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Brauchen wir noch Religionen? Ja, dringender denn je. Ohne Religion hat die Menschheit keine Zukunft…

Peter Sutter, 22. Dezember 2025

Vor rund sieben Jahren begann ich Notizen zu sammeln für einen Artikel mit dem Titel „Brauchen wir in Zukunft noch Religionen?“ und dem Untertitel „Haben sie nicht schon genug Schaden angerichtet?“ Ich dachte an all den Hass, die Gewalt, die Fremdbestimmung und Entmündigung, an all die Kriege, die im Laufe von Jahrhunderten im Namen irgendwelcher „Götter“ geführt wurden und ganze Völker in den Abgrund stürzten, ich dachte an die Kreuzzüge, an die Inquisition, an die Judenverfolgungen, ich dachte daran, wie die Indios in Südamerika von den spanischen und portugiesischen Konquistadoren so lange gefoltert wurden, bis sie sich zum Christentum bekehren liessen, ich dachte an den US-Präsidenten George W. Bush, der eines Morgens im März 2003 ein Gebet verrichtete, mit der Hand auf der Bibel, bevor er den Einsatzbefehl zum militärischen Angriff auf den Irak erteilte und in der Folge rund eine halbe Million Irakerinnen und Iraker ermorden liess.

Doch trotz alledem würde ich den damals geplanten Artikel heute nicht mehr schreiben. Im Gegenteil. Heute würde ich einen Artikel schreiben mit dem Titel „Ja, wir Menschen brauchen für unsere Zukunft Religionen, wir brauchen sie sogar dringender denn je.“

Woher dieser Sinneswandel innerhalb von sieben Jahren?

Ja, zunächst schien es tatsächlich eine Riesenbefreiung zu sein. Die Aufklärung. Der Siegeszug der Naturwissenschaften. Die kritische Vernunft anstelle des Glaubens an irgendwelche imaginäre Gottheiten, die vielleicht alle bloss erfunden worden waren, um „gläubigen“ Menschen das Recht zu verleihen, „ungläubige“ oder „falsch“ gläubige Menschen zu bevormunden, zu diskriminieren, zu unterjochen, zu entrechten. Endlich selber denken, statt anderen das Denken und die Definition von „Wahrheiten“ zu überlassen. Endlich das Leben selbstbestimmt in die Hand nehmen!

Aber was so hoffnungsvoll begonnen hatte, geriet schon bald auf die schiefe Bahn. Denn mit all dem „Bösen“ und all dem Machtmissbrauch unter dem Deckmantel von „Religion“ , der über so lange Zeit so unermesslichen Schaden angerichtet hatte, wurde gleichzeitig auch alles Gute und Wertvolle, was in den allerersten Anfängen religiösen Denkens und religiöser Bewegungen gelegen haben mag, unterschiedslos über Bord geworfen. Blind geworden durch einen unbändigen, geradezu euphorischen Fortschrittsglauben, durch die Illusion unbegrenzter Machbarkeit und die Lösbarkeit jedes noch so kleinen oder grossen Problems der Welt durch rein ökonomische oder technologische Mittel, ging der Blick gänzlich verloren auf Werte, die im Zusammenleben von Menschen über Jahrtausende ganz selbstverständlich gewesen waren: An erster Stelle die Verbundenheit mit der Natur, aber auch die Gewissheit, dass Menschen nicht primär voneinander unabhängige Einzelwesen sind, sondern stets Teile kleinerer und grösserer Gemeinschaften, und dass alles mit allem verbunden ist in einem grossen Ganzen, in einer „göttlichen“ Ordnung. Und dass es keinem einzigen Individuum wirklich gut gehen kann, solange es nicht auch der Gemeinschaft, der es angehört – und das ist letztlich die Gemeinschaft sämtlicher Lebewesen auf diesem Planeten über alle Grenzen hinweg – ebenfalls gut geht.

Wir haben uns von alten Mächten nur auf den ersten Blick und nur scheinbar befreit. Tatsächlich aber haben wir uns in tausenderlei neue Abhängigkeiten begeben, die möglicherweise fast noch verheerender und gefährlicher sind als alle früheren Abhängigkeiten, stehen wir als Menschheit heute doch zum ersten Mal in der Geschichte vor der ganz realen Gefahr, uns selber für immer auszulöschen, sei es durch die systematische Vernichtung unserer existenziellen Lebensgrundlagen, sei es durch einen alles vernichtenden dritten Weltkrieg.

Scheinbar haben wir die Religionen und alles Alte, Spirituelle, „Nichtwissenschaftliche“ und nicht unmittelbar ökonomischen Zwecken Dienende „überwunden“, gleichzeitig aber damit das Feld geöffnet für etwas, was man als „neue Religion“ bezeichnen muss, einen neuen, völlig wahnwitzigen und durch und durch „irrationalen“ Glauben. Es ist die Religion des Kapitalismus, die uns heute beherrscht, mit allen ihren Widersprüchen, Lügen und falschen Heilsversprechen vom ewigen Glück durch möglichst grossen und immer weiter wachsenden materiellen Besitz, errungen in einem immer gnadenloseren Kampf aller gegen alle, in einer Welt, in der die sozialen Unterschiede zwischen den Profitierenden und den Ausgebeuteten grösser sind als in der gesamten Menschheitsgeschichte je zuvor, und laufend noch grösser werden. Und diese neue „Religion“, die Religion des Kapitalismus, ist ganz und gar nicht harmloser als frühere Religionen, sondern, im Gegenteil, noch viel heimtückischer und gefährlicher. Denn während in früheren Religionen Missstände meistens früher oder später ans Tageslicht kamen und den Menschen durch kritische Geister ihre Abhängigkeiten und Fremdbestimmungen vielfach bewusst wurden – und damit gesellschaftliche Emanzipationsprozesse in Gang gesetzt wurden – , bleibt die Religion des Kapitalismus nahezu unangetastet, so sehr ist sie bereits von der weit überwiegenden Mehrheit der Menschen – selbst von den am meisten Benachteiligten und an den Rand Gedrängten – dermassen tief verinnerlicht, dass sich kaum noch irgendwer eine Welt vorzustellen vermag ausserhalb des Kapitalismus. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit hat es eine Religion geschafft, dass sich der Mensch – sich scheinbar völlig „frei“ fühlend – dennoch in totaler Fremdbestimmung und Selbstverleugnung hat dazu abrichten lassen, zum Werkzeug seiner eigenen Selbstzerstörung zu werden.

Vor sieben Jahren wollte ich schreiben: Schafft auch die letzten Überbleibsel der Religionen ab, so wie es John Lennon 1971 in seinem legendären Song „Imagine“ erträumt: „Imagine there’s no heaven, no hell, only sky, all the people living for today, and no religion, too.“ Heute schreibe ich: Nur die Rückbesinnung auf die ursprünglichen Wurzeln religiösen Denkens und Empfindens in ihren natürlichen Ursprüngen sozialer Gemeinschaften und ihrer Naturverbundenheit können die Menschheit vor ihrem Untergang bewahren. Ohne Religion – im Sinne eines allgemeingültigen moralischen Kompasses – hat die Menschheit keine Zukunft.

Es ist dieser moralische Kompass, der in einem Zeitalter überbordendster Scheinfreiheiten, die sich alle über kurz oder lang als Kräfte der Selbstzerstörung entpuppen werden, ganz und gar abhanden gekommen ist. Was zählt, ist nur noch die „Selbstoptimierung“ – egal, mit was für noch so schädlichen Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben und die gemeinsame Zukunft der Menschheit dies verbunden ist. Seit die britische Premierministerin und Vordenkerin des Neoliberalismus, der letzten und perversesten Stufe des Kapitalismus, im Jahre 1987 vorgebetet hatte, es gäbe „nur Individuen, keine Gesellschaft“, beten fast alle politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Wortführerinnen und Wortführer weltweit ihr das nach. Gesamtgesellschaftliche und historische Zusammenhänge aufzudecken, gilt mittlerweile nachgerade schon fast als Teufelswerk, zu sehr würde es das bereits kaum je noch kritisch hinterfragte und zur absoluten „Wahrheit“ hochstilisierte Menschen- und Weltbild zerstören, wonach jede „böse“ Tat, jede Form von Gewalt oder Kriminalität stets nur als Tat „böser“ Einzelmenschen betrachtet wird, die man hierfür so schnell und hart wie nur möglich bestrafen, therapieren, wegsperren, aussondern oder ausschaffen muss – als gäbe es nicht stets eine Wechselwirkung zwischen der einzelnen Tat und dem Umfeld, in der sie geschieht, eine stete Wechselwirkung zwischen – meist öffentlich sichtbarer – „Individualgewalt“ und – meist verborgener und weitgehend unsichtbarer – „Systemgewalt“.

Nicht einmal an den Universitäten, dereinst Kristallisationspunkte von Aufklärung, Wissensförderung und gesellschaftlichem Fortschritt, wird Denken in gesellschaftlichen und historischen Zusammenhängen heute noch gelehrt. Dort wird nur noch gelehrt, wie man mit dem geringstmöglichen Aufwand möglichst weit auf seiner Karriereleiter emporzuklettern vermag, um sich dereinst ein möglichst „genussreiches“ Leben in der Welt der Schönen und Reichen leisten zu können, fernab von den Sorgen und Nöten der übrigen 99 Prozent der Weltbevölkerung.

Es gab eine Zeit, da man Ärzte, insbesondere männliche, hoch spezialisierte und entsprechend gut bezahlte, als „Götter in Weiss“ zu bezeichnen pflegte – anspielend darauf, dass ihr meist einseitig akademisches Wissen oft in krassem Widerspruch stand zu über lange Zeit bewährten Traditionen aus der mehrheitlich von Frauen praktizierten Natur-, Haus- und Volksmedizin. Heute gibt es nicht nur Götter in Weiss, sondern auch in allen anderen Farben, in der Politik, an den Universitäten, in unzähligen „Fachorganisationen“, Beratungsfirmen, in den HR-Departementen fast jeder grösseren Firma, an sämtlichen Ausbildungs- und Weiterbildungsstätten, in einer fast unendlich verästelten, ebenfalls in reinem Kosten-Nutzen-Kalkül erstickten Gesundheitsindustrie, in medizinischen, naturwissenschaftlichen und technologischen Entwicklungslabors und in der Forschung im Allgemeinen, auf den Arbeits-, Sozial- und Migrationsämtern, im Asylwesen, auf psychologischen und Lebensberatungsstellen, in Entzugs- und Burnoutkliniken, in der Psychiatrie. Doch niemand kommt mehr auf die Idee, sie als „Götter“ zu bezeichnen, so sehr überstrahlt ihr Nimbus als „Expertinnen“ und „Experten“ für jeglichen nur erdenkbaren Lebensbereich alles andere. Kein Zeitungsartikel, kein Radiointerview, keine TV-Dokumentation, in der nicht früher oder später ein „Experte“ zitiert oder befragt wird. Er kann die dümmsten und banalsten „Weisheiten“ von sich geben und, meistens mit einer riesigen, beeindruckenden Bücherwand im Hintergrund, die seinen „Bildungsgrad“ dokumentieren soll, Dinge erzählen, die bald jedes Kind schon weiss und die man, auch ohne jahrelang studiert zu haben, meist mit ein bisschen gesundem Menschenverstand selber herausfinden kann. Dennoch hat der Experte stets das letzte Wort. Wenn er das Thema abgesegnet hat, ist alles gut und es kann zum nächsten Thema weitergeschritten werden.

Hören wir den „Expertinnen“ und „Experten“ aber aufmerksam zu, stellen wir unweigerlich fest, dass sie immer die gleichen Worthülsen und Denkmuster in ihren eigenen und allen anderen „Expertenkreisen“ weiterdrehen. Kapitalistisches, rein individualistisches, unbeirrt wachstumsgläubiges und auf simple Kosten-Nutzen-Erwägungen reduziertes Denken ist das Grundmodell, in der sich fast alle „Expertinnen“ und „Experten“ bewegen, als wären niemals auch radikale Alternativen dazu denkbar. Sie scheinen nicht einmal im Traum auf den Gedanken zu kommen, aus den einzelnen Kästchen, die ihnen vom kapitalistischen, globalisierten Gesamtsystem zugewiesen wurden, auszubrechen, um endlich all die Widersprüche, Selbsttäuschungen und Lügen, in denen sie sich verfangen haben, ans Tageslicht zu bringen. Sie gleichen den Priestern der katholischen Kirche zu der Zeit, als sich das „gemeine“ Volk in den Kirchenbänken Predigten in ausschliesslich lateinischer Sprache anhören musste, von denen niemand auch nur ein einziges Wort verstand. Nur dass die heutigen „Priester“, die Priester des Kapitalismus, hierfür nicht mehr die lateinische Sprache verwenden, sondern die scheinbar „wertfreie“ Sprache der „reinen“ Wissenschaften, angefüllt mit möglichst vielen Fremdwörtern und Scheinwahrheiten, die sie sich im Laufe vieler Jahre akademischer „Bildung“ einverleibt haben und nun diensteifrig nachbeten wie gut auswendig gelernte Bibeltexte.

Wie wenig sich all die „Experten“ inhaltlich voneinander unterscheiden, wie weit sie bloss ihre Glaubensbekenntnisse gegenseitig nachbeten und wie wenig echte Kreativität und freies, systemunabhängiges Denken übrig geblieben sind, zeigt sich etwa darin, dass es beispielsweise von all den Tausenden „Verkehrsexperten“, die rund um die Uhr in den Medien zu hören sind, nicht einen Einzigen gibt, der die Frage aufwerfen würde, ob es nicht endlich an der Zeit wäre, den Besitz eines privaten Automobils grundsätzlich in Frage zu stellen – obwohl all die „Experten“ eigentlich schon längst wissen müssen, dass sich die in den „fortschrittlichen“ Ländern des Westens etablierte Grundüberzeugung, wonach ein Familienleben ohne privates Auto kaum denkbar sei, augenblicklich als totale Illusion erweisen muss, wollten wir diese Annahme als weltweit geltendes „Menschenrecht“ postulieren. Lieber diskutieren sie endlos über Vor- und Nachteile von Tempo-30-Zonen, über Vor- und Nachteile vier- oder sechsspuriger Autobahnen oder schlagen sich gegenseitig alle möglichen und unmöglichen Argumente für oder gegen Elektromobile um den Kopf – viele werden dabei nicht einmal müde, die „Umweltverträglichkeit“ von Elektromobilen in alle Himmel hinaufzuloben, und scheinen sich keinen Deut darum zu kümmern, dass gleichzeitig beispielsweise in der spanischen Extremadura Hunderte Hektaren Olivenwälder zerstört werden und an zahlreichen anderen Orten der Welt gerade immer noch blutigste Kriege geführt werden, um die für den Antrieb der angeblich „umweltverträglichen“ und „nachhaltigen“ Fahrzeuge unerlässlichen Seltenen Erden zu gewinnen.

