„Friedenskonferenz“ auf dem Bürgenstock: Die lächerlichste Rolle in der ganzen Tragödie spielt die Schweiz…

Bei den Vorbereitungen der Ukraine-Konferenz gehe es, so Protokollchef Billeter, darum, die vielen Spezialwünsche der Delegationen zu erfüllen, damit sich alle möglichst „wohlfühlen“ könnten. Für das Abendessen sei ein reichhaltiges Menu mit lokalen Spezialitäten geplant. Billeter sei beim Testessen dabei gewesen, „eine der schönen Seiten meines Jobs“, wie er meint.

Gleichzeitig stehen ukrainische Soldatinnen und Soldaten schon seit über zwei Jahren in den Schützengräben an der Front, fern ihrer Liebsten, nur knapp mit Lebensmitteln versorgt und der ständigen Angst vor dem nächsten Bombenhagel ausgesetzt. Schwerverletzte werden so schnell wie möglich zusammengeflickt und wieder an die Front geschickt. Junge Männer, die dem Kriegsdienst zu entfliehen versuchen, werden niedergeknüppelt und ins nächste Militärfahrzeug verfrachtet.

Es gehe bei der Ukraine-Konferenz um die Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten? Ginge es tatsächlich darum, müsste man den Krieg so schnell wie möglich beenden und die betroffene Bevölkerung in eine demokratisch abgestimmte zukünftige Friedenslösung einbeziehen. Das würde sogar weniger kosten als die 15 Millionen Franken, welche das Stelldichein der internationalen Politprominenz auf dem Bürgenstock verschlingt, und zudem all jenen, die unter den Folgen dieses Konflikts schon mehr als genug gelitten haben, jenes „Wohlbefinden“ verschaffen, das jetzt nur einigen wenigen sowieso schon im Übermass Privilegierten vorbehalten ist.

Da würde selbst die 68Jährige noch ein Gewehr packen und an die Front gehen: Wenn Feindbilder auch noch den letzten Rest Verstand rauben…

Selbstverständlich ist jedes ukrainische Kind, das von einer russischen Bombe getötet wird, eines zu viel. Und selbstverständlich gibt es auch für alle anderen Formen von Gewalt, die im Verlaufe eines Krieges verübt werden, egal von welcher der Kriegsparteien, nicht die geringste Rechtfertigung, wie auch nicht für alle anderen Formen von Gewalt, die nicht nur zu Kriegszeiten verübt werden. Aber wenn man sich dann die Empörung westlicher Politiker und Medien über die von russischer Seite im Ukrainekrieg begangenen Gewalttaten vor Augen führt und dieses bis auf die äusserste Spitze getriebene Feindbild in Gestalt des russischen Präsidenten Putin, der nicht selten sogar mit Hitler oder gar mit dem Teufel verglichen wird, dann muss man sich schon fragen: Wo war denn diese Empörung, als US-Präsident Bush im März 2003 den Irak überfiel, aufgrund einer reinen Lügenpropaganda, mit welcher der Welt weisgemacht werden sollte, dass es im Interesse der gesamten Menschheit liege, diesem gefährlichen Diktator Saddam Hussein so schnell wie möglich ein Ende zu bereiten, und so ein Krieg in Gang gesetzt wurde, dem schliesslich über eine halbe Million Menschen zum Opfer fallen sollten. Wo ist die Empörung über das unbeschreibliche Leiden jener Tag für Tag zehntausend Kinder, die weltweit vor ihrem fünften Lebensjahr qualvoll sterben, weil sie nicht genug zu essen haben – als unmittelbare Folge eines Wirtschaftssystems, in dem die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo sich damit am meisten Geld verdienen lässt, was eigentlich bedeutet, dass man all die Nutzniesser dieses Geschäfts von den Rohstoff- und Nahrungsmittelkonzernen bis zu jedem einzelnen ihrer Aktionäre und Aktionärinnen mit gutem Recht ebenso an den Pranger stellen müsste wie irgendeinen diktatorischen Machthaber, der sich auf Kosten seines Volks masslos bereichert. Wo ist die Empörung über all jene Politiker und Ökonomen, die blindlings am kapitalistischen Wachstumswahn festhalten und dadurch unmittelbar verantwortlich sind für Klimawandel, Umweltzerstörung und die Vernichtung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen. Und wo ist die Empörung über all die unsägliche Gewalt, die täglich von Männern an Frauen verübt wird, mitten in den „freiesten“ und „demokratischsten“ Ländern der Welt.

Die Empörung, die uns von den Medien in Gestalt von hochgeschaukelten Prototypen wie Strack-Zimmermann, Röttgen, Kiesewetter, Roth, Baerbock, Gabriel, Hofreiter, Pistorius, Cameron, Stoltenberg und all ihren kleineren und grösseren Nachahmungstätern tagtäglich entgegengeschleudert wird, muss daher noch einen anderen Grund haben als bloss ihr ehrliches Mitfühlen mit dem Leiden anderer – sonst müsste sich, wie gesagt, ihre Empörung auch angesichts zahlreicher anderer, mindestens so schlimmer Verbrechen ebenso wutschnaubend manifestieren. Dieser andere Grund ist wohl unverkennbar ein gezieltes Schüren von Hass auf ein ganz bestimmtes und definierbares Feindbild, das sich in diesem Falle – in der Gestalt von Putin – mit einfachsten Mitteln der Propaganda zurechtzimmern lässt und leicht eine Massenwirkung erzeugen kann, indem nämlich die in den meisten Menschen schlummernde Tendenz, für alles Üble und Schlimme einen Hauptschuldigen zu suchen und sich selber, im Gegensatz zu einer Welt des „Bösen“, als Teil der Welt des „Guten“ zu fühlen, wirksam angefacht und vervielfacht werden kann. Weil das alleine aber noch nicht genügt und von zu vielen durchschaut werden könnte, wird dann kräftig nachgeholfen, indem man zum Beispiel Begriffe wie „Putler“ erfindet, auf den Titelseiten von Hochglanzmagazinen fratzenhaft entstellte Porträts dieses Inbegriffs alles Bösen erscheinen lässt und fast ausschliesslich nur solche Fakten, Aussagen oder Zitate weiterverbreitet, die dem gewünschten Feindbild dienen, alle anderen aber, die es in Frage stellen könnten, entweder verschweigt oder als „Lügen“ oder „Propaganda“ zu diffamieren versucht. Vielleicht ist es den „Feindbildschürern“ nicht einmal bewusst, was sie in letzter Konsequenz damit bewirken. Tatsache aber ist, wie es der Buchautor Thomas Pfitzer so treffend formuliert: „Der Aufbau von Feindbildern ist die wirksamste Methode zur Manipulation der Massen.“

Das höchst Gefährliche am Aufbau von Feindbildern ist, dass sie nach und nach den Verstand zu verdrängen oder gar auszulöschen drohen. Offenbar lösen sie in den tieferen Schichten der Psyche so urgewaltige Reaktionen aus, dass diese immer um einen Tick schneller sind als das vernünftige und logische Denken. Um es an ein paar konkreten Beispielen, die ich im Verlaufe der vergangenen zwei Jahre immer wieder erlebt habe, zu verdeutlichen: Jemand verglich Putin mit Hitler. Dann müsste man aber ehrlicherweise, so meine Gegenfrage, auch all jene US-Präsidenten, die für den Vietnamkrieg, für die verdeckten Militäroperationen und unterirdischen Folterzentren in Zentralamerika mit Zehntausenden Toten oder für den völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak verantwortlich waren, mit Hitler vergleichen. Noch nie hat jemand dieser Gegenfrage widersprochen, alle haben gesagt: Eigentlich hast du Recht. Schnell haben sie die Denkschlaufe wieder hingekriegt, wären alleine aber offensichtlich nicht darauf gekommen, so tief hatte das Feindbild Putin bereits von ihrem Denken Besitz ergriffen und alles andere ausgelöscht. Ähnliche Reaktionen zeigen sich jeweils bei der Gegenfrage, weshalb man denn konsequenterweise, analog zum Boykott einer russischen Opernsängerin am KKL Luzern, nicht anlässlich völkerrechtswidriger Kriege in früheren Jahren auch eine amerikanische Opernsängerin hätte boykottieren müssen, oder, wenn es um die Osterweiterung der NATO geht und ich die Frage stelle, wie wohl die USA reagieren würden, wenn sich Kanada oder Mexiko einem Militärbündnis mit Russland anschliessen würden. Immer ist die Reaktion: Ja, eigentlich hast du Recht, das habe ich mir noch gar nie überlegt. Ein weiteres Beispiel betrifft einen Zeitungsartikel über das Referat eines in Gaza gebürtigen und heute in der Schweiz lebenden Kinderarztes, den ich kürzlich für die Lokalzeitung geschrieben habe. In seinem Referat hatte er die Attacken der Hamas vom 7. Oktober 2023 mit klaren Worten verurteilt, was ich im betreffenden Artikel auch erwähnte, und zwar gleich an zwei Stellen. Allen Ernstes meldete sich ein Leser dieses Artikel bei mir und teilte mir sein Befremden darüber mit, dass sich der palästinensische Kinderarzt nicht eindeutig von den Hamasattacken distanziert hätte. Als ich ihm vorschlug, den Artikel noch einmal zu lesen, musste er feststellen, dass er die betreffende Stelle offensichtlich schlicht und einfach überlesen hatte, und dies sogar zwei Mal. Hat sich das Feindbild erst einmal festgesetzt, scheint es also sogar die Lese- und Aufnahmefähigkeit zu beeinträchtigen. Ein besonders krasses Beispiel war die Diskussion mit einer 68jährigen Bekannten, die auf meine vorsichtigen Relativierungen des Putin-Feindbildes dermassen enerviert reagierte, dass sie allen Ernstes beteuerte, eigenhändig zum Gewehr zu greifen und an die Front zu gehen, sollte sich Putin getrauen, auch nur einen Schritt in Richtung unserer Grenze zu wagen – Feindbild und Wut im tiefsten Inneren müssen so stark gewesen sein, dass sie ihr auch noch den letzten Rest Verstand geraubt hatten.

