Archiv des Autors: Peter Sutter

Das private Automobil: Wie ein Dinosaurier zu gross, zu fett, vom Aussterben bedroht…

„Das Ansehen von Elektroautos leidet in der Schweiz“, titelt der „Tagesanzeiger“ vom 15. September 2025. Nur noch die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer nähmen E-Autos als positiv wahr. Vor einem Jahr hätte der Wert noch bei 60 Prozent gelegen. Der Branchenverbot Auto Schweiz sei alarmiert und mache sich Gedanken, wie man die Akzeptanz von Elektroautos erhöhen könnte.

Aber vielleicht wäre es an der Zeit, sich eine viel grundsätzlichere Frage zu stellen. Nämlich nicht nur, ob man mit Benzinautos oder mit E-Mobilen herumfahren sollte. Sondern, ob man überhaupt noch mit privaten Autos herumfahren sollte.

Wie Dinosaurier zu gross, zu fett, vom Aussterben bedroht: Eigentlich ist es nicht nur ein ökologischer, sondern auch ein ökonomischer Unsinn, zwei Tonnen Metall in Bewegung zu setzen, bloss um 80 Kilo Mensch von A nach B zu transportieren, vor allem, wenn man bedenkt, dass ein Privatauto durchschnittlich nur 50 Minuten pro Tag gebraucht wird und während der übrigen Zeit nutzlos herumsteht. Alle reden vom „Dichtestress“ durch eine ständig wachsende Bevölkerung, aber niemand spricht davon, dass schweizweit die Gesamtheit der für den Verkehr benützten Flächen bereits jene der von Häusern bebauten Fläche übersteigt. Zudem brauchen auch E-Mobile sowohl für die Herstellung wie auch für den Betrieb Unmengen an Rohstoffen und Energie. Und gar so umweltfreundlich ist wohl auch das E-Mobil nicht wirklich, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel in Spanien zurzeit gerade riesige Wälder abgeholzt werden, bloss um das für die Akkus benötigte Lithium zu beschaffen.

Die Alternative wäre ein möglichst gut ausgebauter öffentlicher Verkehr, verstärkt durch ein bis in die äussersten Winkel des Landes verästeltes Taxinetz, womit sich das Privatauto bald einmal als überflüssig erweisen würde. Es wäre ein Segen für die Natur, für alle heute so sehr von Verkehrslärm geplagten Menschen, für die Förderung zwischenmenschlicher Begegnungen, für die Kinder, die wieder mehr Platz zum Spielen hätten, und nicht zuletzt für die von der zunehmenden Klimaerwärmung betroffenen zukünftigen Generationen.

23. Montagsgespräch vom 8. September 2025: Abstimmung zur Abschaffung des Eigenmietwerts und zur Einführung einer elektronischen ID

In der Diskussion über die Abschaffung der Eigenmietwertsteuer überwogen die Argumente für ein Ja zu dieser Vorlage, weil es sich bei dieser Steuer um eine Abgabe handle auf ein real gar nicht vorhandenes Einkommen. Insbesondere für ältere Hauseigentümerinnen und Hauseigentümer mit tiefen Renten führe dies sogar manchmal dazu, dass sie ihr Haus verkaufen müssten.

Als Gegenargument wurde ins Feld geführt, dass eine Abschaffung der Eigenmietwertsteuer zu Steuerausfällen von jährlich insgesamt rund 1,8 Milliarden Franken führen würde, was entweder durch Sparmassnahmen oder durch die Erhöhung anderer Steuern kompensiert werden müsste. Auch seien Hauseigentümerinnen und Hauseigentümer in den vergangenen 15 Jahren gegenüber den Mieterinnen und Mietern klar im Vorteil gewesen, hätten in diesem Zeitraum doch Erstere wegen der tiefen Zinsen ihre Kosten halbieren können, während sich die Mieten verdoppelt hätten. Allgemein wurde festgestellt, dass das bestehende Steuersystem die tieferen Einkommen im Vergleich zu den höheren zu stark belaste. Dem könnte etwa durch die Einführung einer Kapitalgewinngewinnsteuer entgegengewirkt werden.

In der Diskussion über die Einführung einer elektronischen Identitätskarte überwogen die Argumente gegen diese Vorlage. Sie sei schlichtweg unnötig, meinte ein Diskussionsteilnehmer, und nichts als Zwängerei, nachdem die Einführung einer elektronischen ID bereits vor vier Jahren mit 64,4 Prozent Neinstimmen abgelehnt worden sei. Es handle sich zwar, im Gegensatz zur damaligen Vorlage, nicht um eine private, sondern um eine staatliche Lösung, tatsächlich sei aber angesichts der Fülle angesammelter Daten, die eine solche elektronische ID ermöglichen würde, eine klare Trennung zwischen einer staatlichen Infrastruktur und den Interessen der Privatwirtschaft gar nicht möglich. Auch stehe angesichts der global immer stärker fortschreitenden Digitalisierung ausser Frage, dass Personendaten nicht mehr staatlich geschützt werden könnten, sondern sich weitgehend unkontrolliert weltweit verbreiten würden. Im schlimmsten Falle, so eine Votantin, könnten die so gesammelten Daten dafür missbraucht werden, Kontroll- und Disziplinierungsinstrumente gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern aufzubauen, wie dies heute beispielsweise schon in Australien der Fall sei, wo Kundinnen und Kunden aus nicht bekannten Gründen, möglicherweise, weil sie persönliche Daten nicht bekannt geben, automatisch vom Kauf gewisser Produkte ausgeschlossen werden.

Zum Ende des Gesprächs meinte eine Teilnehmerin, es sei eigentlich erstaunlich, dass die Vorlage zur Abschaffung des Eigenmietwerts so hohe Wellen schlage, während über die Einführung einer elektronischen ID, welche viel weiterreichende Auswirkungen haben dürfte, kaum eine vergleichbare öffentliche Debatte stattfinde.

Am Anfang war es „Putins zweite Front“, am Ende waren es ein paar behelfsmässig zusammengeschraubte Sperrholzplatten…

Was war da schon wieder, mit den russischen Drohnen, die am 10. September 2025 in den polnischen Luftraum eindrangen? Ich lese nach, im „Tagesanzeiger“, einer der grössten Schweizer Tageszeitungen…

11.9., Seite 1: RUSSISCHE DROHNEN IN POLEN: NATO UND EU SIND ALARMIERT… Nach dem Eindringen mehrerer Flugobjekte aus Russland in Polens Luftraum sitzt der Schock bei NATO-Verbündeten tief. In der EU sieht man die Luftraumverletzung als „Gamechanger“. Moskau dementiert…

So wie der Artikel beginnt und schon die Schlagzeile suggeriert, scheint der Fall klar zu sein: Es handelt sich um eine Verletzung des polnischen Luftraums durch russische Drohnen. Dass Russland dementiert, wird zwar erwähnt, nicht aber näher darauf eingegangen. Und schon sind wir mittendrin in einer höchst tendenziösen Berichterstattung, wie wir sie seit dem Februar 2022 auf Schritt und Tritt verfolgen können: Wenn eine westliche Regierung oder der ukrainische Präsident Selenski etwas sagt, wird es stets für bare Münze genommen, wenn die russische Regierung etwas sagt, wird dies unverzüglich, ohne dies näher zu begründen, als „Propaganda“ oder gar „Lüge“ abgetan…

…Die Flugobjekte aus Russland sind nach EU-Angaben als Drohnen vom iranischen Bautyp Shehed identifiziert worden…

Dieser Befund wird sich später zwar als Falschaussage entpuppen, aber egal, man kann es ja mal behaupten, es ist ja die EU, die es sagt, und die wird wohl nichts anderes sagen als die Wahrheit. Und es ist immer wirkungsvoll, eine Verbindung zwischen Russland und dem Iran herzustellen, gehört doch auch der Iran aus westlicher Sicht zu den „Bösen“…

…EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen bezeichnete die Luftraumverletzung als rücksichtslos und beispiellos. Die EU-Aussenbeauftragte Kaja Kallas sieht das mutmasslich absichtliche Eindringen als „Gamechanger“ in Russlands Krieg gegen die Ukraine und droht mit „starken Sanktionen“…

Aha. Kaja Kallas gibt zwar ehrlicherweise zu, dass es sich nur „mutmasslich“ um ein absichtliches Eindringen der Drohnen und also mit anderen Worten auch bloss um eine technische Panne gehandelt haben könnte, doch egal: Für sie steht jetzt schon fest, dass es sich um einen „Gamechanger“ in der russischen Kriegsgefahr handelt, der unverzüglich mit möglichst „starken Sanktionen“ beantwortet werden müsse. Dass Ursula van der Leyen mit ihrer Aussage, wonach es sich um eine besonders „rücksichtslose und beispiellose Luftraumverletzung“ gehandelt habe, ins genau gleiche Horn bläst, ist freilich alles andere als verwunderlich. Jetzt kann man nicht auf Beweise, detaillierte Analysen oder genauere Befunde warten, jetzt muss man handeln…

…NATO-Generalsekretär Mark Rutte will die Luftraumverletzungen noch nicht bewerten...

Interessant. Selbst der nicht gerade als „Weichei“ gegenüber Russland bekannte Rutte scheint noch nicht ganz davon überzeugt zu sein, dass der Angriff bewusst geplant worden sei.

11.9., Seiten 2 und 3: DAS IST NICHT UNSER KRIEG. DAS IST EINE KONFRONTATION, DIE RUSSLAND DER GANZEN WELT GEMACHT HAT

Eigentlich weiss man über die Hintergründe des Drohnenangriffs immer noch nichts, was man aber weiss, ist, dass Russland damit sozusagen der ganzen Welt den Krieg erklärt hat…

Es ist das erste Mal, dass russische Drohnen über NATO-Luftraum abgeschossen wurden…

Ein höchst aufschlussreicher Satz. Denn es ist in der Tat nicht das erste Mal, dass Drohnen im polnischen Luftraum gesichtet wurden, das kommt nämlich seit dem Kriegsbeginn fast täglich vor und wurde offensichtlich bisher ohne grössere Empörung hingenommen. Es ist nur das erste Mal, dass sie von polnischen Luftabwehrraketen abgeschossen wurden. Hoppla, wie war das schon wieder mit dem „Gamechanger“?

