Archiv des Autors: Peter Sutter

21. Montagsgespräch vom 16. Juni 2025: Ist eine Welt ohne Geld vorstellbar?

Am Buchser Montagsgespräch vom 16. Juni stellte Eric Zaindl, Ökonom und Buchautor, seine Vision einer „Welt ohne Geld“ vor, die er auch in Buchform veröffentlicht hat. Durch seine intensiven Recherchen und beruflichen Erfahrungen – vom Sachbearbeiter bis zum Geschäftsführer in verschiedenen Unternehmen – sei er zur Erkenntnis gelangt, dass eine geldfreie Welt möglich wäre. Oder dann eine Welt mit einem gerechteren Geldsystem, als das heute der Fall sei.

Zaindl zitierte den US-amerikanischen Unternehmer Henry Ford: „Würde die Menschheit das Geldsystem verstehen, hätten wir eine Revolution noch vor morgen früh.“ In der Tat beruhe die Macht des herrschenden Geldsystems auf dem Nichtwissen der breiten Bevölkerung über die Mechanismen, die hinter der Geldschöpfung stecken. Über 90 Prozent der Gesamtmenge an Geld existiere gar nicht in physischer Form, sei reines Buchgeld, das auf der Basis von Krediten von Banken oder anderen Finanzinstitutionen geschaffen würde. Dabei ginge es oft um so gigantische Beträge, dass diese gar nie zurückbezahlt werden könnten, während kleinere, an KMU oder Privatpersonen verliehene Kredite stets samt Zins zurückzuerstatten seien. Gleichzeitig werde öffentlich der Anschein erweckt, als dass Geld Mangelware sei, was es im Alltag vieler Menschen auch tatsächlich sei, allerdings nicht für die geldschöpfenden Institutionen. Dieses Mangeldenken werde dann zur Ausrede genommen, zu wenig Geld für wichtige öffentliche Aufgaben zu haben, wie z.B. für die seit Jahrzehnten hinausgeschobene Lösung des Hungerproblems in sogenannten Entwicklungsländern. Viele der heutigen sozialen und wirtschaftlichen Probleme seien eine unmittelbare Folge dieses ungleichen Zugangs zu Geld. Es brauche daher grundlegend neue Ansätze, denn, wie auch Albert Einstein gesagt hätte: Probleme liessen sich nicht mit der gleichen Denkweise lösen, mit welcher sie entstanden seien.

Würden die Menschen überhaupt noch arbeiten, wenn der Anreiz, damit Geld zu verdienen, nicht mehr vorhanden wäre? Eine Diskussionsteilnehmerin wies darauf hin, dass der Mensch ein zutiefst soziales Wesen sei und nicht von Natur aus egoistisch und habgierig. Es würde wohl ein Füreinander und Miteinander entstehen, wenn das Gelddenken wegfallen und der Leistungsdruck, sprich das Müssen, durch ein Dürfen ersetzt würde. Ein Wirtschaftssystem ohne Geld, so Zaindl, würde zudem zu einem viel nachhaltigeren Umgang mit den vorhandenen Ressourcen führen, da das Ziel der Produktion dann nicht mehr in einer möglichst gewinnbringenden Vermarktung der Güter und damit verbundenem Überkonsum liegen würde, sondern in der Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse weltweit. Es brauche angesichts der immensen Herausforderungen unserer Zeit dringend neue Ideen, so ein Diskussionsteilnehmer, der in diesem Zusammenhang an ein bekanntes Zitat des deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer erinnerte: „Ein neuer Gedanke wird zuerst verlacht, dann bekämpft, bis er nach längerer Zeit als selbstverständlich gilt.“

21jähriger Ex-Schüler tötet zehn Menschen an einem Grazer Gymnasium: Tausende tickender Zeitbomben…

Und wieder – wie schon dutzendfach in den vergangenen rund zehn Jahren, zunächst vor allem in den USA, nach und nach auch in anderen Ländern und nun auch im österreichischen Graz – ist es exakt das gleiche Schema: Ein Schüler, der aus seiner Schule hinausgeworfen wurde bzw. sie aufgrund extremer Belastungen wie Mobbing, Prüfungsangst oder ungenügenden Leistungen frühzeitig verlassen musste, kehrt Jahre später an eben diese Schule zurück und nimmt skrupellos Rache an Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften, von denen die meisten nicht die geringste Schuld an dem tragen, was ihm Jahre zuvor widerfahren war. Nach getaner Tat richtet er sich selbst.

Aus psychologischer Sicht ist längst sonnenklar, was da abläuft. Schulamokläufe, so der Schulpsychologe Hans-Joachim Röthlein, würden oft von jungen Männern begangen, die an ihrer Schule oder in deren Umfeld Demütigungen erlitten hätten. Sie seien zuerst voller Ärger und Wut, dass ihnen niemand helfe, und diese Gefühle würden dann später irgendwann in Hass umschlagen und in das Bedürfnis, sich zu rächen, und zwar genau an dem Ort, wo die Demütigung erfolgt sei. „Solche Taten“, sagt auch die österreichische Verhaltensanalystin Patricia Staniek, „sind das Resultat mehrerer Faktoren, die über längere Zeit auf eine Person einwirken. Täter berichten oft von Ausgrenzung und Demütigung. Solche Erfahrungen graben sich über Jahre tief in die Psyche ein. Einsamkeit und schwache soziale Bindungen können dazu führen, dass die Täter ein eigenes Narrativ entwickeln und sich einer feindlichen Welt gegenüber sehen. Täter kehren deshalb oft an jenen Ort zurück, wo sie ihr Leid erlebt haben. Solche Taten reifen oft über längere Zeit. Und irgendwann reichen dann die inneren Kompensationen einfach nicht mehr aus und die Tat erscheint als der letzte Ausweg. Es ist eine Form von Selbstradikalisierung: Die Täter glauben, auf diese Weise Bedeutung zu erlangen. Sie wollen sich sozusagen in die Gesellschaft, welche sie ausgestossen hat, auf möglichst wirkungsvolle und öffentlichkeitswirksame Weise einbrennen.“

Ebenso sonnenklar wie dieser Befund müsste dann logischerweise auch die Schlussfolgerung sein, die man daraus ziehen müsste, nämlich, nie ein Kind oder einen Jugendlichen gegen seinen Willen aus einer Gemeinschaft oder einem sozialen Netz herauszureissen, das ihn trägt und ihm in Form einer geregelten Alltagsstruktur insbesondere in schwierigen oder unsicheren Lebensphasen trotz allem eine gewisse Stabilität verleiht. Scheitern an zu hohen schulischen Anforderungen oder gar der gewaltsame Schulausschluss gegen den eigenen Willen sind so ziemlich das Schlimmste, Verhängnisvollste und Gefährlichste, was man einem jungen Menschen antun kann. Eigentlich müsste man ganz im Gegenteil jungen Menschen in einer besonders schwierigen Phase ihrer Persönlichkeitsentwicklung umso mehr Wertschätzung, Zuneigung und Vertrauen entgegenbringen und alles daran setzen, dass sie genau an einem solchen Punkt ihres Lebens, wo sie auf Anerkennung mehr als je zuvor angewiesen werden, nicht mit einem Gefühl totalen Scheiterns und einem möglicherweise daraus resultierenden Verlust ihres gänzlichen Selbstvertrauens konfrontiert werden. Das oberste Prinzip einer jeglichen pädagogischen Institution, die auf Menschenliebe gründet – und worauf sonst sollte sie gründen? – müsste darin bestehen, nie und unter gar keinen Umständen einen jungen Menschen fallen zu lassen, ihn auszusondern, „abzuschreiben“ oder aufzugeben. Denn tut sie das, ist das nicht weniger grausam, als wenn man jemandem, der sich mit letzter Kraft an einer schmalen Felskante festzuklammern versucht, so lange und so brutal auf den Händen herumtrampeln würde, bis er loslassen muss und in einen Abgrund stürzt. Es ist, könnte man sagen, nichts weniger als Seelenmord.

Doch weit davon entfernt, dass diese Schlussfolgerung von den zuständigen Politikern, Schulbehörden, Lehrkräften, Schulleitern und pädagogischen Fachpersonen endlich gezogen wird, sucht man tausend andere Gründe und stellt tausend andere Forderungen in den Vordergrund, bloss um vom eigentlichen Grundproblem abzulenken. So wurde bereits einen Tag nach der Tat fast die gesamte öffentliche Diskussion auf die Frage fokussiert, woher der Täter die beiden von ihm benutzten Waffen beschafft haben könnte. „Nach dem Amoklauf“, so das „St. Galler Tagblatt“ vom 12. Juni 2025, „dominiert vor allem aber eine Frage: Wie konnte der Mann die Waffen beschaffen?“ Die Bürgermeisterin von Graf forderte umgehend ein breites Waffenverkaufsverbot. Die selbe Forderung erhoben auch Parlamentsabgeordnete der Grünen. Selbst ein bekannter Wiener Waffenhändler sagte: „Wir haben viel zu viele illegale Waffen.“ Die Leichtigkeit, mit der eine Privatperson in den Besitz einer Waffe gelangen könne, sei „absurd und weltfremd“.

Auch die Schlagzeilen und Titel der Zeitungsberichte zeigen, wie einseitig das Vorgefallene ausschliesslich auf seine Wirkung nach aussen reduziert wird und die dahinter liegenden Ursachen gar nicht erst Raum bekommen, um auch nur einigermassen ernsthaft diskutiert zu werden: „Elf Tote bei Amoklauf an einer Schule“, „Der Attentäter besass legal zwei Waffen“, „Siebzehn Minuten, die eine Stadt verändern“, „Wie gross ist das Risiko für ein Schusswaffendelikt?“, „Die 17 längsten Minuten von Graz“, „Wie sicher sind unsere Schulen?“, „Österreichs Waffenrecht wird hinterfragt“, „Der Schock in Österreich sitzt tief“, „Österreich ist erschüttert“ oder „Die halbe Welt schaut auf Graz“. Eine Schlagzeile wie „Zeit für eine radikale Schulreform“ oder „Wenn Opfer zu Tätern werden“ sucht man vergebens. Auch die Reaktion der staatlichen Behörden ist weit davon entfernt, eine dringend nötige Diskussion darüber anzustossen, wie eine Gesellschaft mit Menschen, die aus dem System zu fallen drohen, umgehen müsste, sondern manifestiert sich beinahe ausschliesslich auf die Inszenierung emotionaler Betroffenheit und Empörung: Während sich der österreichische Innenminister Karner auf die Frage eines Reporters nach den möglichen Motiven des Täters äusserst wortkarg zeigte und sich bloss auf die Aussage beschränkte, darüber zu werweissen sei sowieso alles nur „Spekulation“, sprach Bundespräsident Van der Bellen von einem „nicht in Worte zu fassenden Horror“, der „unser ganzes Land mitten ins Herz trifft“. Und Bundeskanzler Stocker sagte: „Unser Land steht in diesem Moment des Entsetzens still“ und ordnete unverzüglich eine dreitätige Staatstrauer an, liess sämtliche Veranstaltungen der nächsten Tage absagen und alle Flaggen und Fahnen in ganz Österreich auf Halbmast setzen, zudem wurde angekündigt, dass genau 24 Stunden nach der Tat im ganzen Land eine Schweigeminute stattfinden, alle öffentlichen Verkehrsmittel still stehen und alle Kirchenglocken im ganzen Land läuten würden. Im Interview mit einer grossen Tageszeitung sprach Stocker von einem „dunklen Tag in der Geschichte unseres Landes“ und meinte: „Eine Schule ist mehr als nur ein Ort des Lernens. Sie ist ein Raum des Vertrauens, der Geborgenheit und der Zukunft. Unsere Schulen müssen Orte des Friedens bleiben.“ Was er damit wohl sagen wollte? Dass man Schulen künftig besser vor „bösen“ Menschen wie einem solchen Amokläufer schützen müsste? Oder vielmehr, dass Schulen wieder ganz und gar Stätten von Vertrauen, Geborgenheit und Frieden sein müssten, um Schreckenstaten wie jener an der Grazer Schule schon von Anfang an den Boden unter den Füssen zu entziehen?

Die Bilder, die man jetzt überall sieht – Blumengebinde im Gedenken an die Opfer, Meere brennender Kerzen, sich gegenseitig aneinanderklammernde weinende Kinder, Jugendliche und Erwachsene, viele von ihnen schwarz gekleidet, Hunderte, die sich spontan gemeldet haben, um Blut zu spenden – erinnern mich an den Aufschrei bei jedem Autounfall mit Verletzten und Toten, als wäre das nicht die ganz logische Folge einer Verkehrspolitik, die viel zu einseitig auf das private Automobil setzt und schon längstens flächendeckende Alternativen dazu hätte entwickeln müssen. Ebenso erinnern sie mich an den Aufschrei der Zuschauerinnen und Zuschauer bei Skirennen, die sich jedes Mal, wenn eine Fahrerin oder ein Fahrer nach einem schweren Sturz bewegungslos auf der Piste liegen bleibt, die Hände über die Augen schlagen und eben das nicht sehen wollen, was sie mit ihrer eigenen Sensationslust und ihrer Vermarktung durch die unzähligen Profiteure solcher Anlässe selber verursacht haben. Oder an die tränenerstickten Worte eines Radprofis, der in einem dieser fürchterlichen und immer brutaler werdenden Strassenrennen seinen besten Freund verloren hat – statt dass man endlich in aller Ernsthaftigkeit, Offenheit und Selbstkritik über den Sinn oder Unsinn eines Spitzensports diskutieren würde, der infolge einer Eigendynamik zunehmender Brutalisierung immer mehr menschliche Opfer fordert.

Bezeichnend für dieses Verdrängen und Verschweigen der Ursachen all dessen, was im Nachhinein dann so tränenreich bedauert wird, ist auch die Tatsache, dass, wenn wieder einmal etwas ganz Schlimmes passiert ist, wie aus dem Nichts unzählige Fachleute auf der Bildfläche erscheinen, um sich um die Opfer des angerichteten Schadens zu kümmern: Unmittelbar nach der Tat waren Dutzende Spezialisten von Kriseninterventionsteams vor Ort, um geschockte und verzweifelte Eltern sowie Schülerinnen und Schüler zu betreuen. Fachleute betonen, dass solche Amoktaten eine extreme Langzeitwirkung hätten und bei vielen Menschen Schlafstörungen, Albträume oder Flashbacks auslösen würden. „Die denken“, so der Schulpsychologe Hans-Joachim Röthlein, „sie würden verrückt oder seien gar nicht mehr in der Lage, den Strom der Erinnerungen zu durchbrechen.“ Oft würden auch Ehen nach dem Tod von Kindern zerbrechen, Eltern könnten berufsunfähig werden und ganze Orte könnten von solchen Ereignissen über Jahre gekennzeichnet bleiben. Um die Menschen vor Ort zu beruhigen, liess sogar das kroatische Fernsehen einen Franziskanerpater auftreten, welcher seinen Landsleuten in ihrer Muttersprache erklären sollte, was geschehen sei. Würden all die Spezialisten und Fachleute, die jetzt von allen Seiten herbeieilen, um den Scherbenhäufen aufzuräumen, ihr Fachwissen nicht viel gescheiter dafür einsetzen, dass solche Scherbenhaufen gar nicht mehr erst entstehen?

