Bürgenstock am 15. und 16. Juni 2024: Die „Friedenskonferenz“, die in Tat und Wahrheit eine Kriegskonferenz gewesen ist…

Schon ist sie wieder Geschichte, die Bürgenstock-„Friedenskonferenz“. Alle Gäste, Sicherheitsleute, Bedienstete, Journalistinnen und Journalisten wieder in alle Himmelsrichtungen auseinandergestoben, viele von ihnen bereits vor dem offiziellen Ende der Veranstaltung, mitsamt allen extra aus den USA angeflogenen Luxuslimousinen und den von der CIA hochgerüsteten Spezialhelikoptern zum Schutz der Sicherheit von Vizepräsidentin Kamala Harris, die Flugverbotszone wieder aufgehoben, die Absperrgitter entfernt, die Spazierwege rund um das Konferenzgelände wieder freigegeben, Dutzende von Bühnen und Hunderte von Scheinwerfern wieder abgebaut, die mit erlesensten Speisen vollbefrachteten Tische abgeräumt und tonnenweise Abfall entsorgt. Der Spuk ist vorbei, alles nimmt wieder seinen gewohnten Lauf…

Beim folgenden kritischen Rückblick nehme ich Bezug auf die Berichterstattung des schweizerischen „Tagesanzeigers“ vom 17. und 18. Juni, stellvertretend für viele andere westliche Medien, die den Anlass wohl in ähnlicher Weise kommentiert und beurteilt haben.

Am 17. Juni sind drei volle Zeitungsseiten der Bürgenstock-Konferenz gewidmet. Auf der Titelseite prangt das legendäre Gruppenbild, wohl das weltweit am meisten verbreitete Foto der Bürgenstock-Konferenz, auf dem die Vertreterinnen und Vertreter der 92 beteiligten Länder zu sehen sind, im Hintergrund die märchenhafte Landschaft im Herzen der Schweiz, dichtbewaldete Hügel, sanfte Gebirgszüge, darüber ein wolkenverhangener Himmel, im Vordergrund, halbkreisförmig angeordnet, Hunderte von Presseleuten, alle Kameras und Mikrofone auf die Prominentenbühne gerichtet, als stünde dort die weltbeste Rockband oder als handle es sich beim Ganzen um so etwas wie einen Gottesdienst, nur dass dort, wo normalerweise ein Altar oder ein anderes religiöses Symbol steht, jetzt jene Politprominenz versammelt ist, die sich in den folgenden Tagen unablässig als die „Welt“ bezeichnen wird. Was für ein Kontrast zwischen dieser Wohlfühloase in der innerschweizerischen Traumlandschaft und den Schlachtfeldern über 2000 Kilometer östlich davon, wo zur gleichen Zeit, während auf dem Bürgenstock getafelt und gesmalltalkt wurde, wieder ein paar Hundert ukrainische und russische Frauen und Männer getötet oder für den Rest ihres Lebens verstümmelt wurden. Müssten nicht eigentlich sie, die Hauptbetroffenen, auf dem Bürgenstock an den Konferenztischen sitzen und über Krieg oder Frieden verhandeln? Und müsste man nicht eigentlich ehrlicherweise statt dem Gruppenfoto mit der westlichen Politprominenz ein „Gruppenbild“ veröffentlichen, auf dem alle jene ukrainischen und russischen Männer und Frauen zu sehen wären, die jetzt gerade noch leben, aber vielleicht schon in wenigen Tagen oder Wochen tot sein werden?

Ich beneide die Mitarbeitenden der „Tagesanzeiger“-Redaktion ja nicht, welche die Aufgabe hatten, das Nullergebnis der Konferenz zu einem derart langen Artikel über drei Seiten hinweg aufzublasen. Wahrscheinlich wurde deshalb auch mehr als ein Viertel der zur Verfügung stehenden Fläche auf den Seiten zwei und drei für die Veröffentlichung eines weiteren Fotos verwendet, auf dem zwölf der standeshöchsten Vertreterinnen und Vertreter der insgesamt 92 beteiligten Nationen zu sehen sind. Was auffällt: Alle von ihnen, vom lettischen Präsidenten Edgars Rinkevics bis zu Hakan Fidan, dem Aussenminister der Türkei, vom griechischen Premier Kyriakos Mitsotakis und dem litauischen Präsidenten Gitanas Nauseda bis zu Vjosa Osmani, der Präsidentin Kosovos, strahlen übers ganze Gesicht. Was ist wohl der tiefere Grund dieser fröhlichen Überschwänglichkeit inmitten einer Konferenz, bei der es um nicht weniger geht als um Leben oder Tod? Vermutlich liegt er darin, dass sich die teilnehmenden Politiker und Politikerinnen durch das gemeinsame Wohlfühlerlebnis an einem so weit von aller Kriegsrealität abgehobenen Ort, durch das Aneinanderkuscheln, Händedrücken, sich liebevoll freundschaftlich Zulächeln und miteinander verbunden Fühlen, durch gemeinsames Essen und Trinken, stets im Bewusstsein, dass all die anderen genau gleich denken wie sie selber, sich sozusagen gegenseitig immunisieren gegenüber allen unangenehmen Tatsachen und irgendwelchen unbequemen Fragen, die dieses so angenehme gegenseitige Einvernehmen nur unnötig stören würden, vergleichbar mit Priestern, die mit dem Wohlgeruch von Weihrauch und Myrrhe all die bösen Geister zu vertreiben versuchen, die ihr religiös überhöhtes Selbstverständnis in Frage stellen könnten.

Viola Amherd, so lese ich, hätte eine positive Bilanz der Bürgenstock-Konferenz gezogen. Zum ersten Mal, so sagte sie, habe die Weltöffentlichkeit derart intensiv über einen Frieden in der Ukraine diskutiert. Was für eine Anmassung und was für eine Verlogenheit! Wenn zum ersten Mal ernsthaft über einen Frieden diskutiert wurde, dann war das nicht auf dem Bürgenstock im Juni 2024, sondern bereits viel früher, und zwar im März 2022, als durch die türkische Regierung vermittelte Gespräche zwischen einer russischen und einer ukrainischen Delegation beinahe zu einem Friedensvertrag geführt hätten, wenn dieser nicht von westlicher Seite, und insbesondere durch eine Intervention des britischen Premiers Boris Johnson, vereitelt worden wäre. Wie viele Hunderttausende Tote und Verletzte hätten mit diesem Friedensvertrag verhindert werden können! Aber freilich finden solche Fakten keinerlei Eingang in die auf dem Bürgenstock mit allen Mitteln zementierte westliche Sicht, die nicht den geringsten Spielraum offenlässt für irgendwelche ihr widersprechende Tatsachen. Und von wegen „ernsthaft“! Wenn etwas ernsthaft war, dann wohl eher die erwähnten Gespräche zwischen den direkt Betroffenen im März 2022, in kleinen Gruppen und über mehrere Wochen hinweg, aber wohl kaum die Mammutveranstaltung auf dem Bürgenstock, wo pro Votum maximal drei Minuten zur Verfügung standen, Essen und Trinken, Händeschütteln, Smalltalk und gegenseitiges Schulterklopfen den grössten Teil der Zeit in Anspruch nahmen und zahlreiche Delegationen bereits vor dem Abschluss der „Verhandlungen“ wieder abreisten.

„China fehlt. Indien fehlt. Brasilien fehlt. Saudiarabien fehlt. Mexiko ebenfalls. Südafrika auch.“ So der „Tagesanzeiger“. Aber mit keinem Wort wird die Frage aufgeworfen, weshalb sich diese Länder an der Konferenz nicht beteiligt haben. Meist wird einfach unterstellt, diese Länder hätten sich dem Druck Russlands gebeugt und deshalb nicht mitgemacht. Was für eine Arroganz westlicher Sichtweise! Als könnten die Regierungsmitglieder dieser Länder nicht selber denken und nicht aus eigenen, ganz vernünftigen Gründen zum Schluss gekommen sein, bei einer derartig einseitig aufgezogenen Propagandashow nicht mitzumachen.

„Das Papier ist deshalb so bemerkenswert, weil es ausdrücklich Russland die Verantwortung für den Ukrainekonflikt zuweist“, so schreibt der „Tagesanzeiger“. Er hätte auch schreiben können, das Papier sei genau deshalb so „einseitig“ und verbaue gerade deshalb zum Vornherein jeglichen Zugang zu einer echten Friedenslösung. Es braucht schon ein schier unglaubliches Mass an Unverfrorenheit und Geschichtsblindheit, zu behaupten, Russland trage die alleinige Schuld an diesem Konflikt. Jeder auch nur bruchstückhaft informierte Zeitgenosse weiss heute, dass die NATO-Osterweiterung, die über Jahrzehnte von namhaften US-Politikern geforderte „Zerstückelung Russlands“, der Putsch auf dem Maidan 2014, die anhaltende Verfolgung und Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine sowie die Zurückweisung einer von Russland im Dezember 2021 vorgeschlagenen friedlichen Lösung des Konflikts durch die US-Regierung entscheidende Ursachen der heutigen Kriegssituation gewesen sind. Die absolut minimale Voraussetzung für eine echte Friedenslösung bestünde darin, von einseitigen Schuldzuweisungen wegzukommen und auch eigene Schwächen, Irrtümer und Fehlentscheide einzugestehen, um auf diese Weise gemeinsam, und nicht gegeneinander, grundlegend neue, zukunftsgerichtete Wege der Verständigung und der Konfliktlösung zu suchen.

Wie sehr die Bürgenstock-Konferenz eine einseitige Propagandashow war, bei der sich, man kann es nicht anders sagen, Viola Amherd und Ignazio Cassis von dem mit allen Wassern gewaschenen ukrainischen Präsidenten Selenski förmlich über den Tisch ziehen liessen, zeigt sich auch darin, dass Selenski auf dem Bürgenstock eine eigene Pressekonferenz abhielt. Auf dieser „geisselte er“, so der „Tagesanzeiger“, „auf Englisch und Ukrainisch Putins Attacken und warnte vor einer Eskalation des Kriegs, wenn Russland nicht gestoppt werde.“ Einmal mehr wurde das Schreckgespenst einer Eroberung ganz Europas durch Russland an die Wand gemalt, obwohl höchste NATO-Generäle wiederholt zum Schluss gelangt sind, dass es derzeit nicht die geringsten Anzeichen für einen geplanten russischen Angriff auf eines der NATO-Länder gäbe, und selbst der als Hardliner bekannte lettische Präsident Rinkevics einräumt, dass zurzeit „keine direkte militärische Bedrohung durch Russland“ zu erkennen sei. Im Gegensatz zu den Putin unterstellten Provokationen ist es zurzeit vielmehr die westliche Seite, die an allen Ecken und Enden unablässig provoziert: durch eine drohende – selbst von Angela Merkel noch 2008 als „fahrlässige Provokation Russlands“ vehement zurückgewiesene – Aufnahme der Ukraine in die NATO, durch die unlängst mit 90’000 Beteiligten in Nordeuropa durchgeführten grössten NATO-Manöver aller Zeiten, durch die massive Aufrüstung der meisten NATO-Staaten, obwohl deren Gesamtbudget jetzt schon das Zwanzigfache des russischen Militärbudgets beträgt, sowie nicht zuletzt durch die laufende Ausbürgerung Tausender russischsprachiger Bewohnerinnen und Bewohnern aus den baltischen Staaten, die sich weigern, die jeweilige Landessprache zu übernehmen. Doch, wen wunderts, war auf dem Bürgenstock weder vom einen noch vom andern auch nur ansatzweise etwas zu hören…

Wie sehr die Bürgenstock-Konferenz einmal mehr eine von Selenski inszenierte Einmann-Show war, geht auch aus dem Leitartikel von Christof Münger hervor, der unter dem Titel „Frischer Sauerstoff für die Solidarität mit der Ukraine“ Folgendes schreibt: „Der Gipfel wurde deshalb zum Erfolg, weil es nicht in erster Linie um Frieden ging, sondern um die Ukraine. Je länger ein Krieg dauert, desto mehr verschwimmen die Konturen der einfachen Fakten im Nebel des Kriegs aus Propaganda, Täuschung und Fehlinformationen. Selenskis Worte haben gewirkt: Russland sei der Aggressor, die Ukraine das Opfer, sekundierten auch US-Vizepräsidentin Kamala Harris und der französische Präsident Macron. So erhielt die etwas ermattete Solidarität mit der Ukraine in den Schweizer Alpen eine Zufuhr frischen Sauerstoffs, das eindrückliche Gruppenfoto mit den Köpfen aus 92 Ländern zeugt davon. Jetzt ist die Zeit reif, dass die Ukraine nicht nur 15 neue Panzer bekommt, sondern 150 oder noch besser 1500.“ Bedarf es hier noch irgendeines Kommentars? Wohl kaum…

Am folgenden Tag, dem 18. Juni, kippt die „Tagesanzeiger“-Berichterstattung dann vollends in die Welt der Groteske: Wieder ein Gruppenbild, fast den Drittel einer Zeitungsseite einnehmend. Diesmal sind drei hintereinander stehende Reihen von – bis auf zwei Ausnahmen – männlichen Konferenzteilnehmern zu sehen, alle in blauen oder schwarzen Anzügen. Und wieder scheinen die meisten bester Laune zu sein. Ganz besonders Viola Amherd, die, in der Mitte der vordersten Reihe stehend, ihren Kopf frech nach vorne reckt und ihren Blick über die links von ihr stehende Reihe schweifen lässt., wie der Kasperle, der zu Beginn der Vorstellung die Kinder fragt: „Seid ihr alle da? Juhui, dann kann es ja losgehen.“ Dazu die Bildunterschrift: „Der Moment, der bleibt: Viola Amherd während des Family-Fotos auf der Bürgenstock-Konferenz“. Und in fetten Lettern die Überschrift über dem Ganzen: „Sie war die, die den Kopf herausstreckte“. Im nebenstehenden Text erfahren wir dann noch, dass „dieses Bild das Potenzial zur Ikone hat“. Wenigstens das, wenn schon nichts Wesentlicheres, soll also in die Geschichtsbücher eingehen…

