einige ebenfalls eine Burka oder einen Niqab tragen. Nicht Extremismus und Fanatismus sind die Motive, sich so zu kleiden, sondern einzig und allein eine Strenggläubigkeit, die sich mit jenem religiösen Eifer vergleichen lässt, der junge Frauen und Männer vor nicht langer Zeit auch in unserem Lande dazu bewog, in ein Kloster einzutreten und ein Leben fern aller irdischen Verlockungen auf sich zu nehmen.

Und wenn dann der Bundeshauskorrespondent des Schweizer Fernsehens im gleichen Atemzug noch die Minarettinitiative erwähnt, bei der es offensichtlich ebenfalls um ein „Zeichen gegen den politischen und radikalen Islam“ gegangen sei, dann wird alles erst recht absurd: Das Minarett ist genau so wenig ein Symbol für Extremismus und Fanatismus wie eine christliche Kirche. Das Fatale bei alledem liegt vor allem darin, dass politische Bewegungen wie das Egerkinger Komitee und Politiker wie Walter Wobmann letztlich genau das Gegenteil dessen erreichen, was sie angeblich wollen: Ihr „Kampf“ gegen Fanatismus und Extremismus heizt diesen erst recht an – das zeigt sich beispielsweise auch in Frankreich, wo seit der Einführung eines Verhüllungsverbots aus Protest eine viel grössere Zahl von Musliminnen einen Niqab trägt als zuvor und diese Frauen zu einem grossen Teil auch radikalisiert wurden, weil sie sich als Opfer eines Systems erleben, das ihnen die Ausübung ihrer religiöser Gepflogenheiten verweigert.

Hoffen wir, dass es in der Schweiz nicht auch noch dazu kommt. Und dass das Egerkinger Komitee, beflügelt durch zwei Abstimmungssiege, nicht noch auf die Idee verfällt, nun auch noch das Tragen eines Kopftuchs zu verbieten und vielleicht eines Tages sogar noch Juden vorzuschreiben, sich im öffentlichen Raum nur noch ohne ihre traditionelle Kopfbedeckung zu bewegen. Höchste Zeit, wieder Vernunft anzunehmen und sich auf die Grundlagen einer liberalen Gesellschaft zurückzubesinnen, in der auffälliges, besonderes und selbst provokatives Aussehen und Auftreten des Einzelnen erst dann geahndet werden darf, wenn damit anderen Menschen Schaden zugefügt wird.

Hoffen wir, dass es sich bei der Aussage des SRF-Bundeshauskorrespondenten um einen Ausrutscher gehandelt hat. Und dass wir nicht schon so weit sind, die Parolen eines Egerkinger Komitees für mehrheitsfähig und „salonfähig“ hinzunehmen, bloss weil Walter Wobmann und seine Gesinnungsgenossen in der heutigen Volkabstimmung eine – wenn auch knappe – Mehrheit gewonnen haben…

„Linke“ und „rechte“ Politik und die Sehnsucht nach einer besseren Welt

 