Und das hat schon eine ziemlich lange Vorgeschichte. Die Geschichte der „Russophobie“. Die Geschichte, dass alles, was aus dem Osten kommt, des Teufels ist. Als Ronald Reagan die Sowjetunion als das „Reich des Bösen“ zu bezeichnen pflegte, ging es vor allem noch um den Kommunismus – das Feindbild war perfekt. Schwieriger wurde es nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und damit dem Verschwinden dieses Feindbilds. Rasch musste ein neues Feindbild her. Vorübergehend sprang der sogenannte islamische Terrorismus in die Lücke. Doch mit dem Ukrainekrieg bot sich die Gelegenheit, das alte Russland-Feindbild neu aufzuwärmen. Nun ist es nicht mehr der „böse“ Kommunismus, sondern der „böse“ Putin – und die Welt ist wieder in Ordnung. Wie sehr dieser latente Rassismus gegenüber „östlichen“ Völkern immer noch wirksam ist, zeigt sich auch darin, wie – gerade auch in der Schweiz – mit Flüchtlingen umgegangen wird: Sind es, wie 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei oder 2022 in der Ukraine, Opfer des „bösen“ Ostens bzw. Russlands, werden sie mit weit offenen Armen empfangen, landesweit werden eifrigst Kleider und Lebensmittelpakete gesammelt. Sind es hingegen Opfer des eigenen kapitalistischen Macht- und Ausbeutungssystems wie etwa die Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, Afghanistan oder Nordafrika, dann schmilzt die Grosszügigkeit und Aufnahmebereitschaft schon schnell einmal gegen Null, und dies erst noch trotz einer ungleich viel grösseren Mitschuld an den Ursachen dieser Flüchtlingsbewegungen. Latenter Rassimus gegenüber denen „aus dem Osten“ zeigt sich auch besonders drastisch, wiederum nicht zuletzt in der Schweiz, im Umgang mit Migrantinnen und Migranten aus den Balkanländern, die gerne abfällig als „Jugos“ bezeichnet werden und bis heute – ganz im Gegensatz etwa zu den Expats aus den USA oder westeuropäischen Ländern – vielfach politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt sind. In noch schärferem Ausmass zeigt sich dieser latente Rassismus etwa auch im Verhalten gegenüber Sinti, Roma und anderen Völkern „aus dem Osten“. Unweigerlich erinnert man sich an den von Hitler geprägten Begriff der „Untermenschen“. Hitler hätte wohl seine helle Freude daran, dass wir sein Gedankengut auch heute noch, 90 Jahre später, nicht aus unseren Köpfen verloren haben…

Zurück zum Feindbild Putin. „Die Entbindung vom Nachdenken“, so die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, „ist der erste, gefährlichste Schritt in den Totalitarismus.“ Und im „Netzwerk der Friedenskooperative“ lesen wir: „Der Abbau von Feindbildern ist die unerlässliche Voraussetzung für Frieden. Denn Feindbilder haben die zentrale Funktion, Rüstung und Kriege zu rechtfertigen. Darüber hinaus stabilisieren sie Herrschaftssysteme, da sie von eigenen Problemen und Unzulänglichkeiten ablenken oder deren Ursachen dem vermeintlichen Feind in die Schuhe schieben. Indem der Feind als minderwertig oder gefährlich dargestellt wird, wird automatisch das Selbstbild erhöht. Die Feindbilder können zur Eskalation eines Konflikts führen bis hin zu einem Krieg.“

Es ist die alles entscheidende Frage über Leben oder Tod. Ob die Menschheit auf der Entwicklungsstufe von Rassismus und Feindbilddenken verharren und ihr eigenes Überleben aufs Spiel setzen will. Oder ob wir es schaffen, einen nächsten Entwicklungsschritt zu bewältigen, uns von Rassismus und Feindbilddenken zu befreien, unseren Verstand zu gebrauchen und damit den Weg zu öffnen hin zu einer Welt, in der nicht mehr das Gegeneinander dominiert, sondern das Miteinander, und in der dann in letzter Konsequenz auch alle Waffen und Armeen überflüssig geworden sein werden.

SP-Prämieninitiative auf des Messers Schneide: „Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwächsten“…

Gemäss einer Umfrage von „20 Minuten“ und Tamedia würden derzeit 50% der Befragten Ja oder eher Ja sagen zur SP-Prämieninitiative, die eine Begrenzung der Belastung durch die Krankenkassenprämien auf zehn Prozent des Einkommens vorsieht. 48 Prozent würden Nein oder eher Nein stimmen. Nach dem Einkommen der Befragten abgestuft, würden von den am schlechtesten Verdienenden 67% der Initiative zustimmen, der Ja-Anteil geht dann mit steigendem Einkommen kontinuierlich zurück bis zu den am besten Verdienenden, von denen noch 27% zur Prämieninitiative Ja oder eher Ja sagen.

Sehen die, denen es besser geht, es denn nicht als ihre Pflicht an, sich um jene zu kümmern, denen es schlechter geht? Stört es all jene, die nur gerade mal 3 oder 4 Prozent ihres Einkommens für ihre Krankenkassenprämie aufbringen müssen, nicht, dass Schlechtverdienende, die bis zu 20 Prozent ihres Einkommens für die Prämie bezahlen müssen, unter dieser Last fast zerbrechen?

Zahlen der Schuldenberatung Schweiz zeigen, dass der Anteil der Krankenkassenschulden an den Gesamtschulden in den letzten 8 Jahren von 8 auf 15 Prozent gestiegen ist und diese damit innerhalb sämtlicher Schuldenarten den zweiten Platz einnehmen, unmittelbar nach den Steuerschulden. Die hohen Prämien führen auch dazu, dass viele Armutsbetroffene die höhere Franchise wählen, für den hohen Selbstbehalt dann aber nicht aufkommen können und selbst auf dringend nötige ärztliche Behandlungen verzichten müssen. In einzelnen Kantonen gibt es sogar schwarze Listen, auf denen all jene landen, die ihre Prämien nicht bezahlen können – für diese werden nur noch Notfallbehandlungen von der Krankenversicherung übernommen. Die Verzweiflung vieler ist schon so gross, dass immer mehr Armutsbetroffene zur Kreditkarte greifen und damit die Schuldenlast so lange wie möglich hinausschieben. „Ich habe über 30‘000 Franken Schulden bei meiner Krankenkasse“, klagte kürzlich ein 35Jähriger, „mein Leben ist ruiniert und ich kann mir keinen normalen Lebensstil mehr leisten.“

Die FDP, welche an vorderster Front gegen die SP-Prämieninitiative kämpft, begründet dies damit, dass dadurch Mehrkosten von 6,5 Milliarden Franken anfallen würden. Gleichzeitig werden jährlich 90 Milliarden Franken Erbschaften steuerfrei weitergegeben, besitzen allein die 300 Reichsten des Landes über 800 Milliarden Franken und könnte man durch ein verschärftes Vorgehen gegen Steuerhinterziehung jährlich bis zu 15 Milliarden Franken einsparen. Die durch die Annahme der SP-Prämieninitiative verursachten Mehrkosten liessen sich, fair verteilt, spielend bewältigen.

„Denn die Stärke des Volkes“, so heisst es in der Präambel der schweizerischen Bundesverfassung, „misst sich am Wohl der Schwächsten.“ Denken wir daran, wenn wir den Abstimmungszettel zur SP-Prämieninitiative ausfüllen, dieser hoffentlich mit deutlichem Mehr zustimmen und damit ein Zeichen setzen, dass die Idee einer solidarischen Schweiz auch heute noch und mehr denn je ihre Glaubwürdigkeit nicht verlieren darf.

Die Schweiz im Jahre 2024: Werden Fahnen bald schon besser geschützt sein als Menschen?

Weil eine Walliser Jungsozialistin in einer „Wutrede“ zum 1. August sagte, sie könnte auf alle diese Schweizer Fahnen „kotzen“, erhielt sie Hunderte böser Zuschriften, in denen sie und ihre Eltern beleidigt und bedroht wurden. Einer schrieb sogar, sie solle „brennen“. Und jetzt, wie die „Sonntagszeitung“ am 26. Mai 2024 berichtet, fordert auch der Walliser SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor, dass die Beleidigung der Schweizer Flagge zukünftig in jedem Fall bestraft werden solle. Ein Strafmass, welches nicht einmal in den USA gilt, einem Land, in dem Patriotismus beileibe nicht gerade klein geschrieben wird.

Wir leben in seltsamen Zeiten. Menschen darf man beleidigen, man darf sogar fordern, sie sollen „brennen“. Fahnen aber soll man nicht mehr länger beleidigen dürfen. Sind Fahnen auf einmal wichtiger als Menschen? Unwillkürlich denke ich an die Bilder von ukrainischen Dörfern, welche von russischen Truppen besetzt waren. Als sie von ukrainischen Truppen wieder zurückerobert und dabei vollständig zerstört worden waren, wurde über ihren Ruinen meist als erstes eine grosse ukrainische Flagge aufgepflanzt. Das Einzige, was sich auf den triumphal gezeigten Bildern der „befreiten“ Dörfer noch bewegte, war die Flagge im Wind – das Leben der Menschen, die früher in diesen Häusern gewohnt hatten, war dagegen vollständig ausgelöscht. Hauptsache, die Dörfer bzw. das, was von ihnen übrig geblieben war, befand sich wieder auf dem eigenen Territorium. Ich denke auch an die erste Mondlandung. Auch auf jenen Bildern, die über die Medien der ganzen Welt verbreitet wurden, schien die auf dem Mond aufgepflanzte US-Flagge etwas vom Wichtigsten zu sein. Und dann sehe ich auch die Sportlerinnen und Sportler vor mir, die sich bei internationalen Wettkämpfen nach einer siegreich bewältigten Disziplin von oben bis unten in eine überlebensgrosse Fahne ihrer Nation einhüllen und so dann vor dem frenetisch klatschenden Publikum ihre Ehrenrunden drehen.

Wenn Nationalfahnen eine so geradezu heilige Bedeutung bekommen – und es liessen sich unzählige weitere Beispiele anfügen -, dann verstehe ich die Jungsozialistin, welche das zum „Kotzen“ findet, nur allzu gut. Denn Fahnen sind immer Ausdruck von Nationalismus, der nur allzu schnell in jene Übersteigerung zu kippen droht, welche dann in letzter Konsequenz im Kampf der vermeintlich „Guten“ gegen die vermeintlich „Bösen“ selbst nicht vor der Auslöschung unzähliger Menschenleben zurückschreckt. Fahnen und anderen Symbolen für Patriotismus und Nationalismus gegenüber kann man nicht genug kritisch sein. Besser als Fahnen zu heiligen, täten wir daran, uns eine Welt ohne Fahnen, ohne engstirnigen Nationalismus und ohne staatliche Grenzen vorzustellen, sind wir doch nicht in erster Linie Angehörige eines bestimmten Staates, sondern in erster Linie Bewohnerinnen und Bewohner eines uns allen gemeinsam geschenkten Planeten, für den wir auch, über alle Grenzen hinweg, die uns künstlich voneinander zu trennen versuchen, gemeinsam verantwortlich sind.