Auch in der Schweiz wird im Zusammenhang mit dem Grazer Amoklauf beinahe ausschliesslich nur darüber diskutiert, wie die Sicherheitslage an den Schulen weiter verbessert werden könnte. So etwa schlägt der „Tagesanzeiger“ in einem Artikel unter dem Titel „Wie gross ist das Risiko für ein Schusswaffendelikt?“ unter anderem „definierte Abläufe für den Ereignisfall“, „geeignete Alarmsysteme“ und „von innen verschliessbare Türen in möglichst allen Räumen“ vor. Auch der „Blick“ fordert mit einer fetten Schlagzeile „möglichst hohe Sicherheit“ und schlägt hierzu ein „Notfallkonzept“ vor, das folgende Punkte beinhalten müsste: Sofortiges Ernstnehmen jeglicher Amokdrohungen, rascher Beizug der Spezialisten der zuständigen Kantonspolizei, unmittelbare Übergabe der Einsatzleitung an die Behörden, Regelung der Kommunikation mit den Eltern, wenn nötig Evakuierung des betroffenen Schulhauses. Als eine weitere mögliche Massnahme wird die Anstellung von Schulpolizisten vorgeschlagen, wie dies in den USA bereits an vielen Schulen erfolgt sei. Angesprochen darauf, dass es in der Schweiz bisher noch keinen vergleichbaren Amoklauf gegeben habe, weist Beat A. Schwendimann vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz darauf hin, dass in den letzten Jahren die „Präventionsarbeit gegen Gewalt und Amoklagen“ in vielen Schulen „verstärkt worden“ sei, wobei der Fokus „vermehrt auf Krisenintervention“ gelegt werde. Zu diesem Zweck würden „Kriseninterventionsteams“ eingerichtet, die „im Notfall sofort aktiviert werden“ könnten. Der Kanton Zürich beschäftige sogar extra einen „Beauftragten für Gewalt im schulischen Umfeld“ und stelle den Schulen „verschiedene Werkzeuge zur Verfügung“, zu denen unter anderem auch eine speziell zu diesem Zweck entwickelte „Notfall-App“ gehöre, die zur „Alarmierung und Kommunikation“ genutzt werden könne. Punktuell gäbe es zu diesem Thema auch spezifische Weiterbildungskurse für Lehrkräfte, wo auch „Merkblätter mit den wichtigsten Verhaltensregeln“ abgegeben würden. Bei alledem stünden die Schweizer Polizeikorps „in ständigem engem Austausch mit Schulen und Behörden“. Ein besonderes Augenmerk gelte dabei den sozialen Medien, denn dort nähmen „Cybermobbing, Drohungen oder die Nachahmung gefährlicher Trends und Challenges kontinuierlich zu.“

Doch sämtliche dieser Forderungen nach mehr Sicherheit können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das eigentliche Grundproblem nicht der zu leichte Zugang zu Waffen ist, auch nicht das Fehlen umfassender Sicherheitskonzepte, auch nicht das mangelnde Wissen über die Reihenfolge von Massnahmen in Notfallszenarien, auch nicht der Mangel an Alarmsystemen oder Überwachungskameras und auch nicht die zu lückenhafte Zusammenarbeit zwischen Behörden, Polizei und Schulen, sondern einzig und allein die Tatsache, dass mit jedem jungen Menschen, der gegen seinen Willen aus der Schule geworfen wird oder sie aufgrund von Mobbing. Ängsten oder Überbelastung selber freiwillig frühzeitig verlässt, in Form des Zusammenbruchs aller seiner Zukunftshoffnungen ein Seelenmord begangen wird, für den er sich früher oder auf die eine oder andere Art rächen wird, entweder mit Gewalt gegen andere in Form eines Amoklaufs oder mit Gewalt gegen sich selber in Form von Depressionen, Süchten oder dem lebenslang verbleibenden Gefühl des Scheitern, des Ungenügens und der Minderwertigkeit.

Es kann kaum etwas Widersprüchlicheres geben als ein Schulsystem, das Kinder und Jugendliche tagein tagaus dazu zwingt, Dinge zu lernen, die sie gar nicht lernen wollen, sie von früh bis spät dazu anhält, aus gemachten Fehlern zu lernen, und die gesamten damit verbundenen, oft viel zu hohen Anforderungen an die Kinder damit begründet, wie wichtig Selbsterkenntnis und Lernen für das ganze spätere Leben seien – selber aber in unbegreiflicher und höchst unprofessioneller „Renitenz“, ja geradezu „Lernverweigerung“ nicht bereit ist, aus gemachten Fehlern wie dem vorzeitigen Ausschluss „schwieriger“, „renitenter“ oder „untragbarer“ Schülerinnen und Schülern die simpelsten Lern- und Erfahrungserkenntnisse zu gewinnen, um so schreckliche Vorfälle wie Amokläufe an Schulen für immer zu verunmöglichen. Denn das psychologische Wissen, wie man so etwas wie einen Amoklauf präventiv verhindern kann, nämlich indem man keinen Menschen aus einem ihn tragenden Netz herausreissen und ins Nichts fallen lassen darf, ist längstens vorhanden, wie die oben beschriebenen Analysen von Fachleute beweisen – das Tragische ist bloss, dass ausgerechnet diese Analysen, die zur Lösung des Problems führen und sich nicht auf reine Symptombekämpfung reduzieren würden, stets wieder im Getöse des lautstarken, polternden und wahlpolitisch wirkungsvollen Rufs nach härteren Regeln, mehr Kontrollen, mehr Sicherheitsmassnahmen und dergleichen untergehen und gänzlich aus dem Blickfeld verschwinden. So werden laufend neue tickende Zeitbomben produziert – in der Schweiz jedes Jahr mehrere tausende, in Deutschland, wo es hierzu im Gegensatz zur Schweiz genauere Statistiken gibt, sind es rund 50’000 pro Jahr, welche die Schule frühzeitig verlassen und meistens ohne jegliche Zukunftsperspektive im Nichts verschwinden.

Doch es sind nicht nur die Amokläufe. Diese bilden bloss die ganz seltene und winzige allerhöchste Spitze eines Eisbergs, unter der sich in zahllosen „harmloseren“ und meist viel weniger sichtbaren Formen unendliches Leiden von Kindern und Jugendlichen unter einem Schulsystem manifestiert, dem es offensichtlich viel mehr um seinen eigenen Überlebenskampf geht als um das Überleben noch zutiefst verletzlicher, in ihrer Persönlichkeit noch viel zu wenig gefestigter und einer Vielzahl von Gefahren ausgesetzter Heranwachsender, die gerade in ihren schwierigsten Lebensphasen auf nichts so sehnlich angewiesen wären als auf Wertschätzung, Aufmerksamkeit und Liebe, den Grundvoraussetzungen dafür, dass gesundes und selbstbewusstes Leben wachsen kann.

Viele Jahre früher, bevor dann ein paar ganz wenige von ihnen im allerschlimmsten Fall vielleicht einmal zu Amokläufern werden, signalisieren die meisten Kinder ihr Unbehagen an einer Schule, die der Entfaltung ihrer innersten Lern- und Lebensbedürfnisse viel zu wenig gerecht wird oder dieser sogar diametral im Wege steht, auf meist ganz feine, kaum wahrnehmbare Weise, so wie allerfeinste Seismographen, die ein zukünftiges Erdbeben schon früh ankündigen. Eines dieser Signale sind Bauchschmerzen – wohl kein Zufall, ist doch der Bauch – ganz sicher ist sich auch die gesamte Fachwelt bis heute noch nicht – möglicherweise der Sitz der menschlichen Seele. „Tatsächlich“, so Carsten Posovsky vom Universitäts-Kinderspital Zürich in einem Interview mit dem „St. Galler Tagblatt“ vom 11. Juni 2025, „sind Bauchschmerzen bei Kindern, vor allem chronische, ein häufiges Problem, am zweithäufigsten nach den Kopfschmerzen. Etwa jedes zehnte Kind ist davon betroffen. Als Gründe dafür vermutet man psychosoziale Belastungen wie Stress, etwa durch die Schule.“ Aber nicht einmal dieses erste, äusserlich zwar noch „harmlose“, für die betroffenen Kinder und auch ihre Eltern aber mit unermesslich viel Leiden verbundene Signal wird folgerichtig wahrgenommen – kaum jemand hinterfragt das herrschende Schulsystem und all die mit ihm künstlich aufgebauten Zwänge, Belastungen und Hindernisse, die einem freien, selbstbestimmten Lernen in den Weg gestellt werden. Hinterfragt wird nicht das System, dafür umso mehr das scheinbar „überforderte“ Kind selber. Dementsprechend wird auch gehandelt: Meist werden zunächst Medikamente verschrieben, dann werden, weil diese logischerweise nichts nützen und die Ursachen des Problems bloss zu überdecken versuchen, zum Beispiel „kognitive Verhaltenstherapien“ oder gar eine „darmzentrierte Hypnotherapie“ empfohlen. Wenn das alles immer noch nichts nützt, kommt dann – von vielen Fachleuten empfohlen, weil scheinbar mit „wissenschaftlich belegtem“ Nutzen – unter anderem der Einsatz von Pfefferminzöl zum Zug, welches eine „krampflösende Wirkung“ haben soll, „schmerzlindernd“ sei und zudem die Darmtätigkeit anrege. Zeigt das immer noch keine Wirkung, greift man sodann unter anderem nach „Probiotika“, besonders angezeigt beim sogenannten „Reizdarmsyndrom“. Schliesslich verbleiben dann noch die mögliche Verschreibung einer Psychotherapie mit dem Schwerpunkt „Stressabbau“, „Atemübungen“, „progressive Muskelentspannung“ oder „Traumreisen“. Es gibt sogar Fachleute, die allen Ernstes den „Verzicht auf jegliche Schonhaltung“ als das probateste Mittel gegen chronische Bauchschmerzen vorschlagen. Wer nach all dem Aufwand, den vielen Arztterminen, all den damit verbundenen Spannungen und Konflikten in den Familien, all den Frustrationen, den nicht erfüllten Hoffnungen und dem riesigen zeitlichen und finanziellen Aufwand dann immer noch nicht „geheilt“ ist – und das sind vermutlich weitaus die meisten -, gilt dann halt als „untherapierbar“ und geht weiterhin jeden Tag mit Bauch- oder Kopfschmerzen zur Schule. Und kein Mensch hinterfragt, warum denn alle diese Phänomene erst in der Schule entstanden sind und nicht schon in den ersten Lebensjahren, in denen die Kinder in kürzester Zeit, vollkommen lustvoll, beschwerdelos und schmerzfrei, weitaus mehr gelernt haben als in ihrem gesamten späteren Leben.

Ein weiteres Signal, mit dem Kinder ihr Unbehagen mit dem herrschenden Schulsystem bekunden, ist der Schulabsentismus. „Kinder“, so ein Artikel im „Tagesanzeiger“ vom 2. Juni 2025, „können so starke innere Blockaden entwickeln, dass sie nicht mehr zur Schule gehen wollen.“ Die Ursachen, so der an der Universität Leipzig zu Schulabsentismus forschende Heinrich Ricking, seien oft in der Schule selbst zu finden, etwa „beim Leistungsdruck, bei der Angst vor einem Versagen oder bei Mobbing“. Aber wie bei den Amokläufen und den Bauch- und Kopfschmerzen, ist es genau dasselbe auch beim Schulabsentismus: Bekämpft werden nur die Symptome, nicht die Ursachen. Therapiert werden nur die einzelnen Kinder und Jugendlichen, nie da System als solches. Stets versucht man die Kinder dem System anzupassen, statt das System den Kindern anzupassen, um jedem einzelnen von ihnen einen erfolgreichen Weg des Lernens, des Entdeckens und Förderns der individuellen Begabungen und einer positiven Entfaltung seiner Persönlichkeit möglich zu machen. Eine im Herbst 2023 im Kanton Zürich durchgeführte Befragung aller Vierzehnjährigen, welche eine erschreckende Zunahme von Depressionen, Süchten, Selbstverletzungen bis hin zu Suizidgedanken und Suizidversuchen im Zusammenhang mit schulischer Überbelastung zutage gebracht hatte, wurde selbst vom Hauptverantwortlichen sämtlicher kantonaler Jugendberatungsstellen bloss mit der Empfehlung kommentiert, die Jugendlichen müssten sich halt eine „dickere Haut“ zulegen, zum Ausgleich „mehr Sport treiben“ und die Schule nicht als ihren hauptsächlichen Lebensinhalt betrachten – einfach gesagt, wohl aber schwer umzusetzen, wenn man gezwungen ist, an sieben oder acht Stunden pro Tag in der Schule zu sitzen, zudem zuhause noch Hausaufgaben erledigen und jede Woche zwei oder drei Prüfungen absolvieren zu müssen, die allesamt auf die zukünftigen Berufs- und Lebenschancen einen zutiefst umfassenden Einfluss haben und deren Resultate, falls sie nicht den erhofften Erwartungen genügen, später kaum wieder rückgängig gemacht werden können.

Trotzdem zum Abschluss noch ein Lichtblick. Rolf (Name geändert) ist einer dieser paar tausend Jugendlichen in der Schweiz, die jährlich vor dem Abschluss der obligatorischen Schulpflicht die Schule verlassen müssen, weil sie nicht mehr länger „beschulbar“ sind. Auch bei Rolf war es eine Kette disziplinarischer Vorfälle, welche schliesslich eines Tages das Fass zum Überlaufen brachten, worauf die Schulleitung in Absprache mit den zuständigen Behörden und involvierten Fachpersonen den definitiven Schulausschluss verfügte. Für Rolf und seine Eltern brach eine Welt zusammen. Es war drei Monate vor dem Ende des neunten Schuljahrs, läppische drei Monate also von insgesamt neun Jahren fehlten ihm nun also, um nach abgeschlossener Schulpflicht eine Berufslehre antreten zu können. Dabei wäre seine Traumlehrstelle als Chemielaborant bereits in Griffnähe gelegen, und zwar aufgrund einer Schnupperwoche, bei der Rolf einen tadellosen Eindruck hinterlassen hatte, nicht nur was Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit, sondern vor allem auch was seine immense Wissbegierde bei naturwissenschaftlichen Themen betraf. Einer seiner früheren Lehrer, an die er sich heute noch gerne erinnert, hatte einmal gesagt, bei allem, was Rolf interessiere, zeige er enormes Interesse und erreiche dann auch in kürzester Zeit höchst erstaunliche Lernfortschritte – wenn ihn hingegen etwas nicht interessiere, dann könne man noch so lange auf ihn einreden, sein Widerstand bis hin zu Aggressivität und Gewalttätigkeit werde dadurch nur immer noch grösser. Nun also sass Rolf zuhause und sowohl er wie auch seine Eltern wussten weder ein noch aus, seine ganze Zukunft bestand nur noch aus einem unendlichen schwarzen Loch ohne jeden Ausweg. Bis eine Bekannte der Familie eine geniale Idee hatte. Ich sei doch pensionierter Oberstufenlehrer, meinte sie. Und siehe da: Zwei Wochen später erteilte mir der Leiter jener Schule, die ihn eben noch auf die Strasse gestellt hatte, den Auftrag, Rolf an drei Halbtagen pro Woche privat zu unterrichten, um ihm auf diese Weise zu einem Abschluss seiner obligatorischen Schulpflicht zu verhelfen – während der übrigen Zeit würde man ihm eine Arbeitsstelle auf einem therapeutischen Bauernhof verschaffen, in unmittelbarer Nähe seines Wohnorts. Nun kommt er also zu mir, drei Mal die Woche, und wir sausen im Eilzugstempo durch den restlichen Fächerkanon der 3. Oberstufe, kann er sich nun doch ohne jegliche Ablenkung von aussen und haargenau in dem für seinen Lernrhythmus stimmenden Tempo vorwärtsbewegen. Ich staune über seine Intelligenz, seinen Wissensdurst und sein Begabungspotenzial. Meine Vermutung, dass es keine schwierigen Schüler gibt, sondern nur eine schwierige Schule, die es jungen Menschen verunmöglicht, so zu lernen, wie sie das von Natur aus am liebsten und am erfolgreichsten täten, hat sich einmal mehr bestätigt. Der Junge, an dem sich das gesamte Schulsystem so schwer getan und sich zuletzt völlig erfolglos die Zähne ausgebissen hatte, sitzt nun da, in meiner Stube, und ist kein bisschen „schwieriger“ als irgendein anderer meiner ganz „normalen“ Schüler, denen ich nebst Rolf ebenfalls regelmässig Privatunterricht erteile. Und seine Mutter hat mir vor zwei Tagen sogar ganz begeistert erzählt, Rolf hätte sich innert kürzester Zeit in einen gänzlich anderen Menschen verwandelt. Er trägt jetzt eine neue Frisur, sodass man nun dort, wo vorher nur ein Riesenwuschel Haare gewesen war, endlich wieder seine Augen sehen kann, er hat sich neue Kleider gekauft und zum ersten Mal nach fast einem halben Jahr kann er auch endlich wieder richtig aus vollem Herzen lachen. Immerhin eine von den paar tausend tickenden Zeitbomben weniger…