Fotos der polnischen Nachrichtenagentur PAP zeigen ein völlig zerstörtes Dach in der Ortschaft Wyriki ganz im Osten Polens. Verletzt wurde niemand…

Dieses Bild füllt denn auch tatsächlich mindestens einen Drittel der Seite 2 im „Tagesanzeiger“ aus. Und wie man weiss: Bilder verfehlen ihre Wirkung nie. Auch wenn tatsächlich niemand verletzt wurde. Egal, jetzt darf man nicht vorschnell die Behauptung, Russland habe soeben der ganzen Welt den Krieg erklärt, gleich schon wieder relativieren. Kurz halte ich die Luft an: Wenn Russland mit 19 Drohnen der Welt den Krieg erklärt haben soll, die niemanden verletzt haben, wie vielen Planeten hat dann wohl Israel den Krieg erklärt, mit über 100’000 getöteten Kindern, Frauen und Männern in Gaza? Und dies nicht mutmasslich, sondern ohne jeglichen Zweifel.

Polens Verteidigungsminister Wladyslaw Kosiniak-Kamysz sprach von einem „präzedenzlosen Vorfall“ und einer „Provokation grossen Ausmasses“. Der Einsatz der polnischen Streitkräfte, um die Drohnen abzuschiessen, dauerte bis etwa 7.40 Uhr. Beteiligt waren auch NATO-Verbündete aus den Niederlanden und den USA, die mit F-35-Kampfflugzeugen halfen, den polnischen Luftraum zu sichern…

Stopp. Was genau war bei alledem „präzedenzlos“ und eine „Provokation grossen Ausmasses“? Wohl kaum das Eindringen russischer Drohnen in den polnischen Luftraum, denn das ist, wie erwähnt, seit Kriegsbeginn im Februar 2022 noch nie anders gewesen. Präzedenzlos, erstmalig und eine Provokation grossen Ausmasses war wohl viel eher die völlig überrissene Reaktion der NATO…

Die Armee teilte mit, es handle sich um einen „Akt der Aggression, der eine reale Gefahr für die Sicherheit unserer Bürger“ darstelle. Auch die Verteidigungsminister der anderen vier Länder aus den sogenannten Big Five, also Grossbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland, wurden informiert. Am Morgen berief Polens Präsident Karol Nawrocki eine Besprechung im nationalen Sicherheitsbüro ein. Er nannte die Reaktion und das koordinierte Vorgehen aller Dienste „modellhaft“, alle Beteiligten stünden im engen Austausch…

Zwar weiss immer noch niemand, ob das Eindringen der russischen Drohnen in den polnischen Luftraum nicht bloss eine technische Panne gewesen war, aber das hat der flüchtige Leser und die flüchtige Leserin, wenn sie denn überhaupt den ganzen Text und nicht bloss die Schlagzeilen lesen, wahrscheinlich schon längst vergessen. Ist auch nicht wichtig. Wichtig ist nur: Der Westen ist „modellhaft“ stark. Und Polen schafft es sogar, mithilfe von vier weiteren NATO-Ländern 19 russische Drohnen – zwei Stunden vorher hatte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk noch von einer „enormen Anzahl“ von Drohnen gesprochen – vom Himmel herunterzuholen – Applaus!. Später werden wir zwar erfahren, dass es tatsächlich nur vier von insgesamt 19 Drohnen gewesen waren, die man abschiessen konnte, aber das tut der heldenhaften Verteidigung des Westens nun wirklich keinen Abbruch…

Die Situation sei sehr ernst zu nehmen, betonte Tusk, denn: „Wir haben es höchstwahrscheinlich mit einer gross angelegten Provokation zu tun.“…

Aha. „Höchstwahrscheinlich“. Es könnte also, selbst Tusk gesteht das ein, alles auch ganz anders gewesen sein. Aber egal. Hand aufs Herz: Wenn es dazu diente, dass der Westen seine Muskeln zeigen konnte, dann spielt es doch wirklich keine Rolle, ob alles echt war oder alles nur vorgetäuscht oder alles nur erfunden oder alles nur gelogen oder vielleicht sogar von eigener Hand inszeniert…

Es werde nun, so Tusk, Artikel 4 des NATO-Vertrags in Kraft gesetzt. Das bedeutet, es soll Konsultationen der Verbündeten geben, die sich mit der Verletzung des Staatsgebiets eines der Mitglieder befassen… Niemand, so Tusk, werde die „vereinten Polen“ besiegen, denn, wie es auch in der polnischen Nationalhymne heisse: „Noch ist Polen nicht verloren“…

Habe ich etwas verpasst? Bin ich der Einzige, der sich an dieser Stelle fragt, wer da eigentlich wen provoziert und wer tatsächlich die allgemeine Eskalation vorantreibt?

Auch der ukrainische Präsident Selenski spricht im Zusammenhang mit „acht auf Polen gerichteten Angriffsdrohnen“ von einem „weiteren Eskalationsschritt“ Russlands..

Gerade gut scheinen sich die westlichen Politiker nicht miteinander abgesprochen zu haben. Waren es nun 19 oder acht Drohnen? Oder vielleicht sogar noch weniger? Oder war es vielleicht gar so, wie es vom ARD-Nachrichtensprecher am folgenden Abend zu hören war, der da sagte: „Die russischen Drohnen drangen offenbar nicht bis in den polnischen Luftraum vor.“ Verwirrung total. Doch was solls. Man wird ja nicht wegen aller dieser Nebensächlichkeiten von der These abrücken wollen, Russland habe soeben der ganzen Welt den Krieg erklärt, diese These ist zu wichtig, um jetzt vorschnell von ihr abzuweichen. Es wäre ja auch eine Blamage ungeahnten Ausmasses, müsste man zugeben, dass alles ganz und gar nicht so gewesen war, wie behauptet wurde. Nur sich jetzt keine Blösse geben, das wäre noch…

Am Freitag beginnt Russland gemeinsam mit Streitkräften aus Belarus das Manöver „Sapad“ („Westen“). Es wird auf belarussischem Gebiet stattfinden, also in Grenznähe zu Polen sowie Litauen und Lettland. Es soll laut polnischen Medien einen Angriff auf die sogenannte Suwalki-Lücke simulieren, die hundert Kilometer lange Grenze zwischen Polen und Litauen. Tusk stellte explizit auch eine Verbindung zwischen der Drohnen-Attacke und diesem Militärmanöver her, an dem gegen 100’000 Soldaten beteiligt sein sollen. Tusk bezeichnete die Drohnen-Attacke als Teil eines Gesamtplans Russlands, um „Chaos, Panik und politische Unruhe in Polen zu stiften“.

Ein kurzer Blick in Wikipedia zeigt, dass Tusk mit der Zahl von 100’000 offensichtlich ganz schön übertrieben hat. Gemäss Angaben Russlands sollen an „Sapad“ 13’000 Armeeangehörige beteiligt sein, die deutsche Militärführung geht aber davon aus, dass weitere 30’000 auf russischer Seite beteiligt sein könnten, was also maximal 43’000 ausmachen würde, immerhin weniger als die Hälfte der von Tusk genannten Zahl. Gehen wir also von 43’000 aus, ist das ja nicht wenig, werden viele denken. Wie fürchterlich und kriegstreibend, dieses Russland! Nur wird vermutlich der flüchtige Leser, die flüchtige Leserin längst schon vergessen haben, dass noch viel Fürchterlicheres vor nicht allzu langer Zeit geschehen war, nämlich ein Militärmanöver mit sage und schreibe 90’000 Soldatinnen und Soldaten, nicht aber von Russland durchgeführt, sondern von der NATO, und zwar zwischen Februar und Mai 2024. Es handelte sich um das grösste NATO-Manöver seit dem Ende des Kalten Kriegs unter Teilnahme aller 32 NATO-Staaten. Trainiert wurden insbesondere die Alarmierung und Verlegung von nationalen und multinationalen Landstreitkräften, wobei sich der Übungsraum von Norwegen bis Rumänien erstreckte. In der ersten Jahreshälfte 2025 folgten weitere grosse NATO-Manöver, unter anderem „Formidable Shield“, die grössten je durchgeführten Seemanöver unter Führung der Sechsten US-Flotte. Aber nein, der eigentliche Kriegstreiber ist Russland, wer um Himmels willen denn sonst…

Seit Jahren beobachtet die NATO Drohnen im Luftraum Litauens, Polens und Rumäniens. Was in der, so Tusk, „dramatischen Nacht“ vom 10. auf den 11. September am Himmel über Polen passiert ist, hatte jedoch eine völlig andere Dimension. Zugespitzt formuliert, war es der schwerste direkte Zusammenstoss zwischen dem russischen Militär – auch wenn dieses nur unbemannte Flugobjekte einsetzte – und den Streitkräften der NATO seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine. „Dies ist das erste Mal, dass NATO-Flugzeuge in einen Kampfeinsatz gegen eine mögliche Bedrohung im Luftraum der Allianz verwickelt waren“, so das NATO-Oberkommando in Mons…

Man beachte den Indikativ: „was am Himmel über Polen passiert ist“ – der Journalist zitiert also nicht Tusk, sondern macht Tusks Aussage zu seiner eigenen, scheint sich also voll und ganz mit Tusks Behauptungen zu identifizieren. Von hier aus ist es dann nur noch ein winziger Schritt bis zur vollends totalen Verdrehung der Realität: Denn die „völlig andere Dimension“, die nun entstand, war ja nicht eine Folge der Drohnen, die ja nicht plötzlich weniger harmlos waren als schon in den drei Jahren zuvor, sondern nichts anderes als die Folge der heftigen Reaktion seitens der NATO-Flugzeuge. Es braucht wirklich nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass die zuständigen NATO-Befehlshaber vermutlich bloss darauf gewartet haben, einen vergleichbar harmlosen Akt der Gegenseite als „Kriegserklärung“ hochzustilisieren, welche dann jegliche Gegenmassnahme rechtfertigen würde. Auf erschreckende Weise muss man sich an dieser Stelle an die Aussage Adolf Hitlers erinnern, wonach der angebliche Überfall auf einen deutschen Grenzposten durch polnisches Militär ihm als Anlass diente, einen Weltkrieg auszulösen.