In die Geschichtsbücher, in denen, wenn es sie dannzumal überhaupt noch gibt, in 20 oder 50 Jahren zu lesen sein wird, dass am 15. und 16. Juni 2024 im Herzen der Schweiz eine sogenannte „Friedenskonferenz“ stattgefunden hätte, die sich allerdings im Nachhinein als „Kriegskonferenz“ entpuppt hätte, weil die eine Konfliktpartei sich erfolgreich dafür eingesetzt hatte, die andere Konfliktpartei gar nicht erst einzuladen. Dass nicht einmal das absolute Minimalziel, nämlich, Datum und Ort für eine Folgekonferenz unter Beteiligung beider Konfliktparteien zu vereinbaren, erreicht worden war und dass sich sogar später nicht einmal mehr irgendwer daran noch zu erinnern vermochte. Dass dabei, durch unbeirrtes, über Jahrzehnte aufgebautes Festhalten am Zerrbild eines „guten“ Westens und eines „bösen“ Ostens, die vielleicht letzte Chance verpasst und das vielleicht letzte rote Signal für wenigstens einen zaghaften kleinen Friedensversuch überfahren worden war, indem man sich standhaft geweigert hatte, auf einen Vorschlag des russischen Präsidenten zur Einfrierung des Ukrainekonflikts mit nachfolgenden Friedensverhandlungen einzugehen. Dass man unter gar keinen Umständen, und nicht einmal mit dem Ziel, Hunderttausende von Menschenleben zu retten, der Ukraine zumuten wollte, einen Fünftel ihres Territoriums preiszugeben, obwohl man genau das Gleiche 33 Jahre zuvor der Sowjetunion ohne geringstes Zögern und ohne jegliche Bedenken zugemutet hatte, indem sie nämlich ebenfalls einen Fünftel ihres früheren Territoriums aufgeben musste. In diesen zukünftigen Geschichtsbüchern wird dann auch nicht mehr von „Verteidigungsministern“ die Rede sein, sondern nur noch von „Kriegsministern“, und die schweizerische Bundespräsidentin Viola Amherd wird zweifellos als eine ihrer hervorstechendsten Vertreterinnen Erwähnung finden. Denn zwar hatte es niemand wirklich gewollt, aber auch hatte niemand tatsächlich ernsthaft etwas dagegen unternommen. Denn so wenig Krieg einfach „von selber“ geschieht, so wenig auch der Frieden. Man wird beklagen, dass es damals fast keine charismatischen Staatsführer und Staatsführerinnen mehr gab, keine wirklich zutiefst überzeugten Pazifistinnen und Pazifisten, keinen Mahatma Gandhi, keinen Nelson Mandela, keinen Martin Luther King, keinen Michail Gorbatschow – obwohl Persönlichkeiten von ihrem Format in diesen so gefährlichen Zeiten dringender nötig gewesen wären denn je. Und wenn es solche Persönlichkeiten dennoch gab, dann befanden sie sich schon längst nicht mehr an den Schaltheben der wirklichen Macht, von wo sie an allen Ecken und Enden von jenen Kriegstreiberinnen und Kriegstreibern verdrängt worden waren, die den Krieg so lange unbeirrt herbeiredeten, bis er tatsächlich geschah.

Es sei denn, das böse Spiel werde noch rechtzeitig durchschaut und immer mehr Menschen würden sich dafür entscheiden, es nicht mehr mitzumachen. Nie mehr für fremde Herren in den Krieg ziehen. Nie mehr sich mit verkrüppeltem, halbwegs zusammengeflicktem Körper ein zweites oder drittes Mal aufs Schlachtfeld schicken lassen. Nie mehr Bühnen bauen, auf denen sie selber nie stehen und immer nur die anderen reden und sich im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit sonnen werden. Nie mehr Essen kochen, das nur den Reichen und Mächtigen vorbehalten ist. Nie mehr mit hungrigem Magen auf jenen Böden, die früher ihrer eigenen Ernährung dienten, Nahrungsmittel anbauen müssen, mit denen multinationale Konzerne Milliardengewinne scheffeln. Bis nur noch ein winziges, erbärmliches Häufchen ewiggestriger Menschenhasser und Kriegstreiber übrig geblieben ist, das dann seine Machtkämpfe ganz alleine austragen darf, ohne Milliarden andere mit in den Abgrund zu reissen. Das wäre dann aber tatsächlich das Gruppenfoto des Jahrtausends, das selbst in einer noch so dicken Zeitung keinen Platz mehr fände, weil auf ihm Milliarden Menschen über alle Grenzen hinweg versammelt wären, die sich für das Leben und gegen den Tod entschieden haben. Denn, wie der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King so eindringlich sagte: “Entweder werden wir lernen, als Brüder und Schwestern miteinander zu überleben, oder aber wir werden als Narren miteinander untergehen.”

Kantersieg der AfD in den deutschen Europawahlen vom 9. Juni 2024 und die Hoffnungen von Jamie, Lucas und Anke…

Grosse Siegerin der Europawahl in Deutschland ist mit 17 Prozent der Wählerstimmen, auf Platz zwei nach CDU/CSU, die AfD. Insbesondere bei den Jungen – die erstmals schon ab 16 Jahren stimmberechtigt waren – hat sie höchst erfolgreich abgeschnitten: 16 Prozent der bis 24Jährigen, 11 Prozent mehr als 2019, gaben ihr ihre Stimme, während die Grünen in der gleichen Altersgruppe 23 Prozent Wählerstimmen verloren. „Das Kalkül der AfD“, so das schweizerische Nachrichtenmagazin SRF vom 10. Juni, „scheint aufgegangen zu sein. Das Kalkül, konsequent die sozialen Medien mit plakativen, populistischen Schnipseln zu bedienen. AfD-Videos werden auf Tiktok hunderttausendfach angeklickt, die Hälfte der reichweitenstärksten Persönlichkeiten sind AfD-Leute.“ Nicht einmal die ganze Serie von Skandalen, von welchen die Partei in jüngster Zeit erschüttert worden sei, hätten erstaunlicherweise, so SRF, eine erhebliche abschreckende Wirkung erzeugt: „Dass sich die AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah und Petr Bystron wegen Spionage, Betrug und Korruption verantworten müssen und von der Parteileitung praktisch versteckt werden mussten – geschenkt. Dass Bystron für seine Russland-PR Geld genommen haben soll – unwichtig. Dass Krah die Waffen-SS verharmlost – wurscht.“

Doch vielleicht sind es ja nicht nur die Tiktok-Videos, welche so viele deutsche Jugendliche dazu „verführt“ haben, die AfD zu wählen. „Wenn ich an früher denke“, so die 17jährige Jamie in einem Interview mit „20 Minuten“ vom 11. Juni, „wird mir bewusst, wie viel sich durch die Ampelkoalition verschlechtert hat. Wir versinken in einer Wirtschaftskrise. So wie jetzt kann es nicht weitergehen. Besonders kritisch sehe ich die Migrationspolitik. Viele Migranten bekommen mehr Geld als deutsche Rentner.“ Der 22jährige Lucas sagt: „Viele meiner Kollegen haben die AfD gewählt. Die CDU/CSU oder die SPD sind Altparteien – wählt man die, geht es weiter wie bisher.“ Und auch für die 23jährige Anke ist die AfD jene Partei, die „genau die Themen anspricht, die mich bewegen: Unsere Eltern finden kaum noch eine Arbeit. Das deutsche Volk bekommt viel zu wenig Wertschätzung. Nur die AfD gibt mir Hoffnung für die Zukunft.“

Wirtschaftskrise. Migration. CDU, CSU und SPD als „Altparteien“. Arbeitslosigkeit. Fehlende Wertschätzung für die arbeitende Bevölkerung. Viel präziser kann man die heutigen Probleme nicht mehr beschreiben. Statt junge Menschen, die „rechtem“ oder gar „rechtsextremem“ Gedankengut folgen, zu verunglimpfen, zu verurteilen oder ihnen bloss naive Manipulierbarkeit zu unterstellen, täten wir wohl besser daran, ihre Sorgen und Ängste ernst zu nehmen, ihnen zuzuhören, von ihnen zu erfahren, wie sie sich eine schönere und bessere Zukunft vorstellen. Denn die allermeisten Jugendlichen sind wohl viel besser informiert, als wir Älteren meinen. Sie sind weit neugieriger, kommunikativer und gerechtigkeitsliebender als ein grosser Teil der älteren Generation, Seismographen, die noch feinfühliger vorausspüren, wohin sich die Gesellschaft bewegt. Sie haben noch ein ganzes langes Leben vor sich, nicht so wie all jene, die nichts anderes mehr im Kopf haben, als den Rest ihres Lebens im Stil von „Nach mir die Sintflut“ irgendwo auf einem Kreuzfahrtschiff, an einem fernen Meeresstrand oder auf einer Safari in Südafrika zu verprassen.

Das Grundübel ist nicht die AfD. Das Grundübel ist auch nicht eine „fehlgeleitete“ Jugend, die sich ausschliesslich in den sozialen Medien bewegt und jeglichen Kontakt zur Realität verloren hätte. Das eigentliche Grundübel ist der Kapitalismus. Ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das sich nicht am Wohl der Menschen orientiert, sondern am Wohl der unaufhörlichen Geldvermehrung in den Händen jener, die sowieso schon viel zu viel davon haben. Ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das unaufhörlich Arbeit in Kapital verwandelt, durch unendliche Profitgier die Lebensgrundlagen aller zukünftiger Generationen systematisch zerstört und das durch jahrhundertelange und bis in die Gegenwart andauernde Ausbeutung der Länder des Südens durch die Länder des Nordens sowie durch den gleichzeitig dadurch angeheizten Klimawandel auch die Hauptursache bildet für die Flucht einer immer weiter millionenfach wachsenden Zahl von Menschen aus den Zonen des sich immer weiter ausdehnenden Elends in die immer schneller schrumpfenden, noch verbliebenen Zonen des vermeintlichen Paradieses.

Männer und Frauen in Deutschland oder einem anderen europäischen Land, die keine ausreichend entlohnte Arbeit mehr finden und in Armut versinken. Jugendliche, die alle Hoffnung verloren haben und sich nur mit irgendwelchen künstlichen Aufputschmitteln noch einigermassen über Wasser halten. Krankenpflegerinnen, die sich ein Leben lang ihre Rücken kaputtarbeiten müssen und sich dennoch nicht einmal auf einen genussvollen Lebensabend freuen dürfen. Junge Männer aus Tunesien oder Marokko, welche die gefahrvolle Fahrt übers Mittelmeer knapp überlebt haben und nun irgendwo an einem deutschen oder französischen Bahnhof oder in einem Stadtpark fern ihrer Heimat anderen Menschen, die sich wiederum ihrer eigenen Heimat beraubt fühlen, zur Last fallen. Kinder und Jugendliche, die sich gegenseitig verprügeln. Nachbarinnen und Nachbarn, die sich Seite an Seite mit immer mehr Menschen aus anderen Ländern an viel zu dicht befahrenen und viel zu lauten Strassen mit immer mehr Verkehr in viel zu enge Wohnungen zwängen müssen. Von Gewalt oder Armut Vertriebene, fünfzehn Stunden am Tag auf einer Baustelle oder in einem Schlachthof sich Abrackernde, deren fast einziger Lohn darin besteht, von ihren Vorgesetzten von früh bis spät herumgehetzt und beschimpft zu werden. Alleinerziehende Mütter, die bloss für das nackte Überleben Tag und Nacht schuften muss, während ihre Kinder alleine vor dem Fernseher sitzen und mit allem Elend der Welt, ohne mit irgendwem darüber sprechen zu können, bombardiert werden. Sie alle und Abermillionen andere sind Opfer des gleichen weltweit herrschenden kapitalistischen Macht- und Ausbeutungssystem, das sich nur deshalb immer noch an der Macht zu halten vermag, weil die Lüge, dass all die leidenden, kaputtgearbeiteten, verzweifelten und aller Hoffnung beraubten Menschen an ihrem Elend selber schuld seien, immer noch nicht aufgedeckt ist. Sodass die Menschen, statt sich als Opfer des gleichen Systems zu erkennen und sich im gemeinsamen Kampf gegen dieses System zu solidarisieren, alles Üble und Böse bloss in jedem einzelnen anderen Menschen sehen, von dem sie gerade unmittelbar bedroht sind, der ihnen das Leben schwer macht, ihnen im Weg steht oder ihnen etwas vorenthält, worauf sie vermeintlich einen Anspruch haben.