(Ergänzung am 25. Juni 2025: Am 11. Mai 205 wurde im zürcherischen Berikon ein 15jähriges Mädchen von ihrer 14jährigen Freundin erstochen. Und genauso wie bei den Amokläufen reagiert die Öffentlichkeit mit blankem Entsetzen und Fassungslosigkeit. „Niemand versteht, wie dies geschehen konnte. Sie waren zwei grossartige Freundinnen“, so der Präsident des Portugiesischen Vereins Zürich. Doch genauso wie bei den Amokläufen muss man nur ein bisschen genauer hinschauen, um es zu verstehen. Es scheint nämlich, so wie in einem Artikel des „St. Galler Tagblatts“ vom 24. Juni zu lesen ist, bei beiden „unfassbaren“ Taten im Grunde um genau das Gleiche zu gehen. Um das, was man, um es auf ein einziges Wort zu reduzieren, als „Demütigung“ bezeichnen könnte. Vieles deutet darauf hin, dass die Täterin seit längerer Zeit unter einer starken psychischen Belastung litt, weil sie sich als minderwertig fühlte und ihre Selbstzweifel immer stärker geworden waren, unter anderem deshalb, weil sie sich aufgrund schlechter Noten schuldig fühlte, ihre Eltern enttäuscht zu haben. Dazu der Forensiker Josef Sachs, der sich seit Jahrzehnten mit Gewalttaten und deren Ursachen und Auslösern beschäftigt: „Enttäuschung über die eigene Lebenssituation, die im Vergleich mit Kolleginnen schlechter erscheint, kann der Auslöser für eine solche Gewalttat sein. Das Gefühl, nicht zu genügen oder nicht respektiert zu werden, kann Teil des Motivgefüges sein. Offenbar war das Opfer sehr fröhlich, kam bei Kolleginnen und in der Schule gut an – ein grosser Unterschied zur Beschreibung der 14jährigen Täterin, die fast der Gegenentwurf ihrer Freundin ist, sauer auf sich selbst und unzufrieden mit ihrem Leben. Dieser Gegensatz scheint so stark gewesen zu sein, dass die Täterin ihr eigenes Elend umso stärker spürte. Es könnte auch sein, dass die glückliche Freundin ihr nicht helfen konnte und sich die Enttäuschung somit noch zusätzlich verstärkte.“ Wie bei den Amokläufen also letztlich nichts anderes als ein Hilfeschrei in höchster Verzweiflung, ein von unvorstellbaren seelischen Schmerzen erfüllter Ruf nach Aufmerksamkeit. Denn, so Josef Sachs: „Es gibt Menschen, für die es schlimmer ist, gar keine Aufmerksamkeit zu erhalten, als eine negative Aufmerksamkeit.“ Die öffentliche Debatte für die Tat von Berikon kreist derzeit aber ausschliesslich darum, welches Strafmass für die Täterin angemessen sei – vergleichbar mit den Diskussionen rund um den Amoklauf von Graz, wo ebenfalls reine Symptombekämpfung im Vordergrund steht anstelle eines vertieften Eingehens auf die tatsächlichen Ursachen und der daraus zu ziehenden Konsequenzen. Debattieren müsste man, anstelle von Schutz- oder Strafmassnahmen, endlich über die Folgen eines Erziehungs- und Gesellschaftssystems, das junge Menschen dazu zwingt, permanent gegenseitig um Erfolg und Anerkennung zu kämpfen, ein Kampf, aus dem junge Menschen, noch mitten in ihrer Persönlichkeitsentwicklung viel zu wenig gefestigt, entweder, mit allen damit verbundenen Konsequenzen, als gefeierte „Sieger“ oder aber als gedemütigte „Verlierer“ hervorgehen, ein Kampf, der immer erbitterter geführt wird und zweifellos, so lange nicht radikal neue Wege gegenseitiger Solidarität und Gemeinschaftsdenkens gesucht und im Alltag umgesetzt werden werden, zu einer immer höheren Zahl von Opfern führen wird. Denn, wie Johann Heinrich Pestalozzi schon vor über 250 Jahren sagte: „Der Mensch ist gut und will das Gute. Und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“)

Macht den Platz in den Gefängnissen frei für die wahren Übeltäter unserer Zeit…

Weltweit macht man Jagd auf Taschendiebe, Obdachlose, Ausgehungerte, Flüchtlinge, die sich in purer Verzweiflung bloss einen winzigen Teil dessen, was ihnen und ihren Vorfahren über Jahrhunderte geraubt wurde, zurückzuholen versuchen. Alles ein gigantisches Ablenkungsmanöver. Holt sie alle raus aus den Gefängnissen! Damit endlich der Platz frei wird für die wahren Übeltäter unserer Zeit. Für Politiker, die aus purer Liebe zur Macht nicht einmal davor zurückschrecken, Zehntausende unschuldiger Kinder in den Tod zu schicken. Für all jene, die in diesen Tagen nichts Gescheiteres wissen, als einen nächsten grossen Krieg vorzubereiten, vernichtender, zerstörerischer, tödlicher denn alle anderen Kriege je zuvor. Für all jene Unsichtbaren und Namenlosen, die, von den steigenden Aktienkursen der Rüstungskonzerne profitierend, auf fernen Inseln aus dem Blut und den Seelen getöteter Kinder ihre Villen bauen, ausschweifendste Partys feiern und sich rund um die Uhr von den Leidensgenossinnen und Leidensgenossen all jener bedienen, verwöhnen und füttern lassen, die man an anderen Ecken der Welt in Minen tief unter der Erde, auf glühendheissen Baustellen, auf endlosen Plantagen und dicht an dicht eingesperrt in riesigen Fabrikhallen so hart, so lange und so erbarmungslos schuften lässt, bis sie eines viel zu frühen Todes sterben.

Wenn Kinder Erwachsenen Grenzen setzen, nennt man es „Frechheit“, „Ungehorsam“ oder „Renitenz“. Wenn Erwachsene Kinder Grenzen setzen, nennt man es „Erziehung“.

Wann immer Eltern oder andere Erziehungspersonen mit anderen Eltern oder Erziehungspersonen über den Umgang mit Kindern und Jugendlichen sprechen und dabei früher oder später dann jemand die Aussage macht, es sei unerlässlich, wichtig und diene sogar letztlich dem Wohl des Kindes, ihm dann und wann seine „Grenzen aufzuzeigen“ oder ihm „Grenzen zu setzen“, dann kann er sich in 99 von 100 Fällen der vollen Zustimmung in der jeweiligen Gesprächsrunde gewiss sein. Es gibt wenige pädagogische „Leitsätze“, über die es einen dermassen breiten Konsens gibt und die so selten hinterfragt werden.

Gerade deshalb will ich es versuchen. Denn wenn jemand etwas sagt und alle anderen ausnahmslos nicken, dann macht mich das meistens ein wenig misstrauisch. Gibt es tatsächlich keine andere Sichtweise? Ist es eine unumstössliche, durch nichts zu widerlegende Tatsache, dass es eine wichtige, ja geradezu unerlässliche Erziehungsaufgabe der Erwachsenen sei , Kindern und Jugendlichen immer wieder „Grenzen zu setzen“? Und weshalb denn sollte das überhaupt nötig sein? Gäbe es keine Alternativen dazu?

Beginnen wir bei der Frage, wem denn überhaupt das „Recht“ zusteht, anderen Grenzen zu setzen. Sogleich wird klar, dass es stets die Erwachsenen sind, welche sich für befugt fühlen, Kindern und Jugendlichen Grenzen zu setzen. Das Umgekehrte ist undenkbar. Eltern, Lehrkräfte oder andere „Erziehungspersonen“ könnten sich gegenüber Kindern oder Jugendlichen noch so herablassend, beleidigend oder ausfällig benehmen, sie noch so ungerecht behandeln, sie ungerechtfertigt beschuldigen, sie mit gröbsten Worten beschimpfen, sie sogar verprügeln oder misshandeln – nie haben die Kinder und Jugendlichen das „Recht“ darauf, ihren Eltern „Grenzen“ zu setzen. Und auch die Definition der „Grenzen“, die nicht überschritten werden dürfen, ist einzig und allein eine Sache der Erwachsenen. Eltern, aber auch Lehrkräfte oder andere Erziehungspersonen sind dabei – ohne jegliche Kontrolle von aussen – weitestgehend frei und können willkürlich darüber entscheiden, wie eng oder wie weit sie diese Grenzen ziehen: Was in der einen Familie oder in der einen Schulklasse noch längstens erlaubt ist, zieht in der anderen Familie schon eine grobe Zurechtweisung und in der anderen Schulklasse bereits eine Bestrafung nach sich.

Adultismus nennt man das. Dass Erwachsene mehr Rechte haben als Kinder oder Jugendliche, und zwar einzig und allein deshalb, weil sie älter sind. Das zeigt sich auch in der Art und Weise, wie entsprechendes Verhalten begründet bzw. geahndet wird: Versuchen Kinder, ihren Eltern Grenzen zu setzen, etwa indem sie ihnen widersprechen, sich ihren Anordnungen widersetzen oder sich schlichtweg verweigern, herumbrüllen oder auf andere Weise ausfällig werden, wird dies als „Ungehorsam“, „Frechheit“ oder „Renitenz“ bezeichnet, je nach Alter auch als „Trotzphase“ oder „typisch pubertäres Verhalten“, usw., während umgekehrt das Ansinnen von Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen Grenzen zu setzen, stets beschönigend als „Erziehung“ bezeichnet wird, selbst dann, wenn die entsprechenden Massnahmen jegliches vernünftiges Mass überschreiten oder aus reinem Affekt, Hilflosigkeit oder Überforderung erfolgen – bis vor Kurzem wurden sogar Ohrfeigen oder andere Formen von physischer Gewalt selbst von gewissen „Erziehungsfachleuten“ als durchaus legitimes Instrument verharmlost oder geradezu glorifiziert, welches halt zeitweise unumgänglich sei, um die Kinder „auf den richtigen Weg“ zu bringen – ich erinnere mich sogar an einen Vater, der mir einmal erklärte, er ohrfeige seine Kinder bloss deshalb, weil er sie so sehr liebe.

Da aber alle Kinder von Natur aus über einen überaus starken Gerechtigkeitssinn verfügen, geht alles, was ihnen von Erwachsenen angetan wird, nur weil diese älter sind und mehr „Macht“ haben als sie selber, nicht spurlos an ihnen vorüber. Entweder, wenn sie wenig Selbstvertrauen haben, unterwerfen sie sich dieser Vormacht der Erwachsenen, fühlen sich selber schuldig, versuchen, sich möglichst so zu verhalten, dass sie nicht anecken und die Erwartungen der Erwachsenen möglichst adäquat erfüllen. Oder aber, die Wut darüber, ungerecht behandelt zu werden, staut sich in ihrem Inneren auf und bricht dann, oft ganz plötzlich oder unerwartet, zu einem späteren Zeitpunkt an einem anderen Ort umso stärker wieder auf, etwa in der Form von Gewalt oder Bevormundung gegenüber einem jüngeren Geschwister.

Man mag an dieser Stelle einwenden, grobe körperliche Gewalt wie eine Ohrfeige könne man nicht vergleichen mit einem vernünftigen, massvollen „Grenzensetzen“, wie es eben so oft und in so grosser Übereinstimmung als sinnvolle „Erziehungsmassnahme“ begründet wird. Es geht aber in beiden Fällen um Vorrechte von Erwachsenen gegenüber Jüngeren, ohne dass diese auch nur im Entferntesten das Recht hätten, vergleichbare Massnahmen gegenüber Älteren zu ergreifen. Ob es die Ohrfeige ist oder „nur“ die Aufforderung, wegen zu zappligen, lauten und „störenden“ Verhaltens den Mittagstisch zu verlassen und ins Kinderzimmer zu gehen: Das daraus resultierende Gefühl ist im Prinzip das selbe: Das „fehlbare“ Kind fühlt sich zurückgesetzt, gedemütigt, muss seine eigenen Gefühle zurückstecken, sein Verhalten verändern, sich anpassen, sich unterwerfen – oder aber, es muss irgendeine Form von Bestrafung in Kauf nehmen. Und es geht sogar noch weiter: Weil es einigen Kindern leichter fällt, sich anzupassen, anderen dagegen viel schwerer, erfährt das sogenannt „aufmüpfige“ oder „unfolgsame“ Kind immer wieder eine Zurücksetzung und Entwertung seiner selbst, am schlimmsten in der Form von Liebesentzug, wenn das Kind spürt, dass es, ohne dass dies offen ausgesprochen werden müsste, bloss aufgrund seines Verhaltens – das ja nie ein bewusstes „Fehlverhalten“ ist, sondern stets bloss der Ausdruck seiner individuellen Persönlichkeit bzw. seines individuellen Charakters – weniger geliebt wird als ein anderes. Das ist wohl die tiefste, schlimmste und folgenreichste Verletzung, die man einem Kind zufügen kann, und hat häufig lebenslange Folgen: Menschen, die sich als Kinder weniger geliebt fühlten als andere, schleppen diesen Liebesentzug oft lebenslang mit, wie auf der endlosen Suche nach einem verlorenen Schatz, den man dann entweder irgendwann in der Gestalt eines Menschen, der die verlorene Liebe bedingungslos zurückbringt, wieder findet, oder aber dieses Loch mit tausenden Ablenkungen, Beschäftigungen oder Süchten aller Art zu füllen versucht und dennoch diese Leere wie ein lebenslanger Schatten nie gänzlich verschwindet.