Das weltweit aktuelle Aufkommen autoritärer und rechtsgerichteter Parteien und Regierungen erklärt sich die US-Historikerin Anne Applebaum in der „NZZ am Sonntag“ vom 7. März 2021 wie folgt: „Man hat viel zu lange nicht anerkannt, dass viele Menschen mit der rapiden Modernisierung und den wirtschaftlichen Veränderungen nicht zurande kommen. Man hat nicht anerkannt, dass diese Leute etwas verloren haben, was ihnen wichtig war. Und es gab dieses Gefühl der Unvermeidlichkeit, dass die Globalisierung in dieser Form nicht aufzuhalten sei. Die Leute hatten dadurch das Gefühl, sie könnten nichts mehr bestimmen, sie könnten nicht mehr teilnehmen an der Politik. Und man hat den Menschen diese Handlungsfähigkeit nicht zurückgegeben. Diesen Menschen bieten die rechten Vordenker eine radikale Alternative: Stürzt das System! Wir geben euch eine andere Vision der Welt.“ Applebaum hat Recht: Dass die Globalisierung – und das ihr zugrundeliegende kapitalistische Wirtschaftssystem – sich immer mehr in einer Sackgasse verfangen haben, aus der es keinen Ausweg mehr zu geben scheint, tritt immer offensichtlicher zutage. Nicht nur die Menschen, die immer mehr der früheren Sicherheiten und Gewissheiten verloren haben, leiden in zunehmendem Masse darunter. Auch die Natur ächzt und stöhnt unter der Globalisierung und ihrem unersättlichen Drang, auch noch den letzten Winkel der Erde dem Zwecke der Gewinnsucht und der Profitmaximierung zu unterwerfen. Das Tragische daran: Nur „rechte“ Parteien und Bewegungen scheinen einen Ausweg aus dieser Irrfahrt aufzuzeigen. Die meisten sogenannt „linken“ Parteien und Bewegungen klammern sich nach wie vor an den kapitalistischen Weg, versprechen zukünftige Lösungen bloss innerhalb der „Freien Marktwirtschaft“, die aber doch bloss ein anderes Wort ist für Globalisierung und Kapitalismus. Weiterhin streuen die meisten „linken“ Parteien und Bewegungen den Menschen Sand in die Augen, indem sie vorgeben, der Kapitalismus lasse sich reformieren und zu einem menschenfreundlichen System umbauen. Sie haben nicht den Mut, sich endlich vom Kapitalismus und seinen unzähligen Irrfahrten loszusagen und eine gänzlich neue Seite im Geschichtsbuch aufzuschlagen. Damit aber überlassen sie das Feld der Zukunftsgestaltung ausgerechnet jenen „rechten“ Bewegungen und Parteien, die zwar von „Visionen“ einer neuen Welt fabulieren, selber aber mit beiden Beinen tief in der Logik der kapitalistischen Denk- und Wirtschaftsweise verharren und diese oft sogar noch ins Extrem treiben. Einen Ausweg aus diesem Dilemma gibt es erst, wenn die Linke ihrerseits den Mut aufbringt, die Vision einer neuen Welt ins Leben zu rufen, eine Vision, welche diesen Namen tatsächlich verdient und nicht bloss eine mehr oder weniger schlechte Kopie des Bisherigen ist. Keine Frage, immer mehr Menschen sehnen sich darnach: Eine vom der US-Kommunikationsagentur Edelman anfangs 2020 in 28 Ländern bei 34’000 Menschen durchgeführte Umfrage ergab, dass 56 Prozent der Befragten finden, der Kapitalismus richte mehr Schaden als Nutzen an. „Die Menschen bezweifeln, dass die Welt, in der wir heute leben, optimal für eine gute Zukunft ist“, so Studienleiter David Bersoff. Zu den genannten Sorgen zählten das Tempo des technischen Fortschritts, die Arbeitsplatzunsicherheit, das Misstrauen in die Medien und das Gefühl, dass die nationalen Regierungen den aktuellen Herausforderungen nicht gewachsen seien. Das Ergebnis dieser Studie zeigt, dass Parteien, die einen klar antikapitalistischen Kurs führen würden, in vielen Ländern auf einen Schlag die absolute Mehrheit erringen müssten. Worauf warten wir denn noch? Was hält uns davon ab, das unerlässliche Ziel einer Überwindung des Kapitalismus endlich umzusetzen, nicht nur in Worten, sondern auch in Taten? Die Menschen brauchen – neben der täglichen Arbeit und den täglichen Beschäftigungen – Visionen und Nahrung für ihre Sehnsüchte, leidenschaftliche Debatten, Ausblicke in eine bessere, lebenswertere Zukunft, Hoffnung auf eine neue Zeit, an deren Grundlagen wir hier und heute schon arbeiten können, den Mut, Bisheriges radikal in Frage zu stellen und Neues, noch nie Gedachtes zu erdenken. Auf diesem Weg sind uns die Jugendlichen, welche sich in der Klimabewegung engagieren, schon ein grosses Stück vorausgegangen. Höchste Zeit, dass auch wir Erwachsene uns zu bewegen beginnen und den ersten Schritten unzählige weitere folgen lassen… 

„Freier Markt“ bedeutet in Tat und Wahrheit nichts anderes als „Freie Ausbeutung“

 