Bei der NATO in Brüssel ist man sich der Schwere des Vorfalls bewusst. Zwar handelt es sich sicher nicht um einen „bewaffneten Angriff“ im Sinne von Artikel 5 des NATO-Vertrags, der alle Mitgliedsländer dazu verpflichten würde, Polen beizustehen. Polen hat aber Beratungen in der NATO nach Artikel 4 beantragt. Das kann ein Mitgliedland tun, wenn es eine Bedrohung für seine „territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit oder Sicherheit“ sieht. Diplomatisch stellt dies also eine Eskalation dar..

Jetzt einfach mal tief durchatmen und diesen Abschnitt nochmals lesen und dann die Frage beantworten, wer diese sogenannte „Eskalation“, die nun zu 100 Prozent Russland in die Schuhe geschoben wird, tatsächlich vorantreibt. Ganz abgesehen davon, dass die Frage, ob alles bloss eine technische Panne gewesen sein könnte, immer noch nicht beantwortet worden ist…

In vielen Reaktionen aus NATO-Hauptstädten wurde nur eine „Verletzung des polnischen Luftraums“ beklagt, ohne auf die Details, den Urheber oder dessen Motivation einzugehen…

Dabei wäre doch genau dies das einzig wirklich Entscheidende…

Selbst NATO-Generalsekretär Mark Rutte will nicht bewerten, ob es sich um eine absichtliche Aktion oder einen Fehler gehandelt hatte: „Einerlei, beides ist gefährlich“, sagte er in Brüssel..

…so à la: Ob ich bei einem Verkehrsunfall umkomme oder ermordet werde, ist zwar nicht genau das Gleiche, aber beides ist gefährlich…

Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte dagegen, die Drohnen seien „ganz offenkundig gezielt auf diesen Kurs gebracht“ worden…

Jeder legt sich die Wahrheit so zurecht, dass sie in sein vorgefasstes Denken passt. Und so etwas nennt man vertrauenswürdige Politiker…

Und dann kommt Nicolas Richter in seiner Kommentar- bzw. Analysespalte links auf Seite 2 des „Tagesanzeigers“ und zerstreut mit ein paar gezielten Keulenschlägen auch noch die Zweifel des kritischen Lesers. Er weiss alles, was viele andere noch längst nicht wissen. Und wenn das Feuer auch noch nicht so richtig brennt und man es vielleicht noch löschen könnte, dann giesst er jetzt in zwei Zeitungsspalten so viel Öl hinein, dass es irgendwann dann vielleicht nicht mehr zu löschen sein wird. Er ist beileibe nicht der Einzige, es gibt Tausende andere, die lieber Öl in ein Feuer giessen statt es zu löschen. Aber alle diese unzähligen Ölgiesser machen sich mitschuldig, wenn dann eines Tages das Feuer endgültig nicht mehr zu löschen sein wird. Lesen wir aus seiner „Analyse“…

Putins Provokation darf nicht unbeantwortet bleiben… Die Vorgänge gegen Polen passen ins Muster des hybriden Krieges Russlands.. Wladimir Putin will den Westen verunsichern, verwirren und spalten… und beweist damit, dass Moskau die Europäer als Gegner betrachtet, ja als Feinde.. Mit der Verletzung des polnischen Luftraums durch rund 20 Drohnen hat der Kreml diesen hybriden Krieg eskaliert. Zwar sind die Einzelheiten noch unklar, etwa, ob die Drohnen durch einen Fehler über polnisches Gebiet flogen, auch bestreitet Moskau jede Verantwortung, wobei das Regime wegen seiner dreisten Lügen berüchtigt ist… So oder so passt dieser Zwischenfall in ein Muster immer intensiverer Provokationen. Diese sind kein Zufall, sondern russische Strategie… In der Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen beginnt damit eine noch gefährlichere Phase… Putin scheint den Respekt vor dem Westen zunehmend zu verlieren… Wenn die NATO also eine Eskalation vermeiden will, muss sie jetzt unmissverständlich Grenzen ziehen… Russland setzt entschieden auf Drohnen, um zu spionieren und zu morden…

Eigentlich weiss ich nichts, wird sich der „Analyst“ gedacht haben. Aber ich kann ja einfach mal Dinge erfinden und behaupten und schauen, ob man mir glaubt. Wie vor 200 oder 300 Jahren. Natürlich ist das keine Hexe. Aber ich kann ja möglichst viele Gerüchte in Umlauf bringen, bis genug viele Leute daran glauben, dass es eine Hexe ist und sie früher oder später auf dem Scheiterhaufen landet.

Gibt es heute eigentlich nicht mehr so etwas wie eine „Journalistische Sorgfaltspflicht“? Oder bilde ich mir das bloss ein, dass es das früher mal gab und sich sogar die allermeisten Journalisten daran hielten?

Am nächsten Tag, wieder der „Tagesanzeiger“…

12.9., Seite 13: DIE NATO MUSS MIT WEITEREN OPERATIONEN WIE JENER GEGEN POLEN RECHNEN… Die Untersuchungen dauern noch an. Aber die öffentlichen Erklärungen der NATO-Führung lassen darauf schliessen, dass es sich um einen vorsätzlichen Angriff oder zumindest um eine rücksichtslose und eskalierende Aktion handelt und nicht um einen einfachen technischen Fehler…

Jeglicher Kommentar erübrigt sich…

Die Verletzung des Luftraums war denn auch kein direkter bewaffneter Angriff..

Aha. Aber drei Absätze weiter unten…

Der Angriff ist jedoch Teil einer umfassenderen Eskalation und nicht ein einmaliges Ereignis, das nur mit einem einzigen Manöver zusammenhängt

Ach so. Angriff oder doch nicht Angriff? Eigentlich müsste Papier aufschreien können, wenn ihm solches zugemutet wird. Es würde uns wohl allen das Gehör verschlagen…

Russland rüstet auf, um NATO-Territorium angreifen zu können…

Kein einziger westlicher Geheimdienst hat bis heute für diese Behauptung jemals einen eindeutigen Beweis gefunden, und die wissen wahrscheinlich so ziemlich alles. Aber egal, man kann es ja trotzdem immer und immer wieder behaupten, wenn man einen Grund dafür sucht, die eigene Aufrüstung in einem historisch noch nie dagewesenen Umfang voranzutreiben, zu rechtfertigen und als „Recht auf Verteidigung“ schönzureden…

Einen Tag später, wieder der „Tagesanzeiger“…

13.9., Seite 9: DIES WAR PUTINS ERSTER STREICH. DOCH DER ZWEITE… Wenn das ein Test war, dann hat die NATO versagt. 19 Drohnen fliegen an, aber nur drei oder vier werden vom Himmel geholt – eine verheerend schlechte Abschussquote. Es mag Gründe dafür geben. Wer feuert schon gern mit hochmodernen Abfangraketen, von denen jede eine oder zwei Millionen Dollar kostet, auf Drohnen aus Sperrholz, die Russland für 10’000 Dollar das Stück zusammenschraubt?

Was für ein neuer Ton. Diese Drohnen, mit denen Putin der ganzen Welt den Krieg erklären wollte, waren also bloss ein paar zusammengeschraubte Sperrholzplatten. Langsam wird es immer absurder und man beginnt sich zu fragen, wie der Westen aus dieser Schlaufe, in die er sich da hinaufgeschraubt hat, wieder auf den Boden der Realität zurückfinden kann…

Was aber einmal an Verdrehungen, Behauptungen ohne Beweise oder sogar Lügen in die Welt gesetzt wurde, wird sich nicht so schnell wieder aus dem Gedächtnis löschen lassen. Dafür war der „Tagesanzeiger“ vom 11. und 12. September ein Paradebeispiel. Und diese Zeitung ist ja nicht irgendein ein russenfeindliches Hetzblatt, sondern sozusagen die Mainstreamtageszeitung der Schweiz. Dementsprechend konnte man in fast allen anderen Medien so ziemlich genau das Gleiche lesen. Und wenn überall das Gleiche steht, ist man ja dann auch geneigt zu glauben, dass es nichts anderes ist als die pure Wahrheit. So zum Beispiel das „St. Galler Tagblatt“: „Putin provoziert Polen mit Drohnenangriff“ und „Eine neue Stufe der Eskalation“. Radio SRF: „UNO-Sicherheitsrat tagt zu russischen Drohnen in Polen.“ FAZ: „Russland greift Polen an.“ NZZ: „Russland stellt NATO auf die Probe.“ Bild: „Globales Nervenflattern.“ Die Zeit: „Putins zweite Front.“

Nur vereinzelte Medien bzw. einzelne Artikel bemühen sich einigermassen um Sachlichkeit, aber man muss sie suchen wie die Nadel im Heuhaufen. So etwa erschien im „St. Galler Tagblatt“ vom 12.9. ein Artikel mit dem Titel „Schickte Putin nur Attrappen?“…

Entgegen ersten Meldungen scheint es sich nicht um sogenannte Schhed-Drohnen iranischer Bauart gehandelt zu haben, sondern um die russische Billigvariante Gerbera. Diese Langstreckendrohnen werden für wenige tausend Euro hergestellt, bestehen oft aus billigen Materialien wie Sperrholz und Schaumstoff. Sie sind unbewaffnet und dienen lediglich dazu, die feindliche Flugabwehr zu überlasten. Es gibt auch bisher keine Meldungen, wonach diese Drohnen mit Sprengstoff bestückt seien. Viele der Drohnen seien selbständig abgestürzt und trugen nur beim Aufprall entstandene Schäden davon, Berichte über Detonationen gibt es keine…

Das mit den Drohnen und der Kriegserklärung an die ganze Welt scheint also ziemlich in die Hose gegangen zu sein. Dennoch werden die, welche nicht den Frieden suchen, sondern das Säbelrasseln und das finale militärische Kräftemessen, nicht ruhen und immer wieder neue Gründe finden, um Feindbilder zu schüren und kriegerisches Denken zu fördern. Denn so sehr sich die Drohnengeschichte in Luft aufgelöst hat, so konkret hat sie dennoch ihre gravierenden Auswirkungen, wie folgender, ebenfalls im „St. Galler Tagblatt“ erschienener Artikel zeigt…

Die NATO startet nach den mutmasslich (!) vorsätzlichen Luftraumverletzungen durch Russland eine neue Militäroperation zum Schutz (!) der Ostflanke. Angaben zufolge sollen bei der Operation mit dem Namen „Eastern Sentry“ (Wächter des Ostens) zusätzliche Überwachungs- und Flugabwehrkapazitäten zum Einsatz kommen.