Egal, wie man Grenzen zieht: Es sind immer Trennlinien zwischen dem „Guten“ und dem „Bösen“. Sobald es eine Grenze gibt, bin ich entweder „drinnen“ oder „draussen“, entweder akzeptiert oder nicht akzeptiert, entweder geliebt oder nicht geliebt, entweder ein Einheimischer oder ein Flüchtling, entweder legal oder illegal, entweder einer, der ins System passt, oder einer, der nicht ins System passt, entweder ein Angekommener oder ein Randständiger, entweder ein Insider oder ein Outsider, entweder einer, der es geschafft hat, oder einer, der versagt hat. Nur eine Auflösung sämtlicher Grenzen, sowohl auf den Landkarten wie auch in den Köpfen der Menschen, kann umfassende Gerechtigkeit und Menschenwürde schaffen.

Im Jahr 2019 lief in den Kinos der deutsche Spielfilm „Systemsprenger“. Er zeigt den Leidensweg der neunjährigen Benni zwischen wechselnden Pflegefamilien, Aufenthalten in der Psychiatrie und Heimen und der erfolglosen Teilnahme an mehreren Therapieprogrammen. Es handelt sich um eine erfundene Geschichte, die aber auf zahlreichen Dokumenten, Berichten und psychologischen Gutachten von Kindern und Jugendlichen mit vergleichbaren Lebensgeschichten beruht.

Je mehr Grenzen man Benni zu setzen versucht, umso wilder gebärdet sie sich. Ihre Wutausbrüche sind auf ein Trauma zurückzuführen, welches sie als Baby erlitten hatte. Ihr war eine Windel ins Gesicht gepresst worden, sodass sie beinahe erstickt wäre. Dieses Trauma hatte auch zur Folge, dass Benni Berührungen im Gesicht nicht erträgt und diese bei ihr eine sofortige heftige, panische und traumatische Reaktion auslösen. Ihre wiederholten Wutausbrüche nehmen dermassen drastische Formen an, dass sie schliesslich aus der Schule fliegt, die mit der kleinen „Bestie“ völlig überfordert ist, und im Folgenden auch durch sämtliche Raster der deutschen Kinder- und Jugendhilfe zu fallen droht, gefangen in einem heillosen Teufelskreis zwischen ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit in einer richtigen Familie und ihrem totalen Unvermögen, die Bedürfnisse anderer Menschen angemessen zu respektieren. Am liebsten würde sie bei ihrer Mutter Bianca leben, doch diese ist mit dem unberechenbaren und gewalttätigen Verhalten ihrer Tochter hoffnungslos überfordert, hat noch mit zwei weiteren Kindern alle Hände voll zu tun und erfährt zudem von ihrem Lebensgefährten Jens, der auf die Entgleisungen der kleinen „Systemsprengerin“ ausschliesslich mit Härte, Strafen und Zurechtweisungen reagiert, keinerlei Unterstützung. Schliesslich eskaliert die Situation vollends, als Jens, weil er sich nicht mehr anders zu helfen weiss, Bennie in einen Schrank einsperrt und von der Polizei abholen lässt. Nach mehreren weiteren gescheiterten Therapieversuchen erklärt sich Bianca, die sich inzwischen von Jens getrennt hat, bereit, Benni bei sich aufzunehmen, zieht ihr Angebot aber aus Angst davor, Bennis Wutausbrüchen nicht gewachsen zu sein, kurz darauf wieder zurück. Auch die Unterbringung bei einer früheren Pflegemutter schlägt fehl, als Benni ein dort wohnendes Pflegekind bei einem weiteren Wutausbruch schwer verletzt. Nun kommen als letzte Optionen nur noch die Einweisung in eine geschlossene pädagogische Einrichtung oder ein längerer Auslandsaufenthalt in Betracht. In äusserster Verzweiflung sucht Benni Schutz bei Micha, einem Sozialarbeiter, von dem sie sich anlässlich einer ihrer zahlreichen Therapien einigermassen verstanden gefühlt hatte. Micha und seine Frau erklären sich bereit, Bennie für eine Nacht bei sich aufzunehmen. Am nächsten Morgen, Micha und seine Frau schlafen noch, gibt Benni dem schreienden Aaron das Fläschchen, sie streichelt das Baby und spielt zärtlich und liebevoll mit ihm die längste Zeit. Wie durch ein Wunder darf Aaron Benni im Gesicht berühren, ohne dass dies bei ihr eine traumatische Reaktion auslöst. Doch als die Mutter auftaucht und Benni auffordert, ihr das Baby in die Arme zu geben, reagiert Benni mit einem weiteren masslosen Wutausbruch, brüllt Aarons Mutter an und schliesst sich mit ihm im Badezimmer ein. Micha, durch den Tumult erwacht, tritt aus Angst um seinen Sohn die Badetür ein. Benni ist aber schon aus dem Badezimmer geflüchtet und rennt Richtung Wald, Micha ihr hinterher. Benni bleibt kurz stehen, überschüttet Micha mit einer Flut von Schimpfwörtern und rennt dann weiter in den Wald. Stunden später wird sie unterkühlt aufgefunden und ins Krankenhaus gebracht. Der Versuch, als letzte Massnahme Benni auf einen Auslandaufenthalt nach Afrika zu schaffen, scheitert, als sie sich im Flughafen weigert, ihr Kuscheltier röntgen zu lassen, und aus dem Sicherheitsbereich wegrennt. Der Film endet, als sie auf der Flucht, laut lachend, in die Luft springt – in diesem Augenblick friert das Bild ein und bekommt Risse, als sei sie gegen eine Glasscheibe gesprungen.

Die Geschichte von Benni zeigt auf eindringliche, geradezu erschütternde Weise: Je mehr Grenzen ihr gesetzt werden, umso schlimmer wird es. Denn damit bekommt sie immer nur genau das Gegenteil dessen, was sie eigentlich bräuchte: Liebe. Hass und Gewalt sind nichts anderes als die unersättliche Sehnsucht nach verweigerter oder verlorener Liebe. „Der Mensch ist gut und will das Gute“, sagte schon Johann Heinrich Pestalozzi, vor über 250 Jahren, „und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“ Und die deutsche Rockband „Die Ärzte“ beschrieb in einem ihrer bekanntesten Songs das Gleiche mit diesen Worten: „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe, deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.“ Nicht Grenzen, nicht Belehrungen, nicht Bevormundung, nicht Machtdemonstration, nicht Härte ist das, was Bennie wirklich braucht. Das Einzige, was auch die tiefsten Verletzungen und Wunden zu heilen vermag, ist die Liebe.

Gehen wir zurück an den Ursprung, an die Quelle, an den Punkt, wo alles angefangen hat. „Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben“, so der italienische Dichter Dante Alighieri: „Kinder, Blumen und Sterne.“ Um die tiefsten Geheimnisse zu ergründen, müssen wir nicht die Erwachsenen fragen, sondern die Kinder. Was sie fühlen und denken, kommt aus dem Paradies, aus dem tiefsten Grund der Seele, aus dem Universum.

Fragst du die Kinder, wirst du kein einziges finden, das sich wünscht, Grenzen gesetzt zu bekommen. Jedes Kind wünscht sich, Grenzen aufzubrechen, Grenzen zu überwinden, Grenzen zu sprengen – und damit ihrem grössten Idol nachzueifern, Pippi Langstrumpf, die sogar mit blossen Händen ein ausgewachsenes Pferd in die Höhe zu stemmen vermag und von der ihre Schöpferin Astrid Lindgren sagt, „egal, ob sie singt, tanzt, spielt oder isst, sie ist immer mit ganzem Herzen dabei.“ Pippi liebt das Leben und das strahlt sie auch mit jeder Zelle ihres Körpers aus. Sie kann allem etwas Positives abgewinnen und begeistert sich auch für die kleinsten Dinge. Um die Meinung anderer Leute kümmert sie sich nicht, sondern hört in sich selber hinein, was gut für sie ist und was nicht. Und so passiert es halt auch immer wieder, dass sie sich mit Autoritäten anlegt, dennoch oder gerade deshalb geht sie unbeirrbar ihren Weg. Sich selber bezeichnet sie als „Sachensucherin“, denn die Welt, so erklärt sie ihrem Freund Tommy, sei voll von Sachen, und es sei wirklich nötig, dass jemand sie finde. Ihr Leitsatz lautet: „Das haben wir noch nie probiert, also geht es sicher gut.“ Denn sie glaubt an die Macht der Phantasie. Sie will zeitlebens ihr inneres Kind bewahren, ihren spontanen Ideen folgen und sich die Dinge vor ihren eigenen Augen so lebendig vorstellen, als wären sie schon Wirklichkeit. „Alles, was an Grossem in der Welt geschah“, so Astrid Lindgren, „vollzog sich zuerst in der Phantasie der Menschen.“ Auch der deutsche Dichter Hermann Hesse war überzeugt: „Damit das Mögliche entstehen kann“, schrieb er, „muss immer wieder das Unmögliche versucht werden.“

In der Tat. Genau das, das Überwinden und Sprengen von Grenzen, ist die Voraussetzung für jegliche Veränderung, für jeglichen gesellschaftlichen Fortschritt. Grenzen setzen hingegen heisst nichts anderes, als das Bestehende vor Neuem und Unkonventionellen zu schützen und auf diese Weise dafür zu sorgen, dass alles so weitergeht, wie es bisher gegangen ist, selbst wenn es sich nicht bewährt hat, selbst wenn es kläglich gescheitert ist. Veränderungen haben immer dann stattgefunden, wenn einzelne Menschen den Mut und genug Selbstbewusstsein hatten, um vorhandene Gesetze, Regeln oder Grenzen, wenn sie sich mit ihren innersten Gefühlen von Liebe und Gerechtigkeit nicht im Einklang befanden, zu verletzen, zu missachten, zu sprengen: In der um 400 v.Chr. vom griechischen Dichter geschriebenen Komödie „Lysistrata“ gelingt es einem Bündnis pazifistischer Frauen, mittels einer Sitzblockade vor dem Parthenon, der Schatzkammer Athens, sowie durch gemeinsame sexuelle Verweigerung gegenüber ihren Ehemännern den Krieg zwischen Athen und Sparta zu beenden. Ebenfalls aus der griechischen Mythologie kennen wir die unerschrockene, einzig und allein ihrem Gewissen folgende Antigone, welche sich weigerte, den Körper ihres geliebten Bruder Eteokles nach einem tödlichen Bruderzwist wilden Tieren zum Frass vorwerfen zu lassen, und stattdessen darauf beharrte, dass er ebenso wie sein Bruder mit allen Ehren begraben wurde, obwohl ihr Vater, der König Kreon, ihr dies mit der Androhung einer Todesstrafe verboten hatte. Der US-Amerikaner Henry David Thoreau verweigerte um 1850 das Bezahlen seiner Steuern, um damit gegen den Krieg der USA gegen Mexiko und den unmenschlichen Sklavenhandel zu protestieren. In die Geschichte eingegangen sind auch die Geschwister Hans und Sophie Scholl, die mutig und kompromisslos mit der Verbreitung von Flugblättern und anderen Protestaktionen gegen die Diktatur des Nationalsozialismus ankämpften und dies mit ihrem Tod bezahlen mussten. Berühmt geworden ist auch Rosa Parks, eine 42jährige Schwarze, die sich am 1. Dezember 1955 im US-amerikanischen Montgomery auf der Fahrt in einem städtischen Bus weigerte, ihren Sitzplatz einem weissen Fahrgast zu überlassen, der sich auf das Gesetz berief, wonach Schwarze ihre Plätze für Weisse freigeben müssten, wenn es nicht genug Sitzplätze für alle hätte – dieser Akt von „Grenzverletzung“ war der Auslöser für eine sich in der Folge massenhaft ausbreitende Bürgerrechtsbewegung, welche schliesslich unter der Führung von Martin Luther King die Gleichberechtigung der schwarzen mit der weissen Bevölkerung in den USA entscheidend voranbrachte. Aktuell geben die Hilfs- und Widerstandsaktionen einzelner Aktivistinnen und Aktivisten für sich in Gefahr oder Not befindliche Flüchtlinge zu reden, die sich mutig darüber hinwegsetzen, dass solche Aktionen gemäss EU-Gesetzen „illegal“ sein sollen, besonders bekannt geworden ist die Fluchthelferin Carola Rackete, die, nebst vielen anderen, wegen ihres humanitären Engagements sogar zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Das sind nur ein paar wenige herausragende Beispiele von Menschen, stellvertretend für unzählige andere, die sich im Laufe der Geschichte mit ihrem mutigen Eintreten für Menschenwürde und Gerechtigkeit immer wieder über bestehende Gesetze, Regeln und Vorschriften hinwegsetzten und damit der Tradition eines Rechts auf „zivilen Ungehorsams“ zum Durchbruch verhalfen, auf welches sich bis heute weltweit Menschen berufen, die nicht bereit sind, ihr persönliches Gewissen übergeordneten Gesetzen zu opfern, welche die Menschenwürde zutiefst missachten. Denn „wenn Unrecht zu Recht wird“, so der deutsche Dramatiker Bertolt Brecht, „wird Widerstand zur Pflicht.“

Die „NZZ am Sonntag“ berichtete am 1. Juni 2025 über die dramatische Zunahme körperlicher Misshandlungen von Kindern und Jugendlichen in Schweizer Familien im Verlauf der letzten paar Jahre. „Oft haben Kleinkinder, die noch nicht einmal laufen können, Brüche“, berichtet Dörthe Harms Huser, leitende Kinderärztin am Kantonsspital Baden, „bei anderen sind auf der Haut Abdrücke einer Gürtelschnalle zu sehen, häufig haben wir es auch mit bereits älteren Brüchen zu tun, die nie behandelt wurden. Kinder werden geschlagen, gekratzt, gebissen, geschüttelt.“ Fachleute sagen, dass es zusätzlich über die in die Spitäler eingelieferten Fälle hinaus eine hohe Dunkelziffer gäbe. Harms Huser erklärt sich die erschreckende Zunahme körperlicher Gewalt gegen Kinder und Jugendliche unter anderem damit, dass sich die Lebensumstände vieler Familien in den letzten Jahren massiv verschärft hätten: Alles werde teurer, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf werde für viele zur kaum mehr zu bewältigenden Herausforderung, wirtschaftliche Unsicherheiten und die Angst vor einem Jobverlust wie auch die geopolitische Lage brächten zusätzliche Schwierigkeiten und Belastungen mit sich und sehr viele Menschen erführen trotz einem riesigen Aufwand an Arbeit und persönlichem Einsatz in ihrem Alltag nur wenig Wertschätzung. Dies alles seien aus ihrer Sicht Faktoren, die mit dem dramatischen Anstieg von Kindsmisshandlungen in Zusammenhang stünden.