„Was alle angeht“, sagte der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, „können nur alle lösen.“ Reine Symptombekämpfung bringt nichts. Es braucht so etwas wie eine neue Aufklärung. Die Erkenntnis, dass alles mit allem zusammenhängt. Und dass das „Böse“ nicht im einzelnen Menschen liegt, sondern in einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesamtsystem, welches es den Menschen verunmöglicht, so gut zu sein, wie sie von Natur aus eigentlich gedacht wären. Denn, wie der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi schon vor 250 Jahren so treffend sagte: „Der Mensch ist gut und will das Gute. Und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“

Es braucht die Aufklärung. Das Wissen, dass dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das uns allen das Leben so schwer macht und uns dazu bringt, uns gegenseitig zu hassen statt zu lieben, nicht eines Tages vom Himmel gefallen ist, sondern von Menschen aufgrund ganz bestimmter Interessen genau so aufgebaut wurde und deshalb auch jederzeit von Menschen wieder umgebaut, abgebaut und durch etwas radikal anderes ersetzt werden kann. Das wäre eigentlich gar nicht so schwierig, denn die Sehnsucht nach einer friedlichen Welt, in der alles unter alle gerecht verteilt ist, liegt im tiefsten Inneren jedes Menschen verborgen. Es wäre das Paradies auf Erden. Und es ist machbar. Würde es Wirklichkeit, dann würden auch Wut, Hass, Gewalt, künstlich aufgebaute Feindbilder und Kriegstreiberei für immer der Vergangenheit angehören.

Mehr denn je brauchen gerade in so schweren Zeiten wie der unseren insbesondere junge Menschen mit ihrem unermesslichen Potenzial an Lebenshunger, Kreativität, Phantasie und Sehnsucht nach Liebe und Gerechtigkeit glaubwürdige Visionen und den Glauben an eine Zukunft, die so ganz anderes aussehen würde als unsere Gegenwart. Doch die Gefahr ist gross, dass sich gerade die Hoffnung vieler, die jetzt aus jener Motivation, welche die 23jährige Anke als „Hoffnung für die Zukunft“ bezeichnet hat, ihre Stimme der AfD gegeben haben, schon sehr bald als Illusion erweisen und wie eine Seifenblase zerplatzen könnte. Denn natürlich ist die AfD nur ein vermeintlicher Hoffnungsträger und verdankt ihren Erfolg wiederum bloss der Tatsache, dass sich die „Altparteien“ schon längst von der Idee verabschiedet haben, eine von Grund auf „neue Welt“ zu bauen. Viel näher an der Hoffnung auf etwas echt Neues ist da schon das Bündnis Sahra Wagenknecht. Doch gerade Wagenknechts Position zur Migrationspolitik, welche Hardlinerpositionen anderer Parteien aufgreift, zeigt, dass auch diese Partei weit weg ist von einer radikalen Kapitalismuskritik, würde eine solche doch bedeuten, die Migrationsfrage in einen viel grösseren Zusammenhang zu stellen und demzufolge deren Grundursachen – Kolonialismus, Ausbeutung bis in die Gegenwart, Reichtum der Reichen auf Kosten der Armut der Armen, usw. – ins Zentrum zu stellen und demzufolge nicht reine Symptombekämpfung , etwa durch verschärfte Asylverfahren, sondern einen grundlegenden Systemwandel zu fordern, in dem kein Land ein anderes, kein Kontinent einen anderen wirtschaftlich ausbeuten darf.

Aber wahrscheinlich müssen wir noch ein paar Schritte weitergehen und eine grundlegende Überwindung der „Parteiendemokratie“ andenken. Eine solche ähnelt nämlich in fataler Weise dem kapitalistischen Konkurrenzprinzip: Jede Partei versucht mit ihrem Programm, in permanenter Konkurrenz und im Machtkampf gegen die anderen Parteien, möglichst viele Anhängerinnen und Anhänger bzw. „Konsumentinnen“ und „Konsumenten“ anzulocken. Wem dies am besten gelingt, hat das Spiel „gewonnen“, alle anderen haben es „verloren“. Dabei geht es zwangsläufig nicht in erster Linie um Inhalte, und schon gar nicht um solche, die unbequem sind, mit denen man anecken und mit denen man zu viele potenzielle Wählerinnen und Wähler vergraulen könnte. Somit erscheinen wertvolle, notwendige, aber im Moment noch nicht mehrheitsfähige Ideen und innovative Zukunftslösungen schon gar nicht erst auf dem Tapet – so wie es die 17jährige Jamie meinte, als sie sagte: „So wie jetzt kann es nicht weitergehen.“ Es geht eben immer so weiter, wenn nicht radikal Sand ins Getriebe kommt und sich nicht nur einzelne Rädchen, sondern die ganze Maschine in eine andere Richtung zu bewegen beginnt.

Meine beste Zeit als Politiker hatte ich in der siebenköpfigen Exekutive meiner Stadt. Nur selten gab es eine Abstimmung. In der Regel wurde so lange diskutiert, bis man sich einig war und im besten Falle ein jedes Mitglied einen eigenen Teil zur Lösung beitragen konnte. Oft gab es erstaunliche Überraschungen, zum Beispiel, wenn ein Ratsmitglied eine Idee einbrachte, die bei den anderen zunächst nur Kopfschütteln bewirkte. Dann aber begann der eigentliche Denkprozess, durch Fragen, Einwände, Kritik, Einbringen anderer Lösungen, bis man am Schluss oft dann ganz nahe wieder bei jener Lösung, nun aber im Konsens, angelangt war, die am Anfang nur Kopfschütteln ausgelöst hatte. Übrigens ein uraltes, vorkapitalistisches Demokratiemodell, das schon vor Jahrhunderten in den Dorfgemeinschaften Afrikas praktiziert wurde, in der Form des „Palavers“, das so lange dauerte, bis sich alle einig waren – Demokratie durch gegenseitiges Zuhören, durch Versuch und Irrtum, durch Vertiefung, durch Respekt gegenüber Andersdenkenden, durch gemeinsames sich Bemühen um die beste Lösung für alle.

Wie erbärmlich dagegen die Parteiendemokratie, die ich während meiner schlechtesten Zeit als Politiker erlebte: In einem 200köpfigen Parlament, wo man nur zusammenkam, um sich gegenseitig bereits bis ins Letzte vorbereitete Positionen um die Köpfe zu schlagen. Bevor der nächste Redner ans Pult trat, brach die gegnerische Partei schon in höhnendes Gelächter aus. Niemand hörte einem anderen zu, alle wussten schon von Anfang an, was richtig war und was falsch. Nicht wenige versteckten sich hinter einer Zeitung, hackten pausenlos auf ihrem Handy herum oder verliessen sogar den Saal, nur um nicht andere, ihnen widersprechende Meinungen anhören zu müssen. Null Neugierde, null Zuhören, null Respekt gegenüber Andersdenkenden, null echte Fortschritte, null Lernen. Fast wie im Krieg, wo sich jeder möglichst tief in die Erde eingräbt und der Gegner bloss der ist, den man zu zerstören versucht.

Die „Parteiendemokratie“ ist auch deshalb so fortschrittsfeindlich, weil sie davon ausgeht, dass die Mehrheit immer Recht hat. Dabei läge das grösste Potenzial für echten Fortschritt und gesellschaftliche Weiterentwicklung doch gerade in all jenen neuen, unkonventionellen, noch nie gedachten Ideen, die längst noch nicht mehrheitsfähig sind, aber die grosse Chance bieten, die Dinge ganz neu und anders zu sehen, als man sie bisher gesehen hatte. Auf diesem Weg einen entscheidenden Schritt vorwärtszukommen, würde aber auch bedeuten, die verhängnisvolle Spaltung in sogenannte „Profis“ und „Experten“ auf der einen Seite und das gewöhnliche „Volk“ auf der anderen Seite, das angeblich sowieso von allem nichts versteht, zu überwinden. Echte Demokratie ist entweder Basisdemokratie oder sonst gar nichts. Denn Jamie, Lucas und Anke haben nicht schlechtere Ideen und sind nicht weniger gescheit als all die sich selber gegenseitig hochgezüchteten und von der tatsächlichen Lebensrealität der meisten Menschen unendlich weit abgehobenen Kaste bestbezahlter und mehr oder weniger machtbesessener „Expertinnen“ und „Experten“, die trotz einem Riesenaufwand an Zeit und Geld bisher noch erschreckend wenig wirklich Brauchbares zustand gebracht haben.

Wenn Rechthaberei, Intoleranz, Feindbilder und gegenseitige Beschimpfungen in der heutigen Zeit immer krassere Formen annehmen, dann ist das auf den ersten Blick zwar höchst erschreckend und desillusionierend. Auf den zweiten Blick aber ist es nur ein Zeichen dafür, dass sich ein Zeitalter mehr und mehr seinem Ende entgegen neigt. Unter den zerfallenden Trümmern des Bisherigen wartet schon das Neue, voller Ungeduld. Vielleicht Jamie, Lucas und Anke. Und wahrscheinlich noch viele Millionen andere, die es kaum erwarten können…

Nach der Ablehnung der Prämienentlastungsinitiative: „SP zurück auf dem Boden der Realität“ – auf dem Boden welcher Realität?

Mit der Ablehnung der Prämienentlastungsinitiative, so lese ich im „Tagblatt“ vom 10. Juni, habe die SP „einen Wirkungstreffer kassiert“. Als „Wirkungstreffer“ bezeichnet man gemäss Wikipedia „insbesondere beim Boxen Schläge, deren Wirkung den Gegner körperlich und geistig sichtbar beeinträchtigen“. Ist es also den Gegnern der Prämienentlastungsinitiative bloss darum gegangen, der Linken eine vernichtende Niederlage zuzufügen? Fast scheint es so, wenn man jetzt überall die triumphierenden Kommentare der „Sieger“ vom vergangenen Wochenende sieht und hört.

Ein Sieg aber mit überaus bitterem Nachgeschmack. Denn „gesiegt“ haben vor allem all jene Gutverdienenden, für die eine Deckelung der Krankenkassenprämie auf zehn Prozent des Einkommens kaum einen Vorteil bringt, da sie sowieso einen viel kleineren Prozentsatz ihres Einkommens für die Prämie aufbringen müssen. Verloren haben dagegen all jene, die so wenig verdienen, dass sie bis zu 20 Prozent ihres Einkommens für die Prämie hinblättern müssen. Die Abstimmungsanalyse zeigt daher auch deutlich: Je höher das Einkommen, umso geringer die Zustimmung zur Initiative. So funktioniert eine „Demokratie“, die nicht auf Solidarität und Gemeinsinn gegründet ist, sondern auf purem Egoismus.

Einmal mehr ist die Rechnung jener, welche immer wieder Initiativen von grösster gesellschaftspolitischer Dringlichkeit mit allen Mitteln bodigen wollen, aufgegangen: Betrug die Zustimmung zur Initiative in den ersten Meinungsumfragen noch rund 60 Prozent, was ihre breite Akzeptanz bei der Bevölkerung bewies, so nahm sie darnach kontinuierlich ab, bloss weil von ihren Gegnern Angst geschürt wurde, man könnte die entstehenden Mehrkosten nicht bezahlen. Wenn man aber in Betracht zieht, dass diese Mehrkosten 18 Mal geringer gewesen wären als die Gesamtheit aller jährlichen, unversteuerten Erbschaften, dann wird deutlich, wie weit hergeholt diese Argumentation gewesen ist.

„SP zurück auf dem Boden der Realität“ – so lautet der Titel des erwähnten Artikels im W&O. Lieber wäre mir, die FDP und alle anderen, welche die Initiative erfolgreich gebodigt haben, würden endlich auf dem Boden der Realität ankommen. Auf jenem Boden der Realität nämlich, auf der sich, zusammen mit Abertausenden anderen, jene 20Jährige befindet, die mir just dieser Tage erzählte, sie könne sich nach ihrem schweren Autounfall die dringend nötige Rückenoperation nicht leisten, da sie, weil sie die Krankenkassenprämie nicht mehr hätte bezahlen können, auf eine schwarze Liste gesetzt worden sei und deshalb nur noch bei Notfallbehandlungen finanzielle Unterstützung bekomme. So wird sie wohl zeitlebens unter Schmerzen leiden und in ihrer beruflichen Tätigkeit stark eingeschränkt bleiben. Der „Wirkungstreffer“ hat voll ins Schwarze getroffen!

Ukraine-„Friedenskonferenz“ auf dem schweizerischen Bürgenstock: Die Tischordnung und das leibliche Wohl der Gäste als die wichtigsten Knackpunkte…

Der grösste Knackpunkt bei den Vorbereitungen zu der am 15. Juni beginnenden Ukraine-Friedenskonferenz auf dem schweizerischen Bürgenstock, so Protokollchef Terence Billeter, sei derzeit die Tischordnung beim gemeinsamen Abendessen der rund 70 Delegationen, so berichtete das „Tagblatt“ am 3. Juni 2024. Man wisse nämlich wahrscheinlich bis zuletzt nicht genau, welchen Rang die jeweiligen Vertreterinnen und Vertreter der teilnehmenden Staaten bekleiden würden, und genau dies sei eben massgebend für die Tischordnung. Das Menu hingegen stehe mittlerweile fest. Man habe sich für ein saisongerechtes Essen mit lokalen Zutaten entschieden, mit einem „Swiss Touch“. Das Dinner, so Billeter, sei für die Atmosphäre einer Konferenz „extrem wichtig“, denn es bilde für die Staats- und Regierungschefs die einmalige Chance, einmal „unter sich“ zu sein und sich „ungestört auszutauschen“. Die Stimmung sei dabei meistens „erstaunlich herzlich“. Und das sei wichtig. Denn wenn man sich über schlechtes Essen ärgern müsse, sei man „nicht fokussiert auf den Inhalt der Konferenz“. Deshalb habe er, Billeter, höchstpersönlich am Testessen teilgenommen, „eine der schönen Seiten des Jobs“, es sei „fein“ gewesen. Auch hätte man bereits anlässlich eines Rundgangs mit den Botschafterinnen und Botschaftern der Teilnehmerstaaten durch die Konferenzräume und Hotelanlagen des Resorts sämtliche Spezialwünsche der Gäste entgegengenommen – welche das seien, könne Billeter allerdings aus „Sicherheitsgründen“ nicht verraten. Nur eines könne er sagen: Auf keinen Fall dürfe es vorkommen, dass irgendwo eines der mitgebrachten Gepäckstücke verloren gehen würde, das würde die Stimmung zu stark beeinträchtigen.