Falls es, im schlimmsten Fall, tatsächlich zu einem dritten Weltkrieg kommen sollte, wird höchstwahrscheinlich noch lange in den Geschichtsbüchern, zumal in den westlichen, zu lesen sein, Russland hätte diesen Krieg angezettelt. Erst in 20 oder 50 Jahren werden, da bin ich mir fast ganz sicher, Historikerinnen und Historiker noch einmal über die Bücher gehen und höchstwahrscheinlich herausfinden, dass es eher umgekehrt gewesen war. Und dass wir das eigentlich, wenn wir unsere Medien nur ein bisschen weniger flüchtig studieren und nicht sogleich alles eben Geschehene gleich wieder vergessen würden, heute schon wissen müssten. Und damit sogar einen grösseren Krieg, bevor er noch angefangen hat, vielleicht sogar verhindern könnten. Denn man kann, wie das Beispiel der russischen Drohnen in Polen zeigt, auf jeden noch so kleinen Vorfall immer eskalierend oder aber deeskalierend reagieren. Und genau das ist das Entscheidende.

(18. September 2025: Nun hat sich endgültig alles in Luft aufgelöst, der dritte Weltkrieg wird vertagt, das in den Medien tagelang als eigentliches Hauptopfer gezeigte zerstörte Wohnhaus, das den Drittel einer ganzen Seite im „Tagesanzeiger“ gefüllt hatte, war gar nicht von einer angeblichen russischen Drohne getroffen worden, sondern, wie die polnische Zeitung „Rzeczpospolita” unter Berufung auf mehrere Quellen berichtet hat, von einer fehlgeleiteten Rakete, die von einer polnischen F-16 abgefeuert wurde. Logischerweise müsste jetzt die aufgrund des vermeintlichen russischen Drohnenangriffs anberaumte NATO-Operation „Eastern Sentry“ abgeblasen werden. Dass dies nicht der Fall ist, zeigt, dass das Verhalten des Westens schon längst nicht mehr mit Logik zu tun, sondern nur noch mit den Wahnvorstellungen militärischer Wirrköpfe.)

Einer Lehrerin mit Kopftuch wird die Unterrichtserlaubnis entzogen: Wenn sich ausgerechnet Patriarchen als Kämpfer für Frauenrechte aufspielen…

Im Juni 2025 hatte sich R.M., nachdem sie Ihre Ausbildung zur Lehrerin an der Pädagogischen Hochschule erfolgreich absolviert und eine mündliche Zusicherung der Schulbehörde von Eschenbach SG zur Übernahme einer Klasse im kommenden Schuljahr bekommen hatte, bereits intensiv auf ihre zukünftige Tätigkeit als Primarlehrerin vorbereitet. Doch es kam ganz anders. Unter den Eltern ihrer zukünftigen Schülerinnen und Schüler regte sich Widerstand gegen R.M. Nicht weil ihre durchwegs hervorragenden Qualifikationen in Zweifel gezogen wurden, sondern einzig und allein aus dem Grund, dass sie als gläubige Muslimin ein Kopftuch trägt. Dieser Widerstand wurde schliesslich so stark, dass die Schulbehörde einknickte und R.M. trotz der bereits mündlich erfolgten Zusicherung eine Absage erteilte. „Als wir zum ersten Mal das Bild der Lehrerin sahen“, so eine der Mütter, die sich gegen die Anstellung von R.M. gewehrt hatte, „waren wir schon etwas schockiert. Wir sind absolut keine Rassisten. Aber es gibt nun einmal kulturelle Unterschiede, und wenn man sein kleines Kind jemandem in Obhut gibt, muss man dieser Person zu 100 Prozent vertrauen können.“ Die Lehrerin selber nahm zunächst keine Stellung, erst in einem Interview mit dem „Blick“ sagte sie, sie sei einfach nur traurig: „Das ist das einzige Gefühl. Ich habe drei Jahre studiert, um als Lehrperson arbeiten zu können. Es war ein Traum von mir seit der dritten Klasse, selbst einmal als Lehrerin vor einer Klasse zu stehen. Das Bild, das sich die Leute von mir machen, verletzt mich. Auch stimmt es nicht, dass ich ein Kopftuch trage, das bis zu den Beinen reicht, wie offenbar eine Mutter behauptet hat, ohne mich kennengelernt zu haben.“ R.M. bedauert, dass niemand mit ihr das Gespräch gesucht habe. Am Ende würden ihr die Kinder leid tun. „Aktuell sitzen sie am 11. August in einem Schulzimmer ohne Lehrperson. Ich kenne niemanden, der jetzt noch eine Stelle sucht.“

Im „St. Galler Tagblatt“ vom 27. August 2025 verteidigt Bernhard Hauser, ehemaliger Professor an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen, SP-Kantonsrat und Schulratspräsident von Sargans, in einem längeren Gastbeitrag mit dem Titel „Kopftuch verneint offene Gesellschaft“ den Entscheid der Eschenbacher Schulbehörden. Das Kopftuch der muslimischen Frau bezeichnet er als „Symbol, das dem Grundverständnis offener Gesellschaften diametral widerspricht und deshalb auf keinen Fall auf den Kopf einer Lehrerin gehört. Denn mit dem Kopftuch trägt die Frau ihr Bekenntnis offensiv in die Klasse, als heimlichen Lehrplan des konservativen und frauenfeindlichen Islam. Gleichstellung und offene Gesellschaft sind wichtiger als die Religionsfreiheit.“

Am 30. August folgt, ebenfalls im Rahmen eines Gastbeitrags im „St. Galler Tagblatt“, eine Replik von Ann-Katrin Gässlein, katholische Theologin und ehemalige Präsidentin Runder Tisch der Religionen St. Gallen und Umgebung. „Hausers Interpretation des Kopftuchs“, schreibt sie unter anderem, „spiegelt – freilich polemisch verzerrt – mehr die traditionellen Herleitungen als die heutigen Beweggründe muslimischer Frauen in der Schweiz. Studienergebnisse, zum Beispiel vom Institut für Religionsforschung der Universität Luzern, zeigen: Es sind vielschichtige und höchst individuelle Motive, die eine Frau im Laufe ihres Lebens zum Tragen oder Ablegen eines Kopftuchs bewegen. Wer im interreligiösen Kontakt das Vertrauen der Menschen gewinnt, erfährt, welch schmerzhafter Spagat bisweilen von Menschen verlangt wird, die ihre Talente für die Bildung von Kindern einsetzen zum Wohl einer Gesellschaft, die sich für ihre individuelle Frömmigkeit nicht interessiert, aber ihnen pauschal Zustimmung zu Gleichstellung und offener Gesellschaft abspricht. Offen ist so etwas nicht.“

Es sind genau diese „vielschichtigen und höchst individuellen Motive“, welche in einer öffentlichen Debatte, wie sie nun durch den Fall Eschenbach ausgelöst wurde, total untergehen. So entsteht Raum für jegliche Art von noch so abstrusen Feindbildern und Vorurteilen über Menschen, die man persönlich gar nicht kennt, dennoch aber sich das Recht herausnimmt, genau zu wissen, wie sie denken und welche Motive ihren Einstellungen und Verhaltensweisen zugrunde liegen.

Wie sehr dabei die Vorurteile und das Feindbilddenken auf der einen Seite, die Realität auf der anderen Seite auseinanderklaffen, mögen folgende Beispiele bewusst machen. Es handelt sich um reale Personen, wie wir ihnen alle in unserem Alltag früher oder später begegnen könnten. Und wahrscheinlich kommen dem einen oder der anderen beim Lesen Menschen in den Sinn, die diesen vier im Folgenden beschriebenen Personen durchaus ziemlich nahe kommen.

Bahira ist eine Muslimin, die aus ihrer Heimat fliehen musste, als dort ein fürchterlicher Bürgerkrieg ausbrach. Sie lebt mit ihrem Mann Ahmad und ihren drei Kindern, von denen mittlerweile einer erwachsen ist, seit 13 Jahren in der Schweiz. In ihrer Heimat war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Universitätsinstitut tätig gewesen, ihr Mann hatte als Pfleger in einem Spital gearbeitet. Bahira trägt regelmässig ein Kopftuch, auch in der eigenen Wohnung, so, wie sie sich das von klein auf gewohnt ist. Das Zusammenleben von Bahira und Ahmad ist in jeglicher Hinsicht von Respekt und gegenseitiger Achtung geprägt, alle wichtigen Entscheide, sei es für private Angelegenheiten, Stellenbewerbungen, Dialog mit der Schule oder in Bezug auf den Umgang mit Behörden, werden gemeinsam diskutiert und gemeinsam getroffen, auch unter Einbezug der Kinder. In ihrem Wohnzimmer hängt ein grosses, von einem der Kinder gemaltes Bild, auf dem sich viele Menschen unterschiedlicher Grösse und Hautfarbe und mit ganz unterschiedlichen Kleidern und Frisuren gegenseitig an den Händen halten und miteinander tanzen.