Die in einer Gesellschaft herrschende Gewalt kommt – wie es das Wort „herrschend“ schon sagt – nie von unten nach oben, sondern immer nur von oben nach unten, von denen, die mehr Macht haben, gegen die, welche weniger Macht haben, bis hinunter zu den Kindern und Jugendlichen, denen, die am Ende all das ausbaden müssen, was an Druck, Demütigung, Bevormundung und übertriebenen, unrealistischen Forderungen und Erwartungen stufenweise von ganz oben bis ganz nach unten weitergegeben wird. Wer sich im Zusammenleben mit Kindern und Jugendlichen darauf ausrichtet, diese immer wieder in „Schranken“ zu weisen und ihnen „Grenzen“ zu setzen, macht sich unweigerlich, ob er will oder nicht, zum Komplizen dieses Machtsystems. Grenzen setzen sollte man nicht Kindern und Jugendlichen, die aus zeitweiligem Übereifer, aus Ungeduld, Bewegungsfreude oder Abenteuerlust da und dort über die „Stränge“ hauen, bestehende Normen oder Gewohnheiten in Frage stellen oder sich ihnen verweigern. Grenzen setzen müsste man vielmehr dringendst einem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Machtsystem, das in erster Linie darauf ausgerichtet ist, auf Kosten von Lebensfreude, Lebensgenuss und Zwischenmenschlichkeit aus den Menschen auf Schritt und Tritt das Maximum an ökonomisch verwertbarer und materiellen Profit schaffender Leistung herauszupressen und sie dabei einem beständigen gegenseitigen Konkurrenzkampf auszusetzen, aus dem ausgerechnet jene am erfolgreichsten hervorgehen, die sich am wenigsten um das Wohl anderer kümmern. Rebellierende und widerspenstige Kinder, welche bestehende Normen, scheinbare Selbstverständlichkeiten und herrschende Denkgewohnheiten in den Köpfen der Erwachsenen in Frage stellen, sind das wunderbare Geschenk, welches die Kinder uns aus dem „Paradies“ mitgebracht haben, um uns für all die Widersprüche und all die Fremdbestimmung, an die wir uns im Laufe des Älterwerdens nach und nach gewöhnt haben, immer wieder von neuem die Augen zu öffnen. „Macht“, sagte der berühmte britische Schauspieler und Regisseur Charlie Chaplin, „brauchst du nur, wenn du etwas Böses vorhast. Für alles andere reicht Liebe um es zu erledigen.“

(Was für das „Grenzen setzen“ gilt, gilt auch für einen weiteren Leitsatz, der in Zusammenhang mit dem Erziehungsverhalten von Erwachsenen gegenüber Kindern und Jugendlichen oft zu hören ist und ebenfalls meist auf ungeteilte Zustimmung seitens der Erwachsenen stösst: nämlich, die Erziehungspersonen müssten möglichst „am gleichen Strick ziehen“. Das wird dann in der Praxis meist so verstanden, dass alle, die gegenüber einem bestimmten Kind eine pädagogische Funktion haben – von den Eltern und der Lehrperson über Schulpsychologen und Vertreterinnen weiterer Fachstellen bis hin zu den zuständigen Behördemitgliedern – möglichst konsequent die gleiche Haltung vertreten und möglichst niemals „ausscheren“ sollten, um dem Kind gar keine andere Wahl zu lassen, als sich der entsprechenden „Erziehungsmassnahme“ zu unterwerfen. Auch hier wird stets mit dem „Wohl des Kindes“ argumentiert. Für ein Kind aber, wenn es sich aufgrund seiner aktuellen Lebenssituation gerade weniger zu Anpassung und Unterwerfung, sondern eher zu Widerstand und Auflehnung hingezogen fühlt, kann so etwas unter Umständen als katastrophale Bevormundung und Fremdbestimmung empfunden werden, verbunden mit einem extremen Ohnmachtsgefühl, wenn es sich ganz alleine einer Übermacht von Erwachsenen gegenübersieht, denen es ausgeliefert ist, ohne dagegen etwas tun zu können, Erwachsenen, die es doch angeblich alle so „gut“ mit ihm meinen. Der vielgelobte Strick wird dann zu einem tödlichen Instrument, mit dem die Erwachsenen, wenn sie gemeinsam nur genug fest daran ziehen, im schlimmsten Fall das Kind „erwürgen“ und – ebenfalls ein Begriff, der in der pädagogischen „Fachliteratur“ nicht selten auftaucht – „seinen Willen brechen“ können, alles zum angeblichen „Wohl“ des Kindes.)

Mittagsnachrichten vom 25. Mai 2025 am Schweizer Radio SRF: Zwei Bilder suchen den Weg in die Köpfe der Menschen, das eine führt in den Krieg, das andere in den Frieden…

Hätte noch jemand die Illusion gehabt, wenigstens die offiziellen Schweizer Medien würden einigermassen objektiv und ausgewogen über das aktuelle Tagesgeschehen berichten, müsste sich diese Illusion spätestens heute, am 25. Mai 2025, in Nichts aufgelöst haben…

Denn das bekamen an diesem Tag die Hörerinnen und Hörer der Mittagsnachrichten auf Radio SRF zu hören:

Die Ukraine hat einen der grössten Angriffe seit Beginn des russischen Angriffskriegs hinter sich. Russland griff die Ukraine die zweite Nacht in Folge aus der Luft an. Der ukrainische Präsident Selenski spricht von Terror. Aus Kiew berichtet Peter Sowitzki von der ARD: „Wieder hat Russland die Ukraine massiv aus der Luft angegriffen. Die Attacken mit etwa 300 Drohnen sowie 70 Raketen und Marschflugkörpern forderten mindestens zwölf Todesopfer, über 60 Personen wurden verletzt. Unter den Toten sind mindestens drei Kinder. Im Zuge der Luftangriffe gab es ebenso Schäden an Gebäuden, darunter ein Studentenwohnheim in Kiew. Der ukrainische Präsident Selenski rief einmal mehr zu einem härteren Vorgehen gegen Russland auf. Ohne starken internationalen Druck, vor allem der USA und Europas, könne die russische Führung nicht gestoppt werden, schrieb Selenski in seinem Telegramkanal. Die EU-Aussenbeauftragte Kaja Kallas zeigt sich erschüttert über die neuesten Angriffe und dass dabei auch Kinder gestorben seien. Dies zeige, dass Russland weiteres Leid und die Vernichtung der Ukraine anstrebe. Es brauche den stärksten internationalen Druck auf Russland, um den Krieg zu beenden.“

Und ausserdem noch das:

Das israelische Militär hat nach eigenen Angaben eine Rakete abgefangen, die aus dem Jemen abgefeuert worden war. Zuvor hatte es in mehreren Teilen Israels Luftalarm gegeben, etwa in Jerusalem. Seit Beginn des Gazakriegs feuern jemenitische Huthi-Rebellen immer wieder Raketen auf Israel. Die Rebellen bezeichnen dies als Solidaritätsbekundung für die Hamas im Gazastreifen. Zum neuesten Raketenbeschuss äussern sich die Huthis nicht. Die israelische Luftabwehr hat bisher die meisten Huthi-Raketen abgefangen oder sie im Meer versenkt, bevor sie Israel erreichten.

Mehr gab es weder zum Ukrainekonflikt noch zur Lage im Nahen Osten zu hören, noch zum übrigen Weltgeschehen.

Doch in dieser gleichen Nacht vom 24. auf den 25. Mai 2025, da in der Ukraine zwölf Menschen durch russische Drohnenangriffe getötet wurden, verloren im Gazastreifen gemäss unterschiedlicher Schätzungen 300 bis 500 Menschen, davon mehrheitlich Frauen und Kinder, ihr Leben infolge der erneut intensivierten Bombardierungen durch die israelische Luftwaffe nach dem einseitigen und unbegründeten Abbruch der Waffenruhe durch die israelische Regierung vor wenigen Tagen, inmitten unabsehbarer Trümmerfelder, in denen kaum mehr ein Stein auf dem andern steht, selbst fast alle Spitäler dem Erdboden gleichgemacht wurden und Zehntausende von Kindern unter unvorstellbaren Schmerzen von unmittelbarem Hungertod bedroht sind. In der gleichen Nacht vom 24. auf den 25. Mai geschah eine weitere unvorstellbare Tragödie: Es trafen rund 4000 Menschen, die aus der vom Krieg total verwüsteten sudanesischen Region Zamzam geflüchtet waren, nach einem mehrtägigen Gewaltmarsch in der Ortschaft Tawila ein, besser gesagt jene, welche die Flucht überlebt hatten und nicht auf dem Weg dorthin liegen geblieben waren, weil ihre Kraft nicht mehr ausgereicht hatte, um auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen – die in Tawila Angekommenen hatten tagelang weder etwas gegessen noch etwas getrunken, befanden sich zum allergrössten Teil in einem lebensgefährlichen Zustand von Dehydrierung und Erschöpfung, konnten sich teils nur noch auf dem Boden kriechend fortbewegen und es war ihnen nichts geblieben ausser den Kleidern an ihrem Leib, oft nicht einmal das. In der gleichen Nacht vom 24. auf den 25. Mai 2025 wurden zudem, wie seit Monaten auch in allen anderen Nächten zuvor, erneut Dutzende von Flüchtlingen, darunter auch Frauen und Kinder, in Kleinbussen, eng aneinander gepfercht, von Tunesien aus an die Grenze zur libyschen Wüste gekarrt, dort angelangt durch bis an die Zähne bewaffnete Frontex-Sicherheitsleute aus den Bussen gerissen und in ein bitterkaltes und tiefdunkles Niemandsland hinausgeprügelt, aus welchem die wenigsten von ihnen jemals wieder lebendig zurückkehren würden – ein mit EU-Geldern in Millionenhöhe gesponsertes „Sicherheitsprogramm“, von dem die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei seiner Lancierung vor zwei Jahren geschwärmt hatte, dass es sich um eine ganz besonders „humane“ Massnahme handle, um Europa von einer zu grossen Anzahl von aus Afghanistan, Syrien, dem Irak und afrikanischen Ländern Geflüchteten zu verschonen. Und in der gleichen Nacht vom 24. auf den 25. Mai 2025 starben, zusätzlich zu den unzähligen Opfern in den derzeit rund 60 Kriegsgebieten von der Westsahara über den Ostkongo bis nach Myanmar, wie an jedem einzelnen auch aller anderen Tage, erneut weltweit rund 7’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs unter unvorstellbaren Qualen, weil sie in ihrem ganzen bisherigen, viel zu kurzen Leben auch nicht einen einzigen Tag lang genug zu essen bekommen hatten.

Es versteht sich von selber, dass auch das Schweizer Radio SRF, selbst wenn es sich noch so viel Mühe gäbe, in einer etwa fünfminütigen Nachrichtensendung nicht annähernd über all das berichten könnte, was sich in den 24 Stunden zuvor weltweit an Verbrechen, kriegerischen Ereignissen, Todesopfern durch Armut, Hunger oder politischer Verfolgung ereignet hat, von der schleichend zunehmenden, die gesamte Zukunft der Menschheit bedrohenden Klimaerwärmung ganz zu schweigen. Doch gäbe es ja nebst den Mittagsnachrichten um 12.30 Uhr jede halbe Stunde von früh bis spät weitere Nachrichtensendungen, in denen man jeweils wieder andere Themenschwerpunkte setzen und andere wichtige Ereignisse stichwortartig ergänzen könnte. Auch wenn nicht sämtliche Radiohörerinnen und Radiohörer alle diese Sendungen lückenlos zu Ohr bekämen, ergäbe sich auf solche Weise dennoch insgesamt ein weitaus umfassenderes, objektiveres Bild des aktuellen Tagesgeschehens, als wenn die oben zitierte Berichterstattung, in der es ausschliesslich um die russischen Drohnenangriffe auf die Ukraine und die erfolgreiche Abwehr von jemenitischen Raketen durch Israel ging, zwanzig Mal in nahezu identischer Ausführung wiederholt wird. Man könnte zwar einwenden, unterschiedlichste Themen würden sehr wohl in der grossen Palette sämtlicher Radiosendegefässe berücksichtigt, jedoch haben die offiziellen Nachrichten zu jeder halben Stunde ein ganz besonderes Gewicht: Viele, die sich nur kurz über das Allerwichtigste informieren möchten und keine Zeit haben, stundenlang am Radio zu sitzen, machen sich aufgrund dieser äusserst knapp gehaltenen Informationen ihr Bild über das, was zur Zeit gerade an wirklich „Wichtigem“ und „Wesentlichem“ abläuft. Und das ist dann schliesslich auch das, was in den meisten Köpfen über längere Zeit hinweg hängenbleibt.

Das ist die erste Erkenntnis: Dass Nachrichtensendungen in dieser Kürze nur einen winzigsten Splitter der Gesamtrealität vermitteln können und es völlig willkürlich ist, welche dieser Splitter in den Vordergrund gestellt werden und welche nicht. Wäre es an diesem 25. Mai 2025 tatsächlich darum gegangen, jenen Ereignissen am meisten Raum zu gewähren, welche die allermeisten Todesopfer und die allermeisten Zerstörungen zur Folge gehabt hatten, dann hätte die Meldung über zwölf Todesopfer infolge russischer Drohnenangriffe auf die Ukraine selbst in einer Nachrichtensendung, die hundert Stunden gedauert hätte, ohne allen Zweifel keinen Platz finden können.

Die zweite Erkenntnis aber, und diese ist fast noch erschreckender, besteht darin, auf welche Weise, mit was für Worten, Absichten, emotionalen Beeinflussungsmitteln und versteckten Botschaften Nachrichtensendungen solcher Art ausgestaltet werden. Schauen wir uns den Wortlaut und seine jeweilige Wirkung am Beispiel der Schweizer Radio-Mittagsnachrichten vom 25. Mai 2025 im Einzelnen etwas genauer an…

Erstens: „Einen der grössten Angriffe“ ganz zu Beginn der Meldungen suggeriert, dass es hier um etwas geht, was alles Bisherige, aber auch alles andere, was weltweit gerade geschieht, bei Weitem übertrifft, sonst würde man es ja nicht gleich am Anfang der Sendung erwähnen. Zweitens: Dass in westlichen Medien im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine nie einfach nur von einem „Krieg“ die Rede ist, sondern stets von einem „russischen Angriffskrieg“, zeigt die heimliche, nicht offen deklarierte Absicht, jeglichen Gedanken daran, dass auch der Westen eine Mitschuld am Ausbruch dieses Kriegs tragen könnte, zum Vornherein gar nicht erst aufkommen zu lassen. Drittens: Der vom ukrainischen Präsidenten Selenski im Zusammenhang mit den russischen Drohnenangriffen stets ganz bewusst und gezielt verwendete Begriff des „Terrors“ wird hier offensichtlich ganz gezielt zitiert, gibt es doch nur wenige andere Wörter, welche so starke negative Emotionen auszulösen vermögen. Wenn aber der von russischen Drohnen verursachte Tod von zwölf Menschen als „Terror“ bezeichnet wird, mit welchem Wort müsste man dann die von der israelischen Luftwaffe verübten Bombardierungen des Gazastreifens bezeichnen, welche bis zur Stunde nahezu 100’000 Menschen, grösstenteils Frauen und Kindern, das Leben gekostet hat? Und müsste man minimalster Ausgewogenheit zuliebe nicht beispielsweise auch Aussagen wie jene des ehemaligen israelischen Parlamentsmitglieds Moshe Feiglin erwähnen, der am 20. Mai 2025 auf dem israelischen TV-Sender Channel 14 Folgendes zum Besten gab: „Jedes Kind, jedes Baby in Gaza ist unser Feind. Der Feind ist nicht die Hamas. Wir müssen Gaza erobern und kolonialisieren und kein einziges Kind aus Gaza dort lassen. Es gibt keinen anderen Sieg.“ Viertens: Weshalb wird fast der gesamte Nachrichtenblock zum Thema Ukraine auf dem Schweizer Radio ausgerechnet von einem ARD-Korrespondenten bestritten, obwohl man doch wissen müsste, dass Deutschland im gegenwärtigen Spannungsfeld zwischen der Ukraine und Russland die mit Abstand härteste und kompromissloseste Haltung aller westlichen Länder einnimmt und sämtliche deutsche Mainstreammedien mit dieser einseitigen, ausschliesslich auf eine militärische Lösung fixierten Haltung mehr oder weniger gleichgeschaltet sind. Werden also auch die Schweizer Medien zusehends zu kritikfreien Sprachrohren und Echokammern deutscher und weiterer europäischer Medien? Gehören so etwas wie schweizerische Eigenständigkeit, Sorgfalt und journalistische Seriosität bereits endgültig der Vergangenheit an? Fünftens: Dass unter den Toten „mindestens drei Kinder“ gewesen seien, soll wohl als besonders schreckliche und unmenschliche Folge des russischen „Terrors“ interpretiert werden. Keine Frage, dass jedes getötete Kind eines zu viel ist. Aber was ist dann mit all den anderen Abertausenden Kindern, die weltweit während des gleichen Zeitraums durch Hunger, Krieg, Zerstörung oder andere Formen von Gewalt ihr Leben verloren haben? Was ist mit jenem Vater und jener Mutter in einem bis auf den Erdboden zerbombten Dorf im Norden des Gazastreifens, die in der gleichen Nacht, als in der Ukraine drei Kinder durch einen russischen Drohnenangriff getötet wurden, neun von ihren zehn Kindern innerhalb einer einzigen Minute durch eine israelische Bombe verloren haben? Warum werden diese neun Kinder in keiner westlichen Nachrichtensendung jemals erwähnt? Ist ein palästinensisches Leben so viel weniger wert als ein ukrainisches oder schweizerisches?