„Der Erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab“, sagte Jean-Jacques-Rousseau, „und der auf den Gedanken kam zu sagen, dieses Stück Land gehöre ihm, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken wäre dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte, sich zu hüten, dem Betrüger Glauben zu schenken, denn niemand darf vergessen, dass zwar die Früchte allen gehören, die Erde aber niemandem“.

Ich träume von einer Zeit, in der freche, mutige und auf den ersten Blick irritierende oder gar verstörende Aussagen junger, noch nicht vollkommen angepasster Menschen nicht mehr dazu führen, möglichst rasch zum Straf- und Disziplinierungsbuch zu greifen, sondern dazu, eigene Denk- und Verhaltensmuster kritisch zu hinterfragen. Wie der Fall der Walliser Jungsozialistin zeigt, hat jedoch die Disziplinierungskeule schon bestens funktioniert: Die 28Jährige hat die Verwaltung ihrer Social-Media-Konten inzwischen vorübergehend jemand anderem übergeben und will zu ihrer damaligen Aussage, sie fände eine so grosse Anzahl von Schweizer Fahnen „zum Kotzen“, heute nicht mehr Stellung nehmen.

Den SVP-Mann wird es freuen. Wie zahlreiche Vorfälle gezeigt hätten, so wird er im Artikel der „Sonntagszeitung“ zitiert, sei die Flagge in der Schweiz „zu wenig geschützt“. Das soll sich möglichst bald ändern. Dann, hurra, werden Flaggen sogar besser geschützt sein als jene rund 25‘000 Jugendlichen, die jährlich von zuhause oder aus Heimen ausreissen, im Alter oft schon ab elf Jahren selbst mitten im Winter auf offener Strasse übernachten, dabei Drogen- und Menschenhändlern hilflos ausgeliefert sind und oft sogar für immer spurlos verschwinden. Um sich dieses Problems auf politischer Ebene anzunehmen, bräuchte es erhärtete statistische Daten – so lange diese fehlen, können keine entsprechenden Prozesse in Gang gebracht werden. Im Wissen darum und im Wissen um die Dringlichkeit des Problems, haben Menschenrechtsorganisationen schon vor längerer Zeit den Bundesrat aufgefordert, eine Erhebung der notwendigen Daten in Auftrag zu geben – bis heute ist der Bundesrat nicht auf dieses Anliegen eingetreten. Vielleicht wird er ja zuvor noch darüber befinden, ob die Schweizer Flagge zukünftig unter höheren Schutz gestellt werden soll…

Fragwürdige Aussagen eines Universitätsprofessors über die „Naivität“ der propalästinensischen Protestbewegung…

Den Gegnern propalästinensischer Proteste scheint jedes Mittel recht zu sein, diese in ein schiefes Licht zu rücken. So steht ein ganzseitiges Interview mit Johannes Saal, Religionssoziologe und Politikwissenschaftler an der Universität Luzern, im „Tagesanzeiger“ vom 18. Mai 2024 unter dem Titel „Viele junge Menschen sind sehr naiv“. Saal gesteht den jungen Menschen zwar „gute Absichten“ zu, tatsächlich aber seien die meisten von ihnen „sehr naiv“ und hätten sich noch nie ernsthaft „mit diesem Konflikt auseinandergesetzt“. Gerade diese „Unwissenheit“, so Saal, mache junge Menschen „für gewisse Narrative anfällig“.

Was für eine Anmassung, ist es doch wahrscheinlich gerade umgekehrt: Die allermeisten der in dieser Protestbewegung aktiven jungen Menschen sind sehr wohl über die Hintergründe des Nahostkonflikts informiert – im Gegensatz zur Mehrheit der älteren Bevölkerung, die über Jahrzehnte sehr einseitig nur aus der Sicht Israels informiert worden ist. So zum Beispiel haben 70 Prozent der deutschen Bevölkerung noch nie etwas von der Nakba, der systematischen und gewaltsamen Vertreibung des palästinensischen Volks aus seinem ursprünglichen Lebensraum ab 1948, gehört, eine entsprechende Umfrage in der Schweiz käme wohl zu einem ähnlichen Ergebnis.

Weiter sieht Saal einen wesentlichen Unterschied zwischen den Protesten gegen den Vietnamkrieg und den aktuellen Protesten gegen den Krieg in Gaza darin, dass der Vietnamkrieg „deutlich mehr zivile Opfer“ gefordert hätte. Als wären über 33‘000 zivile Opfer im Gazakrieg immer noch nicht genug, um in aller Deutlichkeit und Schärfe ein Ende dieses Verbrechens zu fordern. Was für ein zynisches Argument gegen eine Rechtfertigung der propalästinensischen Protestbewegung!

Zudem spricht Saal im Zusammenhang mit dem „Israel-Palästina-Konflikt“ von einem „asymmetrischen Konflikt“, weil in diesem „terroristische Organisationen wie die Hamas“ und ein „Staat“ gegeneinander kämpfen. Im Klartext: Etwas „Illegales“, nämlich eine Terrororganisation, kämpft gegen etwas „Legales“, nämlich gegen einen Staat. In einem Wisch wirft Saal sämtliche historischen Tatsachen über Bord: Dass man einen Staat, der aufgrund jahrzehntelanger illegaler Landnahme entstanden ist, wohl kaum als etwas „Legales“ bezeichnen kann. Dass man den Völkermord, den Israel derzeit am palästinensischen Volk im Gazastreifen begeht, ehrlicherweise genauso als „Terrorismus“ bezeichnen müsste. Und dass dieser Konflikt zwar tatsächlich „asymmetrisch“ ist, aber genau im entgegengesetzten Sinn, steht doch ein seit über 70 Jahren diskriminiertes, verfolgtes, entrechtetes und seiner existenziellen Grundlagen beraubtes Volk einem Staat gegenüber, der von der weltweit mit Abstand stärksten Militärmacht hochgerüstet worden ist. Und wie wenn das alles nicht schon genug wäre, wärmt Saal an dieser Stelle einmal mehr das Argument auf, dass man den „jetzigen Krieg“ auch als „Reaktion auf den Angriff vom 7. Oktober 2023“ sehen könne – offensichtlich reicht sein Gedächtnis nicht weiter zurück als bis zu diesem Datum.

„Ich bezweifle, dass diese Proteste grosse gesellschaftliche Transformationsprozesse in Gang bringen“, behauptet Saal weiter. Wiederum eine höchst willkürliche Aussage, die er dann damit begründet, dass diese Proteste auch auf „andere linke Anliegen“ wie „Klimabewegung, Rassismus, den feministischen Diskurs und sogar die Genderfrage ausgeweitet werden können“, um sich damit geradezu selber zu widersprechen, bildet doch genau diese zunehmende weltweite Vernetzung unterschiedlicher, aber letztlich für die gleichen humanitären Grundanliegen einstehenden Protestbewegungen den grössten Anlass zu Hoffnung, grosse gesellschaftliche Transformationsprozesse in Gang bringen zu können.

Saal scheint auch in hohem Masse lernresistent zu sein. Seit Monaten erklären selbst angesehenste jüdische Persönlichkeiten, unter ihnen nicht wenige Holocaust-Überlebende, dass Antisemitismus in Form einer Diskriminierung von Menschen jüdischer Abstimmung und die Kritik an der derzeitigen israelischen Regierungspolitik nichts miteinander zu tun haben und man ja dann, wenn es tatsächlich das Gleiche wäre, auch all jene Jüdinnen und Juden, welche die Politik des Netanyahu-Kabinetts kritisieren, ebenfalls als Antisemitistinnen und Antisemitisten bezeichnen müsste. Saal scheint nichts davon gehört zu haben und sagt, den propalästinensischen „Akteuren“ sei „eine ganz klar antizionistische Ausrichtung bis hin zum offenen Antisemitismus“ gemeinsam. Er suggeriert damit, dass es so etwas gibt wie einen fliessenden Übergang von einem zum andern, während sich jedoch in Tat und Wahrheit die allermeisten in der Protestbewegung Aktiven klar und deutlich von jeglichem Antisemitismus distanzieren.

Saal empfindet die „jetzigen Protestformen“ nicht zuletzt auch deshalb „grundsätzlich kritisch“, weil durch sie der „universitäre Ablauf gestört“ wird. Saal scheint noch nicht begriffen zu haben, dass die Zeiten, da sich die Wissenschaften aus allem, was mit Politik zu tun hat, herauszuhalten versuchen, hoffentlich für immer vorbei sind. Denn auch das angebliche „Heraushalten“ aus der Politik unter dem Vorwand scheinbarer „Neutralität“ und „Objektivität“ ist hochpolitisch, in dem Sinne nämlich, dass bestehendes Unrecht und bestehende gesellschaftliche Missstände und Fehlentwicklungen dadurch als unveränderbar und unbeeinflussbar hingenommen und damit zementiert werden.

Schliesslich schlägt Saal dem Fass noch das letzte Stück Boden aus, indem er eine „wehrhaftere Demokratie“ fordert und damit meint, dass man „politische Meinungen, die diametral zu unseren Grundwerten der freien, liberalen Gesellschaft stehen, klar und deutlich benennen und verurteilen“ müsse. Mit anderen Worten: Die sich für ein schnellstmögliches Ende des Völkermords im Gazastreifen engagierende weltweite Protestbewegung stehe im Gegensatz zu den Grundwerten einer freien Gesellschaft und müsse deshalb verurteilt werden. Da findet man kaum mehr Worte und kann sich nur fragen, was sich die Redaktionsmitglieder des „Tagesanzeigers“, immerhin einer der grössten und wichtigsten Schweizer Tageszeitungen, wohl gedacht haben mögen, als sie sich entschieden haben, Johannes Saal eine ganze Zeitungsseite zur Verfügung zu stellen, um so unausgegorene, widersprüchliche und von gefährlichen Vereinfachungen nur so strotzende „Weisheiten“ zu verbreiten.