Doch nicht nur um das Wohlbefinden der Gäste kümmert man sich akribisch, sondern auch um deren Sicherheit. US-Vizepräsidentin Kemala Harris, welche ihr Land an der Bürgenstockkonferenz vertreten wird, geniesst dabei ganz besondere Beachtung. Sie steht unter dem Schutz des Secret Service, dessen Agenten schon mehrere Tage vor dem Konferenzbeginn eine Delegation entsenden werden, um alles vorzubereiten. Unter anderem werden die Agenten Fluchtrouten und Zufluchtsgelegenheiten vorbereiten, die im Notfall zur Evakuation dienen. Das Essen für die amerikanische Aussenministerin wird eingeflogen, die Zubereitung weiterer Mahlzeiten, die nicht eingeflogen werden können, wird von amerikanischen Sicherheitsleuten überwacht werden, diese werden sie auch auftragen. Anreisen wird Kemala Harris in einer Spezialversion der Boeing 747, ausgerüstet mit speziellen Kommunikations- und Abwehrtechnologien. Sollte Harris mit Helikoptern in der Schweiz unterwegs sein, werden diese von einer Eliteeinheit der US-Marines eingeflogen. Dasselbe gilt für alle Motorfahrzeuge, welche die Vizepräsidentin transportieren. Dem Tross der Vizepräsidentin, welcher rund ein Dutzend Fahrzeuge zählt, fahren stets Pilotfahrzeuge und Motorräder lokaler Sicherheitskräfte voraus. Ihnen folgt eine Reihe von schwarzen SUVs mit Autonummern des „US Government“. Zwei der Autos sind jeweils identische schwarze Geländewagen des Typs Chevrolet Suburban mit dem Emblem der Vizepräsidentin, damit nicht klar ist, in welchem der zwei Wagen sie selbst sitzt. Zum Tross gehören auch Geländewagen mit Geheimdienstagenten der National Security Agency. Dieser führt eine Reihe von gesicherten Kommunikationskanälen und Störsendern, etwa für Handynetze, mit, um allfällige Versuche von Angriffen auf die Vizepräsidentin zu erkennen und zu verhindern. Auch ein bis zwei Ambulanzfahrzeuge fahren mit. Stets dabei ist auch ein Bus mit Journalisten, Fotografen und Kameraleuten, die über alle Amtshandlungen Bericht erstatten.

Gleichzeitig stehen ukrainische Soldatinnen und Soldaten schon seit über zwei Jahren in den Schützengräben an der Front, viele von ihnen, ohne jemals eine Pause gehabt zu haben, fern ihrer Liebsten, schlecht ausgerüstet und insbesondere über die Wintermonate extrem tiefen Temperaturen beinahe schutzlos ausgeliefert, nur knapp mit Lebensmitteln versorgt und der ständigen Angst vor dem nächsten Bombenhagel ausgesetzt, während ihre Angehörigen Tag und Nacht zittern müssen, ob sie den geliebten Bruder, die geliebte Schwester oder den geliebten Sohn jemals wieder in die Arme schliessen können. Schwerverletzte werden so schnell wie möglich zusammengeflickt und wieder an die Front geschickt, selbst nach der Amputation eines Körperteils. Junge Männer, die dem Kriegsdienst zu entfliehen versuchen, werden niedergeknüppelt und ins nächste Militärfahrzeug verfrachtet. Was für Gedanken würden ihnen allen wohl durch den Kopf gehen, wenn sie hören würden, dass der grösste Knackpunkt an einer internationalen Konferenz in der Schweiz, bei der es angeblich um Krieg und Frieden in der Ukraine gehe, die Tischordnung beim abendlichen Festessen sei? Man fühlt sich unwillkürlich an jene Zeiten erinnert, vor vielen hundert Jahren, als in sicherer Distanz zu den kämpfenden, niedergemetzelten und auf dem Schlachtfeld verblutenden Soldaten die prunkvoll beflaggten Zelte der Feldherren und ihrer Entourage aufgepflanzt waren, in denen auf mit schneeweissen Tüchern gedeckten Tischen die erlesensten Speisen angerichtet wurden, meist von ehemaligen Soldaten gekocht und serviert, die dermassen übel zugerichtet waren, dass man sie auf dem Schlachtfeld schlicht und einfach nicht mehr brauchen konnte. Nur dass sich die prassenden Herren und die verzweifelt um ihr Überleben Kämpfenden wenigstens noch einigermassen in Sichtweite befanden, während die nun schon bald auf dem Bürgenstock Tagenden auch nicht das Geringste vom Leiden, von den Schmerzen, von der Angst, von der Verzweiflung und von der Trauer der Überlebenden im Kriegsgebiet mitbekommen werden und auch nie Angst zu haben brauchen, jemals selber an die Front gehen zu müssen. Denn, wie Jean-Paul Sartre sagte: „Wenn die Reichen Krieg führen, dann sterben die Armen.“

Die zweifellos lächerlichste Rolle in dieser Tragödie spielt die Schweiz. Dieses Land, das weltweit dank einer Vielzahl von Spitzendiplomatinnen und Spitzendiplomaten über Jahrzehnte höchsten Weltruhm genoss und als neutrales Land in vielen Konflikten die letzte Hoffnung war für friedliche Lösungen, bei denen jeweils die Interessen beider Seiten angemessen berücksichtigt und miteinander in Einklang gebracht werden konnten. Auch im Ukrainekonflikt hätte die Schweiz in Anbetracht ihrer humanitären Tradition eine vielleicht sogar historisch einmalige Rolle übernehmen können. Aber nein, über Nacht wurde alles über Bord geworfen und die vielbewährte Neutralität einfach so, ohne dass sich das Volk jemals demokratisch dazu hätte äussern können, ausgehebelt. Nahezu euphorisch begrüsste Aussenminister Cassis schon gleich zu Beginn des Kriegs vor einer vieltausendköpfigen Menge auf dem Bundesplatz in Bern inmitten eines Meers ukrainischer Flaggen den auf einer Riesenleinwand erscheinenden ukrainischen Präsidenten Selenski herzlichst als „my Dear Friend“, während Putin schon von Anfang an, nicht nur von den meisten Spitzenpolitikern, sondern auch von den allermeisten Medien, als Inbegriff des Bösen in Szene gesetzt und die Vorgeschichte des Konflikts mit sämtlichen Verwicklungen, Machtinteressen und der Mitverantwortung von NATO und US-Imperialismus systematisch ausgeblendet wurden. Die prachtvolle Vase von Neutralität, Diplomatie und Friedensstiftung war in tausend Stücke zersplittert und fast alle klatschten eifrig mit.

Dennoch hätte, als Selenski am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos im Januar 2024 die Schweizer Verteidigungsministerin Viola Amherd mit der Idee einer in der Schweiz zur Durchführung gelangenden Ukraine-Friedenskonferenz überraschte, die Möglichkeit bestanden, dieses Ansinnen, bei dem es für Selenski von Anfang an einzig und allein um die Durchsetzung seiner bzw. der US- und NATO-Interessen und nicht um eine gemeinsame Lösung mit möglichen beiderseitigen Kompromissen ging, entweder zurückzuweisen oder aber an die Bedingung zu knüpfen, Russland als gleichberechtigten Verhandlungspartner einzubeziehen. Doch nichts dergleichen geschah. Offensichtlich gebauchpinselt nahm Viola Amherd Selenskis Charmeoffensive auf und zerbrach auch noch die letzten verbliebenen Scherben von Neutralität und Friedensstiftung in weitere tausend Stücke. Jetzt war die Schweiz endgültig vor den Karren der einen der beiden Konfliktparteien gespannt und das Gegenteil dessen war geschaffen, was die Vorbedingung für eine echte Friedenslösung sein müsste, in der nicht die eine Seite der anderen schon von Anfang die Lösung diktiert. Die Folge: Eine gespaltene Welt und eine Vertiefung und gefährliche Zuspitzung des Konflikts, Aufrüstung statt Abrüstung, gegenseitige Drohgebärden und Beschuldigungen anstelle des Versuchs, wenigstens zaghafte Schritte in Richtung einer gemeinsamen Konfliktlösung zu wagen. Und so ist nun halt notgedrungen auf dem Bürgenstock bereits im Vorfeld weit und breit nicht mehr die Rede davon, welche Voraussetzungen für eine konstruktive Friedenslösung am geeignetsten wären, sondern nur, welche Voraussetzungen nötig sind, damit sich die anwesenden Gäste möglichst wohl fühlen, sich nicht über schlechtes Essen oder verlorenes Gepäck ärgern müssen, in herzlicher Atmosphäre Smalltalk mit möglichst wenigen kontroversen Themen betrieben werden kann, und ja, vor allem, dass bei der Tischordnung keiner der Gäste in seiner Würde verletzt wird. Kostenpunkt dieser Selbstinszenierung: Rund 15 Millionen Franken.

Dabei wäre sogar in diesen Tagen noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, eine echte Friedenslösung in Griffweite gelegen. Doch Putins Vorschlag, den Konflikt „einzufrieren“ und Verhandlungen aufzunehmen, wurde vom Westen in Bausch und Bogen verworfen und als reiner Propagandatrick abgetan. Dabei wäre „Einfrieren“ in Anbetracht eines so gefährlichen Flächenbrands doch gar keine so schlechte Idee. Wenigstens hätte dann das sinnlose gegenseitige Morden endlich ein Ende gehabt und es hätte die Chance zu einer Denkpause möglich gemacht, um im besten Fall tatsächlich Verhandlungen aufzunehmen. Doch lieber betonen die westlichen Regierungen die „Kriegstüchtigkeit“ ihrer Länder, stecken noch mehr Geld in die Rüstung und halten blindlings am Ziel einer Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete fest, was sich, wenn überhaupt, nur durch eine derart massive Intensivierung der Kampfmassnahmen bis hin zum Einsatz von NATO-Truppen verschiedener Länder erreichen lassen würde, welche unweigerlich eine Reaktion Russlands zur Folge haben muss, deren schlimmstmögliches Ausmass bis hin zu einem dritten Weltkrieg man sich gar nicht vorzustellen wagt. Und dies alles aufgrund der einmal in die Welt gesetzten und seither nicht mehr hinterfragten Behauptung westlicher Regierungen, wonach die Ukraine für Putin nur der erste Schritt sei, und er, sollte er die Ukraine erobert haben, dann unweigerlich zur Eroberung weiterer europäischer Länder übergehen würde. Eine Vorstellung, die begreiflicherweise bei den betroffenen Bevölkerungen genug Angst auslöst, um damit jegliche Erhöhungen von Militärbudgets mehrheitsfähig und „demokratisch“ abzusichern – obwohl alles auf einer reinen Fiktion basiert, sagte doch, wie die „Berliner Zeitung“ am 31. März berichtete, NATO-Admiral Rob Bauer, immerhin Vorsitzender des NATO-Militärausschusses: „Es gibt keine Anzeichen, dass Russland eine Invasion in ein NATO-Land plant.“ Doch wer liest schon die „Berliner Zeitung“. Und in welcher anderen Zeitung wäre so etwas, was die alles beherrschende Fiktion augenblicklich entlarven würde, schon zu lesen…

Blenden wir ins Jahr 1999 zurück. Aufgrund anhaltender ethnischer Spannungen und Machtkämpfe in der serbischen Provinz Kosovo schalteten sich die USA und weitere NATO-Staaten in den Konflikt ein und ergriffen einseitig Partei für die antiserbische Befreiungsarmee UCK – nichts anderes als das, was Russland ab 2014 in Anbetracht der zunehmenden Spannungen zwischen der ukrainischen Staatsmacht und Autonomiebestrebungen der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine tat. Schliesslich erfolgte am 24. März 1999 der völkerrechtswidrige militärische Angriff der NATO auf die Bundesrepublik Jugoslawien – wiederum absolut vergleichbar mit dem ebenfalls völkerrechtswidrigen Angriff Russlands am 24. Februar 2022 auf die Ukraine. 78 Tage und Nächte lang bombardierte die NATO Ziele in Serbien, bis die jugoslawische Regierung in den Abzug ihrer Truppen aus dem Kosovo einwilligte, um eine weitere Zerstörung ihres Landes zu verhindern. Die ehemals serbische Provinz Kosovo erklärte sich sodann zur unabhängigen Republik und Jugoslawien hatte auf einen Schlag rund einen Zehntel seines Territoriums verloren – absolut vergleichbar damit, dass sich die Ostukraine zur unabhängigen Republik erklären würde und die Ukraine dadurch etwa einen Fünftel ihres Territoriums verlieren würde. Mit anderen Worten: Würde der Westen den Ukrainekonflikt mit dem gleichen Massstab messen, mit dem er den Kosovokonflikt 1999 gemessen hatte, dann müsste er einer Loslösung der Ostukraine ebenso zustimmen, wie er einer Loslösung Kosovos von Jugoslawien 1999 nicht nur zugestimmt, sondern diese sogar durch einen völkerrechtswidrigen Krieg erzwungen hatte. Doch Logik scheint nicht die besondere Stärke des westlichen Militärbündnisses zu sein. Diese besteht offensichtlich viel mehr darin, unter dem Deckmantel von „Demokratie“ und „Menschenrechten“ eine Politik der Expansion, der Aggression, des Machtstrebens, des Schürens von Feindbildern und des Spiels mit dem Feuer eines alles vernichtenden Weltkriegs zu betreiben und damit ausgerechnet all das zu tun, was man dem vermeintlich „bösen“ und „teuflischen“ Gegner in die Schuhe schiebt.