Sechstens: Dass in der Ukraine auch ein „Studentenheim“ beschädigt wurde, ist gewiss höchst verwerflich, aber was ist mit den Dutzenden von Schulen, Bibliotheken, Lebensmittelgeschäften, Kulturzentren, Moscheen und Krankenhäusern im Gazastreifen, die nicht nur beschädigt, sondern sogar komplett zerstört wurden? Siebtens: Dass Selenski aus seiner Sicht ein „härteres Vorgehen gegen Russland“ und „mehr internationalen Druck“ fordert, kann man aus seiner Sicht ja verstehen, doch lassen fast sämtliche westliche Medien vergleichbare Forderungen gegenüber dem israelischen Kabinett von Benjamin Netanyahu, was zweifellos noch weit mehr auf der Hand liegen müsste, nahezu gänzlich vermissen. Achtens: Dass die EU-Aussenbeauftragte Kaja Kallas an dieser Stelle zitiert wird, kann wohl ebenso wenig ein Zufall sein, gilt sie doch unter den europäischen Politikerinnen und Politikern im Zusammenhang mit dem Ukrainekonflikt als eine der vehementesten und aggressivsten Hardlinerinnen. Müsste man minimaler Objektivität zuliebe dann nicht etwa auch einen Politiker wie den SPD-Mann Rolf Mützenich zitieren, der unablässig und eindringlich davor warnt, den Ukrainekonflikt ausschliesslich mit militärischen Mitteln lösen zu wollen und damit im schlimmsten Fall die Gefahr eines dritten Weltkriegs heraufzubeschwören? Weshalb werden massiv kriegstreibende Aussagen wie jene von Selenski oder Kallas einfach so im Raum stehen gelassen, ohne dass auch nur ein einziges kritisches Wort in Form eines unabhängigen redaktionellen Kommentars dazu angebracht wird? Neuntens: Dass, wie Kallas behauptet, Russland die „Vernichtung der Ukraine“ anstrebe, ist eine glatte Lüge, für die es keinen einzigen vertrauenswürdigen Beweis gibt und die einfach so unbesehen über das Schweizer Radio weiterverbreitet wird. Was Russland tatsächlich fordert, ist einzig und allein, dass die Ukraine nicht ein Mitglied der NATO werden und dass die ukrainische Regierung von Mitgliedern jener rechtsextremen Kräften befreit werden soll, unter deren rassistischer Politik, Diskriminierung, Bevormundung und gewalttätigen Ausschreitungen die russischsprachige Bevölkerung in der Ostukraine seit mehr als zehn Jahren massiv leiden musste. Auch für die in sämtlichen Mainstreammedien, wiederum vor allem in Deutschland, aber zunehmend auch in der Schweiz und anderen europäischen Ländern im Zuge einer immer stärker geschürten Kriegseuphorie verbreiteten Behauptung, das Ziel Russlands sei die Eroberung ganz Europas, gibt es keinen einzigen glaubwürdigen Beleg, sie dient einzig und allein der Angstmacherei und der daraus resultierenden Rechtfertigung für ein nie dagewesenes Mass an militärischer Aufrüstung, welche die von Russland für seine Armee aufgebrachten Finanzen um ein Vielfaches übertrifft. Wenn es ein Land gibt, dessen Ziel es ist, eine anderes Land vollkommen auszulöschen, dann ist dies zurzeit nicht Russland, sondern Israel, dessen Regierungspolitik ganz unverblümt und „offiziell“ die vollständige Vernichtung des Gazastreifens verfolgt, inklusive der Ermordung selbst aller eben dort zur Welt gekommener Babys.

Zehntens: Wer nun erwartet hätte, dass in den Mittagsnachrichten des Schweizer Radios nach der Verurteilung der russischen Kriegspolitik auch die israelische Kriegspolitik und der von dieser an palästinensischen Kindern, Frauen und Männern seit dem 7. Oktober 2023 begangene Völkermord angemessen verurteilt würde, sieht sich erst recht enttäuscht. In einer grandiosen, nur schon den geringsten Anflug von Objektivität und Realitätsbezug ausschliessenden Täter-Opfer-Umkehr wird Israels Bedrohung durch aus Jemen von Huthi-Rebellen abgefeuerte Raketen, die allesamt hätten abgefangen werden können und kein einziges Todesopfer unter der israelischen Zivilbevölkerung zur Folge gehabt hätten, offenbar als so wichtig eingestuft, dass über die unbeschreiblichen Leiden, die dem palästinensischen Volk derzeit durch eben dieses dieses Israel zugefügt werden, auch nicht ein einziges Wort verloren wird. Hingegen wird festgehalten, dass die Huthis sich zum „neuesten Raketenbeschuss“ nicht einmal „geäussert haben“ – als hätte sich der israelische Ministerpräsident Netanyahu, der noch vor wenigen Tagen vom neuen deutschen Bundeskanzler Friedrich Merz in allen Ehren empfangen wurde, jemals zur Vernichtung von bald 100’000 Menschen im Gazastreifen auch nur mit einem einzigen Wort geäussert, oder wenn, dann höchstens in der Weise, dass es sich dabei um ein „legitimes Recht“ seines Landes handle, sich gegen Angriffe von aussen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr zu setzen…

Zusammenfassend kann man wohl ohne jegliche Übertreibung zum Schluss gelangen, dass die Schweizer Radiozuhörerschaft am 25. Mai 2025 ebenso gut Nachrichten eines ukrainischen oder israelischen Propagandasenders hätte hören können und in etwa ziemlich genau in der gleichen Art und Weise „informiert“ worden wäre wie durch das angeblich so objektive und „wahrheitsgetreue“ Nachrichtenmedium eines scheinbar neutralen Staates wie der Schweiz. In Tat und Wahrheit ist das, was unsere scheinbar „objektiven“ Mainstreammedien betreiben, fast noch schlimmer als jede in Diktaturen verbreitete einseitige und tendenziöse Staatspropaganda. Denn während sich in Diktaturen lebende, kritisch denkende Menschen wenigstens bewusst sind, dass sie den offiziellen Berichterstattungen ihrer staatlichen Medien nicht über den Weg trauen dürfen, wiegt sich in den westlichen „Demokratien“ die Mehrheit der Bevölkerung immer noch in der Illusion, durch die eigenen Medien umfassend und wahrheitsgetreu informiert zu werden. Insbesondere Menschen mit persönlichen Kontakten und Begegnungen zu den in unseren Medien zu Inbegriffen des Bösen hochstilisierten Feindbildern weisen immer wieder eindringlich auf die Gefährlichkeit solcher extremen Schwarzweissmalerei hin, so etwa Yves Rossier, langjähriger Schweizer Botschafter in Moskau: „Wir dürfen nicht alles glauben, was uns im Westen erzählt wird.“

Dieses hier propagierte und völlig tendenziös gemalte Bild, wonach es beim grossen aktuellen Weltgeschehen vor allem um einen „Kampf“ zwischen dem vermeintlich „Guten“ und dem vermeintlich „Bösen“ handelt, beherrscht derzeit auf erschreckende Weise nahezu die gesamten europäischen Mainstreammedien. Das „Gute“ in dieser Weltsicht verkörpern dabei selbstverständlich die sogenannten westlichen „Demokratien“, welche angeblich die einzigen wirklichen Garanten für Freiheit und Menschenrechte seien, beim „Bösen“ dagegen handelt es sich um Diktaturen wie Russland oder China bzw. Autokraten wie Putin, welche diesem „Guten“ mit allen Mitteln den Garaus zu machen versuchten. Ganz so, wie es US-Präsident Joe Biden im März 2022 mit folgenden Worten unmissverständlich zum Ausdruck brachte: „Es geht um die grosse Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer regelbasierten Ordnung und einer, die von brutaler Gewalt bestimmt ist. Wir müssen dabei klar sehen: Diese Schlacht wird nicht in Tagen geschlagen werden oder in Monaten. Wir müssen uns für einen langen Kampf stählen.“

Doch in Tat und Wahrheit ist das nichts anderes als ein riesiges, künstlich aufgeblasenes Lügengebäude, das jeglichen Realitätsbezug verloren hat, denn diese sogenannten westlichen „Demokratien“ sind schon längst nicht mehr oder waren es wahrscheinlich noch gar nie echte Demokratien im ursprünglichen Sinne der Bedeutung von „Volksherrschaft“. „Demokratie“, so Jean-Jacques Rousseau, „existiert erst dort, wo niemand so reich ist, dass er den anderen kaufen kann, und niemand so arm, dass er sich verkaufen muss.“ Echte Demokratie als „Volksherrschaft“ setzt soziale Gerechtigkeit voraus. Wenn diese nicht vorhanden ist, dann verkommt die vermeintliche „Demokratie“ zur puren Diktatur der Reichen gegen die Armen, der Mächtigen gegen die Machtlosen, der Besitzenden gegen die Besitzlosen, der Ausbeuter gegen die Ausgebeuteten, der sogenannt „Gebildeten“ gegen die sogenannt „Ungebildeten“, der Einheimischen, Ansässigen und Besitzstandwahrenden gegen „Eindringlinge“, „Auswärtige“ und „Fremde“, derer, die über Krieg oder Frieden entscheiden, gegen jene, die aufs Schlachtfeld geschickt werden, um dort für die Interessen anderer ihr Leben zu lassen. Und da diese Ungleichheiten, Abhängigkeiten, Ausbeutungsverhältnisse und der damit verbundene Machtmissbrauch mit der fortschreitenden „Perfektionierung“ des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems immer drastischer werden, die Unvereinbarkeit von Kapitalismus und Demokratie immer deutlicher zutage tritt und einer stetig wachsenden Zahl der Zukurzgekommenen die Augen für alle diese Zusammenhänge immer mehr aufzugehen drohen, müssen die oben an der Spitze, um einen auch für sie selber sich katastrophal auswirkenden Zusammenbruch des gesamten Systems zu verhindern oder mindestens so lange wie möglich hinauszuschieben, alles daran setzen, den schon längst rein irrational gewordenen Kampf des „Guten“ gegen das „Böse“ bis zum bitteren Ende aufrechtzuerhalten. Und das geht eben nur, wenn alle eigenen Fehler, Missstände, Versäumnisse und Verbrechen auf einen künstlich konstruierten äusseren Feind projiziert werden, als den sich nun gerade Russland mit Putin an der Spitze optimal anbietet, anknüpfend an die bereits während des Kalten Kriegs über Jahrzehnte bediente und stets neu geschürte Definition von Russland bzw. der Sowjetunion als „Reich des Bösen“, obwohl durch Kriege, die seit 1945 von den USA und ihren Verbündeten angezettelt wurden, insgesamt weitaus mehr Menschen ums Leben gekommen sind als durch Kriege, welche von der Sowjetunion bzw. von Russland ausgelöst wurden. „Putin“, so der US-Journalist und Pulitzer-Preisträger Chris Hedges, „hat noch einen langen Weg vor sich, bevor er das Ausmass an Kriegsverbrechen erreicht, die wir in Ländern wie dem Irak, Syrien, Libyen und Afghanistan begangen haben.“

Dieses weitgehend auf Lügen aufgebaute Bild des „guten“ Westens, der sich gerade zur letzten entscheidenden Schlacht gegen alle seine „bösen“ Widersacher auf den Weg macht, kann allerdings nur aufrechterhalten werden, solange möglichst viel Druck auf das Volk ausgeübt wird, möglichst „einheitlich“ und „obrigkeitsgläubig“ zu denken. Zuwiderlaufende Meinungsäusserungen sind nicht erwünscht und werden systematisch unterdrückt, so wie wir es zurzeit vor allem in Deutschland immer drastischer erleben, wo kritische Stimmen in den Medien kaum mehr zu hören sind und sogar schon erste Berufsverbote gegen Andersdenkende verhängt wurden. „Je näher ein Land seinem Untergang kommt“, hatte schon der römische Staatsmann Cicero vor über 2000 Jahren erkannt, „desto verrückter werden seine Gesetze.“ George Orwell schrieb: „Je weiter sich eine Gesellschaft von der Wahrheit entfernt, desto mehr wird sie jene hassen, die sie aussprechen.“ Und der deutsche Autor Thomas Pfitzer schrieb schon vor vielen Jahren: „Der Aufbau von Feindbildern ist die wirksamste Methode zur Manipulation der Massen.“ Der Glauben, nicht das Wissen und die Suche nach der Wahrheit werden dergestalt zur obersten Staatsmaxime: „Wenn du die Wahrheit suchst“, so Julian Assange, „geh los und suche sie. Genau davor haben sie Angst.“ Sie bauen lieber unter dem Deckmantel der Staatsgewalt Lügen auf, um die Wahrheit in Schach zu halten, wie auch der frühere US-Präsident Thomas Jefferson es beschrieb: „Nur die Lüge braucht die Stütze der Staatsgewalt, die Wahrheit kann von alleine aufrecht stehen.“ Das ganze System, so brachte es auch Edward Snowden auf genau den selben Punkt, beruhe auf der „Idee, dass man der Mehrheit alles einreden kann, solange man es nur genug laut und oft wiederholt.“ Es sei „leichter, eine Lüge zu glauben“, so auch der frühere US-Präsident Abraham Lincoln, „die man tausendmal hört, als die Wahrheit, die man nur ein einziges Mal hört.“ Auf diese Weise wird, wie Franz Kafka es sagte, „die Lüge zur Weltordnung gemacht“. Und auch Albert Einstein schien geradezu prophetisch vorauszusehen, wohin sich das sogenannt „aufgeklärte“ Europa zurzeit geradezu in schwindelerregendem Tempo bewegt: „Die Minderheit der jeweils Herrschenden hat vor allem die Schulen, die Presse und meistens auch die religiösen Organisationen in ihrer Hand. Durch diese Mittel beherrscht und leitet sie die Gefühle der grossen Masse und macht diese zu ihrem willenlosen Werkzeug.“ Das beschreibt auch Hanna Arendt mit ganz ähnlichen Worten: „Und ein solches Volk, das sich seiner Macht, zu denken und zu urteilen, beraubt sieht, ist auch, ohne zu wissen und zu wollen, dem Gesetz der Lüge vollständig unterworfen. Mit einem solchen Volk kann man dann machen, was man will.“