Auch die sogenannten „Gesundheitsexperten“. Sie streiten sich über Leistungskataloge, Kosten-Nutzen-Optimierung, Krankenversicherungsmodelle, Spitalschliessungen. Aber ich habe noch kaum je von einem Gesundheitsexperten gehört, der mal die ganz grundsätzliche Frage in den Raum gestellt hätte, ob es nicht letztlich die gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen und Zwänge sind, die mit der zunehmenden Vereinsamung der Menschen, dem wachsenden Leistungsdruck in den Schulen und am Arbeitsplatz, der Missachtung zutiefst menschlicher Grundbedürfnisse wie jener nach Wertschätzung und Anerkennung sowie der an allen Ecken und Enden propagierten, letztlich nie gänzlich erfüllbaren „Selbstoptimierung“ dazu führen, dass immer mehr Menschen psychisch und physisch krank werden und die Gesundheitskosten dadurch immer weiter in die Höhe getrieben werden. Auch die weit überwiegende Mehrheit der sogenannten „Bildungsexperten“ drehen nur immer weiter und weiter an den kranken Schrauben eines kranken Schulsystems, statt endlich den überfälligen Schluss zu ziehen, dass es nicht mehr länger darum gehen darf – die Ergebnisse sind dermassen ineffizient, kostspielig und ernüchternd -, Kinder und Jugendliche mit immer grösserem Aufwand zu „therapieren“ und in das System einzupassen, sondern es endlich darum gehen müsste, eine radikale Therapie des gesamten Schul- und Bildungssystems in Angriff zu nehmen. Fast alle der sogenannten „Wirtschaftsexperten“ sind ebenfalls immer noch und immer mehr in der selbstzerstörerischen Ideologie eines immerwährenden Wirtschaftswachstums gefangen und schauen nahezu tatenlos zu, wie eine immer grössere Menge an Luxusgütern produziert werden, die längst schon niemand mehr wirklich braucht und die nur mit immer noch kostspieligeren, aufwendigeren und aggressiveren Werbemethoden abgesetzt werden können, bevor das meiste davon früher oder später ohnehin im Müll landet. Auch ist kaum je ein Wirtschaftsexperte anzutreffen, der knallhart auf den Tisch legen würde, dass der tägliche Hungertod von weltweit über 15’000 Kindern unter fünf Jahren und die unter ihrer Last fast zusammenbrechenden Verkaufsregale in den westlichen Supermärkten nicht voneinander unabhängige Zufälligkeiten sind, sondern die ganz direkte und logische Folge eines Wirtschaftssystems, in dem die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo multinationale Konzerne und die globalen Eliten damit am meisten Geld verdienen können. Ebenso die sogenannten „Energieexperten“: Sie streiten bloss darüber, ob zukünftig vor allem der Ausbau von Solarenergie, Wasserkraft, Windenergie oder Atomkraft vermehrt gefördert werden soll, aber es gibt fast keinen Einzigen, der die ganz grundsätzliche, alles entscheidende Frage aufwirft, ob das „Energieproblem“ nicht am einfachsten in der Weise gelöst werden könnte, dass man auf alle unnötigen Luxusansprüche verzichten und den Energieverbrauch auf jenes Minimum reduzieren würde, das auch längerfristig im Einklang steht mit dem, was natürliche Energiequellen, ohne jegliche schädliche Auswirkung auf die Umwelt, zu produzieren vermögen. Auch die sogenannten „Finanzexperten“ rennen nahezu ausschliesslich dem Phantom eines sich selber beständig optimierenden globalen Geldsystems hinterher und verschliessen sich partout der Erkenntnis, dass das Eis, auf welchem dies alles in immer horrenderem Tempo aufgebaut wird, immer dünner wird und entweder das Eis oder das ganze Kartenhaus, das auf ihm schon bis in den Himmel und darüber hinaus aufgetürmt ist, unweigerlich eines Tages zusammenbrechen muss. Und selbst unter den sogenannten „Sicherheitsexperten“ ist kaum je auch nur ein Einziger anzutreffen, der öffentlich erklären würde, dass dauerhafte Sicherheit niemals in einer Welt gegenseitiger Angstmacherei, Aufrüstung und immer grösserer, gefährlicherer und kostspieligerer Waffenarsenale entstehen kann, sondern nur in einer Welt gegenseitigen Dialogs, durch Völkerverständnis und grenzen-lose soziale Gerechtigkeit, ohne eine einzige Waffe und ohne eine einzige Armee. Ist doch, wie selbst der ehemalige US-General Dwight D. Eisenhower einmal sagte, „jede Kanone, die gebaut wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete letztlich ein Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein, sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnungen ihrer Kinder.“

Alle nur erdenkbaren Fragen werden gestellt und diskutiert, nur die wichtigste nicht: Die Frage nach dem Sinn von allem. Es ist wie ein ausser Rand und Band geratener Wettlauf, der die Menschen in immer höherem Tempo dazu zwingt, entweder ihre allerletzten Kräfte aufzubrauchen, um mit dem wachsenden Tempo mithalten zu können, oder aber, für immer auf der Strecke liegen zu bleiben. Doch niemand ruft „Stopp, es ist genug, wir brauchen eine Pause!“ Niemand zieht im Zug, der sich in immer schnellerem Tempo dem Abgrund nähert, die Notbremse. Niemand stellt die Frage, worin denn der Sinn von allem, der innerste Grund und die innerste Motivation dieses Ziels besteht, dem wir alle, zunehmend blindlings, hinterherjagen. Schau in die Gesichter der jungen Männer und Frauen, die allmorgendlich auf den Bahnhöfen zu den Zügen rennen, um rechtzeitig am Arbeitsplatz oder in der Schule zu sein. Ihre Blicke sind leer, als würden sie in unsichtbarer Ferne etwas suchen, was es dort gar nicht gibt. Kaum sitzen sie im Zugabteil, reissen auch noch die Allerletzten ihre Handys hervor, keiner spricht mit dem andern, alle starren auf 50 Quadratzentimeter Bildfläche, als ob dort eines Tages vielleicht doch noch die Antwort auf die Frage nach dem Sinn von allem erscheinen würde. Aber sie erscheint nicht, rückt bloss in immer noch weitere Ferne. In einer Welt, in welcher der Sinn von allem ganz grundsätzlich abhanden gekommen ist und die bereits vorhandenen Abgründe nur immer noch tiefer und tiefer werden.

Eigentlich wäre jetzt der Moment der letzten Chance gekommen. Eigentlich müssten jetzt die allerletzten verbliebenen Reste von Phantasie, Kreativität und Lebensweisheiten aus früheren Zeiten und Kulturen endlich aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen und, bevor der Zug endgültig in den Abgrund rast, dazu helfen, das Steuer herumreissen. Denn „der Kapitalismus“, wie es der französische Philosoph Lucien Sève formulierte, „wird nicht von selbst zusammenbrechen, er hat noch die Kraft, uns alle mit in den Tod zu reissen, wie der lebensmüde Flugzeugpilot seine Passagiere. Wir müssen das Cockpit stürmen, um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.“

Doch was geschieht? Als hätten die blindgewordenen Priester des Kapitalismus geahnt, dass schon bald Kräfte wiedererwachen könnten, um ihrem Werk ein Ende zu bereiten, ist ein scheinbar „neues“, tatsächlich aber hoffnungslos veraltetes „Denkmodell“ in die Welt gesetzt worden, das, wie alles im Kapitalismus, auf den ersten Blick zwar grenzenlos faszinierend und verheissungsvoll erscheint, gleichzeitig sich aber auf den zweiten Blick als das möglicherweise raffinierteste und gefährlichste Instrument erweisen könnte, um dem menschlichen Leben in Verbundenheit, Sinn und Gemeinschaft auf diesem Planeten endgültig den Garaus zu machen. Es ist das Denkmodell einer sogenannten „Künstlichen Intelligenz“, die sich, so ihre Erfinder und Propagandisten, dereinst zu einer dermassen unübertrefflichen, alle bisherigen Grenzen sprengenden Perfektion weiterentwickeln könnte, dass alles, was mit „natürlicher“ Intelligenz zu tun hat, ganz und gar überflüssig geworden sein wird. Nicht irgendein Psychopath, sondern ein ganz biederer Professor an einer schweizerischen Universität brachte es unlängst mit dieser Aussage auf den Punkt: Die Künstliche Intelligenz werde schon in wenigen Jahren dermassen gewaltige Fortschritte machen, dass sie sich unweigerlich im Universum weiterverbreiten und auf anderen Planeten neue Zivilisationen aufbauen werde, wodurch die bestehende Zivilisation auf dem Planeten Erde hinfällig geworden sein werde. Ein bisschen weniger krass meinte Bill Gates, „schon in zehn Jahren“ würden „Menschen für die meisten Dinge nicht mehr benötigt“.

Doch was ist die „Künstliche Intelligenz“ in ihrem tiefsten Wesen? Sie ist nicht weniger als das Ende der Geschichte. Denn alles, was „Künstliche Intelligenz“ beinhaltet, ist auf die Vergangenheit ausgerichtet, ein milliardenfaches Sammelsurium von allem, was je gedacht und geschrieben wurde, eine milliardenfache Buchstabensuppe, die man zwar, so oft man will, von einem Teller in den anderen giessen kann, deren Inhalt dennoch stets aus den immer wieder gleichen Buchstaben bestehen bleibt, die sich milliardenfach miteinander vermischen, ohne dass auch nur ein einziger neuer dazu käme, ein bis zu den höchsten Wolken reichender Tempel, eine Bibliothek gigantischsten Ausmasses, in der alle Bücher der Vergangenheit aufeinandergestapelt sind, ohne dass auch nur der winzigste Platz frei bliebe für ein von Grund auf neues, noch nie geschriebenes Buch. Die systematische, mit nie dagewesenem Eifer und einem alle Grenzen sprengenden Aufwand an Geld, Zeit und Energie betriebene Verhinderung von Zukunft. Eine umfassende Bankrotterklärung jeglicher echter, natürlicher Intelligenz, geht doch der „moderne“, KI-gläubige Mensch davon aus, dass die Menschen während Tausenden von Jahren genug gedacht, aufgeschrieben und erfunden haben, genug kreativ gewesen sind. Was soll er sich weiter mit solchen unnötigen und mühsamen Dingen herumplagen. Er kann doch jetzt all das der „Künstlichen Intelligenz“ überlassen und sich selber angenehmeren, weniger anstrengenden Aktivitäten hingeben, die seine Gehirnzellen nicht mehr so strapazieren, wie das während Jahrtausenden der Fall war.

Die fast schon religiös anmutende Ehrfurcht und das Staunen über die meist überaus dürftigen und häufig fehlerhaften „Ergebnisse“ und Produkte der „Künstlichen Intelligenz“ lassen sich wohl nur damit erklären, dass Menschen, die sich von diesen Wellen des Staunens und der Ehrfurcht dermassen euphorisiert mitreissen lassen, schon längst zuvor jegliches kritisches Bewusstsein verloren haben müssen. Das geschah nicht von einem Tag auf den andern. Es brauchte eine lange Vorbereitungszeit, bis all die Lügen und all die falschen Heilsversprechen des Kapitalismus so tief in die Seelen der Menschen eingedrungen waren, dass ihnen nun schon lange gar nicht mehr bewusst ist, dass sie sich nicht mehr selber bewegen, sondern durch unsichtbare Fäden, gleich Marionetten, von ferner Hand so gesteuert werden, wie es ihren weit über ihnen thronenden, unsichtbaren Puppenspielern gefällt. Heute sind es „Ökonomen“ oder „Anlageberater“, die sich als Puppenspieler betätigen, morgen irgendein findiger Kopf, der ein verrücktes neues, völlig unnützes Ding erfindet, übermorgen sind es dann vielleicht ausschliesslich nur noch die Priester der „Künstlichen Intelligenz“, mit der selbst die teuflischsten Waffensysteme dermassen systematisch bis zur letzten „Perfektion“ gefüttert werden, dass es dann irgendeines Tages vielleicht nicht einmal mehr ein „richtiger“ Mensch ist, der den Befehl zum Beginn des letzten globalen Vernichtungskriegs geben wird, sondern bloss sein ihm bis in alle Einzelheiten gleichendes digitales Ebenbild. „Die perfekte Diktatur“, so der britische Gesellschaftskritiker Aldous Huxley, Autor des 1932 erschienenen Zukunftsromans „Schöne neue Welt“, dessen Botschaft inzwischen von der Wirklichkeit bereits längst übertroffen worden ist, „wird den Anschein einer Demokratie machen, ein Gefängnis ohne Mauern, in dem die Gefangenen nicht einmal davon träumen auszubrechen. Es ist ein System der Sklaverei, bei dem die Sklaven dank Konsum und Unterhaltung ihre Liebe zur Sklaverei perfektioniert haben.“

Ja, und genau deshalb brauchen wir die Religion mehr denn je. Freilich nicht jene Form von Religion, die in Form von künstlich aufgebauten Machtsystemen Menschen unterdrückt, ausbeutet, ausgrenzt oder entrechtet. Sondern jene Form von Religion, die in den tiefsten Wurzeln sämtlicher in der Menschheitsgeschichte entstandener Kulturen zu finden ist und mit dem ganz praktischen Überleben menschlicher Existenz zu tun hat: Mit der Verbundenheit mit der Natur, mit dem Respekt gegenüber den natürlichen Grenzen irdischer Ressourcen, mit der Solidarität der Starken mit den Schwachen, mit der Philosophie des Teilens anstelle der Raffgier, mit Tugenden wie Bedächtigkeit, Musse, Vertrauen, Bescheidenheit und Ehrlichkeit.

Es ist, einfach gesagt, die Liebe. Wir müssen auch gar nicht so weit suchen, sondern können bei unserer eigenen Religion beginnen, der christlichen. Nehmen wir das, was Jesus sagte, ernst, dann ist es ganz einfach: „Liebe deine Nächsten wie dich selbst.“ In diesen wenigen Worten liegt eigentlich schon alles. Jedes Kind, das geboren wird, trägt diese unendliche Sehnsucht in sich, geliebt zu werden. Und wird diese Liebessehnsucht erfüllt, dann wird dieses Kind auch in seinem späteren Leben andere Menschen ebenso lieben können. Es ist so etwas wie die Erinnerung an ein Paradies, die jedes Kind, das die Welt betritt, noch zutiefst in sich trägt, anders kann man sich diese unendliche Liebessehnsucht wohl kaum erklären. Das Kind weiss, dass eine Welt voller Frieden, Gerechtigkeit und Liebe möglich ist, weil es diese Welt schon vor seiner Geburt erleben durfte, und es wird alles daran setzen, die Welt, in die es geboren wurde, in der Weise zu verändern, dass sie immer mehr und mehr jenem Idealzustand des Paradieses näher kommt. „Drei Dinge“, sagte der italienische Dichter Dante Alighieri, „sind uns aus dem Paradies geblieben: Kinder, Blumen und Sterne.“

Es war wahrscheinlich die wichtigste und zugleich die am meisten missverstandene und missbrauchte Botschaft von Jesus, als er sagte: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr niemals ins Himmelreich kommen.“ Mit jedem neu geborenen Kind – und genau an diesem Punkt werden wir mit reinem „Vernunftdenken“ ohne ein Mindestmass an „religiösem“ Empfinden schlicht und einfach nicht mehr weiterkommen -, mit jedem neu geborenen Kind gibt uns der „Schöpfer“ oder die „Schöpferin“ oder der „liebe Gott“ oder wie immer wieder dieses Wesen nennen möchten, unermüdlich stets von Neuem die Chance, alles Bisherige auf den Kopf zu stellen, die Welt neu zu denken und neu zu leben. Diese Botschaft war so faszinierend, so befreiend, so hoffnungsvoll, für die Mächtigen jener Zeit aber zugleich so gefährlich, dass sie nichts anderes wussten, als ihr eine der grössten Lügen in der Geschichte der Menschheit entgegenzustellen, die Lüge nämlich, dass die Verwirklichung des Paradieses auf Erden gar nicht möglich sei, sondern der Mensch sich den Zugang zu dieser paradiesischen Zukunft erst im „Jenseits“, nach seinem Tode, verschaffen könne, und nur dadurch, dass er sich von früh bis spät abrackere, auf jeglichen unnötigen Lebensgenuss verzichte und seinen Obrigen stets widerspruchslos Gehorsam leiste.

Diese Lüge freilich schien noch nicht genug Wirkung zu zeigen und so erfanden die Mächtigen jener Zeit eine zweite, fast noch verhängnisvollere: Die Lüge von der „Erbsünde“ nämlich, die absolut verrückte und frei erfundene Idee, der Mensch sei von Natur aus „sündig“, und nur dadurch zu „retten“, dass er sein ganzes Leben dem Willen „Gottes“ unterwerfe, der schliesslich seinen eigenen Sohn, Jesus, geopfert habe, um die Welt vom „Bösen“ zu befreien. Das pure Gegenteil dessen, was Jesus den Menschen verkündet hatte, als er sie aufforderte, so zu werden wie die Kinder. Hätte er das wohl so eindringlich gefordert, wenn er von irgendeiner „göttlichen“ Erkenntnis überzeugt gewesen wäre, wonach der Mensch von Natur aus „böse“ und „sündig“ sei? Nein, Jesus musste nicht sterben, um die Menschen vom „Bösen“ zu erlösen. Er musste schlicht und einfach nur deshalb sterben, weil seine Liebesbotschaft den Mächtigen seiner Zeit viel zu bedrohlich und viel zu gefährlich war und sie in ihrer Machtbesessenheit und zugleich totalen Hilflosigkeit keinen anderen Ausweg sahen, als ihn physisch zu vernichten, in der Hoffnung, damit auch seine revolutionäre Vision einer neuen Welt voller Frieden, Liebe und Gerechtigkeit auszulöschen.