Nicht die jungen Menschen, die sich an den propalästinensischen Protesten beteiligen, sind naiv. Wenn jemand naiv ist, dann ist es ein Universitätsprofessor, der nicht zur Kenntnis genommen hat, dass minimales Geschichtsbewusstsein auch bei weiten Teilen der älteren Bevölkerungsgruppe nur sehr mangelhaft vorhanden ist. Der 33‘000 Opfer des Gazakriegs durch den Vergleich mit den Opfern des Vietnamkriegs relativiert und damit verharmlost. Der das Machtverhältnis zwischen dem palästinensischen Volk und dem Staat Israel ins Gegenteil verkehrt. Der so tut, als hätte die Vorgeschichte des heutigen Konflikts am 7. Oktober 2023 begonnen und nicht schon 1948 mit der ethnischen „Säuberung“ Palästinas. Der ohne stichhaltige Begründung der propalästinensischen Protestbewegung nicht nur die Legitimität, sondern auch jegliche gesellschaftliche und politische Wirkung abspricht. Der mit dazu beiträgt, Antisemitismus und Kritik an der derzeitigen israelischen Regierungspolitik unzulässig miteinander zu vermischen. Der immer noch nicht begriffen hat, dass es höchste Zeit ist für die Wissenschaften, von ihrem Sockel vermeintlicher „Objektivität“ herunterzusteigen und sich in die Alltagspolitik einzumischen. Und der allen Ernstes die Forderung erhebt, Protestbewegungen wie jene gegen den Völkermord in Gaza seien im Namen der „Demokratie“ unmissverständlich zu verurteilen und, was er zwar nicht sagt, aber die logische Folge davon wäre, auch zu verbieten.

Es begann mit einem gestohlenen Schirm und endete mit der Erkenntnis, dass sich die Welt jeden Tag ein klein wenig verändern lässt…

Alles begann mit einem gestohlenen Schirm. Ich hatte ihn erst kürzlich gekauft und war richtig stolz darauf: So ein schöner, edel aussehender schwarzer Schirm mit einem Muster aus winzigen goldenen Würfeln und mit einem Griff aus echtem Holz. Vor dem Einkaufen im Supermarkt hatte ich ihn in den Schirmständer gestellt, doch nach dem Einkaufen war er spurlos verschwunden. Der erste Impuls: ärgerlich, einfach nur ärgerlich, der wunderschöne Schirm, einfach weg. Doch erstaunlicherweise war der Ärger schon kurz darauf verflogen, spurlos verschwunden wie der Schirm. Und ich sagte mir: Er ist ja nicht weg, es hat ihn bloss jemand anders. Und dieser andere ist jetzt vielleicht ebenso stolz auf den wunderschönen Schirm, wie ich zuvor auf ihn gewesen war. Und auf einmal war alles ganz leicht. Ich ging die fünf Minuten zum nächsten Schirmgeschäft, ein besonderes, nicht alltägliches Gefühl, so ohne Schirm durch den prasselnden Regen zu gehen. Zuerst dachte ich, ich würde genau den gleichen Schirm noch einmal kaufen. Doch dann sah ich ihn: Feuerrot, dazwischen, sanft ineinanderfliessend, orange Flächen, darüber ein Muster aus unterschiedlich langen, wellenartigen Strichen, zwischen ihnen kleine Vögel, als flögen sie zwischen Kontinenten hin und her. Es war Liebe auf den ersten Blick. Als ich ihn dann im Regen aufspannte und nach Hause ging, war alles wieder gut: Irgendwer besass jetzt einen wunderschönen schwarzen Schirm. Das kleine Schirmgeschäft mit der sympathischen Verkäuferin, bei dem ich mich, angesichts des gnadenlosen Konkurrenzkampfs mit dem Internet, sowieso schon lange gewundert habe, dass es nicht längst schon dichtmachen musste, hatte wieder ein paar Franken mehr in der Kasse. Und ich habe jetzt den schönsten Schirm, den ich jemals gehabt habe…

Als ich die Geschichte am nächsten Tag einer guten Freundin erzählte, sagte sie: Wunderbar, das wäre mir nicht in den Sinn gekommen, als mir kürzlich, ebenfalls beim Einkaufen, meine eben erst gekaufte Regenjacke gestohlen worden war. Aber ja, das könnte man versuchen: Irgendwie lässt sich vielleicht doch mit ein wenig Phantasie etwas Ärgerliches in etwas Erfreuliches verwandeln. Ich jedenfalls, sagte sie, habe jetzt gerade das Gefühl, in meinem Kopf sei eine alte Denkverbindung unterbrochen worden und eine neue entstanden. So, als wäre ein Schalter umgelegt worden.

Es ist einfach. Man kann es üben und jeden Tag ein bisschen etwas dazu lernen. Als etwa zwei Wochen später die Zeitung, die normalerweise etwa um halb zwölf kommt, um zwölf immer noch nicht in meinem Briefkasten lag, hätte ich mich auch wieder ärgern können. Doch im gleichen Augenblick sah ich vor meinem inneren Auge die Pöstlerin, wie sie wohl jetzt gerade irgendwo in der Stadt von Briefkasten zu Briefkasten hetzt. Vielleicht war ja heute besonders viel Post auszutragen. Oder vielleicht war jemand krankheitshalber ausgefallen. Und schon war das Mitleid mit der gestressten Pöstlerin ungleich viel grösser als der Ärger, dass ich meine Zeitung nun erst eine Stunde später würde lesen können. Als sie kurz darauf auftauchte und ganz offensichtlich ausser Atem war, erfüllte mich ihr freundliches Lächeln, das sie mir dennoch schenkte, mit umso grösserer Dankbarkeit. Und alles war gut.

Gemeinschaftliches, ganzheitliches, solidarisches, menschenverbindendes Denken scheint über Jahrzehnte immer mehr ins Hintertreffen geraten zu sein. Wenn die Leute etwas kaufen, reden sie immer vom „Preis-Leistungs-Verhältnis“, als wäre das eine in Stein gemeisselte, unumstössliche, nahezu religiöse Wahrheit. Dabei kann etwas doch nur dann gleichzeitig qualitativ so viel besser und gleichzeitig so viel billiger sein als etwas anderes, wenn irgendeine Form von Ausbeutung dahinter steckt, Ausbeutung auf Kosten der Natur, auf Kosten zukünftiger Lebensgrundlagen oder auf Kosten menschenunwürdiger Arbeitsbedingungen. Eine auf unersättliche Profitmaximierung und endloses Wachstum ausgerichtete Wirtschaft produziert so unsinnige Dinge wie künstliche Spielzeugtiere aus Stoff oder Plastik, die fast alles können, was richtige Tiere auch können, und verprasst hierfür Ressourcen, Wasser und Energie ohne jegliches Mass in einer Welt, in der gleichzeitig jeden Tag rund 150 echte Tiere und Pflanzen für immer aussterben. Aktionäre von Rüstungsfirmen scheffeln zu ihrem schon in unsäglichem Überfluss vorhandenen Geld weiteres Geld in noch grösserem Überfluss hinzu, einfach dadurch, dass Abertausende namenloser Menschen auf irgendwelchen fernen Schlachtfeldern ihr Leben opfern müssen oder für den Rest ihres Lebens verstümmelt bleiben. Flüchtlinge aus Ländern, die über Jahrhunderte ausgebeutet wurden und sich jetzt einen winzigen Teil des ihnen Geraubten wieder verzweifelt zurückzuholen versuchen, werden kriminalisiert und die, welche an all diesen Verbrechen Schuld sind, werden als Helden gefeiert. Alles ist zersplittert, alles ist von allem getrennt, alle globalen und historischen Zusammenhänge gekappt, alle Verbindungen zwischen Tätern und Opfern unsichtbar gemacht. Die Saat ist aufgegangen. Was die neoliberale Vordenkerin Margret Thatcher 1987 verkündete, nämlich, dass es keine Gesellschaften gäbe, sondern nur Individuen, ist tausendfach zur „Normalität“ geworden. Und nur ein radikales Umdenken, das Springen vom Denksystem des Egoismus in das Denksystem der Gemeinschaftlichkeit, kann uns die Augen öffnen für eine Zukunft, in der die Menschen wieder gelernt haben werden, dass es niemandem wirklich gut gehen kann, wenn es nicht allen anderen auch gut geht.

Letzten Dezember musste ich mich einer Hüftoperation unterziehen. In der ersten Nacht nach der Operation hatte ich so grosse Schmerzen, dass ich unmöglich schlafen konnte. Es wäre weit mehr als je Grund gewesen, mich aufzuregen, mich zu ärgern, nach stärkeren Schmerzmitteln zu rufen oder mich beim Pflegepersonal zu beschweren oder gar die Vermutung zu äussern, es könnte ja bei der Operation vielleicht etwas schiefgelaufen sein. In diesem Augenblick traten mir die Bilder aus dem Gazastreifen vor die Augen, die schmerzverzerrten Gesichter von fünf- oder sechsjährigen Kindern, denen ohne Narkose Arme oder Beine abgetrennt werden, Ärzte und Ärztinnen, die bis zur Erschöpfung Tag und Nacht ohne Schlaf zwischen auf dem nackten Boden liegenden schreienden Kindern hin- und herrennen, um sie wenigstens mit dem Allernötigsten zu versorgen, während Flugzeuge mit Bomben und Raketen über sie hinwegdonnern. Und ja, es ist wahr: In diesem Augenblick spürte ich keine Schmerzen mehr, fühlte mich nur unendlich privilegiert und unendlich traurig, dass zur gleichen Zeit andere Menschen so unsäglich leiden müssen, nur weil sie zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort geboren wurden. Und jetzt konnte ich nicht nur wegen meiner Schmerzen nicht mehr schlafen, sondern vor allem auch wegen dieser Traurigkeit. Ich nahm mein Handy hervor, klickte mich bei X ein und schrieb während etwa drei Stunden viele meiner wohl mitfühlendsten Tweets, die ich je geschrieben habe. Alle Müdigkeit war weg. Durch die Nacht hindurch fühlte ich mich mit den Kindern in Gaza und allen anderen weltweit leidenden Menschen zutiefst verbunden. Und ich wusste, diese Nacht würde ich nie, niemals vergessen.