Doch es gibt Hoffnung, dass es nicht so weit kommt. Denn es gibt neben diesem einen, alles verzerrenden und weitgehend auf Lügen aufgebauten Bild eines „Endzeitkampfes“ zwischen dem „guten“ Westen und seinen „bösen“ Widersachern gleichzeitig ein zweites Bild, das diesem geradezu diametral gegenübersteht und es zutiefst widerlegt. Dieses zweite Bild ist das Bild eines über Jahrhunderte währenden, unbeschreiblichen Leidens, mit dem die sogenannte „Neuzeit“ ums Jahr 1500 eingeläutet wurde, der Anfang des Paradieses für einige wenige und der Hölle für alle anderen, angefangen mit der Auslöschung eines grossen Teils der amerikanischen Urbevölkerung und der Versklavung fast aller Überlebender durch die europäischen Kolonialherren, um dann stets in die gleiche Richtung weiterzugehen: Zweitens mit der gewaltsamen Deportation von über 15 Millionen Kindern, Frauen und Männer von Afrika nach Amerika und deren Versklavung zwecks Anhäufung der für das nunmehr explosionsartig weltweit sich ausbreitende kapitalistische Ausbeutungssystem notwendigen Finanz- und Machtmittel. Drittens mit der Ausplünderung und Beraubung des gesamten afrikanischen Kontinents und der meisten anderen Länder und Regionen des globalen Südens zwecks Schaffung eines nie dagewesenen Reichtums für die oberen und obersten Gesellschaftsschichten in den immer reicher werdenden Ländern des Nordens. Viertens mit dem Auftürmen immer grösserer Waffenarsenale in den Händen der Mächtigen zur Absicherung all des mit Gewalt angeeigneten Raubgutes, Hand in Hand mit dem Aufbauen immer höherer Mauern und immer schärferer Gesetze, um die über Jahrhunderte Beraubten mit allen Mitteln davon abzuhalten, sich wenigstens einen winzigen Teil des ihnen Geraubten wieder zurückzuholen. Fünftens mit der unerbittlich bis heute weltweit anhaltenden Instrumentalisierung, Unterjochung und Versklavung von Frauen durch Männer und der von klein auf systematisch anerzogener „Normalisierung“ patriarchalen Machtdenkens bis in die innersten Gehirnzellen nicht nur bei den Tätern, sondern auch bei den allermeisten ihrer Opfer. Fünftens mit brutalsten Feldzügen, vergleichbar der Vernichtung durch Bomben und Raketen, gegen die Schwächsten der Schwachen, die Kinder und Jugendlichen, schon von frühestem Alter an, in Form von Erniedrigung, Demütigung und Bevormundung, seelischer und körperlicher Gewalt, sexueller Ausbeutung, Obdachlosigkeit und dem Zwang zu viel zu langer und schwerer Arbeit für ihre zerbrechlichen, gerade erst zum Leben erwachten Körper. Sechstens mit der Auspressung von Arbeitskraft bis zu totaler Erschöpfung und viel zu frühem Tod aus all jenen Abermillionen Namenloser, die nichts anderes besitzen als ihren eigenen Körper, auf glühendheissen, endlosen Plantagen vom Morgengrauen bis in die tiefe Nacht, in Bergwerken tief unter der Erde, voller tödlicher Gefahren, wo schon jeder einzelne Atemzug wie ein Feuer durch den ganzen Körper brennt, in Fleischfabriken, Textilfabriken, Spielzeugfabriken, Chipfabriken, Seite an Seite aneinandergepfercht wie Häftlinge in den schlimmsten Gefängnissen, unter der ständigen Kontrolle und Überwachung durch den Vorgesetzten, der nur darauf wartet, bis es die Arbeiterin an der Nähmaschine oder am Fliessband auch mit dem besten Willen nicht mehr schafft, gegen so viel Müdigkeit ihre Augen offenzuhalten, um mit aller Kraft auf sie einzuprügeln und sich auf diese Weise zusätzliche Bonuspunkte und eine mögliche spätere Gehaltserhöhung von seinem eigenen Vorgesetzten zu ergattern und so seinen Beitrag dafür zu leisten, dass an den anderen Enden der weltweiten Ausbeutungsketten immer mehr Menschen dank der aus den Arbeiterinnen und Arbeitern weltweit herausgepressten Profite selber nicht einmal mehr einen minimalsten Anteil an produktiver Arbeit übernehmen müssen und dennoch in den schönsten Villen an den schönsten Plätzen der Welt, rund um die Uhr bedient von weiteren Dutzenden bis zum Äussersten Ausgepresster, für sich und ihre Kinder ein paradiesisches Leben in Anspruch nehmen, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres. Mit einem Bildungssystem, das den Kindern schon von klein auf ihr natürliches, schöpferisches und selbstbestimmtes Lernen austreibt, wie wenn man Blumen oder Bäumen, die gerade erst zu wachsen angefangen haben, ihre Wurzeln ausreissen würde, und dieses freie und natürliche Lernen durch eine Art von Kastenordnung ersetzt hat, in der es bloss noch darum geht, sich unter Aufbietung aller Selbstverleugnung von Stufe zu Stufe hochzuhangeln, um mit wachsender „Bildung“ wachsende Macht zu gewinnen, also eigentlich das pure Gegenteil dessen, was wahrhaftige Bildung im Sinne von Wissen, Aufklärung, Emanzipation, Selbstbestimmung und Befreiung aus jeglicher Art von Bevormundung und Fremdbestimmung eigentlich sein müsste. Mit einem beschönigend als „freie Marktwirtschaft“ bezeichnenden Wirtschaftssystem, in dem jegliche „Freiheit“ bloss in der beinahe unbegrenzten Freiheit der Reichen und Mächtigen besteht, die Armen und Machtlosen möglichst umfassend auszubeuten und auf ihre Kosten ein gutes Leben zu haben, und der „Markt“ – im Gegensatz zur ursprünglichen Idee eines gegenseitigen Warentauschs zu möglichst fairen Bedingungen – bloss noch darin besteht, alle Güter nicht etwa dorthin zu schaffen, wo sie am dringendsten gebraucht würden, sondern dorthin, wo sich mit ihrem Verkauf am meisten Geld verdienen lässt, sodass sich in einer Welt, wo sich auf der einen Seite eine Milliarde Menschen jeden Abend hungrig schlafen legen, auf der anderen Seite Lebensmittel in nie dagewesener Fülle anhäufen, dass man sich dort sogar den Luxus leisten kann, einen Drittel davon ungebraucht fortzuwerfen. Mit einem geradezu wahnwitzigen Glauben daran, alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Probleme liessen sich früher oder später mit rein technischen Mitteln lösen, obwohl schon längst bekannt ist, dass jede rein technische „Problemlösung“ ohne grundlegende Veränderungen traditioneller Denkweisen bloss Ursachen für weitere, noch grössere Probleme sind, welche dann wiederum mit einem noch grösseren Aufwand an Technik und Ressourcenverschleiss bekämpft werden müssen. Mit der alles überragenden und kaum je in Frage gestellten Grundüberzeugung, wonach dem Menschen als „höchstem“ Wesen der Schöpfung ganz selbstverständlich das Recht zukäme, sich den Rest dieser Schöpfung untertan zu machen, innerhalb jeder einzelnen Minute weltweit mehr als 1300 Tiere zu ermorden, obwohl er sich problemlos vegetarisch ernähren könnte, und die Hauptverantwortung dafür zu tragen, dass jeden Tag 150 Tier- und Pflanzenarten für immer aussterben, und er also drauf und dran ist, diese wunderbare Schöpfung, deren „höchstes“ Wesen er angeblich sein soll, nach und nach auszulöschen. Und nicht zuletzt mit dem irrwitzigen Glauben an die Notwendigkeit eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums, welches früher oder später zu einem endgültigen Verschwinden sämtlicher natürlicher Ressourcen und – Hand in Hand mit der zunehmenden Klimaerwärmung – gar zur Zerstörung der Lebensgrundlagen sämtlicher zukünftiger Generationen führen muss.

Die Zukunft der Menschheit, so krass muss man es wohl sagen, hängt aller Voraussicht nach höchstwahrscheinlich tatsächlich davon ab, welches dieser beiden Bilder sich stärker in den Köpfen der Menschen durchzusetzen vermag. Dasjenige eines „Endzeitkampfes“ zwischen dem vermeintlich „guten“ Westen und den vermeintlich „bösen“ Autokraten, welche diesen zu zerstören trachten, oder dasjenige einer umfassenden Aufklärung über sämtliche historische und ideologische Zusammenhänge und Hintergründe als Instrument, um aus der Vergangenheit zu lernen und daraus all jene notwendigen Einsichten zu schöpfen, die dazu verhelfen könnten, eine friedlichere und gerechtere Welt aufzubauen, die nicht mehr auf Machtverhältnissen, gegenseitiger Ausbeutung, Profitsucht, Wachstumswahnsinn und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen beruht, sondern auf der gegenseitigen Rücksichtnahme und dem Mitgefühl sowohl von Mensch zu Mensch wie auch innerhalb der gesamten Schöpfung. Führt das erste Bild, aufgebaut auf Hass, Gewalt, Machtansprüchen und Feindbildern, in letzter Konsequenz zum Krieg und zu einer möglichen Auslöschung der gesamten Menschheit, so führt das zweite Bild im Gegensatz dazu durch tiefere Erkenntnisse und ein höheres geistiges Bewusstsein, zu Ende gedacht, zu einem umfassenden und dauerhaften Frieden, den man wohl ohne Übertreibung als die Verwirklichung der schon so unendlich lange ersehnten Vision einer Verwirklichung des Paradieses auf auf der Erde bezeichnen kann. Damit dies aber geschieht, „müssen sich jene, die den Frieden lieben“, so der US-amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „ebenso wirkungsvoll organisieren wie jene, die den Krieg lieben.“ Auch im „Brief an einen Studenten am 14. Juli 1941“ von Albert Einstein lesen wir : „Gegen organisierte Macht gibt es nur organisierte Gegenmacht; ich sehe kein anderes Mittel, so sehr ich es auch bedauere.“ Dies aber heisst auch, dass sich niemand dieser Verantwortung entziehen kann, denn, so der frühere UN-Generalsekretär Kofi Anan: „Alles, was das Böse braucht, um zu triumphieren, ist das Schweigen der Mehrheit.“

Vieles – auch wenn es momentan noch nicht den Anschein macht – spricht dafür, dass sich das zweite Bild, das Bild des Friedens, nach und nach stärker durchsetzen wird. Denn die Wahrheit ist, wie der deutsche Schriftsteller Frank Thiess schreibt, „eine unzerstörbare Pflanze. Man kann sie ruhig unter einem Felsen begraben, sie stösst sich trotzdem durch, wenn es an der Zeit ist.“ Dass diese Zeit tatsächlich gekommen zu sein scheint, wird mir seit Monaten fast täglich immer deutlicher bewusst, im Gespräch mit so vielen wunderbaren Menschen, die ebenfalls dieses tiefe Gefühl verspüren, dass zurzeit tiefgehende Veränderungen, die wir wohl vorerst nur leise zu ahnen vermögen, im Gange sind. Immer mehr Menschen erzählen auch von Engeln und von täglichen Begegnungen und Erfahrungen, die kaum zufällig sein können und die man sich kaum rein rational zu erklären vermag. Auch ich mache fast täglich solche Erfahrungen, begegne Menschen, die mich auf wundersame Weise wiederum zu anderen Menschen geleiten, welche mich genau an dem Punkt weiterbringen, wo ich gerade stecken geblieben war, sei es in der Begleitung von Flüchtlingen oder von anderen Menschen am Rande unserer vermeintlichen „Wohlstandsgesellschaft“, in denen ich immer wieder aufs Neue so viel Tiefe und Reichtum entdecke, dass mir, um das alles zu beschreiben, oft richtiggehend die Worte dafür fehlen. Bisherige Oberflächlichkeiten lösen sich auf einmal auf und ich habe mit Menschen, die ich früher kaum kannte und mit denen ich kaum viel mehr als einen „Guten Morgen!“ oder „Viel Spass!“ austauschte, auf einmal stundenlange Gespräche bis tief in die Nacht. Als würde jede Tür, die sich öffnet, ganz von selber den Zugang zu vielen weiteren Türen öffnen.

Ich bin zuversichtlich. Ich glaube daran, dass eine neue Zeit im Anflug ist. Die Zeit der Engel. Doch auch wenn sie in stetig noch so wachsender Zahl herumschwirren, werden sie es alleine nicht schaffen. Sie brauchen, um ihr Werk zu vollbringen, uns Menschen. Sie oben und wir unten, nur gemeinsam können wir es schaffen.

Eine neue Zeit kommt. Aber sie kommt nicht von selber. Damit sie kommen kann, braucht es unsere Hände, unsere Phantasie, unsere ganz banalen täglichen guten Taten, unsere Aufmerksamkeit, unser Mitgefühl, unsere Lebensfreude, unseren Optimismus, unsere Begeisterungsfähigkeit, unseren Idealismus, unsere Anteilnahme am Leiden anderer, unsere Opferbereitschaft und den Verzicht auf Privilegien, die nicht erarbeitet, sondern uns bloss zuteil wurden, weil wir zur „richtigen“ Zeit am „richtigen“ Ort geboren wurden, das gegenseitige Mutmachen und unsere deutlichen, unüberhörbaren Stimmen gegen alle Formen von Machtmissbrauch, Ausbeutung und Bevormundung. „Scheut euch nicht, eure Stimme für Ehrlichkeit und Wahrheit und Mitgefühl gegen Ungerechtigkeit und Lüge und Gier zu erheben“, schrieb der US-amerikanische Schriftsteller William Faulkner, „wenn die Menschen auf der ganzen Welt dies täten, würde das die Erde tiefgreifend verändern.“

Doch an allererster Stelle braucht es unsere Liebe, das höchste aller Güter, die wirkungsvollste Kraft für gesellschaftliche Veränderungen zum Guten. Und dann, da bin ich mir fast ganz sicher, wird sich tatsächlich, auch wenn heute noch so viele Menschen daran zweifeln mögen, in den Köpfen und in den Herzen der Menschen immer stärker das zweite Bild, das Bild des Friedens, gegenüber dem ersten Bild, dem Bild des Kriegs, durchzusetzen vermögen. Ganz einfach deshalb, weil im tiefsten Inneren aller Menschen nicht das Böse liegt, sondern das Gute. „Das Böse“, sagte Hanna Arendt, „ist immer nur extrem, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe. Es kann die ganze Welt verwüsten wie ein Pilz, der an der Oberfläche wuchert. Tief aber und radikal ist immer nur das Gute.“

Von der guten alten Glühbirne zur modernen Hightech-Lampenwelt: Manchmal so etwas wie Nostalgie…

Als wir vor etwa zwölf Jahren in unserem Haus eine neue Küche einbauen liessen, hatten wir uns für einen passenden Kochherd, Backofen und Kühlschrank ziemlich rasch entscheiden können. Weitaus am meisten Zeit aber brauchten wir für die Auswahl der Deckenbeleuchtung, da uns hierfür fast unendlich viele unterschiedliche Varianten angeboten wurden: Ein grosser Beleuchtungskörper in der Mitte der Decke, kompakt oder mit Spots, die nach verschiedenen Seiten ausgerichtet werden konnten, mindestens zwei Dutzend unterschiedlich geformte, kugel- oder ringförmige Lämpchen, ein traditioneller, nüchterner Neonleuchtkörper oder extrem futuristische, winzige Leuchtstäbe mit wechselndem Licht, etwa 20 verschieden stark und in verschiedenen Tönen leuchtende Glühbirnchen, und das ganze Dekor erst noch in etwa 50 verschiedenen Farbtönen, dazu verschiedenste Arten von Steuerung der Lichtquellen, manuell, automatisch oder sogar ferngesteuert oder nach einem bestimmten, einmal pro Woche eingegebenen Plan. Wer die Wahl hat, hat die Qual. Schliesslich entschieden wir uns für eine relativ einfache Variante: Zwölf über die ganze Küchendecke verteilte und in sie eingelassene runde Fassungen, die dazu passenden LED-Lämpchen von mittelstarker Leuchtkraft mit einem warmen, gelblichen Licht. Billig war es zwar nicht gerade, aber der Küchenfachmann versicherte uns, dass diese Leuchtkörper der allerneuesten Generation extrem umweltfreundlich seien, fast ewig lange halten würden und wir vermutlich eher die gesamte Küche erneuern müssten, bevor auch nur eines dieser teuren Lämpchen zu ersetzen wäre.