Erich ist ein Schweizer und ist bei einer grösseren Immobilienfirma als Buchhalter angestellt. Seine Frau Franziska arbeitet teilzeitmässig als Kindergärtnerin. Dass sie den allergrössten Teil der Haushaltarbeit erledigt, täglich zum Einkaufen geht, kocht, putzt, die Kleider für die ganze Familie wäscht, den Kindern bei den Hausaufgaben hilft, sämtliche privaten Einladungen, Geburtstagspartys und Familienfeste organisiert, ist für ihn selbstverständlich. Seinen politischen Ansichten, die ihr oft viel zu hart und wenig einfühlsam gegenüber weniger privilegierten Menschen erscheinen, steht sie häufig mehr oder weniger skeptisch gegenüber, kontroverse Diskussionen sind aber eher selten, da Erich sehr gut und häufig auch mit besonders lauter Stimme zu argumentieren pflegt, gerne auch der ist, der am Schluss Recht haben will, und zudem über ein immenses Wissen verfügt, was dann bei Franziska immer wieder dazu führt, dass sie ihre eigene Meinung lieber für sich selber behält und bloss noch darauf wartet, bis seine Belehrungen ein Ende finden. Am schlimmsten ist es, wenn Erich einen seiner besten Arbeitskollegen nach Hause bringt und sich die beiden dann in ihren – häufig auch krass frauenfeindlichen Sprüchen – gegenseitig bestärken.

Der kritische Leser und die kritische Leserin mögen an dieser Stelle einwenden, dies seien zwei völlig überspitzte und konstruierte Beispiele, um auf diese Weise weit verbreitete Vorurteile, in diesem Falle insbesondere gegenüber kopftuchtragenden Musliminnen, in Frage zu stellen. Die Realität ist aber: Es gibt diese Menschen tatsächlich, und nicht einmal in so geringer Zahl. Es hängt freilich auch davon ab, in welchen gesellschaftlichen Kreisen man sich bewegt, zu welchen Menschen man näheren Kontakt hat und zu welchen nicht, welche man näher kennt und welche einem fremd bleiben. Wie Bahira einmal sagte: Wenn sie am Morgen die Wohnung verlässt und ihren Nachbarn grüsst, dann schaut dieser bloss an ihr vorbei. Als würde er sie gar nicht sehen, bloss, weil sie ein Kopftuch trägt. Und als ich eine andere Nachbarin einmal fragte, ob sie mit Bahira schon einmal gesprochen hätte oder ob sie sie näher kenne, da sagte diese bloss, sie wolle diese Frau gar nicht kennenlernen.

Aber das wirklich Interessante kommt erst jetzt. Während nämlich die muslimische Lehrerin, die nun ihren Traumjob nicht ausüben darf, zunächst schweigt und sich dann dahingehend äussert, dass sie „traurig“ sei und sich „verletzt“ fühle und auch Bahira nicht wütend oder hasserfüllt, sondern nur traurig ist, wenn der Nachbar sie am Morgen nicht grüsst, ist es bei Erich so ziemlich anders. Sobald das Gespräch auf muslimische Frauen kommt, auf das Kopftuch oder ganz allgemein über den Islam, wird seine Stimme noch lauter, als sie sonst schon ist. Es ist etwas ganz anderes als Traurigkeit, sogar fast das Gegenteil: Hass. Ja, er verbreitet Hass gegen Menschen, die er gar nicht kennt und mit denen er noch nie gesprochen hat.

Ich bin kein Psychologe, aber ich glaube, das ist ziemlich einfach zu erklären und ist schon seit Jahrhunderten so: Fühlt man sich mit eigenen Widersprüchen konfrontiert, ist man mit sich selber nicht im Reinen und auch nicht bereit, sich selber kritisch zu hinterfragen, dann ist es am einfachsten, das eigene Ungenügen oder das eigene Unvermögen auf jemand anderen abzuwälzen bzw. zu projizieren, und hierfür eignet sich nun mal am besten eine bereits stigmatisierte Gruppe von Menschen, in diesem Falle kopftuchtragende Musliminnen. Wie früher die Juden, denen man das Vergiften von Brunnenwasser in die Schuhe schob, oder die „Hexen“, von denen man behauptete, sie stünden mit dem Teufel in Verbindung.

Die eigentlich Unterdrückte in unserer Geschichte ist nämlich nicht Bahira, sondern Franziska. Und der eigentliche Patriarch ist nicht Ahmad, sondern Erich. In dem Augenblick aber, indem Erich das, wofür er selber gerade stehen müsste, anderen zum Vorwurf macht, muss er sich nicht mehr mit seiner eigenen Rolle auseinandersetzen, er hat sein eigenes Problem sozusagen „ausgelagert“. Und statt auf ihn zeigt man jetzt auf den „patriarchalen“ Moslem und sein vermeintliches Opfer. Das hat auch viel mit der Macht der Gewohnheit zu tun. Dass Frauen in den westlichen Kulturen immer noch weitaus länger arbeiten als Männer und dennoch weniger verdienen und erst noch weitaus weniger gesellschaftliche Wertschätzung geniessen, daran haben wir uns über Jahrhunderte so sehr gewöhnt und es so tief verinnerlicht, dass es uns schon gar nicht mehr besonders auffällt. Was uns auffällt, ist nur das Neue, das Andere, das Ungewohnte, das Fremde, eben zum Beispiel das Kopftuch. Zur Macht der Gewohnheit kommt noch die Macht der Sprache dazu, wird doch die westliche Konsumgesellschaft, auch wenn sie in vielem noch so starke und prägende patriarchale Züge aufweist, grundsätzlich – vor allem auch in Abgrenzung zu anderen Kulturen – als „offen“ bezeichnet, wie dies auch Bernhard Hauser in seinem Gastbeitrag getan hat. „Offen“ tönt zwar immer gut. Aber was bedeutet das Wort in der Realität? Offen wofür? Offen wozu? Offen für wen? Und was kann man alles in dieses Wort hineinprojizieren und auf diese Weise glorifizieren? Ist auch Fremdenhass ein Merkmal für eine „offene“ Gesellschaft?

Es ist ja dann sogar geradezu zynisch, wenn ausgerechnet extrem patriarchal eingestellte Männer aus „westlichen“ Kulturen, die sich über „extreme Frauenrechtlerinnen“ in ihrem eigenen „westlichen“ Umfeld aufregen und diese als sogenannte „Emanzen“ ins Lächerliche ziehen, sich gleichzeitig als Anwälte für die Rechte muslimischer Frauen aufspielen – so wie etwa, um das denkbar extremste Beispiel zu nennen, der israelische Ministerpräsident Netanyahu, der allen Ernstes die Bombardierung des Iran damit begründete, dass auf diese Weise die iranischen Frauen endlich von der Unterdrückung durch die dort herrschenden Mullahs und ihre Sittenwächter befreit werden könnten.

Das blockiert den gesellschaftlichen Fortschritt gleich doppelt. Auf der einen Seite werden , wie Ann-Katrin Gässlein treffend feststellt, selbst jene kopftuchtragenden muslimischen Frauen als Opfer patriarchaler Unterdrückung dargestellt, die mit einer solchen Rolle ganz und gar nichts am Hut haben, und auch jenen muslimischen Männern patriarchales und unterdrückerisches Verhalten zur Last gelegt, die ihren Frauen durchaus auf gleicher Augenhöhe begegnen. Auf der anderen Seite wird das eigentliche patriarchale Machtsystem, das sich unabhängig von einzelnen Kulturen oder Religionen über alle Länder und Kontinente hinweg zieht, kaum je einer tiefgehenden kritischen Analyse unterzogen. Alle elf Tage – Tendenz steigend – wird in der Schweiz eine Frau von ihrem eigenen Lebenspartner umgebracht. Die wenigsten der Täter sind Moslems, die wenigsten der Opfer tragen ein Kopftuch. Aber statt die tieferen Ursachen der allgemein verbreiteten Männergewalt und ihre Verknüpfungen mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem aufzudecken, hackt man lieber auf kopftuchtragenden Musliminnen herum und kann auf diese Weise bequem vom eigentlichen Grundproblem ablenken. Anderen die Schuld der Probleme in die Schuhe zu schieben, statt sich an der eigenen Nase zu nehmen, war und ist halt immer noch das Einfachste und Bequemste.

Vor allem, wenn man dann dafür noch so grossen öffentlichen Applaus erhält.

Strategien der Vergangenheit und Strategien der Zukunft: Kriegslogik und Friedenslogik…

In einem Interview mit der „Sonntagszeitung“ vom 31. August 2025 sagt der Militärhistoriker und Strategieexperte Mauro Mantovani, die Schweizer Armee könnte niemals alleine einen Grossangriff abwehren und solle deshalb ihre Luftraumverteidigung an Frankreich übertragen. Andere bemühen zurzeit sogar einen möglichst schnellen Beitritt der Schweiz zur NATO herbei, um unser Land unter einen gemeinsamen Schutzschirm zu stellen, damit es nicht eines Tages irgendeinem „Grossangriff“ schutzlos ausgeliefert sein wird.

Tatsächlich aber ist dieser „Grossangriff“ längst schon im Gange. Aber nicht in der Art und Weise, wie das in den Köpfen ewiggestriger „Kriegslogiker“ immer noch eifrig herumspukt. Dieser tatsächliche Grossangriff besteht nämlich nicht aus konventioneller Kriegsführung, sondern, beinahe unsichtbar, Tag für Tag, Stunde für Stunde, in der schrittweisen Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, in der Verödung immer grösserer Landwirtschaftsflächen infolge des Klimawandels, in der Vergiftung einst fruchtbarster Landwirtschaftsböden und in einer zunehmend gigantischen Ungleichverteilung der noch vorhandenen Güter, welche am einen Ende die Produktion einer immer grösseren Menge unnötiger Luxusprodukte zur Folge hat und am anderen Ende den Tod von weltweit täglich rund 15‘000 Kindern infolge von Unterernährung.