Erst wenn die Trümmer der „Religionen“ in Form von Unterdrückung, Fremdbestimmung und Machtmissbrauch endgültig beiseite geräumt sind, werden wir darunter wieder die Wurzeln entdecken aus der Zeit, als alles angefangen hatte. Die Sterne, die Blumen und die Kinder. Die Quellen aus dem Paradies. Die unendliche Vielfalt, das unendliche Geheimnis der Schöpfung, das unfassbare Wunder, dass es dieser „liebe Gott“ oder wie immer wir es nennen möchten, geschafft hat und bis heute schafft, Abermilliarden von Menschenwesen erfunden zu haben, von denen kein einziges mit irgendeinem anderen identisch ist. Aber nicht nur die Menschenwesen. Milliarden und Abermilliarden von Pflanzen und Tieren, die Erde, der Regen, die Sonne, das ganze Leben, das Paradies. Eigentlich müsste es uns unweigerlich wie Schuppen von den Augen fallen, wie erbärmlich doch sämtliche Versuche noch so „hoch entwickelter“ Technologien sein müssen, diesen „lieben Gott“ nachzuahmen oder sich gar damit zu brüsten, noch vollkommenere Wesen zu schaffen, als es dieser „liebe Gott“ schon seit Jahrmillionen tut. Und erst recht müsste uns bewusst werden, in was für einer „gottlosen“ Zeit wir inzwischen angekommen sind, wenn sich Hotels, Restaurants und andere Vergnügungsstätten heute schon gegenseitig zu überbieten versuchen mit vielfältigsten Angeboten „kinderfreier“ Zeiten und Zonen. Wenn selbst dort, wo das „Leben“ in den schönsten Farben gefeiert wird, an Geburtstags- und Hochzeitsfesten, Kinder je länger je weniger erwünscht sind. Und wenn immer mehr Erwachsene sich bewusst dafür entscheiden, keine Kinder mehr zu haben, weil diese viel zu anstrengend, zu nervig, zu zeitraubend, zu kostspielig seien und den eigenen individuellen Karriereplänen zu sehr im Wege stünden.

Ohne Kinder ist alles nichts. Sie sind die wunderbarsten Quellen der Weisheit. Lassen wir uns auf sie ein, auf ihre Träume, Phantasien, Spielereien, ihr scheinbar „zweckfreies“ Tun, ihren Blick auf alles auf den ersten Blick „Unwichtige“ und „Unwesentliche“, können wir gar nicht anders, als uns immer wieder ein wenig in Richtung des „Himmelreichs“ zu öffnen und zu bewegen. Um die tiefsten Geheimnisse des Lebens kennenzulernen, gibt es keine besseren Lehrmeister als sie. Von ihnen können wir auch das vielleicht Allerwichtigste lernen, was dem Leben wieder jenen Sinn zu geben vermöchte, den viele von uns Erwachsenen so schmerzlich verloren haben: Dass Liebe etwas Allumfassendes ist. Dass zur Liebe zwischen den Menschen auch die Liebe zu den Pflanzen und Tieren gehört, zu jedem noch so winzigen Käferchen. Und dass echte Liebe auch immer mit Mitgefühl zu tun hat. Und dass es eigentlich niemandem auf der Welt wirklich ganz tief in seinem Innersten gut gehen kann, solange es nicht allen anderen Menschen, egal wie weit fort sie leben, ebenso gut geht.

Und ja, auch das noch: Liebe ist immer auch Liebe zur Wahrheit. Was für ein schöneres Bild könnte es dafür geben als die Kinder, wenn sie in ihre „Warum-Lebensphase“ eintreten. Und es muss ja etwas vom Elementarsten sein, gab es doch noch nie ein Kind, dass diese Lebensphase nicht durchschritten hätte. Es ist die Zeit, wenn das Kind unvermittelt mit irgendeiner „Warum-Frage“ beginnt: „Warum können Vögel fliegen?“. Der Papa und die Mama versuchen dann, die Frage so gut wie möglich zu beantworten. Doch unmittelbar darauf, aus der Antwort, entsteht schon wieder die nächste Warum-Frage. Alle Eltern kennen das. Es hört nicht auf. Es geht so lange, bis der Papa oder die Mama eingeschlafen ist oder entnervt dem Kind zu verstehen gibt, dass man das ja noch ins Unendliche weitertreiben könnte, aber irgendwo ist dann wieder Zeit für das Nachtessen oder Zeit, ins Bett zu gehen. Ja, es stimmt. Man könnte es endlos weitertreiben. Es ist die effizienteste Art und Weise, wie Kinder der Welt und ihren Geheimnissen auf die Spur kommen können. Es ist aber auch für die Erwachsenen eine einmalige Herausforderung, indem auch sie selber immer wieder an Grenzen stossen, an denen entweder scheinbar ganz banale Alltäglichkeiten plötzlich unendlich kompliziert erscheinen oder umgekehrt. Es gibt wohl keine andere so wirkungsvolle und tiefgehende Form gemeinsamen und gegenseitigen Lernens. Und ja: Es ist doch auch genau das, was in einer so „hoch entwickelten“ Gesellschaft wie der unseren, in der es – KI lässt grüssen – auf jede Frage eine bereits vorgefertigte Antwort gibt, so schmerzlich fehlt: Die Frage nach dem Warum, nach dem Sinn von allem. Wahrscheinlich würden uns Weisheiten nicht nur wie Kronleuchter, sondern wie ganze Milchstrassen aufgehen, wenn wir auch als Erwachsene, so wie die kleinen Kinder, zeitlebens nicht aufhören würden, einer jeden Antwort auf eine Warum-Frage sogleich eine neue Warum-Frage folgen zu lassen. So wie der Kleine Prinz in der Geschichte von Saint-Exupéry, der an einer Bahnschranke steht und sieht, wie zunächst ein vollbesetzter Zug von der einen Richtung her vorüberrast, und kurz darauf ein anderer, ebenfalls vollbesetzter, in die entgegengesetzte Richtung, und er dann fragt: „Warum sind sie schon wieder zurückgekommen, hat es ihnen dort, wo sie waren, nicht gefallen?“

Ja, die Augen der jungen Frauen und Männer, die frühmorgens zur Arbeit und zur Schule eilen, erscheinen leer. Aber das täuscht. Hinter der Leere wartet eine unendliche Sehnsucht, die Sehnsucht nach dem Paradies, die Sehnsucht nach einem Sinn von allem. Aber sie werden diesen Sinn nicht auf der 50-Quadratzentimeter-Oberfläche ihrer Handys finden. Doch das heisst nicht, dass es diesen Sinn nicht gäbe. Heerscharen von Engeln warten hinter all den Wolken, die Tag für Tag an uns vorüberziehen, darauf, dass wir unsere Herzen öffnen, die Liebe zulassen, die zerrissenen Fäden der Erinnerung ans Paradies wieder zusammenknüpfen. Die Engel wissen schon alles, sie sehen schon, was wir erst zaghaft in vagen Umrissen zu erkennen vermögen. Doch vielleicht geht es gar nicht mehr so lange, bis alles kippt. Denn auf ewig lässt sich die Sehnsucht nach dem Paradies nicht mehr unterdrücken oder in Bahnen der Selbstzerstörung weglenken. Irgendwann wird es wieder Zeit für das Leben.

Und wieder eine Schwerverletzte auf der Intensivstation: Was braucht es noch, bis dieser Wahnsinn gestoppt wird?

Peter Sutter, 14. Dezember 2025

Und wieder liegt eine schwerverletzte Skirennfahrerin nach einem fürchterlichen Sturz auf der Intensivstation: Mit 112 Stundenkilometern knallt Michelle Gisin im Abfahrtstraining von St. Moritz am 11. Dezember ungebremst in die Fangnetze. Die Folge: gravierende Verletzungen am linken Knie, Riss des vorderen Kreuzbands sowie des Innenbands, komplexe Blessuren am rechten Handgelenk, mehrere Brüche der Halswirbelsäule – ein Wunder, dass die 32Jährige nicht zeitlebens gelähmt sein wird.

2012 erleidet die 19jährige türkische Skirennfahrerin Asli Nemutlu auf einer Trainingsfahrt einen tödlichen Genickbruch. Im gleichen Jahr stürzt der kanadische Freestyle-Skier Nick Zoricic beim Zielsprung so schwer, dass er kurz darauf einem Schädel-Hirntrauma erliegt. 2024 stirbt die 19jährige Matilde Lorenzi nach dem Sturz während eines Abfahrtstrainings. Das sind nur drei von insgesamt elf Todesfällen im Verlaufe der letzten 25 Jahre. Dazu kommen unzählige Schwerverletzte, jahrelange Leidens- und Schmerzensgeschichten, zahllose irreparable Beeinträchtigungen und lebenslange Lähmungen.

Was braucht es noch, bis diesem Wahnsinn ein Ende gesetzt wird? Oder ist die Lobby der Profiteure, die unsichtbar im Hintergrund eines ausser Rand und Band geratenen Skizirkus agieren, so mächtig, dass all dies unbeschreibliche Leiden und die Gefahr lebensbedrohlicher Verletzungen bis hin zur Todesgefahr weiterhin bewusst in Kauf genommen werden?

Der 28-Punkte-Friedensplan für die Ukraine und wie er schon in der Luft zerrissen wird, bevor man ihn noch gelesen hat…

Peter Sutter, 21. November 2025

Mit einem Friedensplan in 28 Punkten will US-Präsident Donald Trump den seit dreieinhalb Jahren andauernden Ukrainekrieg beenden. Mehrere Medien, darunter das US-Nachrichtenportal „Axios“, haben den Plan veröffentlicht, der Inhalt wurde sowohl von Regierungsvertretern der USA wie auch der Ukraine bestätigt. Der ukrainische Parlamentsabgeordnete Olexij Hontscharenko, der zur Oppositionsfraktion Europäische Solidarität gehört, stellte den Plan via Telegram ins Netz.

Während die meisten europäischen Medien den Plan bereits in der Luft zerrissen haben und ihn als „Kapitulationsvertrag“ der Ukraine bezeichnen, bevor sie ihn auch nur ansatzweise der Öffentlichkeit vorgestellt haben, berichtete das deutsche „Handelsblatt“ in seiner heutigen Ausgabe vom 21. November erstaunlich sachlich und vorurteilsfrei über den Inhalt des 28-Punkte-Plans wie folgt…

Die Souveränität der Ukraine wird bestätigt. Russland, die Ukraine und Europa erklären die Konflikte der vergangenen 30 Jahre für beendet. Vereinbart wird, sich gegenseitig nicht anzugreifen. Russland und die USA sprechen wieder über nukleare Rüstungskontrolle. Die Ukraine verzichtet in ihrer Verfassung auf einen Beitritt zur Nato…  Die Nato legt sich fest, die Ukraine niemals aufzunehmen und auch keine Truppen in der Ukraine zu stationieren. Europäische Kampfjets werden in Polen stationiert. Russland soll sich per Gesetz dazu verpflichten, Aggressionen gegenüber Europa und der Ukraine abzuschwören. Die Ukraine bleibt atomwaffenfrei. Sie erhält – im Text nicht näher erläuterte – „zuverlässige Sicherheitsgarantien“ der USA, die für diese Garantien wiederum entlohnt werden… Sollte die Ukraine Russland angreifen, entfallen die Garantien. Sollte Russland die Ukraine angreifen, treten Sanktionen wieder in Kraft, Moskau verliert alle Vorrechte aus der Friedensregelung. Die Truppenstärke der ukrainischen Armee wird auf 600000 Mann begrenzt. Die Ukraine darf der EU beitreten… Eine amerikanisch-russische Arbeitsgruppe zu Sicherheitsfragen soll darüber wachen, dass die Regelungen des Abkommens eingehalten werden. Ein „Friedensrat“ unter Vorsitz von US-Präsident Donald Trump soll die Einhaltung des Abkommens garantieren… Die Krim und die ebenfalls besetzten ukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk werden als faktisch russisch anerkannt. Die ukrainische Armee räumt die Teile von Donezk, die sie jetzt noch unter Kontrolle hat – diese Teile sollen fortan als demilitarisierte Pufferzone gelten und als russisches Gebiet anerkannt werden… In den südlichen Gebieten Saporischschja und Cherson wird der aktuelle Frontverlauf als Trennlinie festgelegt. Die russische Armee räumt die Brückenköpfe in den Regionen Charkiw und Sumy, die sie derzeit besetzt hält… Russland verzichtet auf weitere Gebietsansprüche. Territorialfragen dürfen nur friedlich gelöst werden, sonst sind alle Sicherheitsgarantien nichtig. Das Atomkraftwerk Saporischschja wird der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA unterstellt, der dort produzierte Strom wird zu gleichen Teilen zwischen der Ukraine und Russland aufgeteilt… Es wird ein internationaler Fonds zum Wiederaufbau und zur Entwicklung der ukrainischen Infrastruktur gegründet. Die USA helfen besonders beim Ausbau der ukrainischen Gasindustrie. 100 Milliarden US-Dollar des beschlagnahmten russischen Staatsvermögens fliessen in von den USA angeführte Bemühungen für Wiederaufbau und Investitionen in der Ukraine. Die USA erhalten 50 Prozent möglicher Gewinne… Die EU steuert 100 Milliarden US-Dollar zum Wiederaufbau bei und gibt beschlagnahmtes russisches Vermögen wieder frei. Das restliche russische Vermögen soll in gemeinsame Investitionen und Projekte mit den USA fliessen, die als Anreiz dafür dienen, den Konflikt nicht aufs Neue anzufachen… Russland wird wieder in die Weltwirtschaft integriert und eingeladen, der Gruppe führender Industrienationen nach seinem zeitweisen Ausschluss erneut beizutreten – womit aus den G7 wieder die G8 würden. Mit den USA wird eine langfristige Wirtschaftskooperation eingegangen, die unter anderem Energiefragen und die Ausbeutung seltener Erden in der Arktis umfasst… Gefangene und Tote werden nach dem Prinzip „Alle gegen alle“ ausgetauscht. Zivilisten werden freigelassen, Familien zusammengeführt. Für alle am Krieg Beteiligten gibt es eine umfassende Amnestie. Beide Seiten verpflichten sich, in Schulen gegenseitiges Verständnis und Toleranz zu lehren. Die Ukraine sichert die sprachlichen und religiösen Rechte von Minderheiten nach EU-Standards zu… In der Ukraine finden 100 Tage nach Abschluss des Abkommens Wahlen statt. Wenn alle Seiten der Einigung zugestimmt haben und der vereinbarte militärische Rückzug abgeschlossen ist, beginnt der Waffenstillstand.

Es lässt sich wohl kaum bestreiten, dass dieser Plan – der ja vorerst nur ein Vorschlag ist und dessen Details im Einzelnen noch auszuhandeln sind – eine brauchbare Grundlage bilden kann für eine friedliche Lösung dieses Konflikts, dem bereits viel zu viele Menschen, nämlich rund 1,4 Millionen – über 350’000 Tote und über eine Million Verletzte – zum Opfer gefallen sind. Über allem anderen muss das Ziel stehen, den Krieg so rasch wie möglich zu beenden, um weitere Opfer zu verhindern, alles andere ist sekundär. Genau in diese Richtung zielt das vorliegende Papier: Vereinbart werden sollen als Hauptpunkte, sich gegenseitig nicht anzugreifen, die Konflikte der vergangenen 30 Jahre als beendet zu erklären, die Souveränität der Ukraine völkerrechtlich zu garantieren und einen Friedensrat zwecks Einhaltung des Abkommens zu installieren. Beide Seiten haben Kröten zu schlucken: Die Ukraine soll auf einen Beitritt zur NATO verzichten, keine Stationierung von NATO-Truppen zulassen, seine Armee auf 600’000 Mann begrenzen und die Krim sowie die Gebiete Donezk und Luhansk als faktisch russisch anerkennen. Im Gegenzug soll Russland die Stationierung europäischer Kampfjets in Polen zulassen, einen Beitritt der Ukraine zur EU akzeptieren und die derzeit noch besetzten Brückenköpfe in den Regionen Charkiw und Sumy räumen. Weiter sollen Russland und die Ukraine wieder über nukleare Rüstungskontrolle verhandeln und weitere Territorialfragen nur noch friedlich lösen. Der im Atomkraftwerk Saporischscha produzierte Strom soll zu gleichen Teilen Russland und der Ukraine zur Verfügung gestellt werden. Gefangene und Tote sollen nach dem Prinzip „alle gegen alle“ ausgetauscht werden. Zivilpersonen werden freigelassen, Familien zusammengeführt. Für alle am Krieg beteiligten gibt es eine Amnestie und in den Schulen sollen gegenseitiges Verständnis und Toleranz gelehrt werden.