Und wie wenn mit dem Ende der humanitären Tradition und den Scherben zersplitterter Neutralität nicht schon genug Unheil angerichtet worden wäre, beschloss der Schweizer Ständerat vor wenigen Tagen eine Erhöhung des Militärbudgets bis 2030 um vier Milliarden Franken, ein Betrag, der ausgerechnet bei der Entwicklungshilfe für die am meisten unter Hunger und den Folgen des Klimawandels leidenden Länder des Südens eingespart werden soll. Aber selbst damit noch nicht genug: Am 5. Juni, zehn Tage vor dem Beginn der Bürgenstockkonferenz, wurde eine Militärübung ganz besonderer Art durchgeführt: Auf einem Autobahnabschnitt zwischen Payerne und Avenches, der zu diesem Zweck für einen ganzen Tag lang für den Autoverkehr gesperrt wurde und wo 860 Pfosten sowie unzählige Mittelleitplanken entfernt, schadhafte Stellen im Strassenbelag repariert und Teile des nahe gelegenen Militärflugplatzes auf die Autobahn hatten gezügelt werden müssen, landeten Schweizer Kampfjets des Typs F/A-18, eine Aktion, die in dieser Form letztmals vor 33 Jahren, unmittelbar am Ende des Kalten Kriegs, durchgeführt worden war. Die Luftwaffenshow wurde live vom Fernsehen übertragen, ohne jeglichen kritischen Kommentar. Und die Tageszeitungen übersprudelten sich am folgenden Tag gegenseitig mit seitenlangen Berichten und riesigen Schlagzeilen über das Ereignis, das offensichtlich ganz besonders auch dem Zweck diente, potentielle militärische Gegner der Schweiz zu beindrucken. „Ein Helikopter fliegt über die Autobahnstrecke“, schreibt der „Tagesanzeiger“ am 6. Juni, „kontrolliert, ob auch wirklich keine Gegenstände im Weg stehen. Und noch mal. Und nochmal. Bis – WRUUMMM!!!! – der erste Jet aus Osten angedüst kommt und über die Menge fliegt. Die Kameras klicken wie wild, die ersten Ellbögen werden ausgefahren, denn der spannende Teil kommt erst noch: Gleich landet die F/A-18 auf der Autobahn. Zehn Minuten später landet der zweite Kampfjet, dann der nächste und schliesslich der vierte. Den Hintergrund der Übung erklärt Christian Oppliger, stellvertretender Kommandant der Luftwaffe, damit, dass Russland mit dem militärischen Angriff auf die Ukraine die Grundlage für eine regelbasierte Friedensordnung in Europa zerstört, sich die Sicherheitslage insgesamt verschlechtert habe und ganz Europa nun seine Verteidigung hochfahre, darum müsse auch die Schweiz für den Ernstfall üben.“ Im gleichen Artikel des „Tagesanzeigers“ erfährt man auch, dass die Idee, Autobahnen als Landepisten für Kampfflugzeuge zu brauchen, ursprünglich von den Nazis gekommen sei: „Weil ihre Flugpisten im Zweiten Weltkrieg komplett zerstört worden waren, funktionierten sie Auto- zu Flugbahnen um. Mehrere Staaten, darunter die Schweiz, übernahmen diese Idee. Als in den 60er-Jahren ein flächendeckendes Autobahnnetz gebaut wurde, nahm die Armee direkt Einfluss auf die Planung. Deshalb verwendete man panzerfeste Beläge und sorgte für möglichst viele schnurgerade Abschnitte.“ Auch das „Tagblatt“ ist des Lobes voll und insbesondere von der Idee begeistert, dass die an der Übung beteiligten Armeeangehörigen für diese „einzigartige Mission“ eine Extra-Autobahnvignette als Badge bekommen hätten. Unter den geladenen Gästen auf der Ehrentribüne, so das „Tagblatt“, seien zahlreiche Verteidigungsattachés und hochrangige Offiziere von anderen Ländern gewesen, unter ihnen auch der US-amerikanische Colonel Gonzales, der für seine Begeisterung fast keine Worte gefunden hätte. „That’s insane“, schwärmte Gonzales, „everything in Switzerland is so small and tiny und you still land the jets on this small highway.“

Die immer weiter um sich greifende Kriegseuphorie macht auch nicht vor der kleinen Stadt Halt, in der ich wohne. Morgen Samstag wird im Rahmen eines Strassenfests, zu dem die ganze Bevölkerung eingeladen ist, unter anderem ein Piranha-Panzer zur Schau gestellt, um Jung und Alt einen Einblick in die „Wehrhaftigkeit“ unseres Landes zu vermitteln. Der Protest gegen diese Aktion aus Teilen der Bevölkerung, der sich in gut einem Dutzend Leserbriefen manifestierte, wurde schlicht und einfach ignoriert, die Organisatoren befanden es nicht einmal für nötig, offiziell dazu Stellung zu nehmen. Der Initiant der Aktion weigert sich bis heute, seinen Namen bekannt zu geben. Er möchte nicht ins Schussfeld der Diskussion geraten. Als einer jener, die bei jeder Gelegenheit von der Wehrhaftigkeit und Kriegstüchtigkeit unseres Landes schwärmen und von der Notwendigkeit, sich im Falle eines Krieges dem Feind mutig entgegenzustellen, bringt er selber nicht einmal den minimalen Mut auf, sich öffentlich zu seinem Ansinnen zu bekennen. Aber das scheint in so kriegsbegeisterten Zeiten wie der jetzigen ja auch gar nicht nötig zu sein, ist doch der Panzer offensichtlich in den Köpfen vieler Menschen schon fast so etwas Normales und Alltägliches wie das Kinderkarussell und der Zuckerwattenstand, die links und rechts von ihm für ein vergnügliches Fest für Gross und Klein sorgen werden.

Als Ali aus Afghanistan, seit einer Woche mein neuer Mitbewohner hier in der Schweiz, aus seiner Heimat fliehen musste, war sein zweiter Sohn noch nicht geboren. Als nun Alis Frau und die beiden Buben, nachdem sie eine Zeitlang im Iran Unterschlupf gefunden hatten, letzte Woche ebenfalls in der Schweiz eintrafen, sah Ali seinen inzwischen eineinhalbjährigen jüngeren Sohn zum ersten Mal. Wenn Ali vom Krieg in Afghanistan erzählt, von der Flucht vor den Taliban zusammen mit seinem Vater in einem Auto und sie so schnell fahren mussten, dass das Auto schliesslich an einer Felswand zerschellte und sie zu Fuss weiter in den Iran fliehen mussten, wo sein Vater wenig später, geschwächt durch all die Strapazen, im Alter von 55 Jahren verstarb, wenn er davon erzählt, wie viele gute Freunde und Verwandte er durch den Krieg verloren hat und wenn ihn dann immer wieder die Trauer darüber überkommt, dass er seine Mutter und seine drei Geschwister, die immer noch im Iran leben, vielleicht nie mehr sehen wird, dann wird mir so richtig bewusst, wie unendlich wertvoll Frieden ist und dass wir alles, aber auch alles Erdenklich daran setzen müssen, ihn nicht zu verlieren und ihn unter gar keinen Umständen einem unsichtbaren und anonymen Kriegsgott, der sich immer wieder in unser Denken einzumischen versucht, zu opfern. Er sei zu 100’000 Prozent Pazifist, sagt Ali, und er muss es wissen. Es ist zu befürchten, dass solche Stimmen, und sie wären die allerwichtigsten überhaupt, im zunehmenden Lärm der Kriegstrommeln unserer Tage kaum mehr zu hören sein werden. Offensichtlich unternimmt man lieber alles, um die bestehenden, kriegsschürenden Feindbilder am Leben zu erhalten und sich in erster Linie um das seelische und körperliche Wohl der Gäste auf einer „Friedenskonferenz“ fern aller Realität zu kümmern, statt ernsthaft über eine Welt nachzudenken, in der Waffen und Kriege für immer geächtet sind und nie mehr Menschen ohne Mitgefühl so viel Macht erringen können, dass sie nicht nur Millionen andere, Unschuldige, sondern in letzter Konsequenz auch sich selber dem Untergang zu weihen vermögen. „Sieger“, sagte Michail Gorbatschow, der letzte Präsident der Sowjetunion, „wird man nicht auf dem Schlachtfeld, sondern dadurch, dass man Frieden schafft.“

(Nachtrag am 11. Juni: „Wer in Obbürgen wohnt, das direkt unter dem Hotel liegt“, so „20 Minuten“ am 11. Juni, „muss sich bei jeder Rückkehr nach Hause ausweisen. Jeder Bürger und jede Bürgerin müssen sich bis Donnerstagmittag im Akkreditierungszentrum in der Sporthalle von Obbürgen melden und mit einem Ausweis eine Zugangskarte abholen. Ausgenommen sind lediglich Kinder unter 12 Jahren. Auch Autos müssen akkreditiert werden. Jedes Auto und jeder Lastwagen wird komplett durchleuchtet. Und auf dem nahen Heliport wird mit sogenannten Abrollstrassen, die aus Metallplatten bestehen, auf einer Wiese unterhalb des Bürgenstocks ein temporärer Flugplatz mit fünf Start- und Landepisten eingerichtet. Rund um den Bürgenstock wird zudem eine grossräumige Flugverbotszone eingerichtet. Diese gilt auch für die Drohnen, welche von Landwirten eingesetzt werden, die dringend ihre Wiesen mähen müssen und sie zuvor jeweils mit Drohnen abfliegen, um Rehkitze zu finden, die sich im Gras verstecken. Eine Ausnahmebewilligung für die Drohnen wurde von Bundesrätin Viola Amherd ausgeschlossen.“)

„Friedenskonferenz“ auf dem Bürgenstock: Die lächerlichste Rolle in der ganzen Tragödie spielt die Schweiz…

Bei den Vorbereitungen der Ukraine-Konferenz gehe es, so Protokollchef Billeter, darum, die vielen Spezialwünsche der Delegationen zu erfüllen, damit sich alle möglichst „wohlfühlen“ könnten. Für das Abendessen sei ein reichhaltiges Menu mit lokalen Spezialitäten geplant. Billeter sei beim Testessen dabei gewesen, „eine der schönen Seiten meines Jobs“, wie er meint.

Gleichzeitig stehen ukrainische Soldatinnen und Soldaten schon seit über zwei Jahren in den Schützengräben an der Front, fern ihrer Liebsten, nur knapp mit Lebensmitteln versorgt und der ständigen Angst vor dem nächsten Bombenhagel ausgesetzt. Schwerverletzte werden so schnell wie möglich zusammengeflickt und wieder an die Front geschickt. Junge Männer, die dem Kriegsdienst zu entfliehen versuchen, werden niedergeknüppelt und ins nächste Militärfahrzeug verfrachtet.

Es gehe bei der Ukraine-Konferenz um die Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten? Ginge es tatsächlich darum, müsste man den Krieg so schnell wie möglich beenden und die betroffene Bevölkerung in eine demokratisch abgestimmte zukünftige Friedenslösung einbeziehen. Das würde sogar weniger kosten als die 15 Millionen Franken, welche das Stelldichein der internationalen Politprominenz auf dem Bürgenstock verschlingt, und zudem all jenen, die unter den Folgen dieses Konflikts schon mehr als genug gelitten haben, jenes „Wohlbefinden“ verschaffen, das jetzt nur einigen wenigen sowieso schon im Übermass Privilegierten vorbehalten ist.

Da würde selbst die 68Jährige noch ein Gewehr packen und an die Front gehen: Wenn Feindbilder auch noch den letzten Rest Verstand rauben…

Selbstverständlich ist jedes ukrainische Kind, das von einer russischen Bombe getötet wird, eines zu viel. Und selbstverständlich gibt es auch für alle anderen Formen von Gewalt, die im Verlaufe eines Krieges verübt werden, egal von welcher der Kriegsparteien, nicht die geringste Rechtfertigung, wie auch nicht für alle anderen Formen von Gewalt, die nicht nur zu Kriegszeiten verübt werden. Aber wenn man sich dann die Empörung westlicher Politiker und Medien über die von russischer Seite im Ukrainekrieg begangenen Gewalttaten vor Augen führt und dieses bis auf die äusserste Spitze getriebene Feindbild in Gestalt des russischen Präsidenten Putin, der nicht selten sogar mit Hitler oder gar mit dem Teufel verglichen wird, dann muss man sich schon fragen: Wo war denn diese Empörung, als US-Präsident Bush im März 2003 den Irak überfiel, aufgrund einer reinen Lügenpropaganda, mit welcher der Welt weisgemacht werden sollte, dass es im Interesse der gesamten Menschheit liege, diesem gefährlichen Diktator Saddam Hussein so schnell wie möglich ein Ende zu bereiten, und so ein Krieg in Gang gesetzt wurde, dem schliesslich über eine halbe Million Menschen zum Opfer fallen sollten. Wo ist die Empörung über das unbeschreibliche Leiden jener Tag für Tag zehntausend Kinder, die weltweit vor ihrem fünften Lebensjahr qualvoll sterben, weil sie nicht genug zu essen haben – als unmittelbare Folge eines Wirtschaftssystems, in dem die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo sich damit am meisten Geld verdienen lässt, was eigentlich bedeutet, dass man all die Nutzniesser dieses Geschäfts von den Rohstoff- und Nahrungsmittelkonzernen bis zu jedem einzelnen ihrer Aktionäre und Aktionärinnen mit gutem Recht ebenso an den Pranger stellen müsste wie irgendeinen diktatorischen Machthaber, der sich auf Kosten seines Volks masslos bereichert. Wo ist die Empörung über all jene Politiker und Ökonomen, die blindlings am kapitalistischen Wachstumswahn festhalten und dadurch unmittelbar verantwortlich sind für Klimawandel, Umweltzerstörung und die Vernichtung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen. Und wo ist die Empörung über all die unsägliche Gewalt, die täglich von Männern an Frauen verübt wird, mitten in den „freiesten“ und „demokratischsten“ Ländern der Welt.