Vor ein paar Tagen wurde mir, während ich zum Einkaufen in der Stadt war, die Peace-Fahne von meinem Haus abgerissen. Wieder hätte ich allen Grund gehabt, mich zu ärgern. Doch auch hier brauchte es nur einen kurzen Moment der Besinnung. Was könnte einen Menschen dazu bringen, eine Peace-Fahne von einem fremden Haus abzureissen, woher könnte ein solcher Akt offensichtlich blinder Wut kommen, was für eine Lebensgeschichte könnte dahinter stecken? Ich möchte es wissen. Ich habe am Briefkasten ein Plakat aufgehängt und einen Leserbrief an die Lokalzeitung geschickt, um die Person, die ja offensichtlich mit ihrer „Tat“ etwas sagen wollte, zu einem Kaffee einzuladen, um miteinander herauszufinden, ob Krieg unvermeidlich ist, eine Welt ohne Kriege denkbar wäre und was wir dafür oder dagegen tun könnten.

Vielleicht könnte man so etwas sogar als „Sozialismus“ bezeichnen. Nicht ein von oben verordnetes und aufgezwungenes Denksystem, sondern etwas, was von unten langsam wachsen müsste, aus dem Bewusstsein, dass alles mit allem zusammenhängt, dass alle für alle verantwortlich sind, dass alles allen gehört, dass alle von allen etwas lernen können. Eigentlich müssten wir nur in die Natur schauen und von ihr lernen. Unter der Erdoberfläche, unsichtbar, sind alle Bäume mit allen anderen Bäumen verbunden, durch Pilzgeflechte unvorstellbaren Ausmasses, über welche gegenseitig beständig Nahrung ausgetauscht wird und unaufhörlich den Schwächeren von den Stärkeren geholfen wird in einer Art und Weise, die man im tiefsten Sinne als „Liebe“ bezeichnen könnte. Bevor wir Menschen uns als „Krone der Schöpfung“ bezeichnen dürfen, gibt es zweifellos noch viel, noch sehr viel zu tun. Aber es ist möglich, und an jedem einzelnen Tag können wir uns auf diesem Weg ein bisschen weiter in die Zukunft bewegen…

Lieber Herr Sutter, vielen Dank für Ihre wunderschöne Geschichte, Sie beschreiben, wie das Gehirn den natürlichen empathischen Zustand lernen kann. Babys kommen alle mit diesem Urzustand auf die Welt, später lernen sie feindselig zu sein. Mögen viele von Ihrer Geschichte lernen.     (Dr. Gertrud Müller, Psychoonkologin)

Die „Rundschau“ am Schweizer Fernsehen vom 8. Mai 2024: Ein Lehrstück in Sachen Politpropaganda und Demagogie unter dem Deckmantel angeblich objektiver Informationsvermittlung…

Unter dem Titel „Linksextrem und gewaltbereit: Recherchen von der Demo-Front“ war der Beitrag der „Rundschau“ vom 8. Mai 2024 im Fernsehprogramm von SRF1 angekündigt worden: Und genau so, wie es der Titel mit der Verknüpfung zweier Begriffe, die man zunächst einmal klar definieren und voneinander abgrenzen müsste, versprochen hatte, ging es dann auch rund 20 Minuten lang weiter: Ein regelrechtes Lehrstück, wie man Politpropaganda und Demagogie auf so raffinierte Weise betreiben kann, dass die, welche sich dies alles vor dem Bildschirm zu Gemüte führen, dennoch vermutlich grossmehrheitlich das Gefühl haben, objektiv, umfassend und absolut wahrheitsgetreu informiert worden zu sein…

Es beginnt schon mit der Anmoderation von Gion-Duri Vincenz, in welcher dieser behauptet, es sei in der Schweiz in den letzten Jahren eine „zunehmende linksextreme Gewalt“ festzustellen, was sich im Verlaufe der Sendung zu einem späteren Zeitpunkt als Falschaussage herausstellen wird, aber da ist die schlagkräftige Aussage schon längst in den Köpfen angekommen und auch durch eine kurz eingeblendete Statistik wohl kaum mehr wegzukriegen. Und so geht es weiter, Schlag auf Schlag, Bild um Bild, aus dem Zusammenhang gerissene Wortfetzen, unbedachte und vorschnelle Verknüpfung von Begriffen, die nichts miteinander zu tun haben, das Ausblenden aller tiefergehenden Zusammenhänge. Der Bericht beginnt mit den „schwersten Ausschreitungen seit Jahren“, anlässlich der Feier zum 1. Mai an der Berner Reitschule, begangen von „Gewalttätern, die der linksextremen Szene zugeordnet werden“: Polizeifahrzeuge, Rauchschwaden, brennende Holzpalette, dazu der Kommentar, die Polizei sei mit Steinen, Laser und Feuerwerkskörpern angegriffen worden, es hätte elf Verletzte gegeben und drei von ihnen hätten ins Spital eingeliefert werden müssen. Man hätte ja auch die eine oder andere auf den Transparenten gezeigte Parole zeigen, sich mit deren Inhalt auseinandersetzen oder gar der Frage nachgehen können, wie es überhaupt dazu gekommen ist, den 1. Mai weltweit als „Tag der Arbeit“ zu feiern und was für eine hochaktuelle Bedeutung er heute immer noch hat, aber nein, effekthaschende Bilder von wild herumrennenden Polizistinnen und Polizisten, in die Höhe schiessenden Rauchpetarden und vermummten Gesichtern Demonstrierender verkaufen sich da viel, viel besser…

„In Winterthur“, so hören wir, „freuen sich Parteien und Gewerkschaften auf den Umzug, aber weiter hinten freut man sich auf Randale.“ Und wieder wird nicht auf die politischen Forderungen der Parteien und Gewerkschaften eingegangen, obwohl deren Vertreterinnen und Vertreter die weitaus überwiegende Mehrheit des Demonstrationszugs bilden, sondern einzig und allein auf die „Randale“ einer Minderheit, denn nur die bringen die nötigen Einschaltquoten. Gezeigt werden „vermummte Figuren“ unter einem riesigen weissen Tuch, zwei Hände, die den Blick der Fernsehkamera auf das Geschehen zu versperren versuchen, sowie Sprayereien an Wänden und Fassaden entlang der Kundgebungsroute.

Ortswechsel zu den Feierlichkeiten in St. Gallen. Dort hat man offensichtlich keine Rauchbomben und Sprayereien gefunden, dafür eine 22jährige Aktivistin, die, im Demonstrationszug mitmarschierend, aus Leibeskräften immer wieder das Wort „Revolution“ skandiert, was für viele Fernsehzuschauerinnen und Fernsehzuschauer vermutlich schon genug des Teufels ist, auch wenn heute in sämtlichen Geschichtsbüchern nachzulesen ist, dass es ohne die Französische Revolution von 1789 mit ihren Forderungen nach Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität kaum jene moderne Demokratie gäbe, auf die wir heute alle so stolz sind. Miriam Rizvi, so erfahren wir schon mal prophylaktisch, ist in St. Gallen eine „höchst umstrittene Figur“. Und zwar deshalb, weil sie des Öfteren im „Schwarzen Block“ mitmarschiere und gleichzeitig als gewähltes Mitglied im St. Galler Stadtparlament sitze. Die Rundschau-Macher können sich offensichtlich nicht vorstellen, dass man gleichzeitig mit aller bis an die Grenzen oder darüber hinaus gehenden Leidenschaft für eine gerechtere Welt kämpfen kann und gleichzeitig im Parlament mitarbeitet, um wenigstens einen winzigen Teil davon in die Realität umzusetzen. Eigentlich bewundernswert, wenn Miriam Rizvi im Interview sagt, sie sitze auch deshalb im Parlament, weil sie auf diese Weise mehr über ihre „Haltungen lernen“ könne. Aber selbst das wird nicht gewürdigt, würde es doch nicht in das ausschliesslich negative Bild passen, das man offensichtlich vermitteln möchte. Und so greift der Kommentator völlig aus dem Zusammenhang gerissen zum nächsten gänzlich unlogischen Satz, in dem er sagt, dass solche „Haltungen auch mal zu illegalen Aktionen führen“ können, obwohl Rizvi vermutlich genau das Gegenteil gemeint hat. Offensichtlich scheint sich der Kommentator seiner Sache dann aber doch nicht ganz so sicher zu sein und zeigt dann im nächsten Bild den nackten Fuss von Rizvi auf dem Boden des Ratssaales, wahrscheinlich um all jene ins Boot zu holen, die definitiv der Meinung sind, so etwas gehöre sich auf gar keinen Fall. Um dann mit einem Artikel aus dem „Blick“ nachzudoppeln, in dem zu lesen ist: „Linksaussen-Politikerin soll Hausfassaden mit Graffiti verschandelt haben“, sie sei festgenommen worden und es liege gegen sie ein Strafbefehl vor. Doch erneut scheint der Kommentator der Wirkung dieser Worte nicht ganz zu trauen, sonst würde er wohl nicht die beiden Begriffe „festgenommen“ und „Strafbefehl“ aus dem Text herauspicken, sie bis zu bildschirmfüllender Grösse aufblasen und zusätzlich mit einer bedrohlich klingenden Männerstimme aus dem Off unterlegen.