Ganz anders als im deutschen „Handelsblatt“ tönte es heute Morgen in den 7-Uhr-Nachrichten des Schweizer Radios SRF. Schon in der Einleitung – die Hörerinnen und Hörer haben zu diesem Zeitpunkt nicht einen blassen Schimmer, was in dem 28-Punkte-Plan drinsteht – heisst es, dass der vorliegende Plan „wenig Chancen* hat. Unmittelbar darauf wird eine „Expertin“ zugeschaltet, die das, was noch niemand kennt, auf ihre ganz „persönliche“ Weise kommentieren wird. Es handelt sich um Marina Henke, Professorin für internationale Sicherheit an der Hertie School in Berlin. Mit hastiger, schriller, sich überschlagender, stellenweise kaum verständlicher Stimme sagt sie…

Überraschenderweise stehen die Chancen, dass die EU den amerikanisch-russischen Friedensplan noch rechtzeitig stoppen kann, gut. Weil natürlich diese ganzen Gelder, die die Ukraine gerade bekommt, die kommen nämlich mittlerweile alle aus Europa. Also diese Androhung, was Amerika immer gemacht hat, zu sagen: Wenn ihr in der Ukraine nicht genau das macht, was wir wollen, dann bekommt ihr keine Gelder mehr, diese Drohung existiert mittlerweile gar nicht mehr, also nicht einmal mehr eine Karte, die Amerika spielen kann. Diese Karten sind jetzt in den Händen von den Europäern. Das ganze Geld, das in die Ukraine fliesst, kommt gerade aus Europa. Amerika spielt zwar immer noch eine Rolle, was die Nachrichtendienste angeht, und das ist immer noch eine wichtige Rolle. Natürlich können sie der Ukraine drohen, diese Informationen, gerade was die Fronten angeht, nicht mehr weiterzuleiten. Aber wirklich diese finanzielle Androhung, dass diese finanzielle Hilfe nicht mehr kommt, diese sehr mächtige Karte, die können sie mittlerweile nicht mehr spielen. Ich denke im Endeffekt, dass dieser Plan auch wieder zerfällt, denn es ist einfach: Russland will keinen Frieden und natürlich muss man auch verstehen von der europäischen Seite, wenn jetzt da irgendwie die Front eingefroren wird, aber zu Gunsten von Russland, und das ist das, was de facto gerade auf dem Tisch liegt, dann wird das in Russland natürlich in gewisser Weise auch einen Aufwind produzieren, und eine gewisse Arroganz, und diese kann sehr leicht dazu führen, dass dann Russland sagt, jetzt gehen wir ins Baltikum oder jetzt greifen wir ein anderes Gebiet an, das kann auch in der Arktis sein, ein Gebiet, das unter europäischer Kontrolle steht oder unter NATO-Kontrolle. Und es hat auch in Europa niemand ein Interesse daran, dass es jetzt hier zu einem Diktatfrieden kommt, weil eben alle verstehen, wenn man diesen Frieden, diesen Gewinn Russland gibt, heisst das noch lange nicht, dass es wirklich Frieden gibt auf dem europäischen Kontinent, sondern im Gegenteil dies zu einer noch grösseren Arroganz führt in Russland und zum nächsten Angriff auf europäische Territorien bzw. NATO-Territorien.

Die Nachrichtensprecherin des Schweizer Radios enthält sich jedes weiteren Kommentars und geht zum nächsten Thema über…

Eine „Expertin“ also hat uns Schweizerinnen und Schweizer heute Morgen um sieben Uhr erklärt, worum es im 28-Punkte-Plan für eine friedliche Lösung des Ukraine-Konflikts geht und was wir davon zu halten haben. Eine „Expertin“, für die ein Krieg mit über einer Million Opfer offensichtlich so etwas ist wie ein Kartenspiel, das jetzt neu gemischt wurde. Eine „Expertin“, die offenbar schlief, als man endlich aufhörte, von „Amerika“ statt von den „USA “ zu reden, und damit endlich auch aufhörte, die USA und das ganze übrige Amerika in den gleichen Topf zu werfen. Die offensichtlich auch im Jahre 1991 schlief, als führende Politiker des Westens Russland hoch und heilig versprachen, die NATO niemals über ihre Ursprungsländer hinaus nach Osten auszudehnen. Die offensichtlich auch schlief, als Wladimir Putin im Jahre 2000, kaum an die Macht gekommen, dem Westen eine gemeinsame europäische Sicherheitsstruktur, die Auflösung der bestehenden Militärblöcke und ein Ende das Kalten Kriegs vorschlug – was zur Gänze vom Westen in Bausch und Bogen verworfen wurde. Die offensichtlich auch schlief, als im Frühjahr 2014 die reguläre ukrainische Regierung mithilfe der CIA weggeputscht wurde und die Diskriminierungen der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine immer verheerendere Ausmasse annahmen, bis hin zum Verbot ihrer eigenen Sprache, Kunst und Literatur. Die offensichtlich auch im Dezember 2021 schlief, als Putin dem Westen eine friedliche Lösung des Ukrainekonflikts vorschlug, was dieser wiederum, auch dieses Mal ohne jegliche Begründung, zurückwies. Die auch schlief, als auf der Istanbul-Konferenz vom März 2022 eine bereits pfannenfertige Friedenslösung wiederum vom Westen torpediert wurde. Und die auch dann noch schlief, als sämtliche US-Geheimdienste bereits anfangs 2025 und bis heute daran festhalten, dass es keinen einzigen Hinweis darauf gibt, Putin hätte die Absicht, eines der NATO-Länder militärisch anzugreifen.

Was haben sich die Journalisten der heutigen SRF-Morgennachrichten wohl gedacht, als sie als „Expertin“ für den Friedensplan von Donald Trump ausgerechnet eine deutsche Universitätsprofessorin anpeilten, wo doch bald jedes Kind hierzulande weiss, dass deutsche Politiker und Medien neben denen aus den baltischen Staaten zu den vehementesten Befürwortern einer nie dagewesenen militärischen Aufrüstung Europas gehören, statt sich endlich mit voller Kraft von einer völlig anachronistischen Kriegslogik zu verabschieden, um endlich, bevor alles zu spät, die Türen aufzustossen für eine neu, echte Friedenslogik des Dialogs und der Völkerverständigung? War es, als man die „Professorin für internationale Sicherheit“ aus Berlin um das Interview bat, nur Dummheit, Nachlässigkeit oder lag gar eine böse Absicht dahinter? Sind wir schon so verblendet, dass wir vor lauter „Spezialisten“ aus unserem nördlichen Nachbarsland nicht einmal mehr zu sehen vermögen, was für hervorragende Experten wir hierzulande zur Verfügung hätten, die sich allesamt während dieser entscheidenden letzten Jahrzehnte nicht etwa dem Schlafen zuwendeten, auch nicht dem erbitterten Festhalten an den Denkmustern des Kalten Kriegs, sondern die im Gegenteil das Zeitgeschehen hellwach verfolgten und mit höchster Kompetenz mitgestalteten, Aushängeschilder gutschweizerischer Kunst der Diplomatie, auf die wir eigentlich nicht genug stolz sein können und die wir eigentlich in diesen schwierigen und gefährlichen Zeiten an allen Ecken und Enden mehr denn je zu Wort kommen lassen müssten. Laurent Goetschel zum Beispiel, Politikwissenschaftler an der Universität Basel und Direktor der schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace. Oder Yves Rossier, von 2017 bis 2020 Schweizer Botschafter in Moskau. Oder Micheline Calmy-Rey, Schweizer Aussenministerin von 2003 bis 2011. Oder Thomas Greminger, einer der erfolgreichsten internationalen Diplomaten, von 2017 bis 2020 Generalsekretär der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.

Aber es kommt sogar noch schlimmer. Denn wenn man mal kurz ins Internet schaut, um sich schlau zu machen über die Hertie School, an der die besagte „Expertin“ von heute Morgen angestellt ist, dann stösst man auf folgende Informationen: Die Hertie School in Berlin wird durch eine Stiftung finanziert, welche auf die Warenhauskette Tietz zurückgeht. Diese wiederum war ursprünglich ein jüdisches Unternehmen, das von den Nationalsozialisten „arisiert“ wurde und aus dem die jüdischen Geschäftsführer hinausgedrängt wurden. Die nationalsozialistische Vorgeschichte der Hertie Stiftung und damit indirekt auch der Hertie School wurde bis heute nicht aufgearbeitet, obwohl im Jahre 2020 150 aktuelle und ehemalige Studierende der Hertie School in Berlin eine offene und verantwortungsvolle Aufarbeitung der Stiftungsgeschichte gefordert hatten.

Um Kriege vorzubereiten, wie es derzeit führende westliche, insbesondere deutsche Politiker im Bunde mit den Profitinteressen der Rüstungsindustrie tun, braucht es mindestens dreierlei: Erstens eben diese Politiker und ihre profitgetriebenen Hintermänner, zweitens eine möglichst grosse Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern, die sich manipulieren lassen, und drittens Medien, die sich längst meilenweit von den simpelsten Grundsätzen kritischer, seriöser und objektiver Berichterstattung entfernt haben.

(Diesen Artikel habe ich am 22. November 2025 mit einem kurzen Begleitschreiben an Radio SRF 1 und an die Generaldirektion SRG geschickt.)

„Unser Leben ist auseinandergebrochen“ – eine aus dem Iran in die Schweiz geflüchtete Familie soll in ein Land zurückgeschafft werden, wo ihr Gefängnis, Folter oder vielleicht sogar der Tod drohen…

Peter Sutter, 20. November 2025

Vorliegende Aufzeichnungen beruhen auf einem persönlichen Treffen am 16. November 2025 zwischen mir und der aus dem Iran in die Schweiz geflüchteten Familie J.

Der Vater A. (50 Jahre) flüchtete vor 6 Jahren in die Schweiz, seine Frau R. (46) und ihre beiden Töchter K. (25) und N. (23) vor 3 Jahren.

A. geriet aufgrund eines von ihm verfassten regimekritischen Zeitungsartikels ins Kreuzfeuer des Regimes. Um einer drohenden Inhaftierung und möglichen Todesstrafe zu entgehen, flüchtete er im Jahre 2019 über die Türkei und Italien in die Schweiz. Sein Asylgesuch wurde im Jahre 2021 abgelehnt, das Urteil wurde vom zugewiesenen Anwalt ans Bundesverwaltungsgericht weitergezogen.

A. arbeitet seit 4 Jahren als Gipser mit einer 100%-Anstellung. Er ist während dieser Zeit allen Verpflichtungen nachgekommen und hat auch seine Steuern stets fristgerecht und vollumfänglich bezahlt. Seine Arbeitgeber sprechen seinem Einsatz und seiner Zuverlässigkeit das beste Zeugnis aus.

Für seine im Iran zurückgebliebene Frau und seine beiden Töchter wurde die Situation zunehmend schwieriger. Immer wieder tauchte die Polizei auf, oft mitten in der Nacht, stets mit Masken unkenntlich gemacht. Die Mutter und ihre beiden Töchter wurden bedroht und eingeschüchtert, den Aufenthaltsort des Vaters bekannt zu geben. Von Mal zu Mal wurde die Polizeigewalt brutaler. Einmal wurde K. so lange und so heftig geschlagen, bis ihr Körper dermassen betäubt war, dass sie die Schmerzen nicht mehr empfand. Immer wieder wurden die Mutter und ihre Töchter vergewaltigt.

Schliesslich ergriffen auch die Mutter und die beiden Töchter die Flucht aus dem Iran. Sie konnten sich Reisepapiere verschaffen und flogen nach Italien, von dort mit dem Zug in die Schweiz. Auch ihr Gesuch auf Asyl wurde, wie jenes des Vaters, abgelehnt und sodann ans Bundesverwaltungsgericht weitergezogen.

Da sich die Familie J. durch den Pflichtanwalt zu wenig gut vertreten fühlte, suchten sie einen neuen Anwalt. Durch Bekannte wurde ihnen S.H. in St. Gallen empfohlen. Aufgrund eines mit ihm abgeschlossenen Vertrags sind sie seither verpflichtet, ihm monatlich 500 Franken zu überweisen. Ihr Eindruck ist jedoch, dass auch S.H., wie schon der vorherige Pflichtanwalt, keine tatsächlichen Leistungen in ihrem Asylverfahren erbringt. Briefe an ihn bleiben unbeantwortet, Telefonanrufe nimmt er nicht entgegen, ihm eingereichte Dokumente haben sie bis jetzt nicht zurückbekommen.

Entgegen dem Wunsch der beiden Töchter (zu diesem Zeitpunkt 20 und 22 Jahre alt), mit ihren Eltern zusammen wohnen zu können, wurde die Familie vorerst getrennt untergebracht, erst nach mehrmaliger Nachfrage durften sie zusammenziehen.

K. und N. setzten alles daran, in der Schweiz eine Ausbildung machen zu können. Die Hürden, eine Lehrstelle zu finden, waren riesig, doch sie gaben nicht auf. Schliesslich fand sowohl K. wie auch N. auf August 2025 eine Lehrstelle als Coiffeuse, in zwei verschiedenen Salons. Vom Lehrlingsamt wurde ihnen infolge ihrer noch nicht perfekten Deutschkenntnisse eine zweijährige EBA-Lehre empfohlen, doch die beiden gaben sich nicht damit zufrieden, wollten sich unbedingt ein höheres Ziel setzen und eine dreijährige EFZ-Lehre in Angriff nehmen. Die Geschäftsleiterinnen der beiden Salons waren beim Schnuppern und beim Vorstellungsgespräch von der Einsatzbereitschaft und dem sympathischen Auftreten der beiden so begeistert, dass schliesslich sowohl K. wie auch N. einen Lehrvertrag für die dreijährige EFZ-Lehre erhielten. Beide Geschäftsleiterinnen sind über die beiden jungen Frauen voll des Lobes, beide gehören auch in der Berufsschule zu den Besten in ihrer Klasse, beide haben aktuell einen Notendurchschnitt von über 5.0.  

Die Mutter musste sich infolge einer Brustkrebserkrankung bereits im Iran einer Chemotherapie unterziehen. Sie steht weiterhin unter ärztlicher Behandlung. Ihr Gesundheitszustand ist immer noch sehr fragil und es besteht die Gefahr eines Rezidivs. Sie fühlt sich sowohl körperlich schwach wie auch psychisch schwer belastet durch Ängste, Sorgen, Gewalterfahrungen und existenzielle Bedrohungen über so viele Jahre.

K. und N. bekennen sich zur Bahai-Religion. Es handelt sich dabei um eine weltweit verbreitete und universale Religion, die Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet wurde und darauf beruht, die Erde als «nur ein Land und alle Menschen als dessen Bürgerinnen und Bürger» zu betrachten. Mit ihrer universalen Botschaft der Liebe zwischen allen Völkern und Menschen der ganzen Erde steht die Bahai-Religion in deutlichem Widerspruch zum Fundamentalismus der iranischen Staatsführung und ist deshalb – im Gegensatz etwa zu einem christlichen Glaubensbekenntnis – im Iran verboten. (Mehr Informationen zur Situation von Anhängerinnen und Anhängern der Bahai-Religion im beigelegten Dokument aus Wikipedia.)

K. und N. haben auch schon an Demonstrationen gegen das heutige Regime Irans teilgenommen. An einer dieser Demos (in Bern) befanden sie sich unweit einer Gruppe von Israelis, die ebenfalls an dieser Demonstration teilnahmen. Es gibt ein Foto in Internet, wo man K. und N. neben einer Israelflagge sieht.

Aufgrund sämtlicher vorliegender Fakten kann man sich wohl kein einziges logisches und nachvollziehbares Argument vorstellen, das dafür sprechen könnte, der Familie J. nicht ein dauerhaftes Bleiberecht in der Schweiz zu gewähren. Erstens ist der Vater ein erklärter und öffentlich bekannter politischer Gegner des herrschenden iranischen Regimes. Die Gefahr an Leib und Leben, welcher er bereits vor sechs Jahren vor seiner Flucht ausgesetzt war, hat sich inzwischen zusätzlich massiv verschärft, insbesondere nach dem Angriff Israels auf den Iran im Juni 2025. Seither ist eine neue Repressionswelle im Gange, die alles Bisherige übertrifft. „Fast jeder und jede“, so berichtete „20minuten“ am 4.11.25, „wird der Zusammenarbeit mit Israel verdächtigt. Derzeit wird im Iran alle drei Stunden ein Gefangener gehängt.“ Gemäss IHRS, der Iran Human Rights Society, war der Oktober 2025 der „blutigste Monat für iranische Gefangene seit 1988. Mindestens 285 Gefangene, darunter vier Frauen, wurden in diesem Zeitraum getötet.“ Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie das Regime mit Herrn J. nach einer Rückschaffung in den Iran umgehen würde.