Die Empörung, die uns von den Medien in Gestalt von hochgeschaukelten Prototypen wie Strack-Zimmermann, Röttgen, Kiesewetter, Roth, Baerbock, Gabriel, Hofreiter, Pistorius, Cameron, Stoltenberg und all ihren kleineren und grösseren Nachahmungstätern tagtäglich entgegengeschleudert wird, muss daher noch einen anderen Grund haben als bloss ihr ehrliches Mitfühlen mit dem Leiden anderer – sonst müsste sich, wie gesagt, ihre Empörung auch angesichts zahlreicher anderer, mindestens so schlimmer Verbrechen ebenso wutschnaubend manifestieren. Dieser andere Grund ist wohl unverkennbar ein gezieltes Schüren von Hass auf ein ganz bestimmtes und definierbares Feindbild, das sich in diesem Falle – in der Gestalt von Putin – mit einfachsten Mitteln der Propaganda zurechtzimmern lässt und leicht eine Massenwirkung erzeugen kann, indem nämlich die in den meisten Menschen schlummernde Tendenz, für alles Üble und Schlimme einen Hauptschuldigen zu suchen und sich selber, im Gegensatz zu einer Welt des „Bösen“, als Teil der Welt des „Guten“ zu fühlen, wirksam angefacht und vervielfacht werden kann. Weil das alleine aber noch nicht genügt und von zu vielen durchschaut werden könnte, wird dann kräftig nachgeholfen, indem man zum Beispiel Begriffe wie „Putler“ erfindet, auf den Titelseiten von Hochglanzmagazinen fratzenhaft entstellte Porträts dieses Inbegriffs alles Bösen erscheinen lässt und fast ausschliesslich nur solche Fakten, Aussagen oder Zitate weiterverbreitet, die dem gewünschten Feindbild dienen, alle anderen aber, die es in Frage stellen könnten, entweder verschweigt oder als „Lügen“ oder „Propaganda“ zu diffamieren versucht. Vielleicht ist es den „Feindbildschürern“ nicht einmal bewusst, was sie in letzter Konsequenz damit bewirken. Tatsache aber ist, wie es der Buchautor Thomas Pfitzer so treffend formuliert: „Der Aufbau von Feindbildern ist die wirksamste Methode zur Manipulation der Massen.“

Das höchst Gefährliche am Aufbau von Feindbildern ist, dass sie nach und nach den Verstand zu verdrängen oder gar auszulöschen drohen. Offenbar lösen sie in den tieferen Schichten der Psyche so urgewaltige Reaktionen aus, dass diese immer um einen Tick schneller sind als das vernünftige und logische Denken. Um es an ein paar konkreten Beispielen, die ich im Verlaufe der vergangenen zwei Jahre immer wieder erlebt habe, zu verdeutlichen: Jemand verglich Putin mit Hitler. Dann müsste man aber ehrlicherweise, so meine Gegenfrage, auch all jene US-Präsidenten, die für den Vietnamkrieg, für die verdeckten Militäroperationen und unterirdischen Folterzentren in Zentralamerika mit Zehntausenden Toten oder für den völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak verantwortlich waren, mit Hitler vergleichen. Noch nie hat jemand dieser Gegenfrage widersprochen, alle haben gesagt: Eigentlich hast du Recht. Schnell haben sie die Denkschlaufe wieder hingekriegt, wären alleine aber offensichtlich nicht darauf gekommen, so tief hatte das Feindbild Putin bereits von ihrem Denken Besitz ergriffen und alles andere ausgelöscht. Ähnliche Reaktionen zeigen sich jeweils bei der Gegenfrage, weshalb man denn konsequenterweise, analog zum Boykott einer russischen Opernsängerin am KKL Luzern, nicht anlässlich völkerrechtswidriger Kriege in früheren Jahren auch eine amerikanische Opernsängerin hätte boykottieren müssen, oder, wenn es um die Osterweiterung der NATO geht und ich die Frage stelle, wie wohl die USA reagieren würden, wenn sich Kanada oder Mexiko einem Militärbündnis mit Russland anschliessen würden. Immer ist die Reaktion: Ja, eigentlich hast du Recht, das habe ich mir noch gar nie überlegt. Ein weiteres Beispiel betrifft einen Zeitungsartikel über das Referat eines in Gaza gebürtigen und heute in der Schweiz lebenden Kinderarztes, den ich kürzlich für die Lokalzeitung geschrieben habe. In seinem Referat hatte er die Attacken der Hamas vom 7. Oktober 2023 mit klaren Worten verurteilt, was ich im betreffenden Artikel auch erwähnte, und zwar gleich an zwei Stellen. Allen Ernstes meldete sich ein Leser dieses Artikel bei mir und teilte mir sein Befremden darüber mit, dass sich der palästinensische Kinderarzt nicht eindeutig von den Hamasattacken distanziert hätte. Als ich ihm vorschlug, den Artikel noch einmal zu lesen, musste er feststellen, dass er die betreffende Stelle offensichtlich schlicht und einfach überlesen hatte, und dies sogar zwei Mal. Hat sich das Feindbild erst einmal festgesetzt, scheint es also sogar die Lese- und Aufnahmefähigkeit zu beeinträchtigen. Ein besonders krasses Beispiel war die Diskussion mit einer 68jährigen Bekannten, die auf meine vorsichtigen Relativierungen des Putin-Feindbildes dermassen enerviert reagierte, dass sie allen Ernstes beteuerte, eigenhändig zum Gewehr zu greifen und an die Front zu gehen, sollte sich Putin getrauen, auch nur einen Schritt in Richtung unserer Grenze zu wagen – Feindbild und Wut im tiefsten Inneren müssen so stark gewesen sein, dass sie ihr auch noch den letzten Rest Verstand geraubt hatten.

Und das hat schon eine ziemlich lange Vorgeschichte. Die Geschichte der „Russophobie“. Die Geschichte, dass alles, was aus dem Osten kommt, des Teufels ist. Als Ronald Reagan die Sowjetunion als das „Reich des Bösen“ zu bezeichnen pflegte, ging es vor allem noch um den Kommunismus – das Feindbild war perfekt. Schwieriger wurde es nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und damit dem Verschwinden dieses Feindbilds. Rasch musste ein neues Feindbild her. Vorübergehend sprang der sogenannte islamische Terrorismus in die Lücke. Doch mit dem Ukrainekrieg bot sich die Gelegenheit, das alte Russland-Feindbild neu aufzuwärmen. Nun ist es nicht mehr der „böse“ Kommunismus, sondern der „böse“ Putin – und die Welt ist wieder in Ordnung. Wie sehr dieser latente Rassismus gegenüber „östlichen“ Völkern immer noch wirksam ist, zeigt sich auch darin, wie – gerade auch in der Schweiz – mit Flüchtlingen umgegangen wird: Sind es, wie 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei oder 2022 in der Ukraine, Opfer des „bösen“ Ostens bzw. Russlands, werden sie mit weit offenen Armen empfangen, landesweit werden eifrigst Kleider und Lebensmittelpakete gesammelt. Sind es hingegen Opfer des eigenen kapitalistischen Macht- und Ausbeutungssystems wie etwa die Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, Afghanistan oder Nordafrika, dann schmilzt die Grosszügigkeit und Aufnahmebereitschaft schon schnell einmal gegen Null, und dies erst noch trotz einer ungleich viel grösseren Mitschuld an den Ursachen dieser Flüchtlingsbewegungen. Latenter Rassimus gegenüber denen „aus dem Osten“ zeigt sich auch besonders drastisch, wiederum nicht zuletzt in der Schweiz, im Umgang mit Migrantinnen und Migranten aus den Balkanländern, die gerne abfällig als „Jugos“ bezeichnet werden und bis heute – ganz im Gegensatz etwa zu den Expats aus den USA oder westeuropäischen Ländern – vielfach politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt sind. In noch schärferem Ausmass zeigt sich dieser latente Rassismus etwa auch im Verhalten gegenüber Sinti, Roma und anderen Völkern „aus dem Osten“. Unweigerlich erinnert man sich an den von Hitler geprägten Begriff der „Untermenschen“. Hitler hätte wohl seine helle Freude daran, dass wir sein Gedankengut auch heute noch, 90 Jahre später, nicht aus unseren Köpfen verloren haben…

Zurück zum Feindbild Putin. „Die Entbindung vom Nachdenken“, so die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, „ist der erste, gefährlichste Schritt in den Totalitarismus.“ Und im „Netzwerk der Friedenskooperative“ lesen wir: „Der Abbau von Feindbildern ist die unerlässliche Voraussetzung für Frieden. Denn Feindbilder haben die zentrale Funktion, Rüstung und Kriege zu rechtfertigen. Darüber hinaus stabilisieren sie Herrschaftssysteme, da sie von eigenen Problemen und Unzulänglichkeiten ablenken oder deren Ursachen dem vermeintlichen Feind in die Schuhe schieben. Indem der Feind als minderwertig oder gefährlich dargestellt wird, wird automatisch das Selbstbild erhöht. Die Feindbilder können zur Eskalation eines Konflikts führen bis hin zu einem Krieg.“

Es ist die alles entscheidende Frage über Leben oder Tod. Ob die Menschheit auf der Entwicklungsstufe von Rassismus und Feindbilddenken verharren und ihr eigenes Überleben aufs Spiel setzen will. Oder ob wir es schaffen, einen nächsten Entwicklungsschritt zu bewältigen, uns von Rassismus und Feindbilddenken zu befreien, unseren Verstand zu gebrauchen und damit den Weg zu öffnen hin zu einer Welt, in der nicht mehr das Gegeneinander dominiert, sondern das Miteinander, und in der dann in letzter Konsequenz auch alle Waffen und Armeen überflüssig geworden sein werden.

SP-Prämieninitiative auf des Messers Schneide: „Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwächsten“…

Gemäss einer Umfrage von „20 Minuten“ und Tamedia würden derzeit 50% der Befragten Ja oder eher Ja sagen zur SP-Prämieninitiative, die eine Begrenzung der Belastung durch die Krankenkassenprämien auf zehn Prozent des Einkommens vorsieht. 48 Prozent würden Nein oder eher Nein stimmen. Nach dem Einkommen der Befragten abgestuft, würden von den am schlechtesten Verdienenden 67% der Initiative zustimmen, der Ja-Anteil geht dann mit steigendem Einkommen kontinuierlich zurück bis zu den am besten Verdienenden, von denen noch 27% zur Prämieninitiative Ja oder eher Ja sagen.

Sehen die, denen es besser geht, es denn nicht als ihre Pflicht an, sich um jene zu kümmern, denen es schlechter geht? Stört es all jene, die nur gerade mal 3 oder 4 Prozent ihres Einkommens für ihre Krankenkassenprämie aufbringen müssen, nicht, dass Schlechtverdienende, die bis zu 20 Prozent ihres Einkommens für die Prämie bezahlen müssen, unter dieser Last fast zerbrechen?

Zahlen der Schuldenberatung Schweiz zeigen, dass der Anteil der Krankenkassenschulden an den Gesamtschulden in den letzten 8 Jahren von 8 auf 15 Prozent gestiegen ist und diese damit innerhalb sämtlicher Schuldenarten den zweiten Platz einnehmen, unmittelbar nach den Steuerschulden. Die hohen Prämien führen auch dazu, dass viele Armutsbetroffene die höhere Franchise wählen, für den hohen Selbstbehalt dann aber nicht aufkommen können und selbst auf dringend nötige ärztliche Behandlungen verzichten müssen. In einzelnen Kantonen gibt es sogar schwarze Listen, auf denen all jene landen, die ihre Prämien nicht bezahlen können – für diese werden nur noch Notfallbehandlungen von der Krankenversicherung übernommen. Die Verzweiflung vieler ist schon so gross, dass immer mehr Armutsbetroffene zur Kreditkarte greifen und damit die Schuldenlast so lange wie möglich hinausschieben. „Ich habe über 30‘000 Franken Schulden bei meiner Krankenkasse“, klagte kürzlich ein 35Jähriger, „mein Leben ist ruiniert und ich kann mir keinen normalen Lebensstil mehr leisten.“

Die FDP, welche an vorderster Front gegen die SP-Prämieninitiative kämpft, begründet dies damit, dass dadurch Mehrkosten von 6,5 Milliarden Franken anfallen würden. Gleichzeitig werden jährlich 90 Milliarden Franken Erbschaften steuerfrei weitergegeben, besitzen allein die 300 Reichsten des Landes über 800 Milliarden Franken und könnte man durch ein verschärftes Vorgehen gegen Steuerhinterziehung jährlich bis zu 15 Milliarden Franken einsparen. Die durch die Annahme der SP-Prämieninitiative verursachten Mehrkosten liessen sich, fair verteilt, spielend bewältigen.