In der nächsten Sequenz sehen wir ein Transparent über einem Firmenschild des Holcim-Konzerns. „Auch diese Plakataktion auf dem Gelände eines Kieswerks“, so vernehmen wir, „wird Miriam Rizvi zugeschrieben“, ebenso wie eine Waldbesetzung im Aargau, die im nächsten Bild zu sehen ist: Eine Gruppe Jugendlicher prügeln sich zwischen verschneiten Bäumen mit einem Polizisten. Rizvi: „Wir wollten die Rodung dieses Waldes stoppen, um unser Klima zu schützen.“ Wäre nicht spätestens jetzt der Moment gekommen, kurz innezuhalten und der Frage nachzugehen, welchen Einfluss die Rodung von Wäldern auf die Klimaerwärmung hat und wie man das möglicherweise verhindern könnte? Aber nein, lieber so schnell wie möglich weiter zum nächsten Bild: eine rote Juso-Fahne, dazu der Kommentar: „Wie viel Radikalisierung steckt in den Juso?“

Diese Frage versucht die nächste Sequenz zu beantworten. Wir sind bei der Delegiertenversammlung der Juso in Frauenfeld. Melanie Del Fabro, eine 18jährige Gymnasiastin und Vorstandsmitglied der Juso Aargau, sagt: „In einer Welt, wo sich Krisen immer mehr zuspitzen und die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, in einer Welt, die vom Klimawandel bedroht ist, ja, in einer solchen Welt braucht es radikale Lösungen. Ziviler Ungehorsam gehört zu einer gelebten Demokratie.“ Was für einen Steilpass liefert die 18Jährige, dem man nun ernsthaft nachgehen könnte, auch durch eine sorgfältige Abgrenzung zwischen „radikal“ und „extrem“, was ganz und gar nicht das Gleiche ist, oder durch eine fundierte Diskussion darüber, was „ziviler Ungehorsam“ konkret bedeuten kann – immerhin war es die Methode, mit der Mahatma Gandhi ganz Indien von der britischen Kolonialherrschaft befreite und Martin Luther King die Gleichberechtigung der schwarzen Bevölkerung in den USA erkämpfte. Aber nein, für solcherlei ist keine Zeit. Lieber eilt man in Sekundenschnelle, nur kurz unterbrochen durch irgendein grünrot aufblitzendes Zerrbild, dessen Inhalt nicht zu deuten ist, weiter zum nächsten Hammerschlag: Wieder grimmig dreinblickende Polizeibeamte, der Schwarze Block, Rauchpetarden und dazu der Kommentar: „Linker Aktivismus ist nicht nur ziviler Ungehorsam, oft mündet er in Gewalt, Auseinandersetzungen mit der Polizei und Sachschäden.“ Hierzu sieht man eine Strasse, auf der neben einem Polizeiauto ein Knallkörper explodiert, und bekommt dazu die Information, dass die durch linke Demos verursachten Kosten allein im Kanton Zürich 2022 eineinhalb Millionen Franken verschlungen hätten, sechs Mal mehr als im vorangegangenen Coronajahr, was sich ja eigentlich relativ simpel erklären lassen würde.

Als nächstes werden wir mit dem Lagebericht 2023 des Bundesnachrichtendienstes konfrontiert, wo Folgendes zu lesen ist: „Es ist auch mit einer Zunahme direkter Gewalt gegen Menschen, namentlich gegen als dem Rechtsextremismus zugehörig angesehene Personen und gegen Sicherheitskräfte zu rechnen.“ Hat der Bundesnachrichtendienst hellseherische Fähigkeiten oder geht es einfach einmal mehr darum, Ängste zu schüren und den Teufel an die Wand zu malen? Die kurz darauf eingeblendete Statistik zeigt nämlich, dass die Anzahl linksextremer Vorfälle seit 2016 mehr oder weniger konstant geblieben ist und es 2018 sogar mehr Vorfälle gab als vier Jahre später. Doch die paar trockenen, nur kurz eingeblendeten Zahlen werden wenig Wirkung haben gegen die Flut von Bildern und Schlagwörtern, mit denen wir nun schon seit einer Viertelstunde bombardiert worden sind.

Weiter geht es zur HSG, der in linken Kreisen berüchtigten St. Galler Kaderschmiede für die zukünftige Wirtschaftselite. Angesprochen auf ein Flugblatt der Juso St. Gallen, auf dem die „Sprengung“ der HSG gefordert wird, meint Miriam Rizvi, solche Ausdrücke seien eine Folge der Verzweiflung und der Ohnmachtsgefühle gegenüber einem System, auf das man kaum Einfluss nehmen könne. Sie lehne aber, so Rizvi, jegliche Gewalt an Lesewesen in aller Entschiedenheit ab. Zugegebenermassen könnte man an dieser Stelle darüber diskutieren, ob die Forderung nach einer „Sprengung“ auf diesem Flugblatt tatsächlich angemessen sei. Aber mindestens so intensiv müsste man dann darüber diskutieren, ob das unerschütterliche Festhalten an einem Wirtschaftssystem, von dem eine Minderheit so masslos profitiert und unter dem eine immer grössere Anzahl von Menschen ebenso masslos leiden, junge, noch an friedliche und gerechte Zukunft glaubende Menschen nicht zwangsläufig so weit treiben muss, dass sie ihre Verzweiflung gar nicht mehr anders auszudrücken vermögen als dadurch, dass sie sich auf Strassen kleben, Wälder besetzen oder Mauern und Hausfassaden besprayen.

„Der Kapitalismus muss sterben, damit wir leben können“, so Juso-Präsident Nicola Siegrist anlässlich einer Juso-Delegiertenversammlung, die uns als nächstes gezeigt wird. Fürwahr radikale Worte, aber auch sie könnten Anlass zu einer ernsthaften und tiefschürfenden Debatte sein. Doch lieber wird jetzt der Rucksack der 18jährigen Melanie Del Fabro eingeblendet, auf dem ein Emblem der antifaschistischen Aktion 161 Crew aufgeklebt ist, unmittelbar darauf werden antifaschistische Gewaltexzesse gezeigt, die in Deutschland und Frankreich begangen wurden. Diese Bilder werden ihren Eindruck zweifellos nicht verfehlen und sich mit allem anderen, was in dieser Reportage bisher schon gezeigt wurde, zu dem gewünschten Feindbild linken politischen Engagements vermischen: erbarmungslos in aller Öffentlichkeit zusammengeprügelte Jugendliche, von blutigen Striemen übersäte Rücken, mit Messern zerschnittene Gesichter, dick und blau angeschwollene Augen, Köpfe voller Platzwunden – als wäre es für über 99 Prozent oder vermutlich sogar 100 Prozent aller hierzulande politisch aktiver Linken nicht völlig selbstverständlich, sich von solchen Exzessen zu distanzieren und nicht einmal auf die Idee zu kommen, solche zu verüben.

Doch während „Gewalt“ von „unten“ in dieser Reportage ausführlichst dargestellt wird, haben wir vergebens auch nur einen einzigen Hinweis darauf gesucht, dass es eben auch Gewalt von „oben“ gibt, nur dass diese weitgehend unsichtbar ist und sich nicht so wie die Gewalt von „unten“ dermassen ausführlich darstellen und zerpflücken lässt. So dass bei den allermeisten, welche diese Sendung ohne kritisches Hinterfragen gesehen haben werden, zweifellos dieser Eindruck zurückbleiben wird: Daneben ist nicht ein Wirtschaftssystem, in dem Aktionäre von Rüstungsfirmen dadurch reich werden, dass unzählige andere Menschen getötet oder verstümmelt werden. Daneben ist nicht das Dogma unersättlicher Profitmaximierung, welches zur Folge hat, dass die Güter weltweit nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo sie am gewinnbringendsten verkauft werden können, sodass in den reichen Ländern des Nordens ein Drittel der Lebensmittel im Müll landen, während in den armen Ländern des Südens jeden Tag zehntausend Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Daneben ist nicht der Glaube an ein endloses Wirtschaftswachstum, der dazu führt, dass schon heute systematisch alle Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen unwiederbringlich zerstört werden. Daneben sind nur die, welche sich gegen all dies auflehnen, mit wieviel Leidenschaft und wieviel Verzweiflung auch immer.

Leid tun mir nicht nur all die unzähligen weltweiten Opfer der nahezu unsichtbaren kapitalistischen Systemgewalt, von denen niemand spricht. Leid tun mir vor allem auch all jene jungen Menschen wie Miriam Rizvi, die heute noch unbeirrt, bis zur Erschöpfung „Revolution“ skandierend, durch unsere Strassen ziehen, denn es ist zu befürchten, dass ihre Kraft, ihre Hoffnungen und ihre Visionen eines Tages, früher oder später, aufgebraucht sein werden, sie dann in Resignation, Hoffnungslosigkeit oder gar in Depressionen versinken könnten und dann niemand mehr da ist, um uns zu erinnern, dass die Welt auch ganz anders sein könnte, als sie heute ist. Und nicht zuletzt tun mir auch all die Medienschaffenden Leid, die wegen des gewaltigen Zeitdrucks, unter dem sie solche Sendungen produzieren müssen, gar nicht genug Ressourcen für sorgfältiges Recherchieren haben und zudem beständig den – wiederum durch das kapitalistische Konkurrenzprinzip bedingten – Druck im Nacken spüren, auf Teufel komm raus möglichst hohe Einschaltquoten zu erzielen, mit was für fragwürdigen Mitteln auch immer. Dann sollte man aber konsequenterweise lieber gar keine „Informationssendungen“ mehr machen als solche.

„Es gibt auffallende Ähnlichkeiten zwischen der politischen Zensur in westlichen Gesellschaften und der Unterdrückung der Meinungsfreiheit während der Herrschaft Mao Zedongs in China“, sagt der chinesische Künstler, Dissident und Systemkritiker Ai Weiwei, „und es besteht eine erschreckende Abneigung in der westlichen Gesellschaft, Fragen zu stellen oder sich auf Argumente einzulassen.“ Diese Einseitigkeit nehme er vor allem auch in den Medien wahr. Solange Weiwei seine Kritik gegen den chinesischen Einheitsparteistaat erhob, war der Westen voll des Lobes für ihn. Jetzt, wo er die gleiche Kritik gegen den Westen richtet, wird er verschwiegen. Der besagte Rundschau-Report ist nur eines von unzähligen Beispielen, wie aktuell seine Analyse ist. Denn eine Diktatur, die sich offen als solche bekennt, ist letztlich viel einfacher zu bekämpfen als ein Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, das sich offiziell als demokratisch bezeichnet, tatsächlich aber über genug raffinierte Instrumente der Meinungsbildung verfügt, um Meinungen, Denkmuster, Tatsachen und „Wahrheiten“ so darzustellen und so zurechtzubiegen, dass es für die Reichen und Mächtigen, die eben alles andere als eine „Revolution“ wollen, nur nicht allzu gefährlich wird…