Er hatte fast Recht gehabt. Aber doch nur fast. Denn vor etwa drei Wochen hat nun doch eines dieser winzigen Birnchen seinen Geist aufgegeben. Die Frau im Elektrofachgeschäft beäugte das kaputte Ding ziemlich verzweifelt, wusste sie doch nur zu gut, dass es Birnchen solcher Art zu Dutzenden gibt, die sich nur durch kleine Details voneinander unterscheiden. Nur schon der Abstand zwischen den beiden Stäbchen, mit denen das Birnchen in die Steckdose eingeführt wird, dann auch die Form, die Länge, die Dicke und – vor allem – die Leuchtkraft. Diese hätte man zwar eigentlich von einer kleinen, am unteren Ende des Birnchens angebrachten Aufschrift ablesen können, diese war aber so klein, dass sie nicht einmal mit einer Lupe gelesen werden konnte. Die Frau suchte nun die an einer Wand hinter dem Verkaufstisch an kleinen Haken aufgehängten schätzungsweise 50 verschiedenen Birnchen der Reihe nach ab, fand aber kein einziges, das genau gleich aussah wie das kaputte. Sie müsse es wohl bestellen, meinte sie. In Ermangelung einer Bestellnummer beschrieb sie bei der via Internet vorgenommenen Bestellung in einem Kästchen mit der Überschrift „Bemerkungen“ das Lämpchen mit sämtlichen Details möglichst genau, fotografierte es sogar zusätzlich noch und fügte das Foto der Bestellung bei.

Zwei Tage später traf das Birnchen ein. Doch schon beim Auspacken bedurfte es keines besonders scharfen Blickes, um zu erkennen, dass es sich hier unmöglich um das gewünschte Produkt handeln konnte. Das Birnchen war mindestens doppelt so dick und auch um einiges länger und würde daher keinesfalls in die vorhandene Fassung hineinpassen, auch wenn der Abstand zwischen den beiden Kontaktstäbchen gepasst hätte.

Wieder zwei Tage später konnte ich im Elektrofachgeschäft ein neu bestelltes Birnchen abholen, das dem alten tatsächlich zu gleichen schien. Als ich es jedoch in die Fassung gesteckt und eingeschaltet hatte, warf das neue Birnchen ein dermassen starkes und grelles Licht von sich, dass ich für einen kurzen Moment geradezu geblendet war. Von der stimmungsvollen, gedämpften, gemütlichen Wärme, von welcher der Küchenfachmann vor zwölf Jahren so begeistert geschwärmt hatte, war nichts übrig geblieben.

Als ich erneut im Elektrofachgeschäft auftauchte, kümmerten sich dieses Mal zusätzlich zu der Frau vom letzten Mal zwei weitere Angestellte um mein Anliegen. Nachdem alle drei das Birnchen während längerer Zeit wortlos angestarrt hatten, sagte der eine von ihnen, es sei gar nicht so einfach. Sie gaben aber nicht auf. Weder im Internet noch in einem dicken Katalog mit gewiss mehr als 500 Seiten konnten sie jedoch eine weniger leuchtkräftige Variante des Birnchens finden. Es tue ihnen Leid, es gäbe halt immer wieder Produkte, die aus dem Sortiment entfernt würden, wenn die Nachfrage über längere Zeit zu gering sei. Und da fast täglich neue Produkte auf den Markt kämen, sei es unmöglich, alle bereits früher hergestellten immer wieder nachzuliefern, aus Kapazitätsgründen, aus Kostengründen und rein auch aus Platzgründen.

Auf dem Nachhauseweg erinnerte ich mich, wie der Küchenfachmann damals vom technischen Fortschritt begeistert gewesen war. Die alten und die neuen Birnchen seien, ökologisch betrachtet, nicht im Entferntesten miteinander zu vergleichen, es lägen Welten dazwischen, und dabei sei man noch nicht einmal am Ende einer Entwicklung angelangt, die in immer schnellerem Tempo erfolge. Doch kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dies alles so viel umweltfreundlicher ist, wenn jetzt wohl Zehntausende unterschiedlicher Leuchtkörper produziert werden müssen, von denen jedoch Abertausende auf den Regalen von Elektrofachgeschäften oder Verteilzentren früher oder später liegen bleiben, gar nie gebraucht werden und mit grossem Aufwand wieder entsorgt werden müssen, während gleichzeitig schon wieder, erneut mittels gewaltiger Mengen an Zeit, Ressourcen und Energie, neue Produkte entwickelt werden, die dann – mithilfe der erforderlichen Werbeanstrengungen in Form aufwendig gestalteter Internetauftritte oder fünfhundertseitiger Kataloge – gegenseitig um die Gunst der Kundinnen und Kunden buhlen müssen, von denen dann einige, wie ich gerade, entweder stundenlang im Internet herumirren oder aber zwei oder drei Mal hintereinander das nächste Elektrofachgeschäft aufsuchen müssen, um am Ende doch nicht das Gewünschte zu bekommen, was ja alles stets mit einem riesigen Aufwand an Energie und den damit verbundenen schädlichen Auswirkungen auf die Umwelt verbunden ist, was aber vollkommen ausgeklammert und verschwiegen wird, wenn dir dann am Ende auf der Packung ein grünes Gesichtlein entgegenlacht, das dir vorgaukelt, du hättest jetzt gerade einen riesigen Beitrag gegen den drohenden Klimawandel und für die Rettung unseres Planeten geleistet. Ganz abgesehen davon, dass heute wohl jede einigermassen „moderne“ Küche im Vergleich zu einer Küche des 20. Jahrhunderts von einer unvergleichlich viel höheren Anzahl von Lampen und Lämpchen erhellt wird, von denen zwar jedes einzelne zweifellos viel weniger Energie verbraucht als seine Vorgänger, in der Summe dann aber möglicherweise dennoch ein weit höherer Energieverbrauch anfällt, vor allem auch unter Einbezug des hierfür erforderlichen zeitlichen und materiellen Aufwands zur Gestaltung der Decke, der Installation der zahlreichen Fassungen und dem Verlegen der Drähte und Bereitstellen der notwendigen Anschlüsse.

Jetzt leuchtet dieses eine neue Birnchen in unserer Küche so unverschämt hell, dass die anderen elf eigentlich überflüssig geworden sind. Die angenehme, gedämpfte Stimmung in unserer Küche über beinahe zwölf Jahre hinweg ist nun wohl für immer dahin. Und höchstwahrscheinlich wird das ja nicht das letzte Birnchen gewesen sein, das im Verlaufe der nächsten zwei, drei Jahre zu ersetzen sein wird. Das ist zwar alles nicht so schlimm und, wie man so schön sagt, Jammern auf hohem Niveau. Und dennoch sehne ich mich gerade ein bisschen nach der guten alten Zeit zurück, als in jedem Zimmer des Hauses in der Mitte der Decke eine einfache Lampe hing, in die überall die genau gleiche Glühbirne hineinpasste, die man überall kaufen konnte und die stets auf Lager war, ohne dass man sich stunden- und tagelang mit euphorischen Lampenverkäufern, 500seitigen Katalogen, mehreren Dutzend Webseiten und verzweifelten und frustrierten Angestellten im Elektrofachgeschäft herumschlagen musste…

Daran, dass weltweit über 700 Millionen Menschen weder supermoderne LED-Leuchten haben noch eine einzige nackte Glühbirne, sondern überhaupt keinen Zugang zu jeglicher Stromversorgung, wage ich schon gar nicht zu denken…

20. Montagsgespräch vom 12. Mai 2025: Wohin steuert die Migros?

Aus erster Hand, nämlich von Martin Lutz, dem Geschäftsführer der Migros Ostschweiz, konnten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Buchser Montagsgesprächs vom 12. Mai über die Hintergründe des zurzeit laufenden Totalumbaus des Migros-Konzerns informieren und die Gelegenheit zu kritischen Fragen nutzen.

Aus mehreren Gründen, so Martin Lutz, sei der umfassende Konzernumbau unausweichlich geworden. Erstens sei der Konkurrenzkampf im Detailhandel in den letzten zehn bis 15 Jahren immer härter geworden, nicht zuletzt durch den Markteintritt von Lidl und Aldi. Zweitens hätte sich das Kaufverhalten der Kundschaft stark verändert, Preisvergleiche spielten beim Einkaufen eine immer wichtigere Rolle und deshalb werde auch immer öfters im grenznahen Ausland, wo die Preise tiefer sind, eingekauft. Drittens erfreue sich das Onlineshopping immer grösserer Beliebtheit, was auch einer der Hauptgründe dafür sei, dass die Migros-Fachmärkte zuletzt einen jährlichen Verlust von insgesamt rund 100 Millionen Franken hätten hinnehmen müssen. Viertens habe man sich während langer Zeit durch  viele Akquisitionen verzettelt und dem eigentlichen Kerngeschäft, dem Supermarkt, zu wenig Sorge getragen. Fünftens sei aber auch der Migros-Konzern selber mit seinen komplexen Strukturen und aufwendigen Entscheidungsabläufen träge geworden und hätte es verpasst, rechtzeitig auf die neuen Herausforderungen zu reagieren.

Als logische Schlussfolgerung hätten sich die zukünftige Fokussierung auf das Kerngeschäft Supermarkt und die Veräusserung der unrentablen Fachmärkte ergeben, wobei für alle ausser Do it und Garden, für die man keine Käufer hätte finden können, Anschlusslösungen hätten gefunden werden können. Für fast alle der rund 600 bei Migros Ostschweiz betroffenen Angestellten hätten sich neue  Beschäftigungsmöglichkeiten finden lassen. Ihm sei bewusst, so Lutz, dass vielen langjährigen Beschäftigten die neue Arbeitssituation nicht leicht fallen werde und dass auch – gerade am Beispiel von Do it und Garden in Buchs – der Kundschaft etwas weggenommen werde, was sehr beliebt und geschätzt worden sei. Dennoch hätte es nach allen vorgenommenen Analysen keine brauchbaren Alternativen zu den nun getroffenen Massnahmen gegeben.

Künftig werde die Migros mit einem modernen und verdichteten Filialnetz – beispielsweise auch mit der neuen Filiale in Sevelen –, tieferen Preisen sowie frischen und regionalen Sortimenten wieder für positive Schlagzeilen sorgen, gab sich Lutz überzeugt.

In der nun folgenden Diskussion wurde mehrfach Unverständnis bekundet, wie umfassend der Umbau in der so kurzen Zeit von etwa einem Jahr erfolgt sei, so dass man den Eindruck bekäme, es sei eine Art Panikreaktion, die mit allen ihren Konsequenzen zu wenig bedacht worden sei. Dem widersprach Martin Lutz, indem er erklärte, der Umbau sei hinter den Kulissen umfassend diskutiert und sorgfältig vorbereitet worden.

Eine Votantin bedauerte den „Kniefall“ der Migros vor dem Trend zum Onlineshopping. Sie hätte von der Migros mehr Mut erwartet, sich diesem Trend bewusst entgegenzustellen und die Vorzüge des Einkaufens vor Ort in den Vordergrund zu stellen, zumal sie sich sicher sei, dass es früher oder später wieder zu einer gegenläufigen Entwicklung kommen werde, wenn den Konsumentinnen und Konsumenten erst einmal die negativen Auswirkungen des Onlineshopping mit Billigprodukten auf Kosten von Umwelt und Arbeitsbedingungen so richtig bewusst würden – eine optimistische Sichtweise, die Martin Lutz nicht teilen wollte.

Eine andere Diskussionsteilnehmerin zeigte sich befremdet darüber, dass trotz der offensichtlichen finanziellen Engpässe dennoch erhebliche Investitionen für die kürzlich erfolgte Renovation der Migros Buchs, welche für die Kundschaft keinen ersichtlichen Mehrwert mit sich bringe, getätigt worden seien. Lutz begründete den Umbau damit, dass die Kundschaft eine regelmässige Attraktivitätssteigerung der Verkaufsumgebung und des damit verbundenen Einkaufserlebnisses erwarte, diese Erneuerungen aber abgesehen davon ohnehin aus technischen Gründen, beispielsweise wegen des Ablaufs der Kühlgeräte, unerlässlich seien.

Die Frage nach den Preisunterschieden zwischen Aldi und Lidl auf der einen, Migros auf der anderen Seite beantwortete Lutz damit, dass es eben weit kostengünstiger sei, das Angebot – wie etwa bei Lidl und Aldi – auf circa 2500 Produkte zu beschränken, statt, wie bei einer grossen Migros, rund 35‘000 verschiedene Produkte anzubieten. Im Verlaufe des Abends wurde die Vielschichtigkeit des Themas deutlich. Und auch, wie entscheidend das Verhalten der Konsumentinnen und Konsumenten ist. Wenn immer mehr Menschen nur noch online und  möglichst billig einkaufen wollen, dann, so ein letztes Votum aus der Diskussionsrunde, müsse man sich nicht wundern, wenn auch traditionsreiche Unternehmen wie die Migros früher oder später zu Massnahmen gedrängt würden, die dann bei vielen Menschen auf Unverständnis stiessen. Jeder und jede könne selber etwas dazu beitragen und sei mitverantwortlich dafür, in welche Richtung und mit was für Konsequenzen sich alles entwickle.

Alles auf den Kopf stellen

Kinder haben einen unwiderstehlichen Drang, alles auszuprobieren, von allem das Gegenteil zu denken, alles in Frage zu stellen, immer etwas zu schaffen was es noch nie gab, unendlich zu provozieren, die Welt jeden Tag auf den Kopf zu stellen und neu zu erfinden, Verbotenem und Verheimlichtem auf den Grund zu gehen, so lange zu fragen, bis die Wahrheit ans Licht kommt. Genau diese Fähigkeiten dürften wir zeitlebens nicht verlieren.

Der Geigenspieler vor dem Supermarkt

Der gleichen Musik, welche der Geigenspieler vor dem Supermarkt erklingen lässt und an dem sie ohne jede Regung vorbeihasten, lauschen sie im Konzertsaal stundenlang in fast religiöser Verzückung und bezahlen dafür erst noch so viel, wie andere nicht einmal während einer ganzen Arbeitswoche verdienen. Der Hut des Geigenspielers aber bleibt leer.