„Denn die Stärke des Volkes“, so heisst es in der Präambel der schweizerischen Bundesverfassung, „misst sich am Wohl der Schwächsten.“ Denken wir daran, wenn wir den Abstimmungszettel zur SP-Prämieninitiative ausfüllen, dieser hoffentlich mit deutlichem Mehr zustimmen und damit ein Zeichen setzen, dass die Idee einer solidarischen Schweiz auch heute noch und mehr denn je ihre Glaubwürdigkeit nicht verlieren darf.

Die Schweiz im Jahre 2024: Werden Fahnen bald schon besser geschützt sein als Menschen?

Weil eine Walliser Jungsozialistin in einer „Wutrede“ zum 1. August sagte, sie könnte auf alle diese Schweizer Fahnen „kotzen“, erhielt sie Hunderte böser Zuschriften, in denen sie und ihre Eltern beleidigt und bedroht wurden. Einer schrieb sogar, sie solle „brennen“. Und jetzt, wie die „Sonntagszeitung“ am 26. Mai 2024 berichtet, fordert auch der Walliser SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor, dass die Beleidigung der Schweizer Flagge zukünftig in jedem Fall bestraft werden solle. Ein Strafmass, welches nicht einmal in den USA gilt, einem Land, in dem Patriotismus beileibe nicht gerade klein geschrieben wird.

Wir leben in seltsamen Zeiten. Menschen darf man beleidigen, man darf sogar fordern, sie sollen „brennen“. Fahnen aber soll man nicht mehr länger beleidigen dürfen. Sind Fahnen auf einmal wichtiger als Menschen? Unwillkürlich denke ich an die Bilder von ukrainischen Dörfern, welche von russischen Truppen besetzt waren. Als sie von ukrainischen Truppen wieder zurückerobert und dabei vollständig zerstört worden waren, wurde über ihren Ruinen meist als erstes eine grosse ukrainische Flagge aufgepflanzt. Das Einzige, was sich auf den triumphal gezeigten Bildern der „befreiten“ Dörfer noch bewegte, war die Flagge im Wind – das Leben der Menschen, die früher in diesen Häusern gewohnt hatten, war dagegen vollständig ausgelöscht. Hauptsache, die Dörfer bzw. das, was von ihnen übrig geblieben war, befand sich wieder auf dem eigenen Territorium. Ich denke auch an die erste Mondlandung. Auch auf jenen Bildern, die über die Medien der ganzen Welt verbreitet wurden, schien die auf dem Mond aufgepflanzte US-Flagge etwas vom Wichtigsten zu sein. Und dann sehe ich auch die Sportlerinnen und Sportler vor mir, die sich bei internationalen Wettkämpfen nach einer siegreich bewältigten Disziplin von oben bis unten in eine überlebensgrosse Fahne ihrer Nation einhüllen und so dann vor dem frenetisch klatschenden Publikum ihre Ehrenrunden drehen.

Wenn Nationalfahnen eine so geradezu heilige Bedeutung bekommen – und es liessen sich unzählige weitere Beispiele anfügen -, dann verstehe ich die Jungsozialistin, welche das zum „Kotzen“ findet, nur allzu gut. Denn Fahnen sind immer Ausdruck von Nationalismus, der nur allzu schnell in jene Übersteigerung zu kippen droht, welche dann in letzter Konsequenz im Kampf der vermeintlich „Guten“ gegen die vermeintlich „Bösen“ selbst nicht vor der Auslöschung unzähliger Menschenleben zurückschreckt. Fahnen und anderen Symbolen für Patriotismus und Nationalismus gegenüber kann man nicht genug kritisch sein. Besser als Fahnen zu heiligen, täten wir daran, uns eine Welt ohne Fahnen, ohne engstirnigen Nationalismus und ohne staatliche Grenzen vorzustellen, sind wir doch nicht in erster Linie Angehörige eines bestimmten Staates, sondern in erster Linie Bewohnerinnen und Bewohner eines uns allen gemeinsam geschenkten Planeten, für den wir auch, über alle Grenzen hinweg, die uns künstlich voneinander zu trennen versuchen, gemeinsam verantwortlich sind.

„Der Erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab“, sagte Jean-Jacques-Rousseau, „und der auf den Gedanken kam zu sagen, dieses Stück Land gehöre ihm, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken wäre dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte, sich zu hüten, dem Betrüger Glauben zu schenken, denn niemand darf vergessen, dass zwar die Früchte allen gehören, die Erde aber niemandem“.

Ich träume von einer Zeit, in der freche, mutige und auf den ersten Blick irritierende oder gar verstörende Aussagen junger, noch nicht vollkommen angepasster Menschen nicht mehr dazu führen, möglichst rasch zum Straf- und Disziplinierungsbuch zu greifen, sondern dazu, eigene Denk- und Verhaltensmuster kritisch zu hinterfragen. Wie der Fall der Walliser Jungsozialistin zeigt, hat jedoch die Disziplinierungskeule schon bestens funktioniert: Die 28Jährige hat die Verwaltung ihrer Social-Media-Konten inzwischen vorübergehend jemand anderem übergeben und will zu ihrer damaligen Aussage, sie fände eine so grosse Anzahl von Schweizer Fahnen „zum Kotzen“, heute nicht mehr Stellung nehmen.

Den SVP-Mann wird es freuen. Wie zahlreiche Vorfälle gezeigt hätten, so wird er im Artikel der „Sonntagszeitung“ zitiert, sei die Flagge in der Schweiz „zu wenig geschützt“. Das soll sich möglichst bald ändern. Dann, hurra, werden Flaggen sogar besser geschützt sein als jene rund 25‘000 Jugendlichen, die jährlich von zuhause oder aus Heimen ausreissen, im Alter oft schon ab elf Jahren selbst mitten im Winter auf offener Strasse übernachten, dabei Drogen- und Menschenhändlern hilflos ausgeliefert sind und oft sogar für immer spurlos verschwinden. Um sich dieses Problems auf politischer Ebene anzunehmen, bräuchte es erhärtete statistische Daten – so lange diese fehlen, können keine entsprechenden Prozesse in Gang gebracht werden. Im Wissen darum und im Wissen um die Dringlichkeit des Problems, haben Menschenrechtsorganisationen schon vor längerer Zeit den Bundesrat aufgefordert, eine Erhebung der notwendigen Daten in Auftrag zu geben – bis heute ist der Bundesrat nicht auf dieses Anliegen eingetreten. Vielleicht wird er ja zuvor noch darüber befinden, ob die Schweizer Flagge zukünftig unter höheren Schutz gestellt werden soll…

Fragwürdige Aussagen eines Universitätsprofessors über die „Naivität“ der propalästinensischen Protestbewegung…

Den Gegnern propalästinensischer Proteste scheint jedes Mittel recht zu sein, diese in ein schiefes Licht zu rücken. So steht ein ganzseitiges Interview mit Johannes Saal, Religionssoziologe und Politikwissenschaftler an der Universität Luzern, im „Tagesanzeiger“ vom 18. Mai 2024 unter dem Titel „Viele junge Menschen sind sehr naiv“. Saal gesteht den jungen Menschen zwar „gute Absichten“ zu, tatsächlich aber seien die meisten von ihnen „sehr naiv“ und hätten sich noch nie ernsthaft „mit diesem Konflikt auseinandergesetzt“. Gerade diese „Unwissenheit“, so Saal, mache junge Menschen „für gewisse Narrative anfällig“.

Was für eine Anmassung, ist es doch wahrscheinlich gerade umgekehrt: Die allermeisten der in dieser Protestbewegung aktiven jungen Menschen sind sehr wohl über die Hintergründe des Nahostkonflikts informiert – im Gegensatz zur Mehrheit der älteren Bevölkerung, die über Jahrzehnte sehr einseitig nur aus der Sicht Israels informiert worden ist. So zum Beispiel haben 70 Prozent der deutschen Bevölkerung noch nie etwas von der Nakba, der systematischen und gewaltsamen Vertreibung des palästinensischen Volks aus seinem ursprünglichen Lebensraum ab 1948, gehört, eine entsprechende Umfrage in der Schweiz käme wohl zu einem ähnlichen Ergebnis.

Weiter sieht Saal einen wesentlichen Unterschied zwischen den Protesten gegen den Vietnamkrieg und den aktuellen Protesten gegen den Krieg in Gaza darin, dass der Vietnamkrieg „deutlich mehr zivile Opfer“ gefordert hätte. Als wären über 33‘000 zivile Opfer im Gazakrieg immer noch nicht genug, um in aller Deutlichkeit und Schärfe ein Ende dieses Verbrechens zu fordern. Was für ein zynisches Argument gegen eine Rechtfertigung der propalästinensischen Protestbewegung!

Zudem spricht Saal im Zusammenhang mit dem „Israel-Palästina-Konflikt“ von einem „asymmetrischen Konflikt“, weil in diesem „terroristische Organisationen wie die Hamas“ und ein „Staat“ gegeneinander kämpfen. Im Klartext: Etwas „Illegales“, nämlich eine Terrororganisation, kämpft gegen etwas „Legales“, nämlich gegen einen Staat. In einem Wisch wirft Saal sämtliche historischen Tatsachen über Bord: Dass man einen Staat, der aufgrund jahrzehntelanger illegaler Landnahme entstanden ist, wohl kaum als etwas „Legales“ bezeichnen kann. Dass man den Völkermord, den Israel derzeit am palästinensischen Volk im Gazastreifen begeht, ehrlicherweise genauso als „Terrorismus“ bezeichnen müsste. Und dass dieser Konflikt zwar tatsächlich „asymmetrisch“ ist, aber genau im entgegengesetzten Sinn, steht doch ein seit über 70 Jahren diskriminiertes, verfolgtes, entrechtetes und seiner existenziellen Grundlagen beraubtes Volk einem Staat gegenüber, der von der weltweit mit Abstand stärksten Militärmacht hochgerüstet worden ist. Und wie wenn das alles nicht schon genug wäre, wärmt Saal an dieser Stelle einmal mehr das Argument auf, dass man den „jetzigen Krieg“ auch als „Reaktion auf den Angriff vom 7. Oktober 2023“ sehen könne – offensichtlich reicht sein Gedächtnis nicht weiter zurück als bis zu diesem Datum.

„Ich bezweifle, dass diese Proteste grosse gesellschaftliche Transformationsprozesse in Gang bringen“, behauptet Saal weiter. Wiederum eine höchst willkürliche Aussage, die er dann damit begründet, dass diese Proteste auch auf „andere linke Anliegen“ wie „Klimabewegung, Rassismus, den feministischen Diskurs und sogar die Genderfrage ausgeweitet werden können“, um sich damit geradezu selber zu widersprechen, bildet doch genau diese zunehmende weltweite Vernetzung unterschiedlicher, aber letztlich für die gleichen humanitären Grundanliegen einstehenden Protestbewegungen den grössten Anlass zu Hoffnung, grosse gesellschaftliche Transformationsprozesse in Gang bringen zu können.

Saal scheint auch in hohem Masse lernresistent zu sein. Seit Monaten erklären selbst angesehenste jüdische Persönlichkeiten, unter ihnen nicht wenige Holocaust-Überlebende, dass Antisemitismus in Form einer Diskriminierung von Menschen jüdischer Abstimmung und die Kritik an der derzeitigen israelischen Regierungspolitik nichts miteinander zu tun haben und man ja dann, wenn es tatsächlich das Gleiche wäre, auch all jene Jüdinnen und Juden, welche die Politik des Netanyahu-Kabinetts kritisieren, ebenfalls als Antisemitistinnen und Antisemitisten bezeichnen müsste. Saal scheint nichts davon gehört zu haben und sagt, den propalästinensischen „Akteuren“ sei „eine ganz klar antizionistische Ausrichtung bis hin zum offenen Antisemitismus“ gemeinsam. Er suggeriert damit, dass es so etwas gibt wie einen fliessenden Übergang von einem zum andern, während sich jedoch in Tat und Wahrheit die allermeisten in der Protestbewegung Aktiven klar und deutlich von jeglichem Antisemitismus distanzieren.

Saal empfindet die „jetzigen Protestformen“ nicht zuletzt auch deshalb „grundsätzlich kritisch“, weil durch sie der „universitäre Ablauf gestört“ wird. Saal scheint noch nicht begriffen zu haben, dass die Zeiten, da sich die Wissenschaften aus allem, was mit Politik zu tun hat, herauszuhalten versuchen, hoffentlich für immer vorbei sind. Denn auch das angebliche „Heraushalten“ aus der Politik unter dem Vorwand scheinbarer „Neutralität“ und „Objektivität“ ist hochpolitisch, in dem Sinne nämlich, dass bestehendes Unrecht und bestehende gesellschaftliche Missstände und Fehlentwicklungen dadurch als unveränderbar und unbeeinflussbar hingenommen und damit zementiert werden.