Zweitens ist der Gesundheitszustand von Frau J. aufgrund ihrer Brustkrebserkrankung nach wie vor äusserst prekär und trotz vorübergehender Erholung die Gefahr eines Rezidivs nicht ausgeschlossen. Die Leidens- und Fluchtgeschichte über so viele Jahre haben Frau J. nicht nur physisch, sondern auch psychisch dermassen zugesetzt, dass jede weitere Unsicherheit und damit verbundene Zukunftsängste unabsehbare Folgen nach sich ziehen könnten.

Drittens wären K. und N. infolge ihrer Teilnahme an regimekritischen Demonstrationen in der Schweiz nach einer Rückschaffung in den Iran höchster Gefahr ausgesetzt, insbesondere, weil es im Internet Bilder gibt, auf denen sie neben einer Flagge Israels zu sehen sind, dem Todfeind des iranischen Regimes.

Viertens würde der iranische Staat K. und N. nach einer Rückschaffung aufgrund ihrer offiziellen Zugehörigkeit zur Religion der Bahai als Menschen ohne jegliche Rechte behandeln. Da die Bahai-Religion – etwa im Gegensatz zum christlichen Glauben – im Iran verboten ist, haben deren Anhängerinnen und Anhänger keine soziale und staatliche Unterstützung, keinen Zugang zu Ausbildung und Arbeitsmarkt, dürfen keine Verträge abschliessen, keine Bankkonten eröffnen, ihre Unterschriften sind nichts wert.

Fünftens hat die Familie J. in der Zeit, die sie bisher in der Schweiz verbracht hat – der Vater seit sechs Jahren, die Mutter und die beiden Tochter seit drei Jahren -, eine sprachliche und gesellschaftliche Integrationsleistung erbracht, wie man sie sich aus Schweizer Sicht beeindruckender und erfolgreicher gar nicht vorstellen kann. Stets zur Zufriedenheit seiner Arbeitgeber ist der Vater seiner Tätigkeit als Gipser nachgekommen, hat stets pünktlich seine Steuern bezahlt und nie gab es irgendwelche Probleme im Umgang mit Behörden. Die beiden Töchter werden von ihren Vorgesetzten und den Lehrkräften der Berufsschule über alle Massen gelobt, sowohl was den Einsatz am Arbeitsplatz wie auch die schulischen Leistungen betrifft.

JA, WENN ES NACH LOGIK UND VERNUNFT GINGE, GÄBE ES WOHL NICHT DEN GERINGSTEN ZWEIFEL. MÜSSTE EINE FLÜCHTLINGSFAMILIE EIN DAUERHAFTES BLEIBERECHT IN DER SCHWEIZ BEKOMMEN UND FÜR EINE SO BEEINDRUCKENDE INTEGRATIONSLEISTUNG BELOHNT WERDEN, DANN WÄRE ES WOHL DIE FAMILIE J. AUS DEM IRAN.

Nicht zuletzt auch deshalb, weil im soeben (Ende November) von Bundesrat Beat Jans präsentierten Positionspapier der neuen schweizerischen Asylstrategie eine der vier aktuellen „Baustellen“ explizit in der Weise formuliert ist, dass insbesondere die „Integration geflüchteter Frauen in den Schweizer Arbeitsmarkt“ zu fördern sei.

DOCH LOGIK UND VERNUNFT SCHEINEN TROTZ DIESER SCHÖNEN WORTE NICHT DIE RICHTSCHNUR ZU SEIN, AN DER SICH DIE AKTUELLE SCHWEIZER ASYLPOLITIK DERZEIT ORIENTIERT: WIE EIN BLITZ AUS HEITEREM HIMMEL ERHIELT DIE FAMILIE J., DIE ZUM ERSTEN MAL NACH SO VIELEN JAHREN DES LEIDENS ERSTE ZUKUNFTSHOFFNUNG UND LEBENSPERSPEKTIVE AUFBAUEN KONNTE, AM 6. NOVEMBER 2025 FOLGENDEN BRIEF VOM STAATSSEKRETARIAT FÜR MIGRATION, ADRESSIERT AN DIE ÄLTERE TOCHTER DER FAMILIE, ÜBER WELCHE JEWEILS DIE KOMMUNIKATION ZUM SEM LÄUFT…

Nach der jüngsten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist unsere Entscheidung, Ihren Asylantrag abzulehnen und Ihre Ausweisung aus der Schweiz anzuordnen, rechtskräftig. Folglich haben Sie keinen Anspruch mehr auf Sozialleistungen gemäss Asylgesetz. Wir erinnern Sie ausserdem an Ihre Pflicht, die notwendigen Schritte zur Beschaffung von Reisedokumenten einzuleiten (Art. 8 Abs. 4 Asylgesetz). Sollten Sie den Anordnungen der kantonalen Behörden nicht nachkommen, können Sie inhaftiert und anschliessend zwangsweise in ihr Herkunftsland zurückgeführt werden. Bitte nehmen Sie, gnädige Frau, den Ausdruck unserer höchsten Wertschätzung entgegen.

An diesem 6. November 2025 verstand nicht nur die Familie J. die Welt nicht mehr, auch ihr ganzes privates, berufliches und soziales Umfeld ist sprachlos, die Vorgesetzten der Coiffeursalons, die Lehrkräfte der Berufsschule, die Nachbarn, alle Leute, mit denen wir uns bisher über die Geschichte der Familie J. ausgetauscht haben. „Damit“, so einer der zahlreichen Stimmen, „ist mein Glaube an das schweizerische Rechtssystem endgültig zusammengebrochen“.

Auch wenn Zwangsausschaffungen nach dem Iran derzeit nicht durchgeführt werden können, bedeutet der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts, dass die Familie in eine prekäre, auf das existenzielle Mindestmass reduzierte Nothilfeversorgung abgeschoben wird, die bisherige Wohnung räumen muss, keiner Beschäftigung mehr nachgehen darf, die so erfolgreich begonnene Lehren abgebrochen werden müssen, das mühsam aufgebaute soziale Umfeld weitgehend wieder verloren geht und eine Zukunft in totaler Hilflosigkeit und Perspektivenlosigkeit bevorsteht, ohne den geringsten erkennbaren gesellschaftlichen oder ökonomischen Nutzen für irgendwen…

Wie wenn es der Tragik nicht genug wäre, hat die Familie J. das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das dem Ausschaffungsentscheid zugrunde liegt, bis zur Stunde noch nicht einmal erhalten. Es liegt offensichtlich noch beim Anwalt in St. Gallen, dem sie zwar 500 Franken pro Monat zahlen für die Aufgaben, denen er nicht nachkommt, und der es, aus was für Gründen auch immer, nach wie vor unter Verschluss hält.

(Anmerkung am 4. Dezember 2025: Rechtliche Schritte zur Erwirkung eines dauerhaften Bleiberechts für die Familie J. in der Schweiz wurden inzwischen in die Wege geleitet. Die herrschende Asylgesetzgebung setzt allerdings extrem enge Grenzen. Wie es aussieht, wird nur über öffentliche Mobilisierung und Unterstützung durch bekannte Persönlichkeiten etwas zu erreichen sein.)

„Unser Leben ist auseinandergebrochen“

Am 10. Dezember, 4 Tage nach dem Ablauf des Ausschaffungsbefehls, hat mir K., die ältere, 25jährige Tochter der Familie J., folgende Zeilen geschickt:

„Wir versuchen, gut zu sein, aber es geht einfach nicht. Meine Mutter und mein Vater verhalten sich wie Verrückte, sie sind sehr besorgt. Meine Mutter schläft bis zum Morgen nicht und steht die ganze Zeit am Fenster, weil sie Angst hat, dass die Polizei kommen könnte. Unser Leben ist auseinandergebrochen. Meine Schwester traut sich vor Angst nicht mehr nach Hause zurückzukommen. In der Schule können wir uns nicht mehr konzentrieren, und bei der Arbeit sind wir wie Tote. Wir schaffen es nur, eine Mahlzeit am Tag zu essen. Ich habe das Gefühl, dass meine Kraft am Ende ist. Ich kann nicht mehr.“

Ich bin sprachlos. Mir fehlen die Worte, um mein Unverständnis über die Entscheide des SEM und des Bundesverwaltungsgerichts auszudrücken. Die im Iran politisch verfolgte und von Gefängnis, Folter und Todesstrafe bedrohte Familie hat alles getan, um sich in die schweizerische Gesellschaft zu integrieren. Nun soll alles, was sie aufgebaut haben, von einem Tag auf den andern zunichte gemacht werden: Der Vater, der seit vier Jahren zu 100% zur vollsten Zufriedenheit seiner Arbeitgeber als Gipser gearbeitet hat und allen Verpflichtungen nachgekommen ist, muss seinen Job aufgeben. Die beiden Töchter müssen ihre eben erst begonnene Lehre als Coiffeuse – ihre Chefs sind voll des Lobes über die beiden, die auch in der Berufsschule zu den Besten gehören – abbrechen und die Familie muss ihre mit viel Liebe eingerichtete Wohnung in einem Visper Mehrfamilienhaus räumen…

BITTE UNTERSCHREIBT DIE PETITION UND LEITET SIE AN MÖGLICHST VIELE WEITERE PERSONEN WEITER. VIELEN DANK.

https://act.campax.org/petitions/titel-schutzt-familie-j-kein-ruckschaffungsbefehl-in-folter-und-tod?share=26346774-abbc-447f-b1cf-538694737ac2&source=email&utm_medium=&utm_source=email

Hast du noch einen Moment Zeit um die Petition mit anderen zu teilen? Es ist ganz einfach – leite einfach diese E-Mail weiter oder teile diesen Link auf Facebook oder Bluesky:

https://act.campax.org/petitions/titel-schutzt-familie-j-kein-ruckschaffungsbefehl-in-folter-und-tod?share=26346774-abbc-447f-b1cf-538694737ac2&source=email&utm_medium=&utm_source=email

HINTERGRUNDINFORMATIONEN ZUR SITUATION DER BAHAI IM IRAN (Wikipedia)

Die Bahai in Iran sind von verschiedenen Menschenrechtsverletzungen betroffen. So meldete die Internationale Bahai-Gemeinde eine deutliche Zunahme an willkürlichen Inhaftierungen, horrende Kautionszahlungen, Folter, Beschlagnahmungen, die Verweigerung des Zugangs zu höherer Bildung, Schikanen und Drangsalierungen von Kindern und Jugendlichen und staatlich organisierte Propaganda, welche eine Dämonisierung von Bahai bewirken soll. Übergriffe auf Bahai, die durchweg unbestraft bleiben, wurden seit der Amtszeit von Mahmud Ahmadinedschad durch gezielte Hetzkampagnen geschürt. Das Versammlungsrecht und der Besitz von Gemeindeeigentum wird den Bahai nach wie vor nicht gewährt. Im Jahr 2004 wurden mehrere mit der frühen Bahai-Geschichte in Iran verbundene heilige Stätten, darunter das Geburtshaus des Religionsstifters, zerstört, um die kulturellen Spuren dieser Religion in Iran zu tilgen. In einigen Städten kam es in der jüngsten Zeit zu Zerstörungen von Bahai-Friedhöfen, so zuletzt 2018 in Isfahan. Nach wie vor werden die Bahai von weiterführender Bildung und dem Besuch von Universitäten ausgeschlossen. Eine Beschäftigung in öffentlichen Einrichtungen wird ihnen verwehrt. Geschäfte werden regelmäßig durch Behörden versiegelt, wenn sie an Bahai-Feiertagen geschlossen sind. Im Jahr 2008 inhaftierte der iranische Geheimdienst die sieben führenden Mitglieder der iranischen Bahai-Gemeinde einschließlich der Geschäftsführerin der Gruppe, Mahvash Sabet, die mit ihren Gedichten aus dem Gefängnis internationale Beachtung fand. Damit verlor die iranische Bahai-Gemeinde ihre informelle Leitungsgruppe, welche nach der Verschleppung und Hinrichtung der Mitglieder des Nationalen Geistigen Rates der Bahai in Iran in den Jahren 1980 und 1981 – unter Mitwissen der iranischen Regierung – gegründet wurde. Die Mitglieder dieses aufgelösten Gremiums wurden nach Vollendung ihrer zehnjährigen Haftstrafen freigelassen. Weiterhin wird den Bahai jegliche Form der Verwaltung vorenthalten.

Im Januar 2020 wurde bekannt, dass der neue Chipkarten-Personalausweis in Iran nur noch über ein Onlineformular beantragt werden kann, bei dem nur eine der vier in der Verfassung anerkannten Religionen – Islam, Christentum, Judentum, Zoroastrismus – angegeben werden können. Die Option „andere Religion“ besteht nicht. Auf Nachfrage wurde den Bahai mitgeteilt, dass sie eine der vier Möglichkeiten wählen sollen. Sie werden dadurch vor die Wahl gestellt, über ihre Religionszugehörigkeit zu lügen oder auf grundlegende Dienstleistungen zu verzichten. Denn der Chipkarten-Personalausweis wird etwa für die Beantragung eines Reisepasses und eines Führerscheins sowie für die Eröffnung eines Bankkontos, die Aufnahme eines Darlehens sowie den Erwerb von Grundstücken benötigt. Die Bahai-Gemeinde betonte, dass die Verleugnung ihres Glaubens für sie nicht infrage käme.

Während der Covid-19-Pandemie hat die Verfolgung der Bahai mit Inhaftierungen, Beschlagnahmungen, medialer Desinformation und Strafurteilen zugenommen. Die iranischen Behörden machen die Bahai für die Krise verantwortlich und stempeln sie damit abermals als Sündenböcke ab. Im August 2022 wurde bekannt, dass mehrere Angehörige der Bahai-Religion wegen angeblicher Spionage für Israel festgenommen wurden, laut iranischem Geheimdienst der „zentrale Kern der Bahai-Spionagepartei“, der im Auftrag Israels geheime Informationen gesammelt und weitergeleitet und das vermeintliche Ziel hätte, im ganzen Land „Bildungseinrichtungen auf verschiedenen Ebenen zu infiltrieren, insbesondere Kindergärten und Schulen“, wo sie Missionsarbeit für die verbotene Bahai-Religion betrieben hätten.

AMNESTY INTERNATIONAL, 26. SEPTEMBER 2025: DIE MENSCHENRECHTSLAGE IM IRAN

Die Behörden der Islamischen Republik Iran haben im Jahr 2025 bisher mehr als 1000 Menschen hingerichtet. Dies ist die höchste dokumentierte Zahl seit 15 Jahren. In weniger als neun Monaten wurden dieses Jahr bereits mehr Menschen exekutiert als im gesamten Jahr 2024, als die Gesamtzahl bereits bei horrenden 972 Hinrichtungen lag.

Seit den Protesten unter dem Motto «Frau, Leben, Freiheit» im Jahr 2022 wenden die iranischen Behörden die Todesstrafe verstärkt an, um die staatliche Repression durchzusetzen und kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Auch nimmt derzeit die Zahl der Hinrichtungen wegen Drogendelikten stetig zu. Seit Israel den Iran im Juni 2025 militärisch angegriffen hat und die Kampfhandlungen zwischen den beiden Ländern eskaliert sind, werden im Iran aus Gründen der «nationalen Sicherheit» vermehrt Todesurteile vollstreckt.

«Die Zahl der Hinrichtungen im Iran hat ein entsetzliches Ausmass angenommen. Die iranischen Behörden wenden die Todesstrafe systematisch an, um Menschen zu unterdrücken und jeglichen Dissens auszumerzen. Dies ist ein grauenerregender Angriff auf das Recht auf Leben», so Heba Morayef, Direktorin für die Region Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International.

«Die Todesstrafe ist unter allen Umständen verabscheuenswert, doch ihre massenhafte Anwendung nach routinemässig grob unfairen Gerichtsverfahren verstärkt das Unrecht noch um ein Vielfaches», so Heba Morayef weiter. «Unter anderem geraten politisch Andersdenkende, Angehörige von unterdrückten ethnischen Minderheiten, Protestierende sowie Menschen, denen Drogendelikte vorgeworfen werden, ins Visier und werden willkürlich zum Tode verurteilt.