Nachtrag am 21. Mai. Ich habe meine kritische Analyse der Sendung auch dem Fernsehen SRF direkt zukommen lassen. Urs Gilgen von der Rundschau-Redaktion hat dazu wie folgt Stellung bezogen: „Danke für Ihre ausführliche Rückmeldung zum Beitrag in der Rundschau. Wir hatten für den Beitrag eine ganz klare Frage: Wo grenzt sich die Juso ab von linksradikalen Methoden bis linksextremen Exzessen. Die gibt es nämlich durchaus. Ich garantiere Ihnen, ich habe dazu genug recherchiert und auch persönlich erlebt. Diese Fragestellung schien uns legitim, wir haben die gleiche Frage auch auf der rechten Seite gestellt – ohne Links- und Rechtsextremismus gleichzustellen. Und der Nachrichtendienst spricht ja durchaus von steigenden linksextremistischen Vorfällen. Wir haben es im Beitrag zitiert. Da es in der Juso Figuren gibt, die radikale Methoden befürworten, wollten wir wissen, wo da die Grenzen liegen. Da liegt es in der Natur der Sache, dass wir auch linksradikale Methoden zeigen. Die befragten Personen hatten allesamt die Möglichkeit, sich zu artikulieren. Und wenn ich Ihre Zeilen lese, dann merke ich, dass deren Botschaft bei Ihnen angekommen ist. Dass wir dann nicht noch den zivilen Ungehorsam gewürdigt und die Inhalte der 1-Mai-Demo gross aufgezeigt haben, mag vielleicht störend sein, aber da gibt es ja eine Arbeitsteilung unter den verschiedenen Sendungen. In anderen Gefässen sind die Themen wie Wohnungsmangel, Exzesskapitalismus, Kaufkraft und Krankenkassenprämien ja durchaus sichtbar gewesen. Wir haben uns in der Rundschau auf eine andere Fragestellung konzentriert. Erlauben Sie mir noch dies zu schreiben: Ich kann Ihre Worte über die Gewalt von oben persönlich gut nachvollziehen. Aber ich bin der Überzeugung, dass es in unserer Gesellschaft nötig ist, auch links hinzuschauen. Frau Rizvi ist tatsächlich aufopfernd in ihrer Sache, und ihre Methoden mögen für einige Leute nachvollziehbar sein. Aber es findet eine Radikalisierung statt in unserer Gesellschaft. Auch links, und zwar massiv. So erlebe ich es als Journalist. Was die etablierten Parteien als Teil des demokratischen Diskurses hierzu sagen, ist relevant.“ Erfreulich, dass der für die Sendung Verantwortliche ausführlich Stellung genommen hat, auch wenn natürlich die in meinem Artikel erwähnten Kritikpunkte damit nicht wirklich entkräftet worden sind.

Pro-Palästina-Proteste jetzt auch an Deutschschweizer Hochschulen „im Keim erstickt“: Die Angst vor der Wahrheit muss unermesslich sein…

„Gaza-Proteste an der ETH in Zürich im Keim erstickt“ – so die Schlagzeile auf der Titelseite des „Tagesanzeigers“ vom 8. Mai 2024. Während die Uni-Besetzung in Lausanne noch andauere und ständig wachse, sei in Zürich, so schreibt die Zeitung, „schon nach wenig mehr als drei Stunden Schluss“ gewesen, die Demonstrierenden seien „wegen Hausfriedensbruch von der Stadtpolizei abgeführt“ worden, eine Person nach der andern, bis sich die letzten fünf Frauen gemeinsam hätten abführen lassen, um dann aber nochmals gemeinsam aufzustehen und „Free Palestine“ zu rufen. Nach der Räumung des Gebäudes hätte die ETH ein Communiqué verschickt mit der Mitteilung, „unbewilligte Aktionen“ würden „nicht akzeptiert“. „Unsere Rolle“, so Luciana Vaccaro, Präsidentin der Schweizer Hochschulen, im Interview mit dem „Tagesanzeiger“, „ist eine akademische, nachdenkende, verstehende – nicht eine politische.“ Und Johanne Gurfinkel, Leiter des Westschweizer Büros gegen Antisemitismus und Diffamierung, spricht von einer „kleinen Minderheit romantisch verklärter Revolutionäre, die sich nicht wirklich bewusst sind, was sie mit ihrem Handeln bewirken, während die Mehrheit der Studierenden schweigt“.

Besonders scharf kritisiert wird auch in diesem Artikel des „Tagesanzeigers“, dass bei diesen Protestaktionen immer wieder „antisemitische Äusserungen“ zu hören seien, insbesondere die Parole „From the river to the sea, Palestine will be free“, welche Israel das Existenzrecht abspreche. Fabian Renz spricht in einem speziellen redaktionellen Kommentar sogar von einem „trivialen Weltbild der Israelhasser“. Auch er fordert, „offen antisemitische Slogans“ wie die von ihm als „Schlachtruf“ bezeichnete Parole „From the river to the sea“ seien „entschieden abzuklemmen“, denn sie seien „Auswuchs eines Denkens, das den Israelis die alleinige Schuld für sämtliche Bluttaten im Nahen Osten aufbürdet und damit den kompliziertesten Konflikt der Welt in das antagonistisch-triviale Schema eines Hollywood-Blockbusters zwängt: da die Schurken, dort die unterdrückten Freiheitskämpfer.“

Haben all die Gelehrten, welche diese propalästinensischen Proteste so einhellig verurteilen, und all die Journalisten, die ebenso einhellig ins gleiche Horn blasen, eigentlich, bevor sie diese Stellungnahmen geschrieben haben, nie ein Geschichtsbuch gelesen über die Hintergründe und die Ursachen des seit über sieben Jahrzehnten schwelenden Nahostkonflikts? Und haben sie nicht zur Kenntnis genommen, dass die allermeisten Palästinenserinnen und Palästinenser und ihre Sympathisantinnen und Sympathisanten ganz und gar nicht diesen Slogan vom „Fluss“ und vom „Meer“ so interpretieren wie sie? Lesen die Journalisten des „Tagesanzeigers“ nicht einmal ihre eigene Zeitung? Dort nämlich sagte Ruth Dreifuss, die ehemalige Schweizer Bundesrätin mit jüdischen Wurzeln, am 26. Januar 2024 Folgendes: „Ich verstehe diese Parole so, dass die Region vom Jordan bis zum Mittelmeer frei sein soll von Krieg und Diskriminierung. Dies bedeutet nichts anderes als die friedliche Lösung des Nahostkonflikts.“ Also das pure Gegenteil dessen, was immer wieder behauptet wird. Aber es ist eben, wie schon Abraham Lincoln wusste, „leichter, eine Lüge zu glauben, die man tausendmal hört, als die Wahrheit, die man nur einmal hört.“

Aber das Ganze ist sogar noch viel verrückter. Denn eigentlich trifft genau diese Parole, betrachtet man sie von der anderen Seite her, nämlich der jüdisch-israelischen, in weitaus gravierenderem Ausmass tatsächlich ins Schwarze. „De facto“, so Amira Hass, jüdische Historikerin und Journalistin, „dehnte der Staat Israel seit seiner Gründung seine Souveränität kontinuierlich vom Mittelmeer bis zum Jordan aus.“ Bereits 1938, zehn Jahre vor der Gründung des Staates Israel, sagte der spätere Staatsgründer David Ben Gurion: „Ich bin für die Zwangsumsiedlung der arabischen Bevölkerung und sehe darin nichts Unmenschliches.“ Ab 1948 wurde die Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung Palästinas von den Juden vertrieben und die Hälfte ihrer Dörfer und Städte zerstört. „Und doch“, so Ilan Pappe in seinem Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“, wurde dieses Verbrechen nahezu vollständig aus dem kollektiven globalen Gedächtnis gelöscht und aus dem Bewusstsein der Welt getilgt. Man stelle sich einmal vor, dass in irgendeinem Land, das man kennt, die Hälfte der gesamten Bevölkerung innerhalb eines Jahres zwangsweise vertrieben, die Hälfte der Dörfer und Städte ausradiert und dem Erdboden gleichgemacht würden. Man stelle sich einmal vor, diese Taten würden niemals Eingang in die Geschichtsbücher finden und sämtliche diplomatische Bemühungen um eine Lösung der Konflikte, die in diesem Land ausbrächen, würden diese katastrophalen Ereignisse völlig ausser Acht lassen.“ Im sogenannten „Plan Dalet“ vom 10. März 1948 ist wortwörtlich zu lesen: „Die Operationen gegen die arabischen Siedlungen lassen sich entweder durch Zerstörung von Dörfern durchführen, indem man sie in Brand steckt, sprengt und die Trümmer vermint, oder durch Durchsuchungs- und Kontrollaktionen nach folgenden Richtlinien: Umstellen und Durchkämmen der Dörfer. Im Fall von Widerstand sind die bewaffneten Kräfte auszuschalten und die Einwohner über die Landesgrenzen hinaus zu vertreiben.“ Eine palästinensische Mehrheit im Land, so Ben Gurion, würde „jüdische Siedler zwingen, Gewalt anzuwenden, um den Traum eines rein jüdischen Palästina zu verwirklichen“. Gemäss Angaben des „Badil Resource Centers“ wurden 1948 in den Gebieten, aus denen der Staat Israel hervorging, 85 Prozent der ansässigen Palästinenserinnen und Palästinenser zu Flüchtlingen.

Die „Vision“ eines rein jüdischen Palästina ist in der Tradition der israelischen Staatsgründer bis heute ungebrochen. Im September 2023 präsentierte der israelische Premierminister Netanyahu anlässlich einer Sitzung der UN-Vollversammlung eine Landkarte Israels, auf der sämtliche palästinensische Gebiete Israel zugerechnet wurden. Der israelische General Giova Eiland meinte in einem Zeitungsinterview, Israel habe gar keine andere Wahl, als den Gazastreifen in einen Ort zu verwandeln, an dem es „vorübergehend oder dauerhaft unmöglich ist, zu leben“. Und Nir Barkat, der derzeitige Wirtschaftsminister Israels, liess verlauten, Israel werde die Palästinenser „vom Angesicht der Erde tilgen“.

Was all jene, die der Parole „From the river to the see, Palestine will be free“ unterstellen, nämlich, dass diese auf eine Vernichtung des israelischen Staates abziele, ist das, was man in der Psychologie eine „Projektion“ nennt, klassischer geht es nicht: Das, was die israelische Regierung und ihre Sympathisanten der palästinensischen Seite vorwerfen, ist genau das, was sie selber tun, buchstäblich vom Meer bis zum Fluss, aber nicht bloss mutmasslich, sondern ganz real und mit Zehntausenden unschuldiger Opfer. Die Täter-Opfer-Umkehr dient einzig und allein der Rechtfertigung der von Israel selber begangenen Verbrechen. Und wenn der Kommentator des „Tagesanzeigers“ schreibt, es handle sich beim Zwist zwischen Israel und der palästinensischen Bevölkerung um den „kompliziertesten Konflikt der Welt“, so ist auch das eine ans schier Unfassbare grenzende Verdrehung der Tatsachen und will offensichtlich bloss bezwecken, den Propalästina-Protesten jegliche Legitimation unter den Füssen wegzuziehen. Tatsächlich ist es nichts „Kompliziertes“, sondern etwas zutiefst erschreckend „Einfaches“: Rassismus und Völkervernichtung in ihrer extremsten, aller minimalster Humanität spottenden Ausprägung, durch keine noch so weit hergeholte „Begründung“ oder Verharmlosung jemals zu rechtfertigen. Wenn Ifat Reshef, die israelische Botschafterin in der Schweiz, in einem Interview mit der Gratiszeitung „20minuten“ vom 8. Mai sagt, Israel werde beim geplanten Angriff auf Rafah „sehr sorgfältig vorgehen“, und sie zudem die Behauptung aufstellt, weltweit „kein anderes Land“ zu kennen, das die betroffene Zivilbevölkerung dermassen umfassend „vorab informiere“, um sie zu „schützen“, dann kann man sich nur wundern, weshalb nicht schon längst die ganze Welt aufgestanden ist und vor allem auch die offizielle Schweiz, die sich stets auf ihre humanitäre Tradition beruft, zu alledem immer noch schweigt und sich damit mitverantwortlich macht für eines der grössten Verbrechen, das zurzeit auf diesem Planeten im Gange ist.