„Es dominiert der Mythos“, so die Philosophieprofessorin Lisa Herzog in ihrem „Samstagsgespräch“ mit dem „Tages-Anzeiger“ vom 6. März 2021, „dass der Markt den Wert der Arbeit Einzelner gerecht widerspiegele und daraus faire Löhne resultieren.“ Lisa Herzog hat Recht: Der Mythos Markt dominiert unsere Köpfe und hält sich hartnäckiger denn je. Nicht nur in der Arbeitswelt, auch ganz allgemein in Wirtschaft und Gesellschaft. „Freier Markt“ und „Freie Marktwirtschaft“ sind Begriffe, die kaum je in Frage gestellt werden. Dabei wäre genau dies dringendst nötig. Denn „Freier Markt“ und „Freie Marktwirtschaft“ sind zwar wohltönende Begriffe. Wer in ihnen aber Synonyme zu Fairness, Gerechtigkeit oder gar Wohlergehen sieht, müsste sich bei näherem Hinschauen rasch eines Besseren belehren lassen. Weder haben „Freier Markt“ und „Freie Marktwirtschaft“ verhindern können, dass weltweit eine Minderheit Reicher und Superreicher Jahr für Jahr reicher und reicher wird, noch haben sie verhindern können, dass Abermillionen von Menschen weltweit nicht einmal genug zu essen haben. Der „Freie Markt“ und die „Freie Marktwirtschaft“ haben ebenfalls nicht verhindern können, dass in einem Land wie der Schweiz gewisse Konzernchefs dreihundert Mal mehr verdienen als Abertausende von Menschen in zahlreichen Tiefstlohnsegmenten. Und ebenfalls haben der „Freie Markt“ und die „Freie Marktwirtschaft“ bis heute nicht verhindern können, dass die Klimaerwärmung ungehindert voranschreitet und das Überleben des Menschen auf diesem Planeten im schlimmsten Falle sogar früher oder später in Frage stellt. Die Idee eines „Freien Marktes“ mag zwar auf den ersten Blick einzuleuchten. Aber funktionieren würde das nur, wenn alle an diesem Markt Beteiligten die gleich langen Spiesse hätten. Doch in einer Welt, in der Macht und Reichtum zwischen Menschen, Wirtschaftsmächten und Ländern so ungleich verteilt sind wie in der unseren, muss die Idee des „Freien Marktes“ reine Illusion bleiben. Wenn nämlich der „Freie Markt“ die Grundversorgung der Menschen gewährleisten würde, dann würden die Güter zu jenen Menschen fliessen, welche sie brauchen. Tatsächlich aber fliessen in der heutigen global verbreiteten „Freien Marktwirtschaft“ die Güter nicht dorthin, wo die Menschen sie brauchen, sondern dorthin, wo es genügend Menschen gibt, die das nötige Geld haben, um diese Güter auch tatsächlich erwerben zu können. Dies erklärt, weshalb in Europa nicht nur tonnenweise Lebensmittel, sondern auch tonnenweise Medikamente im Müll landen, während es in zahlreichen Ländern des Südens an beidem mangelt – mit tödlichen Folgen. Es erklärt auch, weshalb in zahlreichen Ländern des Südens von multinationalen Konzernen Wasser aus Quellen angezapft oder aus dem Boden gepumpt und in Form von Mineralwasser in die reichen Länder des Nordens transportiert wird – während die Bewohnerinnen und Bewohner der betroffenen Gebiete immer weitere Fusswege zurücklegen müssen, um sich wenigstens ein Minimum an täglicher Wasserversorgung zu sichern. Zahllose weitere Beispiele von den Rohstoffen aus afrikanischer Erde bis zu den Textilien aus Bangladesh und den Spielsachen aus China liessen sich aufzählen. So lange die Verhältnisse so sind, wie sie sind, haben „Freier Markt“ und „Freie Marktwirtschaft“ nichts, aber auch nicht das Geringste mit Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlergehen von Mensch und Natur zu tun. Ganz im Gegenteil. Wenn man ehrlich wäre, würde man nicht von „Freiem Markt“ sprechen, sondern von „Freier Ausbeutung“. Nur jene, die auf der Sonnenseite sind, können den Begriffen des „Freien Marktes“ und der „Freien Marktwirtschaft etwas Positives abgewinnen – für jene auf der Schattenseite ist es schlicht und einfach die Hölle. Höchste Zeit, Reichtum und Macht weltweit so gerecht zu verteilen, dass ein wahrhaft freier Markt tatsächlich zum Wohlergehen aller funktionieren würde, als gegenseitiger gleichberechtigter Austausch von Gütern, von Arbeit und von Begabungen von Mensch zu Mensch und in alles übergreifendem Respekt gegenüber Pflanzen, Tieren und den natürlichen Lebensgrundlagen.    

Der „Wettkampf“ der Spitäler: Als ginge es um Löwen und Hyänen

„Absicht ist, dass sich die Spitäler einen gegenseitigen Wettkampf liefern, in dem die erfolgreichen überleben und die erfolglosen auf der Strecke bleiben. Das funktioniert nicht von Anfang an, sondern braucht eine gewisse Zeit. Zuerst rüsten alle auf und dann, nach und nach, beginnen die positiven Seiten des Wettbewerbs zu spielen.“ Das ist kein Witz, sondern die Aussage von Philipp Sommer, Gesundheitsökonom, in der Dokumentationssendung „Wettkampf der Spitäler“ des Fernsehens SRF1 am 4. März 2021. In dieser Logik ist ein Spital nicht viel anderes als ein Schuhgeschäft oder ein Shoppingcenter: Auch diese werden auf die freie Wildbahn gegenseitigen Konkurrenzkampfs geworfen und auch von diesen können, wie Löwen oder Hyänen, nur die stärksten und schnellsten überleben, während die langsameren und schwächeren auf der Strecke bleiben.