Ein Überleben der Menschheit wird nicht im militärischen Kampf aller gegen alle möglich sein, sondern nur durch ein neues Gemeinschaftsdenken über alle Grenzen hinweg. Die bisherige Kriegslogik muss in eine neue Friedenslogik transformiert werden. Und gerade hierzu könnte die Schweiz als neutraler Ort der Diplomatie, der Völkerverständigung und der friedlichen Konfliktlösung eine gar nicht genug hoch einzuschätzende Rolle einnehmen. Damit sich dann die sogenannten Militärhistoriker und Strategieexperten tatsächlich nur noch mit der Vergangenheit beschäftigen müssten, aber definitiv nicht mehr mit der Zukunft.

Nicht immer sind die Frauen Opfer und die Männer Täter: Bis zur endgültigen Verwirklichung einer gewaltfreien Gesellschaft brauchen wir eine tiefergehende Systemveränderung…

Wie das „St. Galler Tagblatt“ am 3. September 2025 berichtete, hat das oberste Schweizer Militärgericht kürzlich eine Kommandantin und zwölf Offiziere zu bedingten Geldstrafen verurteilt. Dies aufgrund eines Vorfalls in der Kaserne Colombier NE am 6. April 2018, wo es im Zusammenhang mit der Beförderung von Militärangehörigen zu haarsträubenden Gewaltexzessen gekommen war: Armeekader nutzten die Zeremonie, um mit gröbster Gewalt auf die ihnen untergebenen Soldaten einzuprügeln. In den darauffolgenden Tagen mussten 22 Soldaten vom Truppenarzt behandelt werden. Sie hatten Schmerzen, Blutergüsse, zwei von ihnen zeigten Anzeichen von gebrochenen Rippen, einer bekam kaum Luft und ein anderer musste notfallmässig in eine Klinik eingewiesen werden. Die Schläger waren bei diesen Gewaltexzessen insbesondere von einer Kompaniekommandantin zusätzlich angefeuert worden, unter anderem mit diesen Worten: „Ich toleriere bis zu zwei gebrochene Schlüsselbeine.“ In der Gerichtsverhandlung versuchte die Kompaniekommandanten ihr Verhalten damit zu rechtfertigen, dass sie als Frau im Ausbildungsalltag habe Härte demonstrieren wollen, weil sie befürchtet hätte, als „zu nett“ oder „nicht kämpferisch genug“ zu gelten.

Weitere Fälle, bei denen sich Frauen als besonders gewalttätig erweisen, konnte man wiederholten Berichten über Trainingsmethoden bei der Förderung jugendlicher Spitzensportlerinnen und Spitzensportlern in schweizerischen Ausbildungszentren entnehmen. Wiederholt war und ist dabei die Rede von Trainerinnen aus osteuropäischen Ländern, vor allem im Kunstturnen, Eiskunstlaufen, Synchronschwimmen und Balletttanzen. Jugendliche, vor allem Mädchen, erleiden dabei oft über Jahre kaum zu beschreibende physische und psychische Gewalt, so etwa kommt es immer wieder vor, dass trotz schwerer Verletzungen wie Knöchelbrüchen weitertrainiert werden muss, Synchronschwimmerinnen so lange unter Wasser bleiben müssen, bis sie in Einzelfällen schon das Bewusstsein verloren haben, Turnerinnen wegen zu geringem oder zu hohem Körpergewicht erniedrigt und in Anwesenheit ihrer Teamkolleginnen aufs Gröbste beschimpft werden oder sich sogar, auch darüber wurde schon berichtet, wegen kleinster Fehler beim Trainieren vor ihren Trainerinnen nackt ausziehen und auf den Knien vor ihnen um Vergebung bitten mussten.

Die schweizerische Kompaniekommandantin sowie nicht wenige der notabene als besonders erfolgreich geltenden Sporttrainerinnen mögen zwar seltene Ausnahmen sein, aber ihr Machtgebaren und ihr gewalttätiges Verhalten gegenüber Untergebenen zeigen, dass auch Frauen sich genauso „herrisch“ verhalten können wie all jene Männer, die Frauen respektlos behandeln, erniedrigen oder ihnen auf die eine oder andere Weise mehr oder weniger schwere Gewalt antun.

Selbstverständlich soll mit solchen Beispielen nicht ansatzweise all die immense Gewalt, welche von Männern gegenüber Frauen ausgeübt wird, verharmlost oder relativiert werden. Aber Männer bloss moralisierend an den Pranger zu stellen, bringt uns nicht zu einer Lösung des Problems, solange nicht auch die dahinterliegenden Machtstrukturen in aller Beharrlichkeit analysiert und offen gelegt werden.

Der Versuch einer These: Das Grundproblem ist nicht der Mann als solcher, sondern das bestehende gesellschaftliche Machtsystem, in dem die Mächtigeren weitaus häufiger Täter sind und die weniger Mächtigen in aller Regel ihre Opfer. Und da das herrschende Gesellschaftssystem so eingerichtet ist, dass Männer viel leichter und schneller Machtpositionen erlangen können als Frauen, sind Männer zweifellos in viel höherer Anzahl Täter, während Frauen in viel höherer Anzahl Opfer sind. Das ist nicht primär die Folge ihres Geschlechts, sondern die Folge einer Klassengesellschaft unterschiedlicher Rechte, Befugnisse und Privilegien sowie aller mit ihr verknüpfter und von ihr geprägter gesellschaftlicher Machtstrukturen. Der Mann wird nicht in dem Augenblick zum „Bösewicht“, da er – als Baby männlichen Geschlechts – geboren wird, sondern erst in dem Augenblick, da er in die vorgegebenen Denk-, Macht- und Verhaltensmuster hineinwächst und diese – wohl weitgehend unbewusst – nach und nach verinnerlicht.

Macht korrumpiert. Diese Aussage des Historikers Lord Acton aus dem Jahre 1887 gilt eben nicht nur für Männer, sondern gleichermassen auch für Frauen. Das mögen ein paar weitere im Folgenden ausgeführte Beispiele deutlich machen.

Erstes Beispiel: Die treibende Kraft hinter den von den USA über den Irak zwischen 1991 und 1995 verhängten Wirtschaftssanktionen war die damalige US-Aussenministerin Madeleine Albright. Sie liess sich von ihrem Ziel, dem Irak bleibenden Schaden zuzufügen, auch dann noch nicht abbringen, als die ersten Meldungen an die Öffentlichkeit gelangten, irakische Kinder würden infolge dieser Sanktionen in grosser Zahl sterben. Bis zuletzt hatten die Sanktionen einer halben Million irakischer Kinder das Leben gekostet. Noch Jahre später gab Albright einem TV-Reporter, der sie nach der Rechtfertigung für diese Sanktionen befragte, offensichtlich frei von jeglichem schlechtem Gewissen zur Antwort, sie würde sich wieder genau gleich verhalten, hätte sich der Tod dieser halben Million Kinder doch gelohnt, weil er dazu beigetragen hätte, die Interessen der USA gegen dem Irak möglichst wirkungsvoll durchzusetzen.

Zweites Beispiel: Es war eine Aussage der britischen Premierministerin Margret Thatcher aus dem Jahr 1987, auf die sich bis heute all jene berufen, die alles Gesellschaftliche dem freien Markt und dem freien Unternehmertum überlassen wollen und für die fast alles Staatliche des Teufels ist. Diese Aussage lautete: „Menschen sind Individuen, nur sie alleine können denken, handeln und frei sein, Das alles kann das Kollektiv nicht. Insofern gibt es keine Gesellschaften, nur Individuen.“ Heute, über 30 Jahre später, wird uns nach und nach bewusst, was für ein immenses Zerstörungspotenzial in diesen Worten einer der heftigsten Vorkämpferinnen des Neoliberalismus lag, jetzt, wo immer härter und erbarmungsloser der Egoismus überhand genommen hat im Kampf aller gegen alle und bald auch noch die letzten sozialen Netze zu zerreissen drohen. Wenn es eine typische Eigenschaft gibt, die sich, auch in grosser historischer Dimension, Frauen zuschreiben lässt, dann ist dies wohl das Soziale, die Fürsorge, die Gemeinschaft, die gegenseitige Verantwortung zwischen Stärkeren und Schwächeren. Und dann kommt ausgerechnet eine Frau und zerstört dieses Jahrtausendwerk ihrer unzähligen Vorfahrinnen innerhalb eines einzigen Tages, männlicher als der denkbar männlichste, herrschsüchtigste und machtbessenste Mann.

Drittes Beispiel: Aktuell treten sie sogar nicht nur einzeln auf, sondern geradezu reihenweise, als wollten sie der Öffentlichkeit endgültig beweisen, dass Frauen sogar noch weitaus „männlicher“ sein können als die schlimmsten Männer. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula Van der Leyen, die ihre Macht, demokratische Abläufe wo immer möglich auszuhebeln zugunsten ihrer eigenen Machtinteressen, geradezu strahlend auszukosten scheint. Die ehemalige deutsche Aussenministerin Analena Baerbock, die am liebsten ganz Russland zerstören würde. Die EU-Aussenbeauftragte Kaya Kallas, die auch von den irrwitzigsten Lügen nicht zurückschreckt, um möglichst viel Angst vor einem Angriff Russlands auf die baltischen Staaten und den Rest Europas zu schüren, damit auch niemand auf die Idee kommt, die bereits in Gang gesetzte Rüstungseuphorie der europäischen Länder in Frage zu stellen. Die sogenannte Sicherheitsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die mit ihrem aggressiven und hasserfüllten Gehabe nur darauf zu warten scheint, mit dem Gewehr an die Ostfront geschickt zu werden, denn dort, wie sie einmal sagte, könnte man sie gewiss „gut gebrauchen“.