Die Menschenrechtsorganisation fordert von den Behörden die umgehende Verhängung eines Hinrichtungsmoratoriums. Andere Staaten sind aufgefordert, Druck auf die iranische Regierung auszuüben, alle geplanten Hinrichtungen zu stoppen.  «Die internationale Gemeinschaft muss sofort energische Massnahmen ergreifen und Druck auf die iranischen Behörden ausüben, alle geplanten Hinrichtungen sofort zu stoppen, alle Todesurteile aufzuheben und ein offizielles Moratorium für alle Hinrichtungen zu verhängen mit dem Ziel, die Todesstrafe vollständig abzuschaffen», sagt Heba Morayef.  «Angesichts der systematischen Straflosigkeit für diese willkürlichen Hinrichtungen müssen Staaten wirkungsvolle Mittel finden, um iranische Staatsbedienstete zur Rechenschaft zu ziehen. Unter anderem sollten sie mithilfe des Weltrechtsprinzips gegen Staatsbedienstete vorgehen, gegen die der begründete Verdacht strafrechtlicher Verantwortung für völkerrechtliche Verbrechen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen besteht.»

Die Gefahr der willkürlichen Hinrichtung besteht besonders für Personen, die wegen Drogendelikten oder übermässig breit und vage definierten Anklagen wie «Feindschaft zu Gott» (moharebeh), «Verdorbenheit auf Erden» (ifsad fil-arz) oder «bewaffneter Rebellion gegen den Staat» (baghi) zum Tode verurteilt wurden, oft nach unfairen Gerichtsverfahren vor Revolutionsgerichten.

Recherchen von Amnesty International haben durchweg gezeigt, dass die für Belange der nationalen Sicherheit und für Drogendelikte zuständigen Revolutionsgerichte nicht unabhängig sind und nach Verfahren, die bei Weitem nicht den internationalen Standards entsprechen, harte Strafen verhängen. Den Angeklagten werden systematisch ihre Verfahrensrechte vorenthalten. Am 17. September 2025 exekutierten die iranischen Behörden willkürlich Babak Shahbazi, der im Mai nach einem unfairen Verfahren vor einem Revolutionsgericht zum Tode verurteilt worden war. Die von ihm erhobenen Folter- und Misshandlungsvorwürfe wurden von den Behörden nie untersucht. 

Von der Anwendung der Todesstrafe besonders stark betroffen sind ausgegrenzte Minderheiten, insbesondere Angehörige von afghanischen, belutschischen und kurdischen Gemeinschaften. Mindestens zwei kurdische Frauen befinden sich derzeit im Todestrakt und sind in Gefahr, hingerichtet zu werden: die bei einer Hilfsorganisation tätige Pakshan Azizi und die Dissidentin Verisheh Moradi. 

Seit die Kampfhandlungen zwischen Israel und dem Iran im Juni 2025 eskalierten, haben hochrangige Regierungsvertreter*innen – darunter die Oberste Justizautorität Gholamhossein Mohseni Eje’i – dazu aufgerufen, Personen, denen die «Unterstützung» oder «Zusammenarbeit» mit feindlichen Staaten wie Israel vorgeworfen wird, beschleunigt vor Gericht zu stellen und hinzurichten. In diesem Kontext hat das iranische Parlament Gesetze verabschiedet, die im Fall einer Bestätigung durch den Wächterrat die Anwendung der Todesstrafe noch stärker ausweiten würden. Es könnten dann Todesurteile für vage formulierte Anklagen wie «Zusammenarbeit mit feindlichen Regierungen» und «Spionage» verhängt werden. 

Seit dem 13. Juni 2025 sind mindestens zehn Männer wegen politisch motivierter Vorwürfe hingerichtet worden; mindestens acht von ihnen wurden der Spionage für Israel beschuldigt. Amnesty International hat das Schicksal vieler weiterer Menschen dokumentiert, denen wegen ähnlicher politisch motivierter Anschuldigungen die Hinrichtung droht. Unter ihnen befinden sich der schwedisch-iranische Wissenschaftler Ahmadreza Dialali und die Menschenrechtlerin Sharifeh Mohammadi, deren Schuldspruch und Todesurteil im August 2025 von der Abteilung 39 des Obersten Gerichtshofs bestätigt wurde.

Amnesty International wendet sich in allen Fällen, weltweit und ausnahmslos gegen die Todesstrafe, da sie das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschriebene Recht auf Leben verletzt und die grausamste, unmenschlichste und erniedrigendste aller Strafen darstellt.

25. Montagsgespräch vom 10. November 2025: Die Service-Citoyen-Initiative – eine Chance für die Frauen?

Im Buchser Montagsgespräch vom 10. November ging es um die «Service-Citoyen-Initiative», über die am 30. November abgestimmt wird. Diese Initiative fordert für alle Personen mit einem Schweizer Pass einen «Dienst zugunsten der Allgemeinheit und der Umwelt», also neu auch für Frauen. Das Initiativkomitee begründet dieses Anliegen damit, dass trotz grosser Herausforderungen wie Naturkatastrophen, Cyberangriffe, drohende Energieknappheit, Krieg, usw. der gesellschaftliche Zusammenhalt durch Individualismus und Egoismus mehr und mehr verloren ginge. Es brauche wieder mehr Einsatz für die Gemeinschaft. Geleistet werden könnte dieser Dienst nach den Vorstellungen des Initiativkomitees im Militär, im Zivilschutz oder in Form eines gleichwertigen Milizdienstes, z.B. in Bereichen wie Klimaschutz, Ernährungssicherheit oder Betreuung.

Dass der ehrenamtliche Einsatz für die Gemeinschaft früher stärker gewesen sei, war auch in der Diskussion unbestritten. Viele Menschen hätten sich, vor allem seit Corona, in einzelne «Blasen» zurückgezogen und hätten kaum mehr Kontakt mit Menschen aus anderen Berufen oder Bevölkerungskreisen, dabei spielten auch die sozialen Medien eine wichtige Rolle. Ein Gemeinschaftsdienst könnte dem entgegenwirken und ausserdem Wesentliches beitragen zum Erwerb praktischer Tätigkeiten und Kenntnisse sowie zur Persönlichkeitsbildung. Es wurden Beispiele anderer Länder erwähnt, zum Beispiel Indonesien, wo Gemeinschaftsarbeit in der Bevölkerung viel stärker verankert sei als bei uns.  

Dennoch überwogen in der Diskussion die Argumente gegen diese Initiative. So zum Beispiel wurde vorgeschlagen, die rund zwei Milliarden Franken, welche die Umsetzung eines solchen Bürgerdiensts jährlich kosten würde, stattdessen für bessere Löhne im Gesundheitswesen einzusetzen. Auch könnten, wenn vermehrt Zivildienstleistende zum Einsatz kämen, Arbeitsplätze für geringqualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeiter unter Druck geraten. Zudem stünde die Initiative zu stark unter dem Vorrang des Militärischen, sei es doch eines ihrer erklärten Ziele, den «Bestand von Armee und Zivilschutz zu sichern».

Hauptpunkt in der Gegenargumentation aber bildete die Tatsache, dass den Frauen, die heute schon nebst der Erwerbsarbeit und der Familienbetreuung mit einem gegenüber Männern viel höheren Anteil an freiwilliger Care-Arbeit belastet seien, durch einen solchen Bürgerdienst eine zusätzliche Last aufgebürdet würde und es ihnen noch schwerer als bisher gemacht würde, eine eigene berufliche Karriere aufzubauen.

Quintessenz der Diskussion: Ein Bürgerdienst, wie er von dieser Initiative vorgeschlagen wird, hätte mehr Nachteile als Vorteile. Dennoch sei es wichtig, neue Modelle zu entwickeln, um die gesamte Bevölkerung in die Übernahme notwendiger öffentlicher Aufgaben einzubinden, aber weniger unter dem Fokus auf die Armee und ohne dass dies zu Benachteiligungen einzelner Bevölkerungsgruppen gegenüber anderen führen dürfte.

Wenn Menschen lieber eine Barbie-Puppe sein wollen als sich selber…

Peter Sutter, 10. November 2025

Am 5. November 2025 starb die brasilianische Influencerin Barbara Jankavski im Alter von 31 Jahren, nachdem sie sich insgesamt 27 Operationen unterzogen hatte, um so auszusehen wie eine Barbie-Puppe. Für die Operationen hatte sie insgesamt 50’000 Franken investiert. Um das Geld zusammenzubekommen, hatte sie sämtliche Operationen und weitere, kleinere medizinische Eingriffe peinlichst genau in den sozialen Medien dokumentiert und damit kurz vor ihrem Tod 55’000 Follower auf Instagram gehabt und 344’000 auf Tiktok.

Eigentlich ist Barbara Jankavski nur das vielleicht extremste Beispiel für etwas, was mittlerweile in unseren Köpfen schon so tief eingebrannt zu sein scheint, dass wir es kaum mehr als etwas Besonderes oder Aussergewöhnliches wahrnehmen. Nämlich: Etwas anderes sein zu wollen, als man ist. Immer nach rechts oder nach links zu schauen, nach hinten oder nach vorne, nach oben oder nach unten, in die Vergangenheit oder in die Zukunft, wo immer noch etwas anderes zu finden ist, was noch schöner, noch besser, noch bewundernswerter, noch erfolgreicher ist als man selber. Das führt dazu, dass wir all das, was an individuellem, einzigartigem Potenzial, an Talenten und Begabungen in jedem und jeder Einzelnen von uns steckt, oft gar nicht mehr richtig wahrzunehmen vermögen. Wahrscheinlich hatte Barbara Jankavski in ihrem ganzen Leben nie die Chance gehabt, herauszufinden, wer sie selber war, so dass ihre ganze Hoffnung auf ein einigermassen sinnvolles Leben darin bestand, so zu werden wie eine Barbie-Puppe.

Auch eine Zwanzigjährige, die mir kürzlich berichtete: „Eigentlich weiss ich gar nicht, wer ich bin, ich weiss auch nicht, was ich wirklich kann. Manchmal frage ich mich, weshalb ich überhaupt geboren wurde.“ Kein Wunder, machen sich solche Gedanken breit bei einer jungen Frau, der zeitlebens nie jemand gesagt hat, was sie alles gut gemacht hat, sondern immer nur, was sie alles falsch und schlecht gemacht hat, und die dann, als es um eine Lehrstelle ging, auf tausend Bewerbungen tausend Absagen erhielt – und da wundert man sich dann noch, wenn immer mehr junge Menschen in Therapien oder psychiatrischen Kliniken landen, wo ihnen dann tragischerweise zu allem Überdruss viel zu oft erst recht noch einmal all das aufgetischt wird, was sie in ihrem Leben falsch und schlecht gemacht haben. Als könnte man todkranke Blumen dadurch gesund machen, dass man ihnen auch noch ihre letzten Wurzeln ausreisst und sie dazu zwingt, sich neue Wurzeln anzulegen, die mit ihrem ureigenen, einzigartigen, unverwechselbaren Wesen nichts zu tun haben.

Ich würde mich, in traditionellem Verständnis, nicht als religiösen Menschen bezeichnen. Und doch trage ich in mir ein Bild, das sich nicht auslöschen lässt und das eben vielleicht doch mit „Religion“ in einem tieferen Sinne etwas zu tun hat. Es ist das Bild eines „lieben“ Gottes, etwas, von dem mir meine aus Wien stammende Mutter oft erzählt hatte und das in einem totalen Gegensatz steht zu jenem auf einem Thron sitzenden alten Mann mit grimmigem Gesicht, herrschend, allmächtig und oft auch strafend, von dem mir dann später der Pfarrer im Religionsunterricht erzählte. Es war dieser liebe Gott aus Wien, oder vielleicht ist es ja auch eine liebe Göttin oder vielleicht sogar ein Kind – es ist dieses Wesen, von dem meine Mutter mir erzählte, dieses Wesen, das, und davon bin ich bis heute zutiefst überzeugt, die Welt erschaffen hat, die Erde, das Wasser, die Luft, den Regen, alles Lebensnotwendige, alle Pflanzen, alle Tiere und uns Menschen. Denn das alles ist so unglaublich vollkommen, dass ich mir nicht vorstellen kann, es sei alles bloss ein Zufall gewesen.

Und es steckte eine Idee dahinter, die faszinierender nicht sein könnte. Nämlich die Idee der Vielfalt. Kein Stein gleicht dem andern, kein Sandkorn dem andern, kein Regenwurm, kein Kolibri und kein Elefant dem andern. Und bei den Menschen ist die Verschiedenartigkeit noch um ein Vielfaches faszinierender als bei allen anderen Lebewesen. Man stelle sich vor: Rund neun Milliarden Menschen bevölkern zurzeit diesen Planeten. Und schätzungsweise ebenso viele waren schon vor uns da. Und möglicherweise, wenn alles gut geht, werden uns noch viele weitere Milliarden folgen. Kein einziger dieser Menschen gleicht dem andern. Was für ein unvorstellbares Wunderwerk! Ich stelle mir den lieben Gott vor: Bei jedem Klumpen Lehm, den er in die Hand nahm, um einen weiteren Menschen zu formen, musste er sich wieder etwas Neues einfallen lassen, was es vorher noch nie gegeben hatte. Um wie viel einfacher wäre es für ihn doch gewesen, einen Prototypen zu bauen und dann eine Maschine, welche diesen Prototypen in beliebiger Zahl hätte reproduzieren können. Er hätte am Tag darnach schlafen gehen und sich um nichts mehr kümmern müssen. Aber nein, er hat nicht aufgehört, immer wieder neue, nie dagewesene Wesen zu erschaffen, bis zum heutigen Tag, unermüdlich.

Aber zu seinem Leidwesen haben zu viele von uns diese Botschaft, die uns der liebe Gott mit jedem neu geborenen Kind aufs neue sendet, nicht verstanden. Statt vor dieser unglaublichen Vielfalt voller Bewunderung auf die Knie zu fallen, versuchen wir genau das Gegenteil, nämlich, diese so verschiedenartigen Wesen möglichst gleich zu machen, mit den gleichen Regeln zu erziehen, in die gleichen Schulen zu schicken, wo sie alle den gleichen Lernstoff zu bewältigen haben, ihnen die gleichen Ideale und Normen und Werte beizubringen, nach denen sie leben sollten. Und sie dabei beständig miteinander zu vergleichen, zu bewerten, die einen zu belohnen, die anderen zu bestrafen, sie alle immer wieder über die gleich hohen Hürden springen zu lassen, als wären es Maschinen, die alle nach den gleichen Regeln funktionieren müssten, und wehe, jemand weicht allzu stark von der allgemeinen Regel ab, dann wird alles daran gesetzt, ihm so lange die Flügel zu stutzen, bis er, wenigstens äusserlich, möglichst gleich aussieht wie alle anderen. Und irgendwann dann alle, zusätzlich befeuert durch die Wirkung der künstlichen „Intelligenz“, am Ende so aussehen werden wie Barbie-Puppen, Muskelprotze ab dem Fitnessfliessband oder Elon Musks in Weltraumraketen auf dem Flug zu fernen Planeten.

Ja, das Vergleichen, das in seiner Konsequenz zur systematischen Einebnung aller noch vorhandenen Unterschiede führen wird, scheint nachgerade die Hauptleidenschaft unserer Zeit zu sein. Benchmarking, Pisastudien, Ländervergleiche in Bezug auf das Bruttosozialprodukt, Ranglisten an allen Ecken und Enden, wohin man auch schaut. Selbst in dem Modegeschäft, wo eine Freundin von mir arbeitet, gibt es für die dort beschäftigten fünf Verkäuferinnen am Ende jedes Monats eine Rangliste mit den von jeder Einzelnen erreichten Umsatzzahlen. Der Druck, sagt sie, sei so gross, dass sie meistens gegen Ende des Monats kaum mehr schlafen könne und bloss hoffe, möglichst in der Mitte der Rangliste zu stehen, denn wenn man oben sei, bekomme man den Neid der anderen zu spüren, und wenn man unten sei, die Vorwürfe und die abschätzigen Blicke der Chefin. Ranglisten haben mittlerweile einen geradezu heiligen Wert, so sehr, dass beispielsweise Skirennfahrerinnen und Skirennfahrer ihre ganze Gesundheit dafür opfern, auch nach den gefährlichsten und schmerzvollsten Stürzen, kaum einigermassen erholt, schon wieder in die nächsten Rennen zurückrasen und nicht einmal davor zurückschrecken, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, bloss um ein paar Tausendstel Sekunden schneller zu sein als ihre Konkurrentinnen und Konkurrenten. Denn im ewigen und sich immer weiter verschärfenden gegenseitigen Konkurrenzkampf hat nur der das Ziel, von dem alle anderen ebenso träumen, wirklich voll und ganz erreicht, der am Schluss ganz zuoberst auf der Siegertreppe steht. „The Winner Takes it All“, wie es in einem Song der schwedischen Popgruppe Abba so schön heisst. Und der Erfolg am Ende ist für die, welche es geschafft haben, umso grösser, je mehr andere es nicht geschafft haben, daran gescheitert und zerbrochen sind.