Dabei sprächen zahlreiche sachliche Gründe dagegen, Spitäler einem gegenseitigen Vernichtungskampf auszusetzen, was vor allem dazu führt, dass die kleinen Spitäler auf dem Lande verschwinden und die grossen Spitäler in den Städten immer grössere Dimensionen annehmen: Kleinere Spitäler auf dem Lande zeichnen sich durch eine persönliche Atmosphäre aus, Patienten und Patientinnen fühlen sich fast wie zuhause, verweilen in ihrem näheren Lebensumfeld. Auch bieten die kleineren Spitäler auf dem Lande attraktive Arbeitsplätze in lebenswerter Umgebung und sind willkommene Kunden lokaler Geschäfte und Zulieferer.

Wie beliebt und verwurzelt in ihrer Umgebung kleinere Spitäler auf dem Lande von der jeweiligen Bevölkerung getragen sind, zeigte sich besonders eindrücklich im Kanton St. Gallen, wo sich 2014 in einer Volksabstimmung 90 Prozent der Bevölkerung für die Weiterführung sämtlicher neun Regionalspitäler aussprachen und einem hierzu notwendigen Kredit von 930 Millionen Franken zustimmten. Nun, sieben Jahre später, sollen, als hätte es diese Volksabstimmung nie gegeben, vier bis fünf der neun Spitäler des Kantons St. Gallen geschlossen werden. Geradezu absurd ist das Beispiel des Spitals Wattwil, das soeben neu gebaut wurde: Am Tag der feierlichen Eröffnung wusste man bereits, dass das Spital wahrscheinlich schon geschlossen würde, bevor noch der erste Patient oder die erste Patientin aufgenommen würde.

Bereits träumen die Spitalplaner der Zukunft, dass von insgesamt 200 Schweizer Spitälern dereinst nur noch 50 übrigbleiben würden. Was zuletzt nicht auch einen gewaltigen ökologischen Unsinn zur Folge hätte: Bestehende und oftmals erst kürzlich renovierte Spitalgebäude mit intakter Infrastruktur müssen abgebrochen werden, während in der Stadt auf knappem Baugrund eine immer grössere Anzahl von Spitaltürmen in die Höhe wachsen. Seltsamerweise scheinen hier dann die Kosten keine Rolle zu spielen, während man auf der anderen Seite argumentiert, die Landspitäler müssten vor allem deshalb geschlossen werden, weil sie nicht rentierten. Nein, der sogenannte „Freie Markt“, der Wettkampf zwischen den Hyänen und den Löwen, die bis ins Äusserste getriebene Ökonomisierung, das knallharte Kosten-Nutzen-Denken – dies alles hat mit einem Gesundheitswesen, das diesen Namen auch tatsächlich verdient, nichts zu tun. Nicht alles, was sich ändert, ist ein gesellschaftlicher Fortschritt. Änderungen können auch einen gesellschaftlichen Rückschritt bedeuten. Und beim Gesundheitswesen ist genau dies der Fall.

Eine Rückbesinnung auf das Wesentliche tut dringend Not: Nicht das Wohl des materiellen Profits darf im Vordergrund stehen, sondern das Wohl der Patienten und Patientinnen wie auch des Personals. Nicht Ranglisten sollen medizinische Angebote vergleichen und bewerten, sondern einzig und allein die Zufriedenheit der Menschen. Wenn die Schweiz das weltweit dichteste Netz an Spitälern aufweist, dann soll sie darauf stolz sein, statt zu einem Kahlschlag auszuholen, der jahrhundertealte Strukturen zerschlägt. Wenn die einen Spitäler mehr rentieren als die anderen, dann soll mit Quersubventionierung ein Ausgleich geschaffen werden. Und wenn man behauptet, es gäbe, um so viele Spitäler aufrechtzuerhalten, zu wenig Personal, dann müsste man eben, was auch ohne Spitalschliessungen dringend notwendig ist, mehr Personal ausbilden und die Arbeitsbedingungen und die Löhne so gestalten, dass nicht so viele Mitarbeitende schon nach wenigen Jahren ihren Job wieder aufgeben. Um solche Wege zu beschreiten, müssen wir uns unverzüglich aus dem selber gebauten Käfig jenes ominösen „Freien Marktes“ befreien, der uns pausenlos einzuhämmern versucht, es gäbe zu der ganzen Entwicklung, von der wir gegenwärtig mitgerissen werden, „keine Alternative“. Das wäre, wenn wir tatsächlich ernsthaft daran glaubten, nichts weniger als das Ende der Demokratie.