Die Welt ist nicht primär von herrschsüchtigen, skrupellosen und machtgierigen Männern bestimmt, sondern primär von „männlichen“ Machtstrukturen, Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen. Wer – ob als Mann oder als Frau – in dieser Gesellschaft in Bezug auf Ansehen und Karriere erfolgreich sein will, muss sich, solange diese Machtstrukturen unangetastet bleiben, ihnen so weit als nur irgendwie möglich anpassen. Dann hat man es sogar bis über den Tod hinaus geschafft. So wie Madeleine Albright: Bei ihrem Begräbnis im März 2022 war allenthalben nur von ihrem Mut, ihrer Tapferkeit, ihrer Geradlinigkeit und ihrer Hartnäckigkeit die Rede und niemand erwähnte auch nur mit einem einzigen Wort, dass eine halbe Million irakischer Kinder für die ausserordentlichen „Qualitäten“ dieser Frau ihr Leben hatten opfern mussten. Während – um ein Gegenbeispiel zu nennen – die ehemalige, frühzeitig freiwillig aus ihrem Amt geschiedene neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern nicht als Siegerin, sondern als Versagerin in eine immer noch zutiefst von „männlichem“ Erfolgsdenken geprägte Geschichte eingehen wird, nicht, weil sie über keinerlei Qualitäten für dieses Amt verfügt hätte, sondern ganz im Gegenteil deshalb, weil ihre tägliche politische Arbeit so sehr von Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeitsliebe getragen war, dass sie schliesslich an den Widerständen und Hindernissen der herrschenden Machtstrukturen scheitern musste. Machtstrukturen, die sich unter anderem in Chatrooms manifestierten, die voll waren mit beleidigenden, wütenden und drohenden Mitteilungen sowie täglichen Vergewaltigungs- und Morddrohungen und in denen Jacinda Ardern als „dämonisch“ und „böse“ dargestellt und sogar mit Adolf Hitler verglichen wurde, sodass sie auch heute noch und vielleicht sogar für den Rest ihres Lebens für ihre Sicherheit besonderen Polizeischutz benötigt.

Es – aus Frauensicht – als „Erfolg“ zu feiern, wenn immer mehr Frauen machtvolle Positionen in der Politik, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Forschung, an den Universitäten, auf den Chefetagen multinationaler Konzerne und ganz allgemein an möglichst vielen Schalthebeln der Macht einnehmen, ändert an den tieferliegenden Machtverhältnissen auch nicht das Geringste. Im Gegenteil: Sie werden dadurch erst recht zementiert, kann doch die Tatsache, dass, sobald die entsprechenden „Frauenquoten“ auf den politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsebenen erreicht sind, zum verhängnisvollen Trugschluss führen, dass damit das Ziel der Gleichberechtigung von Frauen erreicht sei und es deshalb keiner weiteren diesbezüglichen Anstrengungen mehr bedürfe. Tatsächlich aber werden die bestehenden Machtverhältnisse damit nicht überwunden, sondern höchstens verschoben, in eine andere Richtung gedrängt oder umgelagert. Denn für die Kaffeebäuerin in Kenia, die sich von früh bis spät bis an die Grenzen ihrer körperlichen Kräfte abrackert und dennoch kaum genug Geld verdient, um sich und ihre Kinder ausreichend zu ernähren, spielt es auch nicht die geringste Rolle, ob Frauen auf den Chefetagen von Nestlé oder anderen Lebensmittelkonzernen zu fünf, 20, 50 oder 70 Prozent vertreten sind, solange diese Frauen nur die traditionellen, bisher Männern vorbehaltenen Rollen einnehmen, sich somit zu Komplizinnen und Mittäterinnen herrschender Ausbeutungsmechanismen machen und nicht mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Kräften für den Aufbau neuer, ausbeutungsfreier Wirtschaftsformen kämpfen.

Es ist kein Zufall, dass parallel zum Fortschreiten gnadenloser Profitmaximierung durch immer raffiniertere Methoden der Ausbeutung von Mensch und Natur auch die Gewalt gegen Frauen und Kinder und die Anzahl der Femizide laufend zunimmt. Alles hängt mit allem zusammen, in all den unzähligen Macht-, Ausbeutungs-, Unterdrückungs- und Diskriminierungsverhältnissen, in denen nicht nur Frauen Opfer von Männern sind, sondern auch Männer Opfer von Frauen sein können, „ausländische“ Menschen, unter ihnen insbesondere Flüchtlinge, Opfer von „einheimischen“ bzw. „sesshaften“ Menschen sind, Kinder und Jugendliche Opfer bloss aufgrund ihres jüngeren Alters Opfer von Erwachsenen, kulturelle und ethnische Minderheiten Opfer von sich als etwas „Höheres“ und „Besseres“ fühlenden Mehrheiten, sogenannt „Ungebildete“ Opfer von sogenannt „Gebildeten“, sogenannte Laien Opfer von sogenannten „Experten“, Gelegenheitsdiebe und „Kleinkriminelle“ Opfer von all jenen, die sich ganz „legal“ auf Kosten anderer bereichern, so etwa durch den Besitz von Aktien, was ihnen ermöglicht, selber nicht mehr arbeiten zu müssen, sondern nur noch von der Arbeit anderer leben zu können. Bei allen punktuellen Bemühungen um den Abbau einzelner Macht- und Ausbildungsverhältnisse darf nicht das grosse Ganze aus den Augen verloren werden: Dass die einzelnen dieser Machtsysteme, und damit eben auch das Patriarchat, nur dann dauerhaft überwunden werden können, wenn gleichzeitig auch das heute weltweit in Form einer rigorosen Klassengesellschaft herrschende immense und weit verzweigte kapitalistische Macht- und Ausbeutungssystem überwunden wird.

Als wäre das Denken stillgestanden…

Als wäre das Denken gesellschaftlich irgendwann, vor 10, 20 oder 30 Jahren, stillgestanden. Die Menschen hätten freiwillig darauf verzichtet, weiterzudenken. Und würden nur noch und immer neuen Varianten all jene Wörter und Sätze wiederholen, die schon vor 10 oder 20 oder 30 Jahren gesprochen wurden.

Gleich wie seit eh und je

Nein, die heutigen Kinder sind nicht anders als die Kinder vor 100, 1000 oder 10’000 Jahren. Der Grund ist ganz einfach: Die Kinder kommen alle aus dem Paradies. Wie es der italienische Dichter Dante Alighieri so wunderbar sagte: „Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben: Kinder, Blumen und Sterne.“ Und so sind die Kinder wie die Blumen und die Sterne die gleichen wie seit eh und je. Weil auch das Paradies immer noch das gleiche ist wie seit eh und je.

Mittagsnachrichten am Schweizer Radio vom 29. August 2025: Höchst tendenziöse Berichterstattung zu Gaza…

Schweizer Medien – Radio, Fernsehen, Tageszeitungen – rühmen sich einer ganz besonders „ausgewogenen“ Berichterstattung über internationale Ereignisse und grenzen sich damit oft auch von „ausländischen“, „weniger objektiven“ oder gar „propagandistischen“ Formen der Nachrichtenvermittlung ab.

Doch entspricht diese auch von einer überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung geteilte Sicht tatsächlich der Realität? Schauen wir uns an, wie Radio SRF in den Mittagsnachrichten vom 29. August 2025 über den Einmarsch der israelischen Armee in die grösste Stadt in Gaza, Gazastadt, berichtete…

Die israelische Armee hat Gazastadt zur Kampfzone erklärt…

Mit anderen Worten: Wenn Israel ein bestimmtes Territorium als „Kampfzone“ bezeichnet, dann findet dort logischerweise Krieg statt. Begründen muss man das ja nicht unbedingt weiter, weil es ja sozusagen ein offizieller, sogar transparenter und offensichtlich „legitimer“ Entscheid einer demokratisch gewählten Regierung ist, die schon wissen wird, wie sie zu diesem Entscheid gekommen ist.

Ab heute gäbe es dort keine taktischen Kampfpausen mehr, teilte das israelische Militär mit…

Aha. „Kampfpausen“ wären bloss ein „taktisches“ Instrument. Vielleicht, um die betroffene Bevölkerung kurz im Glauben zu lassen, die Angriffe würden aufhören, bloss um sie sodann noch viel heftiger weiterzuführen? Oder vielleicht, um den eigenen Soldaten jeweils eine kleine Verschnaufspause zu verschaffen? Oder vielleicht, um mit den zur Verfügung stehenden Waffen nicht allzu verschwenderisch umzugehen?

Gazastadt stelle eine gefährliche Kampfzone dar…

„Gefährlich“ für wen? Für Israel? Für die israelische Armee, die aus der Luft Bomben abwirft? Oder gar für die in Gazastadt lebenden Menschen, die seit Monaten Tag und Nacht in panischer Angst leben, kaum mehr etwas zu essen und zu trinken haben und schon seit Wochen auch nicht mehr über die grundlegendste medizinische Versorgung verfügen?

Bisher gab es in der grössten Stadt im Gazastreifen tagsüber Zeiten, in denen die israelische Armee ihre Kämpfe unterbrach, damit Hilfswerke die Menschen vor Ort versorgen konnten…

Wie lieb von der israelischen Armee. Also so schlimm, wie man oft hört, scheint sie nun doch nicht zu sein…

Die israelische Armee werde auch weiterhin humanitäre Bemühungen unterstützen, während sie Operationen zum Schutz von Israel durchführe…

Aha. Endlich erfahren wir, dass die israelische Armee im Grunde genommen eine humanitäre Organisation ist und ihr humanitäres Engagement auch weiterhin unbeirrt fortsetzen wird, selbst wenn die ganze übrige Welt das Gegenteil behauptet. Und dass ja alles nur zum Wohl der Menschen geschieht, zu ihrem „Schutz“, zu ihrer „Sicherheit“, und dass es gar nicht Völkermord ist, sondern nur „Operationen“ sind (und das kann ja nicht wirklich etwas Schlechtes sein), und dass man ja gar nicht wirklich tötet, sondern nur „durchführt“, was demokratisch beschlossen wurde.