Wenn selbst die Präsidentin der Schweizer Hochschulen, die doch geradezu dazu prädestiniert sein müssten, ein Hort der Wissenschaften und der Aufklärung zu sein, von der Gefahr einer „Instrumentalisierung der Studierenden“ spricht und die Rolle der Hochschulen als eine rein „akademische“, „nachdenkende“, „verstehende“, aber explizit „nicht politische“ definiert, und wenn das Wichtigste, was der „Tagesanzeiger“ auf seiner Titelseite verkündet, darin besteht, dass die Proteste „im Keim erstickt“ worden seien, dann muss die Angst dieser „Machtträger“ davor, dass die Wahrheit ans Licht kommen könnte, schon unermesslich gross sein. Nicht im Aufdecken der Wahrheit, nicht in der mutigen Parteinahme für die Menschlichkeit scheinen diese unsere „Eliten“ ihre Aufgabe zu sehen, sondern offensichtlich genau im Gegenteil: im Verschweigen, im Rechtfertigen, im Verharmlosen, in der Unterdrückung all dessen, was über Jahrzehnte hinweg geglaubte „Wahrheiten“ in Frage stellen und die über so lange Zeit aufgebauten Weltbilder ins Wanken bringen könnte. Doch für immer lässt sich die Wahrheit auch mit noch so vielen Lügen, Geschichtsverfälschungen, Hausverboten und Polizisten nicht unter dem Deckel halten. Irgendwann, früher oder später, wird sie ans Tageslicht gelangen. Und dann wird aller Voraussicht nach eine ganze andere Geschichte geschrieben werden als die, welche wir heute in unseren Zeitungen lesen und die uns als alleinige „Wahrheit“ verkauft wird. Denn „man kann zwar“, so Abraham Lincoln, „dem ganzen Volk die Wahrheit eine Zeitlang vorenthalten, auch einem Teil des Volkes die ganze Zeit, aber nicht dem ganzen Volk die ganze Zeit.“

Nachtrag am 20. Mai 2024: Ich habe diesen Text in gekürzter Form am 10. Mai als Leserbrief an den „Tagesanzeiger“ geschickt. Bis heute ist er nicht publiziert worden.

Nachtrag am 23. Mai 2024: Auf meine Nachfrage, weshalb der Leserbrief nicht veröffentlicht wurde, habe ich heute von der Leserbriefredaktion des „Tagesanzeigers“ die Antwort bekommen, er hätte aus „Platzgründen“ nicht berücksichtigt werden können. Meine Rückmeldung an die Leserbriefredaktion: „Den Leserbrief hätte ich wichtig gefunden. Nicht weil er von mir geschrieben wurde. Sondern weil er eine andere mögliche Interpretation des Slogans FROM THE RIVER TO THE SEA, PALESTINE WILL BE FREE aufgezeigt hätte, notabene immerhin von einer ehemaligen Schweizer Bundesrätin. Es wäre ein notwendiges Korrektiv gewesen zu der in zahlreichen TA-Artikeln wiederholten Interpretation des Slogans, wonach er Israel das Existenzrecht abspreche. Wie können sich die Leserinnen und Leser ein objektives Bild machen, wenn sie nur die eine Seite der Wahrheit hören? Übrigens vertreten von den zwei Palästinensern, die ich persönlich kenne und die heute in der Schweiz leben, beide dezidiert die von Ruth Dreifuss geäusserte Interpretation. Wenn Sie schreiben, dass der Leserbrief aus Platzgründen nicht veröffentlicht werden konnte, dann frage ich mich, weshalb es in einer Zeit so vieler Konflikte und weltweit so existenzieller Fragestellungen immer wieder TA-Ausgaben gibt, in denen nicht ein einziger Leserbrief zu finden ist, und auch in den übrigen Ausgaben die Leserbriefe meist nur wenig Raum einnehmen, während ich mich an Zeiten erinnern kann, da jeweils täglich eine ganze Seite für Leserbriefe zur Verfügung stand. Ist Ihnen die Meinung Ihrer Leserinnen und Leser so wenig wichtig?“

Markus Somm und die „Linken“: Wer hat sich da wohl selber am meisten im Jahrhundert verirrt?

Wieder einmal zeichnet sich der „Historiker“ Markus Somm in seiner Kolumne der „Sonntagszeitung“ vom 5. Mai 2024 durch besondere Originalität aus. Unter dem Titel „Wie der 1. Mai zu einem Nazi-Tag verkam“, beglückt er die Leserschaft mit seinen Beobachtungen der diesjährigen 1. Mai-Feier in Wien.

Für Markus Somm sind „alte Linke“, die an der Wiener 1. Mai-Feier teilnahmen, „ahnungslos“, „mitleiderregend“, „die letzten Mohikaner“ und „Strukturkonservative, die sich im Jahrhundert verirrt haben“. Damit nicht genug: „Fünf Männer“, so Somm, „sind für etwa 100 Millionen Tote verantwortlich“. Mit diesen fünf Männern meint Somm Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao. Grösseren historischen Blödsinn habe ich noch selten gelesen. Wollte man Marx und Engels, welche nichts anderes waren als überaus kluge und scharfsinnige Wirtschaftsanalytiker ihrer Zeit, für den Tod von 100 Millionen Menschen verantwortlich machen, dann müsste man konsequenterweise auch Jesus, auf den sich Hernando Cortez und Francisco Pizarro bei der Auslöschung der amerikanischen Urbevölkerung beriefen und mit dem sich Adolf Hitler in seiner Autobiografie verglich, für den Tod vieler Millionen Menschen verantwortlich machen.

Statt einer dermassen stossenden Geschichtsverfälschung hätte Markus Somm seine Kolumne gescheiter dafür verwendet, darauf hinzuweisen, wie aktuell die Gesellschaftsanalysen von Marx und Engels gerade in Anbetracht der heutigen globalen kapitalistischen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse immer noch sind. Wenn sich jemand im Jahrhundert verirrt hat, dann wohl Markus Somm selber am meisten. Unwillkürlich stellt sich die Frage, ob man einem „Historiker“, der regelmässig solchen Unsinn verbreitet, statt über historische Zusammenhänge sachlich und umfassend aufzuklären, nicht früher oder später den Titel als „Historiker“ aberkennen müsste.

„NZZ am Sonntag“ vom 28. April 2024: Wenn selbst Wörter zu Waffen werden…

Der Artikel „Aufstand der Neoidealisten“ in der „NZZ am Sonntag“ vom 28. April ist ein typisches und vor allem höchst erschreckendes Beispiel dafür, wie sich selbst die Sprache je nach Zeitgeist verändert und Begriffe plötzlich eine ganz andere Bedeutung bekommen, als sie normalerweise haben. So werden die estnische Regierungschefin, der litauische Aussenminister und der tschechische Aussenminister als „idealistische Vorreiter“ gelobt, die sich der „Wahrung humanistischer Ideale“ verschrieben hätten und den „Weg in Europas Zukunft weisen könnten“ – und dies bloss deshalb, weil sie sich an vorderster Front für eine möglichst massive militärische Aufrüstung Europas stark machen und daher, zynisch genug, tatsächlich einiges dazu beitragen könnten, einen Weg in Europas Zukunft zu weisen, aber wohl einen, den sich niemand ernsthaft herbeiwünschen kann.

Als ein Land, welches „die demokratischen Werte hochhält, die Freiheit verteidigt und die Zukunft Europas schreibt“, wird, mit den Worten von Ursula von der Leyen, die Ukraine beschrieben, ausgerechnet jenes Land, wo mehrere Oppositionsparteien, Fernsehsender und Zeitungen verboten, alle russischen Bücher aus den Bibliotheken verbannt und die Aufführung von Musikstücken russischer Komponisten untersagt wurde, die Verwendung des Russischen mit Bussen geahndet wird und der Präsident seinem Volk, das sich gemäss Umfragen zu 72 Prozent für Verhandlungen mit Russland ausspricht, per Dekret ebensolche Verhandlungen verboten hat.

Das „Zaudern“ jener europäischen Regierungen, welche Waffenlieferungen an die Ukraine skeptisch gegenüberstehen, wird als „mutlos“ und „unmoralisch“ gebrandmarkt – vermutlich könnte allzu viel Zaudern möglicherweise ja dazu führen, noch auf dumme Gedanken zu kommen, etwa darauf, dass jede Waffe früher oder später einen Menschen verstümmeln, zerfetzen und seiner Familie entreissen wird.

So werden in kriegerischen Zeiten selbst die schönsten und edelsten Wörter, die dem Frieden, einer gewaltlosen Konfliktlösung und der Völkerverständigung dienen könnten, zu Waffen in der Sprache jener Illusionisten, die immer noch daran glauben, Kriege wären gewinnbar. Was für eine verrückte Zeit.

(P.S. Die obere Hälfte der Zeitungsseite, auf der dieser Artikel zu lesen ist, nimmt ein Foto mit zwei schwerbewaffneten, beim derzeitigen NATO-Manöver Steadfast Defender im Einsatz stehenden Soldaten ein, der eine von ihnen mit einem Maschinengewehr im Anschlag, beide, halb verschwommen, in einen rötlich-gelben Nebel gehüllt, ein Bild, das jedem Hollywood-Kriegsfilm alle Ehre machen würde. Was wohl der russische Präsident denken würde, wenn die Zeitung mit diesem Artikel und diesem Bild vor ihm auf dem Schreibpult liegen würde?)