Auch Barbara Jankavski. Auch die Zwanzigjährige, die auf tausend Bewerbungen tausend Absagen erhielt. Auch unzählige andere, die sich immer mit anderen vergleichen, an anderen messen müssen im Kampf um Erfolg oder Misserfolg und gar nie dazukommen, herauszufinden, wer sie selber eigentlich sind und welches die Idee des lieben Gottes war, als sie erschaffen wurden als einzigartige, unverwechselbare Funken des Universums. Auch jeden Morgen, wenn ich die jungen Leute auf den Bahnhöfen zu den Zügen und Bussen gehen sehe, welche sie an ihre Arbeitsplätze oder zu ihren Schulen bringen werden, fällt es mir so schmerzlich auf: Diese leeren Augen, die Blicke weit weg, an allen anderen Menschen vorbei, als würden sie ganz weit in der Ferne etwas suchen und es doch nie finden. Wer bin ich? Was ist der Sinn von allem? Welche Träume hatte ich einmal und was ist davon geblieben?

„Sei du selbst“, schrieb der irische Schriftsteller Oscar Wilde, „denn alle anderen gibt es schon.“ Und von Coco Chanel, einer der berühmtesten Modeschöpferinnen, stammen diese wunderschönen Worte: „Beauty begins the moment you decide to be yourself.“ Die Wahrheit kann der Mensch nirgendwo anders finden als im tiefsten Grund seines eigenen Wesens, an dem Punkt, wo immer noch die Erinnerung an jenen Augenblick verborgen ist, in dem der liebe Gott genau diesen und keinen anderen Klumpen Lehm in die Hand nahm und genau wusste, weshalb er genau diesen Menschen ganz genau so geformt hat und nicht so wie alle anderen.

Sich selbst zu finden ist der Schlüssel zu allem. Doch das ist nur die eine Seite, die individuelle. Die andere Seite ist die gesellschaftliche. Denn auch mit dem besten Willen und mit der grössten Anstrengung, den eigenen Lebensfaden aufzufinden und sich ihm entlang aufzubauen, wird eine Zwanzigjährige, der man tausend Mal gesagt hat, dass niemand sie braucht und sich niemand für all die in ihr verborgenen Schätze interessiert, am Ende an sich selber zerbrechen müssen. Ohne Liebe von aussen kann man auch sich selber nicht lieben. Wenn dir nie jemand sagt, wie wertvoll und einzigartig du bist, kannst du auch selber nicht wirklich davon überzeugt sein, es sei denn, du verfügst über übermenschliche Kräfte. Der liebe Gott, das war die feste Überzeugung meiner Mutter – und es wird mir immer mehr bewusst, dass sie in meinem Leben die einzige wirklich gute Religionslehrerin gewesen war -, der liebe Gott hat die Menschen bloss geschaffen bis zu dem Punkt, da er sie der Erde übergeben hat. In diesem Moment hat er die Verantwortung abgegeben, ab diesem Moment ist er für das Weitere nicht mehr zuständig. Für alles Weitere liegt die Verantwortung ausschliesslich bei den Menschen, die bereits dagewesen sind, als der neue Mensch geboren wurde. Wie es nach der Geburt weitergeht, entscheidet nicht mehr der liebe Gott, er wäre damit heillos überfordert und braucht seine ganze Zeit und Kraft dafür, Millionen und Milliarden weitere neue Wesen zu schaffen, immer in der Hoffnung, wir, die wir schon hier sind, würden endlich begreifen, was für eine Botschaft er uns damit sendet.

Denn es war, wenn der liebe Gott jedem einzelnen Menschen ein so grenzenloses Potenzial an körperlichen, geistigen und seelischen Kräften, Intelligenz und Phantasie mit auf seinen Lebensweg gegeben hat, wohl kaum seine Absicht, dass diese so im Übermass reichlich ausgestatteten Wesen dieses Potenzial verschwenden und bloss dazu missbrauchen, um sich im Kampf um Erfolg oder Misserfolg gegenseitig zu konkurrenzieren, zu schwächen, krank zu machen oder gar zu zerstören, Reichtum anzuhäufen auf Kosten anderer oder gar, sich gegenseitig umzubringen. Seine Idee war und ist wohl zutiefst eine andere, das, was sich wohl am treffendsten als „Paradies“ bezeichnen lässt. Und er wird ganz bestimmt nicht zur Ruhe kommen, bevor sich dieser Traum erfüllt hat, und zwar nicht irgendwo in einem erfundenen Niemandsland, sondern hier und jetzt, mitten unter uns, auf dieser Erde. Denn es ist die einzige, die wir haben. Und jede Träne eines hungernden Kindes oder einer Mutter, die im Krieg ihr Kind verloren hat, jede junge Frau, die lieber eine Barbie-Puppe sein möchte als sich selber, und jede aufgeritzte Haut einer Zwanzigjährigen, die nach der tausendsten Absage ihrer tausendsten Bewerbung nur noch Tag und Nacht hinter geschlossenen Vorhängen in ihrem Bett liegt, ist die Sehnsucht nach diesem Paradies.

„Linke“ Gesellschaftskonzepte fordern menschenwürdige Arbeitsbedingungen, ein Recht auf sinnvolle Beschäftigung, soziale Netze, damit niemand verloren geht, niemand unter Armut, wirtschaftlicher Ausbeutung, Hunger, Krieg oder politischer Verfolgung leiden muss. „Christlich“ geprägte Gesellschaftskonzepte stellen die Nächstenliebe und die Verbindung des Menschen zu Gott in den Mittelpunkt. Beide Sichtweisen greifen jedoch je für sich alleine zu kurz. Es braucht eine Verbindung beider Sichtweisen zu einem Ganzen. Wenn sich der Traum des lieben Gottes von einer friedlichen Welt voller Liebe und Gerechtigkeit erfüllen soll, dann genügt es nicht, wenn nur der Einzelne diesem Traum nachzuleben versucht. Gleichzeitig müssen auch die äusseren Umstände, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Gesetze und die Sozial- und Wirtschaftsstrukturen und die Politik so gestaltet sein, dass sich die „Göttlichkeit“ jedes einzelnen Menschen in ihrer ganzen Pracht entfalten kann.

Eigentlich wäre das gar nicht so schwierig. Denn alles, was es braucht, ist längst schon vorhanden. Der Mensch muss nicht künstlich zu etwas anderem hingezogen oder auf etwas anderes hin gezüchtet werden, er muss bloss zu sich selber befreit werden, damit sich sein göttlicher Kern entfalten kann. Hierfür aber ist der Glaube an das Gute im Menschen unabdingbar. Nur wenn wir an das Gute im Menschen glauben, kann seine Selbstverwirklichung zugleich zu einer Verwirklichung des Guten im Grossen wie im Kleinen, im Individuellen wie im Sozialen und Gesamtgesellschaftlichen führen. Ich kann mir auch mit dem besten Willen nichts anderes vorstellen, wenn ich diesen lieben Gott vor mir sehe, wie er pausenlos, ohne zu ruhen, einen Klumpen Lehm nach dem andern in die Hand nimmt und einen Menschen nach dem andern formt. Es wird doch allen Ernstes nicht seine Absicht sein, damit möglichst viel Böses zu schaffen, möglichst viel Leid, Hass und Zerstörung zu verbreiten. Er wird doch im Gegenteil alles daran setzen, diesen Wesen so viel Gutes mitzugeben wie nur irgend möglich, sonst wäre doch nicht jedes dieser neu geborenen Wesen so etwas unbeschreiblich Schönes, Kostbares, Paradiesisches. Oder, wie es Johann Heinrich Pestalozzi, ein zutiefst religiöser, zugleich aber radikal gesellschaftskritischer Mensch, so treffend formulierte: „Der Mensch ist gut und will das Gute. Und wenn er böse ist, dann hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“

Warum machen wir Menschen es uns so schwer? Betrachten wir doch die Blumen auf der Wiese, die Schmetterlinge, die Bäume im Wald, die Enten im Teich, die Fische im Wasser, die Vögel am Himmel. Sie alle entfalten sich so, wie sie vom lieben Gott gedacht waren. Wo ist das Böse? Es wäre alles so einfach…

24. Montagsgespräch vom 13. Oktober 2025: Ist die Kritik am von muslimischen Frauen getragenen Kopftuch berechtigt oder handelt es sich bloss um Vorurteile?

Eine Frau mit Kopftuch, ein Ehepaar – sie Muslimin, er christlich geprägt –, ein SVP- und ein SP-Politiker, Mitglieder der Schulkommission, Behördenmitglieder, Fachleute und Amtsträger aus dem Jugend-, Integrations- und Sozialbereich und eine Islamwissenschaftlerin. Beste Voraussetzungen für das Montagsgespräch vom 13. Oktober zur aktuellen «Kopftuchdebatte», um das Thema von unterschiedlichsten Seiten her zu beleuchten.

Zunächst äusserten sich die Anwesenden spontan zu den Gefühlen, die der Anblick eines von Musliminnen getragenen Kopftuchs bei ihnen auslösen. «Etwas Fremdes», «Ein Kleidungsstück wie jedes andere», «Etwas, was die Integration erschwert», «Ein Zeichen für die zunehmende Islamisierung der Gesellschaft», «Das Gleiche, was auch christliche Frauen früher trugen» – dies einige der Aussagen. Die Frau mit dem Kopftuch erklärte, sie trage es aus religiöser Überzeugung. Die Muslimin ohne Kopftuch meinte dazu: «Ich finde es schön, wenn du ein Kopftuch trägst, ich selber trage es nur zu besonderen Anlässen.»

Im zweiten Teil des Abends ging Frau Hodel-Hoenes, Islamwissenschaftlerin, auf die historischen Ursprünge des Kopftuchs ein. Im Koran sei nicht explizit vom «Kopftuch» die Rede, sondern nur von «schamvoller Bedeckung» einzelner Körperteile. Das Kopftuch sieht Hodel-Hoenes aber erst dann als Problem, wenn es als Mittel von Unterdrückung oder Zwang missbraucht werde. Im Übrigen solle die Frau «tragen, was sie will».

Im Folgenden kam man auf den aktuellen Fall einer Lehrerin zu sprechen, die in Eschenbach SG trotz guter Qualifikationen wegen des Tragens eines Kopftuchs keine Stelle bekommen hat. Dieser Entscheid löste bei den meisten Anwesenden Unverständnis aus. Schliesse man eine Frau aufgrund ihrer religiösen Überzeugung von der Ausübung eines bestimmten Berufes aus, so bestrafe man sie für ihre religiöse Überzeugung, und dies widerspreche dem Ziel der Integration.

Weniger Kritik an anderen, dafür mehr Selbstkritik forderte ein junger Familienvater in der Runde. Er wundere sich immer wieder, dass sich die gleichen Leute, die sich über ein Kopftuch aufregen, nicht daran stören, wenn man überall in der Werbung und in TV-Unterhaltungsshows halbnackte Frauen sieht. Was für Werte, so frage er sich, würden denn damit vermittelt?

Dass das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Religionen und Kulturen auch zu gesellschaftlichen Konflikten führen könne, zeigte eine Diskussionsteilnehmerin mit Beispielen aus Grossbritannien auf. Vor solchen Fehlentwicklungen, so eine weitere Stimme, dürfe man gewiss nicht die Augen verschliessen, wichtig sei aber gerade deshalb das Bemühen um ein gutes, auf gegenseitiger Wertschätzung beruhendes Zusammenleben. Schliesslich könne man nicht erwarten, dass sich die Ausländerinnen und Ausländer alleine um die Integration kümmern müssten, ebenso wichtig sei, ihnen gegenüber die eigenen Türen zu öffnen und auch ein bisschen etwas von jener Gastfreundschaft, für die gerade die südlichen Länder so bekannt seien, zu pflegen.

Christella, 40 Jahre später: „Es würde meine Fragen zwar nicht beantworten, aber ich könnte etwas Dreck von meiner Seele schmeissen, indem andere erfahren, was mir widerfahren ist.“

Peter Sutter, 13. Oktober 2025

Die folgende Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Allerdings sind die Namen der beteiligten Personen geändert und die Geschichte wurde in ein anderes, aber weitgehend vergleichbares gesellschaftliches und berufsbezogenes Umfeld verlegt.

Es sind seither zwar fast 40 Jahre vergangen, doch für Christella ist alles damals Erlebte noch so nahe, als wären diese 40 Jahre in dem Moment, da sie ihre Geschichte zu erzählen beginnt, augenblicklich in nichts zerschmolzen…

Christella, aufgewachsen in einer Kleinstadt in Norddeutschland, ist 15, als sich ihre Eltern mit Penelope und Gustav befreunden, einem Ehepaar, das in der Folge eine zunehmend wichtigere Rolle in Christellas Leben spielen wird. Denn im Gegensatz zu ihrem überaus konservativ eingestellten Vater und der eher ängstlichen, konfliktscheuen Mutter verkörpern Penelope und Gustave für Christella so etwas wie das Tor zur grossen, weiten Welt der Freiheiten und der Abenteuer. Gustav ist ein bekannter Kunsthändler, die von ihm veranstalteten Auktionen sind in der Fachwelt geradezu Kult und gehören zum Pflichtprogramm all derer, denen es nicht bloss darum geht, sich ein neues Kunstwerk zu erstehen, sondern mindestens so sehr, neue Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten zu knüpfen und sich auf dem Weg zu Ehre und Ruhm möglichst viele weitere Vorteile zu verschaffen. Penelope ihrerseits ist weitherum bekannt für ihr karitatives Engagement als Präsidentin einer Organisation, die sich vor allem des Schicksals von Kindern aus ärmlichen Verhältnisse annimmt, welche dringend medizinischer Hilfe bedürfen. Auch sie ist eine Dame „von Welt“ und auch die von ihr organisierten Veranstaltungen sind glanzvolle Höhepunkte im gesellschaftlichen Leben der Stadt. Zudem ist sie für ihr soziales Engagement bereits mit einem renommierten Ehrenpreis der Stadt ausgezeichnet worden.

Als Penelope eines Tages Christella, die soeben eine Ausbildung zur Erzieherin in Angriff genommen hat, ermuntert, stattdessen doch gescheiter das Abitur zu machen und eine akademische Karriere ins Auge zu fassen, ist der Teufel los. Christellas Vater rastet aus und spricht mit seiner Tochter drei Tage lang kein Wort mehr. Und da sich fast zur gleichen Zeit Gustav dafür entschieden hat, für ein halbes Jahr seinen Wohnsitz in die Schweiz zu verlegen, um zusätzliche Verbindungen zum dortigen Kunstmarkt aufzubauen, packt die nunmehr 18jährige Christella die Gelegenheit beim Schopf. Sie bricht ihre Ausbildung zur Erzieherin ab, entflieht Hals über Kopf ihrer Familie und wird nun für längere Zeit bei Gustav und Penelope leben, die inzwischen für sie so etwas wie ihre zweiten Eltern geworden sind. Für Penelope wiederum kommt die Anwesenheit von Christella wie gerufen, ist sie doch, in Anbetracht ihrer weiteren zeitaufwendigen karitativen Tätigkeit, noch so froh, jemanden zur Seite zu haben, die sich während dieser Zeit um ihre dreijährige Tochter und um den Haushalt kümmert.

Aber auch Gustav nutzt die Gelegenheit. Da Christella neben dem Kinderhüten und dem Erledigen von Arbeiten im Haushalt noch genügend freie Zeit bleibt, dient ihm die attraktive 18Jährige ab nun immer öfters als perfekte Assistentin, wenn es darum geht, sich mit wichtigen Leuten zu treffen, bei Einladungen Kaffee und Kuchen zu servieren und eine sympathische Atmosphäre zu verbreiten. Doch nicht nur das. Nach und nach wird die Assistentin zur Sekretärin, erledigt Telefonate, vereinbart Termine, reserviert die Räume für Sitzungen. Und eines Tages bekommt sie auch zum ersten Mal den Auftrag, Dokumente zu bearbeiten, von denen sie zunächst keine Ahnung hat, worum es geht. Sie folgt einfach den Anweisungen von Gustav. Erst viel später wird sie erfahren, dass es sich um gefälschte Zertifikate von Kunstwerken handelt, die sich bis 1933 in jüdischem Besitz befanden und dann von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden und nach denen seither gefahndet wird, damit sie ihren ursprünglichen Besitzern bzw. ihren Nachfahren zurückgegeben werden können. Gustav ist, was Christella nicht wissen kann, ein mit allen Wassern gewaschener Geschäftsmann im Graubereich zwischen Legalität und Illegalität, immer hart an der Grenze dazwischen, so, dass auf keinen Fall jemals etwas auffliegen oder sein gesellschaftliches Ansehen auch nur ansatzweise in Gefahr geraten könnte. Mit ihrem Charme und ihrer persönlichen Ausstrahlungskraft ist Christella zu Gustavs willkommenem Instrument geworden, seine Geschäfte noch weitaus müheloser und weniger riskant abwickeln zu lassen, ohne dass sie selber auch nicht Entferntesten ahnt, was mit ihr geschieht.