Mitte August hatte Israel angekündigt, auch Gazastadt einzunehmen, um die Terrororganisation Hamas zu zerstören. Die Ankündigung sorgte international für Kritik…

„Ankündigen“ tönt in der Tat nicht schlecht, ist sogar ganz besonders rücksichtsvoll, gab man damit ja sogar den Menschen in Gazastadt die Gelegenheit, ihre Häuser rechtzeitig zu verlassen und an sicherere Orte zu gehen, auch wenn es diese schon längst gar nicht mehr gibt. Nett auch, alles so frühzeitig anzukündigen, damit die Menschen nicht den Schock erleben müssten, mitten in der Nacht von den Bomben überrascht zu werden, sondern fast zwei Wochen Zeit hatten, sich auf diesen Moment vorzubereiten. Doch abgesehen von alledem: Wenn das Ziel darin besteht, eine „Terrororganisation“ zu zerstören, dann muss man ja eigentlich alles andere gar nicht mehr rechtfertigen, denn dann sind sowieso alle Mittel recht, um das Ziel zu erreichen, ganz so, wie es der ehemalige israelische Geheimdienstchef Aharon Haliva unlängst mit diesen erschreckenden Worten formulierte: „Die Tatsache, dass es in Gaza bereits 50‘000 Tote gibt, ist notwendig und erforderlich für zukünftige Generationen. Für alles, was am 7. Oktober 2023 passiert ist, für jeden am 7. Oktober getöteten Menschen müssen 50 Palästinenser sterben. Es spielt jetzt keine Rolle, ob es sich um Kinder handelt. Sie brauchen hin und wieder eine Lehre.“ Alles klar. Denn es wäre ja auch völlig vermessen, die israelische Regierung, die inzwischen schon fast 100’000 Menschenleben auf dem Gewissen hat, auch nur im Entferntesten mit der Hamas zu vergleichen, die an jenem ominösen 7. Oktober rund 1400 Menschen tötete. Und erst recht wäre es jenseits aller „Ausgewogenheit“ und „Objektivität“, käme auch nur ein einziger Mensch auf die Idee, die israelische Regierung als „Terrororganisation“ zu bezeichnen, obwohl das Wort „Terror“ nichts anderes bedeutet als „Schrecken“ und es eigentlich nicht allzu grosser Phantasie bedarf, um sich vorzustellen zu können, dass wohl kaum ein anderes Wort dermassen genau das beschreibt, worunter die Bewohnerinnen und Bewohner von Gazastadt derzeit zu leiden haben.

Wenigstens erfolgte in den Mittagsnachrichten von Radio SRF am 29. August ganz zuletzt noch die Aussage, die Ankündigung der israelischen Regierung, Gazastadt „einzunehmen“ (im Klartext: dem Erdboden gleichzumachen), hätte international für „Kritik“ gesorgt. Mehr Untertreibung ist nun wirklich kaum mehr möglich, ist „Kritik“ doch der denkbar schwächste Ausdruck für jenen millionenfachen Schrei der Empörung, den diese „Ankündigung“, zwar nicht so sehr bei den Regierungen, aber vor allem und umso mehr bei breitesten Bevölkerungsschichten, insbesondere in den Ländern des Globalen Südens, ausgelöst hatte.

Schauen wir uns die Berichterstattung von SRF zu diesem Thema zusammenfassend noch einmal an, so müssen wir zum Schluss kommen, dass es sich hier eigentlich bloss um so etwas wie ein Pressecommuniqué der israelischen Militärführung handelt. Zitiert wird niemand ausser der israelischen Armeeführung (mit den entsprechenden „taktischen“ und „humanitären“ Ausführungen), keine einzige Stimme aus der UNO ist zu hören, keine Stimme aus einer friedenspolitischen Organisation oder einem in Gaza tätigen Hilfswerk, keine Stimme aus einer israelkritischen Regierung, keine Stimme aus der betroffenen Bevölkerung, keine einzige Stimme eines Mannes, einer Frau oder eines Kindes, das vor zwei oder drei Tagen vielleicht noch gelebt hätte und jetzt schon tot ist.

Das also ist die „Objektivität“ westlicher Berichterstattung, am Beispiel des Schweizer Radios SRF am 29. August 2025, die schon so „ausgewogen“ ist, dass sie tendenziöser gar nicht mehr sein könnte. Und erst noch vorgetragen von einer angenehm klingenden Frauenstimme, in genau derselben Tonlage, in der auch die weiteren Meldungen über die Höhe von Spenden an die einzelnen politischen Parteien der Schweiz und die anstehenden Strompreissenkungen im Kanton Zürich verlesen werden.

Was für ein Kontrast zu tatsächlicher „Objektivität“, wenn man sich, bloss um ein einziges Beispiel zu erwähnen, den Bericht eines Schweizer Arztes vor Augen führt, der vor wenigen Tagen von einem Einsatz in Gaza in die Schweiz zurückgekehrt ist: „Ich habe in den zerbombten und vom Hunger heimgesuchten Krankenhäusern gearbeitet und kann von Dingen berichten, die kein Mensch jemals sehen, geschweige denn selbst erleben sollte. Babys und Kinder, die nur noch Haut und Knochen sind, viele mit abgerissenen Gliedmassen. Mütter, die zu schwach sind, um ihre Neugeborenen zu füttern. Sogar das Krankenhauspersonal bricht vor Hunger zusammen. Schaut nicht weg. Wechselt nicht das Thema. Denn in einem anderen Leben könnten auch wir es sein, die vor Bomben fliehen, für Essensreste Schlange stehen und die Welt anflehen, etwas zu tun.“

Ich habe einen Vorschlag an die für die Berichterstattung über internationale Ereignisse Verantwortlichen von Radio SRF: Verzichtet auf „objektive“ Meldungen, die nahezu identisch sind mit Pressecommuniqués rein interessengesteuerter Staaten oder anderer Machtsysteme. Taucht hinunter zu den Menschen, die unter diesen Machtinteressen leiden und ihnen zum Opfer fallen. Ihr werdet sicher einwenden, dass es neben den offiziellen Nachrichtensendungen zur vollen und halben Stunde auch andere Sendegefässe gäbe, die vertiefter hinter die Oberfläche schauen. Und doch bilden sich viele Menschen ihre Meinung in erster Linie durch die Kurznachrichten zu den Haupttageszeiten und haben meist auch zu wenig Zeit, um sich ausführlichere Reportagen anzuhören.

Der oben zitierte Bericht des aus Gaza zurückgekehrten Schweizer Arztes mag als Beispiel dienen für einen Text, der auch im Rahmen von „Hauptnachrichten“ einen Platz finden könnte. Und dann bitte nicht von einer allzu „angenehmen“ Stimme lesen lassen, ohne jegliche Emotion. Warum sollte persönliche Betroffenheit nicht auch zum Ausdruck kommen dürfen? Warum sollte nicht auch einmal ein Moderator oder eine Moderatorin beim Lesen solcher Berichte in Tränen ausbrechen, und weshalb sollte ihr vielleicht nicht auch mal die Stimme versagen? Und wie wäre es, solche Sendungen nicht nur in sterilen Räumen ohne auch nur geringste „Nebengeräusche“ aufzunehmen, sondern wenn man stattdessen im Hintergrund den Lärm von Bombardierungen, Gewehrschüssen oder Schreien verzweifelter Menschen hören würde?

Für Alessia

Bevor sie
nachmittags um fünf
zu dir kommen
sind sie schon
sieben Stunden lang gesessen und jetzt
sitzen sie wieder auf einem
grossen bequemen Stuhl während du
ihnen die Haare schneidest
und während sie
sieben Stunden lang gesessen sind
bist du schon
sieben Stunden lang auf den Beinen gestanden
aus denen die Schmerzen
immer stärker
von unten nach oben in
deinen ganzen Körper dringen und
obwohl sie nur gesessen sind und
keinerlei Schmerzen verspüren
während du nur gestanden bist und dir
alles weh tut
haben sie dennoch
in diesen sieben Stunden
fünf oder sechs Mal mehr Geld verdient
als du
ja Alessia
meistens sind es Männer die sitzen und
meistens sind es Frauen die
stehen rennen und sich die Füsse wund laufen
in den Restaurants
in den Bars und in den Nachtclubs
in den Frisiersalons
in den Spitälern
in den Altersheimen
in den Supermärkten
in den Fabriken
beim Einkaufen von Geschäft zu Geschäft
von Termin zu Termin hetzend
in den Bürohochhäusern und in den Toiletten
um mitten in der Nacht
alles blitzblank zu putzen damit
Männer
am nächsten Morgen wieder
bequem in ihren breiten Stühlen
sitzen können
auf den Chefetagen ihrer Konzerne
an meterlangen Konferenztischen stundenlang
und zur Mittagszeit im Restaurant
am Abend mit dem Bier vor dem Fernseher oder
am Stammtisch
in Bars und Nachtclubs
nein Alessia
die Welt ist nicht gerecht
doch noch schlimmer ist dass
viele von denen die das Glück haben OBEN zu sein
oft noch verächtlich auf jene hinunterschauen die
UNTEN sind
und sich nicht selten sogar noch als bessere gescheitere oder
wichtigere Menschen fühlen
manchmal Alessia
wünschte ich mir dass
nur für einen einzigen Tag alles
umgekehrt wäre
vielleicht Alessia
käme dann die Wahrheit ans Licht dass
das ganze schöne Kartenhaus
gebaut aus denen OBEN und
denen UNTEN
im Bruchteil einer Sekunde
in sich zusammenstürzen würde wenn
die unten eines Tages ganz einfach
aufhören würden sich mit
so viel Arbeit und so wenig Lohn für
die oben Tag und Nacht abzurackern
wenn du die Schmerzen in deinen Beinen
nur für eine Stunde lang in die
Beine deines Kunden schicken könntest wenn
der Computerspezialist und der Universitätsprofessor nur
einen einzigen Tag lang mit so wenig Geld auskommen müssten wie
die alleinerziehende Mutter am anderen
Ende der Stadt und wenn
die Chefs ihre Toiletten
selber putzen und sich
ihre Haare
ganze alleine
selber
schneiden müssten.