Schliesslich schlägt Saal dem Fass noch das letzte Stück Boden aus, indem er eine „wehrhaftere Demokratie“ fordert und damit meint, dass man „politische Meinungen, die diametral zu unseren Grundwerten der freien, liberalen Gesellschaft stehen, klar und deutlich benennen und verurteilen“ müsse. Mit anderen Worten: Die sich für ein schnellstmögliches Ende des Völkermords im Gazastreifen engagierende weltweite Protestbewegung stehe im Gegensatz zu den Grundwerten einer freien Gesellschaft und müsse deshalb verurteilt werden. Da findet man kaum mehr Worte und kann sich nur fragen, was sich die Redaktionsmitglieder des „Tagesanzeigers“, immerhin einer der grössten und wichtigsten Schweizer Tageszeitungen, wohl gedacht haben mögen, als sie sich entschieden haben, Johannes Saal eine ganze Zeitungsseite zur Verfügung zu stellen, um so unausgegorene, widersprüchliche und von gefährlichen Vereinfachungen nur so strotzende „Weisheiten“ zu verbreiten.

Nicht die jungen Menschen, die sich an den propalästinensischen Protesten beteiligen, sind naiv. Wenn jemand naiv ist, dann ist es ein Universitätsprofessor, der nicht zur Kenntnis genommen hat, dass minimales Geschichtsbewusstsein auch bei weiten Teilen der älteren Bevölkerungsgruppe nur sehr mangelhaft vorhanden ist. Der 33‘000 Opfer des Gazakriegs durch den Vergleich mit den Opfern des Vietnamkriegs relativiert und damit verharmlost. Der das Machtverhältnis zwischen dem palästinensischen Volk und dem Staat Israel ins Gegenteil verkehrt. Der so tut, als hätte die Vorgeschichte des heutigen Konflikts am 7. Oktober 2023 begonnen und nicht schon 1948 mit der ethnischen „Säuberung“ Palästinas. Der ohne stichhaltige Begründung der propalästinensischen Protestbewegung nicht nur die Legitimität, sondern auch jegliche gesellschaftliche und politische Wirkung abspricht. Der mit dazu beiträgt, Antisemitismus und Kritik an der derzeitigen israelischen Regierungspolitik unzulässig miteinander zu vermischen. Der immer noch nicht begriffen hat, dass es höchste Zeit ist für die Wissenschaften, von ihrem Sockel vermeintlicher „Objektivität“ herunterzusteigen und sich in die Alltagspolitik einzumischen. Und der allen Ernstes die Forderung erhebt, Protestbewegungen wie jene gegen den Völkermord in Gaza seien im Namen der „Demokratie“ unmissverständlich zu verurteilen und, was er zwar nicht sagt, aber die logische Folge davon wäre, auch zu verbieten.

Es begann mit einem gestohlenen Schirm und endete mit der Erkenntnis, dass sich die Welt jeden Tag ein klein wenig verändern lässt…

Alles begann mit einem gestohlenen Schirm. Ich hatte ihn erst kürzlich gekauft und war richtig stolz darauf: So ein schöner, edel aussehender schwarzer Schirm mit einem Muster aus winzigen goldenen Würfeln und mit einem Griff aus echtem Holz. Vor dem Einkaufen im Supermarkt hatte ich ihn in den Schirmständer gestellt, doch nach dem Einkaufen war er spurlos verschwunden. Der erste Impuls: ärgerlich, einfach nur ärgerlich, der wunderschöne Schirm, einfach weg. Doch erstaunlicherweise war der Ärger schon kurz darauf verflogen, spurlos verschwunden wie der Schirm. Und ich sagte mir: Er ist ja nicht weg, es hat ihn bloss jemand anders. Und dieser andere ist jetzt vielleicht ebenso stolz auf den wunderschönen Schirm, wie ich zuvor auf ihn gewesen war. Und auf einmal war alles ganz leicht. Ich ging die fünf Minuten zum nächsten Schirmgeschäft, ein besonderes, nicht alltägliches Gefühl, so ohne Schirm durch den prasselnden Regen zu gehen. Zuerst dachte ich, ich würde genau den gleichen Schirm noch einmal kaufen. Doch dann sah ich ihn: Feuerrot, dazwischen, sanft ineinanderfliessend, orange Flächen, darüber ein Muster aus unterschiedlich langen, wellenartigen Strichen, zwischen ihnen kleine Vögel, als flögen sie zwischen Kontinenten hin und her. Es war Liebe auf den ersten Blick. Als ich ihn dann im Regen aufspannte und nach Hause ging, war alles wieder gut: Irgendwer besass jetzt einen wunderschönen schwarzen Schirm. Das kleine Schirmgeschäft mit der sympathischen Verkäuferin, bei dem ich mich, angesichts des gnadenlosen Konkurrenzkampfs mit dem Internet, sowieso schon lange gewundert habe, dass es nicht längst schon dichtmachen musste, hatte wieder ein paar Franken mehr in der Kasse. Und ich habe jetzt den schönsten Schirm, den ich jemals gehabt habe…

Als ich die Geschichte am nächsten Tag einer guten Freundin erzählte, sagte sie: Wunderbar, das wäre mir nicht in den Sinn gekommen, als mir kürzlich, ebenfalls beim Einkaufen, meine eben erst gekaufte Regenjacke gestohlen worden war. Aber ja, das könnte man versuchen: Irgendwie lässt sich vielleicht doch mit ein wenig Phantasie etwas Ärgerliches in etwas Erfreuliches verwandeln. Ich jedenfalls, sagte sie, habe jetzt gerade das Gefühl, in meinem Kopf sei eine alte Denkverbindung unterbrochen worden und eine neue entstanden. So, als wäre ein Schalter umgelegt worden.

Es ist einfach. Man kann es üben und jeden Tag ein bisschen etwas dazu lernen. Als etwa zwei Wochen später die Zeitung, die normalerweise etwa um halb zwölf kommt, um zwölf immer noch nicht in meinem Briefkasten lag, hätte ich mich auch wieder ärgern können. Doch im gleichen Augenblick sah ich vor meinem inneren Auge die Pöstlerin, wie sie wohl jetzt gerade irgendwo in der Stadt von Briefkasten zu Briefkasten hetzt. Vielleicht war ja heute besonders viel Post auszutragen. Oder vielleicht war jemand krankheitshalber ausgefallen. Und schon war das Mitleid mit der gestressten Pöstlerin ungleich viel grösser als der Ärger, dass ich meine Zeitung nun erst eine Stunde später würde lesen können. Als sie kurz darauf auftauchte und ganz offensichtlich ausser Atem war, erfüllte mich ihr freundliches Lächeln, das sie mir dennoch schenkte, mit umso grösserer Dankbarkeit. Und alles war gut.

Gemeinschaftliches, ganzheitliches, solidarisches, menschenverbindendes Denken scheint über Jahrzehnte immer mehr ins Hintertreffen geraten zu sein. Wenn die Leute etwas kaufen, reden sie immer vom „Preis-Leistungs-Verhältnis“, als wäre das eine in Stein gemeisselte, unumstössliche, nahezu religiöse Wahrheit. Dabei kann etwas doch nur dann gleichzeitig qualitativ so viel besser und gleichzeitig so viel billiger sein als etwas anderes, wenn irgendeine Form von Ausbeutung dahinter steckt, Ausbeutung auf Kosten der Natur, auf Kosten zukünftiger Lebensgrundlagen oder auf Kosten menschenunwürdiger Arbeitsbedingungen. Eine auf unersättliche Profitmaximierung und endloses Wachstum ausgerichtete Wirtschaft produziert so unsinnige Dinge wie künstliche Spielzeugtiere aus Stoff oder Plastik, die fast alles können, was richtige Tiere auch können, und verprasst hierfür Ressourcen, Wasser und Energie ohne jegliches Mass in einer Welt, in der gleichzeitig jeden Tag rund 150 echte Tiere und Pflanzen für immer aussterben. Aktionäre von Rüstungsfirmen scheffeln zu ihrem schon in unsäglichem Überfluss vorhandenen Geld weiteres Geld in noch grösserem Überfluss hinzu, einfach dadurch, dass Abertausende namenloser Menschen auf irgendwelchen fernen Schlachtfeldern ihr Leben opfern müssen oder für den Rest ihres Lebens verstümmelt bleiben. Flüchtlinge aus Ländern, die über Jahrhunderte ausgebeutet wurden und sich jetzt einen winzigen Teil des ihnen Geraubten wieder verzweifelt zurückzuholen versuchen, werden kriminalisiert und die, welche an all diesen Verbrechen Schuld sind, werden als Helden gefeiert. Alles ist zersplittert, alles ist von allem getrennt, alle globalen und historischen Zusammenhänge gekappt, alle Verbindungen zwischen Tätern und Opfern unsichtbar gemacht. Die Saat ist aufgegangen. Was die neoliberale Vordenkerin Margret Thatcher 1987 verkündete, nämlich, dass es keine Gesellschaften gäbe, sondern nur Individuen, ist tausendfach zur „Normalität“ geworden. Und nur ein radikales Umdenken, das Springen vom Denksystem des Egoismus in das Denksystem der Gemeinschaftlichkeit, kann uns die Augen öffnen für eine Zukunft, in der die Menschen wieder gelernt haben werden, dass es niemandem wirklich gut gehen kann, wenn es nicht allen anderen auch gut geht.

Letzten Dezember musste ich mich einer Hüftoperation unterziehen. In der ersten Nacht nach der Operation hatte ich so grosse Schmerzen, dass ich unmöglich schlafen konnte. Es wäre weit mehr als je Grund gewesen, mich aufzuregen, mich zu ärgern, nach stärkeren Schmerzmitteln zu rufen oder mich beim Pflegepersonal zu beschweren oder gar die Vermutung zu äussern, es könnte ja bei der Operation vielleicht etwas schiefgelaufen sein. In diesem Augenblick traten mir die Bilder aus dem Gazastreifen vor die Augen, die schmerzverzerrten Gesichter von fünf- oder sechsjährigen Kindern, denen ohne Narkose Arme oder Beine abgetrennt werden, Ärzte und Ärztinnen, die bis zur Erschöpfung Tag und Nacht ohne Schlaf zwischen auf dem nackten Boden liegenden schreienden Kindern hin- und herrennen, um sie wenigstens mit dem Allernötigsten zu versorgen, während Flugzeuge mit Bomben und Raketen über sie hinwegdonnern. Und ja, es ist wahr: In diesem Augenblick spürte ich keine Schmerzen mehr, fühlte mich nur unendlich privilegiert und unendlich traurig, dass zur gleichen Zeit andere Menschen so unsäglich leiden müssen, nur weil sie zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort geboren wurden. Und jetzt konnte ich nicht nur wegen meiner Schmerzen nicht mehr schlafen, sondern vor allem auch wegen dieser Traurigkeit. Ich nahm mein Handy hervor, klickte mich bei X ein und schrieb während etwa drei Stunden viele meiner wohl mitfühlendsten Tweets, die ich je geschrieben habe. Alle Müdigkeit war weg. Durch die Nacht hindurch fühlte ich mich mit den Kindern in Gaza und allen anderen weltweit leidenden Menschen zutiefst verbunden. Und ich wusste, diese Nacht würde ich nie, niemals vergessen.

Vor ein paar Tagen wurde mir, während ich zum Einkaufen in der Stadt war, die Peace-Fahne von meinem Haus abgerissen. Wieder hätte ich allen Grund gehabt, mich zu ärgern. Doch auch hier brauchte es nur einen kurzen Moment der Besinnung. Was könnte einen Menschen dazu bringen, eine Peace-Fahne von einem fremden Haus abzureissen, woher könnte ein solcher Akt offensichtlich blinder Wut kommen, was für eine Lebensgeschichte könnte dahinter stecken? Ich möchte es wissen. Ich habe am Briefkasten ein Plakat aufgehängt und einen Leserbrief an die Lokalzeitung geschickt, um die Person, die ja offensichtlich mit ihrer „Tat“ etwas sagen wollte, zu einem Kaffee einzuladen, um miteinander herauszufinden, ob Krieg unvermeidlich ist, eine Welt ohne Kriege denkbar wäre und was wir dafür oder dagegen tun könnten.

Vielleicht könnte man so etwas sogar als „Sozialismus“ bezeichnen. Nicht ein von oben verordnetes und aufgezwungenes Denksystem, sondern etwas, was von unten langsam wachsen müsste, aus dem Bewusstsein, dass alles mit allem zusammenhängt, dass alle für alle verantwortlich sind, dass alles allen gehört, dass alle von allen etwas lernen können. Eigentlich müssten wir nur in die Natur schauen und von ihr lernen. Unter der Erdoberfläche, unsichtbar, sind alle Bäume mit allen anderen Bäumen verbunden, durch Pilzgeflechte unvorstellbaren Ausmasses, über welche gegenseitig beständig Nahrung ausgetauscht wird und unaufhörlich den Schwächeren von den Stärkeren geholfen wird in einer Art und Weise, die man im tiefsten Sinne als „Liebe“ bezeichnen könnte. Bevor wir Menschen uns als „Krone der Schöpfung“ bezeichnen dürfen, gibt es zweifellos noch viel, noch sehr viel zu tun. Aber es ist möglich, und an jedem einzelnen Tag können wir uns auf diesem Weg ein bisschen weiter in die Zukunft bewegen…

Lieber Herr Sutter, vielen Dank für Ihre wunderschöne Geschichte, Sie beschreiben, wie das Gehirn den natürlichen empathischen Zustand lernen kann. Babys kommen alle mit diesem Urzustand auf die Welt, später lernen sie feindselig zu sein. Mögen viele von Ihrer Geschichte lernen.     (Dr. Gertrud Müller, Psychoonkologin)