Bis Christella beim Abstauben auf Gustavs Pult ein Foto entdeckt. Es stammt von einem Empfang bei der deutschen Botschaft. In der Mitte des Bildes Gustav, dicht vor ihm Christella. Sie erschrickt. Dieser Blick von Gustav auf sie, von hinten, den sich ja beim Anlass selber nicht wahrnehmen konnte. Als würde er sie am liebsten mit Haut und Haaren verschlingen. Weiter rechts im Bild, mit gehörigem Abstand, Penelope. Und auch ihr Blick, voller Wut, in Richtung von Christella, spricht Bände.

Das Bild kann Christella nicht vergessen, bei allem, was sie in den kommenden Tagen tut. Christella hier, Christella dort, Kaffee holen, Lächeln, seine Hand auf ihrer Hand, beim Überprüfen der ausgefüllten Zertifikate. Das Mädchen für alles. Jeden Tag. Von früh bis spät. Und bald schon nicht nur am Tag.

Es ist nachts kurz vor elf. Gustav öffnet, ohne anzuklopfen, die Tür zu Christellas Zimmer. Kurz darauf liegt er neben ihr im Bett. „Ich könnte jetzt mit dir alles machen“, sagt er, „wie würdest du reagieren?“ Christella ist sprachlos. Dann kommt ihr in den Sinn, was ihr die Mutter einmal sagte: Falls es jemals geschehen sollte, rede einfach, so lange und so viel du kannst. „Ich habe Angst vor dir“, sagt Christella. Doch die lähmende Ohnmacht bleibt. Es kommen nicht die Worte, die jetzt vielleicht kommen müssten. Und wenn, würden sie wahrscheinlich sowieso im Leeren verhallen. Was sind schon Worte gegen die entfesselten Triebe eines fast doppelt so alten Mannes, der wahrscheinlich schon wochenlang auf nichts anderes gewartet hat als auf diesen Moment. Wahrscheinlich wäre jedes Wort in diesem Augenblick falsch, jedes würde seine Triebe nur noch weiter anstacheln. In diesem Augenblick zischt ein erschreckender Gedanke durch Christellas Kopf. Worte. Sprache. Literatur. Bücher. Sie hat Hunderte von Büchern gelesen, Bücher voller Weisheiten und voller Visionen für eine schönere und friedlichere Welt. Bücher voller Liebe und Zärtlichkeit. Sie kennt Dutzende von Menschen, die Bücher nur so verschlingen. Gebildete Menschen, wie man sagt. Doch ist das alles nur Schein? Ist die gesamte Weltliteratur über Tausende von Jahren einfach wirkungslos und ausgelöscht in dem Augenblick, da ein wild gewordener Mann, der gerade daran ist, seine Hose aufzuknöpfen aufzuknöpfen, nachts um elf neben dir im Bett liegt?

„Du warst wie ein Vater für mich“, sagt sie, „aber ein Vater tut so etwas nicht.“ Er: „Ich liebe dich.“ Sie: „Wenn du mich liebst, dann geh. Ich bin viel schwächer. Das willst du doch mir nicht antun. Und auch nicht deiner Frau.“ Knapp geschafft. Er steht auf und geht.

Am nächsten Abend trifft Christella Freundinnen in der Stadt und erzählt ihnen alles. Diese sind geschockt. Sie übernachten gemeinsam in einer Jugendherberge, Christella hat Angst, die folgende Nacht in ihrem Zimmer zu verbringen.

Am nächsten Tag jammert Gustav Penelope die Ohren voll, er könne seit Tagen nicht mehr durchschlafen, da die Tochter jede Nacht mehrmals erwache und ständig herum quengele, das würde ihn noch in den Wahnsinn treiben. Penelope zeigt Verständnis. Schliesslich braucht ihr Mann genügend Schlaf, um seinem zeitintensiven Job gerecht zu werden. Gustav zieht aus dem gemeinsamen Schlafzimmer aus und nimmt sich im oberen Stock ein bisher als Arbeitsraum benutztes Zimmer, schräg gegenüber dem Zimmer von Christella. Es wird immer schlimmer. Mehrmals in der Nacht klopft er an ihre verschlossene Tür und jedes Mal hört er erst dann auf, wenn Christella ihm droht, so laut zu schreien, dass es alle Nachbarn hören würden. Tagsüber versucht sie ihm, so weit es möglich ist, aus dem Weg zu gehen.

Es folgen zwei Wochen Urlaub in Frankreich. Wie wenn das für ihn so etwas wie ein lange ersehnter Freipass wäre, wird Gustav immer aufdringlicher, nutzt jede Gelegenheit, sich an Christella heranzumachen, packt sie auch mal an den Schultern, küsst sie, immer und immer wieder. Schliesslich macht er ihr einen Heiratsantrag. Er hätte sich dafür entschieden, seine Frau und seine Tochter zu verlassen und mit Christella eine neue Familie zu gründen, irgendwo in einem fernen Land, wo ihn niemand kennt. In diesem Augenblick empfindet Christella so etwas wie eine plötzliche, unerwartete Steigerung ihres Selbstwertgefühls, was sie sich bis heute immer noch nicht ganz zu erklären vermag, aber wohl etwas damit zu tun hat, dass sie zu diesem Zeitpunkt noch sehr jung und völlig unerfahren ist und sich dieser „Aufwertung“ ihrer Person kaum gänzlich zu entziehen vermag, obwohl sie ja für Gustav keinerlei Gefühle von Sympathie oder Zuneigung empfindet.

Am folgenden Tag nimmt Christella allen Mut zusammen, stellt Gustav zur Rede und konfrontiert ihn mit der Frage, ob er allen Ernstes seine Familie zerstören wolle. Für einen kurzen Augenblick scheint sich Gustav der Tragweite und der möglichen Konsequenzen seines Verhaltens bewusst geworden zu sein. Gleichzeitig aber nimmt sie seine totale Unfähigkeit wahr auch nur zu einer Spur von Reue und Selbsterkenntnis, im Gegenteil: Gustav, sich noch einmal in seiner ganzen fratzenhaften vermeintlichen Männlichkeit aufplusternd, kommt ihr vor wie ein viel zu stark aufgeblasener Ballon, der im nächsten Moment zu zerplatzen droht.

Später in der Nacht schreibt Christella einen Brief an Penelope, fünf ganze Seiten lang, schüttet ihr ganzes Herz aus, konfrontiert sie in allen Einzelheiten mit der Realität, schonungslos, jede noch so tiefe Verletzung dieser von allen so bewunderten und verehrten Frau in Kauf nehmend, die sich mit Leib und Seele seit Jahren so leidenschaftlich dafür einsetzt, das Los kranker Kinder aus minderbemittelten Familien zu lindern. Ein Mensch mit so viel Mitgefühl muss doch auch für ihr Leiden, für das Leiden Christellas, ein offenes Herz haben, diesen Mann zur Rede stellen, ihn mit seinem Fehlverhalten konfrontieren, von ihm verlangen, Farbe zu bekennen und sich zu entscheiden. Kurz nach dem Frühstück, Penelope räumt das Geschirr ab und Gustav hat sich bereits in sein Büro verzogen, steckt Christella Penelope wortlos den Brief zu.

Zutiefst innerlich aufgewühlt und zerrissen blickt Christella dem weiteren Tagesverlauf entgegen. Wie wird Penelope auf den Brief reagieren? Totenstille herrscht in der Wohnung. Nicht einmal vom Kind, das um diese Zeit fast immer am Jammern oder Weinen ist, hört man etwas. Ist das die vielbekannte Ruhe vor dem Sturm? Und was für Folgen wird dieser Sturm haben, wenn er erst einmal losgebrochen ist? Auf einmal bereut Christella zutiefst, was sie getan hat. Quälende Selbstzweifel werden immer stärker. Wäre es nicht gescheiter gewesen, sich einfach mit der Situation abzufinden, statt mit diesem Brief an Penelope möglicherweise etwas auszulösen, was unabsehbare Folgen haben könnte?

Doch der Sturm bleibt aus. Stattdessen: Tödliche Stille. Den ganzen Tag lang kein einziges Wort, weder von Penelope, noch von Gustav. Als wäre Christella unsichtbar. Als hätte sie für Penelope und Gustav aufgehört zu existieren.

Am folgenden Tag werden die Koffer gepackt. Wieder fällt kein Wort. Versteinerte Mienen. Leere Blicke. In Basel, beim Hauptbahnhof, wird Christella ausgeladen. Abgestellt. Weggeworfen. Ausgemustert. Entsorgt. Gustav drückt ihr einen Fahrschein in die Hand. Christellas Mutter wurde informiert, dass die Tochter um 16.09 Uhr zuhause ankommen würde. Kein Handschlag. Kein Wort. Kein Dankeschön. Nichts.

Seither lebt jede der beiden Familien wieder in ihrer eigenen Welt. Nur einmal noch hört Christella etwas von Penelope, ganze sieben Jahre später. Sie stösst auf einen von Penelope verfassten Artikel, der in einer Frauenzeitschrift veröffentlicht wurde. Penelope und Gustav sind immer noch zusammen, haben inzwischen drei Kinder. Sie leben nun dauerhaft in der Schweiz. Nebst ihrer karitativen Tätigkeit engagiert sich Penelope zunehmend auch für Frauenrechte. Im besagten Artikel schreibt sie: „Im Vergleich zwischen Deutschland und der Schweiz fällt mir auf, dass die Frauen hierzulande weitaus häufiger an einer herkömmlichen Frauenrolle festhalten. Es scheint ihnen vor allem wichtig zu sein, was andere von ihnen denken. Es fällt mir in meiner neuen Heimat schwer, gleichgesinnte Frauen zu finden, die sich wie ich für die Rechte von Frauen und ganz allgemein für Politik interessieren. Manchmal fühle ich mich ein bisschen wie ins 19. Jahrhundert zurückversetzt.“

„Gerne möchte ich dir diese Geschichte erzählen“, hatte mir Christella vor rund drei Wochen geschrieben, „es ist die wahre Begebenheit einer jungen Frau, die ich selbst bin. Sie lauert immer wieder in meinem Leben auf. Manchmal sass ich schon im Auto und wollte los fahren, dorthin, wo es geschah, um auf all die Fragen eine Antwort zu finden, die ich bis heute nicht beantworten konnte. Aber noch nach über 40 Jahren stülpt sich die damals 20jährige Frau über mich und will sich der Konfrontation partout nicht stellen, es fühlt sich zu widerlich an. Immer wenn ich diese Geschichte erzähle, sagt man mir, Gott sei Dank sei ich da ja noch früh genug rausgekommen und von meiner Familie so gut aufgefangen worden. Das stimmt zwar, dennoch aber wurde meine Seele fallen gelassen. Je älter und weiser ich werde, als umso unerträglicher empfinde ich das Geschehene. Denn kein Mensch darf der Besitz eines anderen sein. Wer versuchte, von mir Besitz zu ergreifen und einen Teil meiner Seele besitzen zu wollen, muss sich selber ein totales Vergessen verordnet haben, sonst könnte er dieses Unrecht nicht ertragen. Ich bin nicht die Einzige mit einer solchen Erfahrung. Millionen von Menschen erleben das tagtäglich und die Spuren bleiben wohl lebenslang unauslöschlich. Das Bild, das die Täter von sich selber machen und laufend schönreden, um jeden Morgen in ein Spiegelbild schauen zu können, das für sie erträglich ist, verwandelt sich in den Augen und in der Erinnerung ihrer Opfer ins pure Gegenteil, in eine zutiefst hässliche Fratze, die sie lebenslang begleiten wird. Gerne würde ich dir diese Geschichte erzählen. Es würde zwar meine Fragen nicht beantworten, aber ich könnte etwas Dreck von meiner Seele schmeissen, indem andere erfahren, was mir widerfahren ist.“

„Die Frau“, so die britische Schriftstellerin und Feministin Virginia Woolf, „hat Jahrhunderte lang als Lupe gedient, welche die magische und köstliche Fähigkeit besass, den Mann doppelt so gross zu zeigen, wie er von Natur aus ist.“

Ukrainische Flüchtlinge in der Schweiz: Und plötzlich gingen alle zuvor so fest verschlossenen Türen wie durch ein Wunder auf…

Peter Sutter, 11. Oktober 2025

Einer meiner Deutschschüler, den ich seit zwei Monaten unterrichte, flüchtete mit seiner alleinerziehenden Mutter und seinem jüngeren Bruder vor zwei Jahren aus der Ukraine in die Schweiz, eine riesige Erleichterung nach einem Leben in beständiger Angst und Unsicherheit. Heute aber macht er auf mich einen überraschend geknickten Eindruck. Er erzählt…

„Lange Zeit war es einfach nur ein Gefühl der Dankbarkeit, so grosszügig als Flüchtling in der Schweiz aufgenommen zu werden. Doch vor ein paar Tagen erzählte mir eine aus Syrien geflüchtete Kurdin, wie schwierig es in den letzten paar Jahren für Menschen aus ihrem Land und auch aus anderen südlich und östlich gelegenen Ländern wie Afghanistan oder Eritrea geworden sei, in der Schweiz noch eine Chance auf Asyl zu bekommen. Ich hatte das, ehrlicherweise, nicht gewusst. Und es hat mich sehr traurig gemacht. Ich bin zwar glücklich, in der Schweiz so grosszügig ein Aufenthaltsrecht bekommen zu haben. Aber seitdem ich weiss, dass es gleichzeitig für Flüchtlinge aus anderen Ländern immer schwieriger geworden ist, hier aufgenommen zu werden, vermag es mich nicht mehr so richtig glücklich zu machen…

In der Tat…

Aufgrund des Kriegs in der Ukraine hatte der Bundesrat per 12. März 2022 den Schutzstatus S für Personen aus der Ukraine aktiviert, die somit kein ordentliches Asylverfahren durchlaufen müssen. Zurzeit haben rund 66‘000 Personen aus der Ukraine einen aktiven Status S in der Schweiz. Der Schutzstatus S gilt bis zur Aufhebung durch den Bundesrat. Voraussetzung für die Aufhebung ist eine nachhaltige Stabilisierung der Lage in der Ukraine. Da sich eine solche zurzeit nicht abzeichnet, hat der Bundesrat beschlossen, den Schutzstatus S bis zum 4. März 2026 nicht aufzuheben. Die erstmals am 13. April 2022 beschlossenen spezifischen Unterstützungsmassnahmen für Personen mit Schutzstatus S werden deshalb ebenfalls bis zum 4. März 2026 verlängert. Der Bund beteiligt sich mit 3000 Franken pro Person und Jahr an den Integrationsanstrengungen der Kantone, insbesondere zur Sprachförderung und zum Zugang zur Bildung und zum Arbeitsmarkt. Zudem sollen mithilfe zusätzlicher Massnahmen die Kommunikation und die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure, die Unterstützung von Projekten zur Begleitung bei der Anerkennung von Qualifikationen und Diplomen und eine Optimierung der Vermittlung durch die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren verbessert werden. Schutzsuchende aus der Ukraine können und sollen durch Integrationsmassnahmen, Bildung und Erwerbsarbeit auch aktiv am sozialen Leben teilnehmen und Fähigkeiten im Hinblick auf eine künftige Rückkehr in die Heimat erhalten und aufbauen.

Als die Schweiz im März 2022 76‘195 anerkannte Flüchtlinge und 44‘779 vorläufig Aufgenommene zählte, zögerte die Regierung keinen Augenblick, weitere 62‘820 Menschen – ausschliesslich Ukrainerinnen und Ukrainer – aufzunehmen und für diese sogar extra einen eigenen Schutzstatus in Form einer S-Bewilligung mit besonderen Privilegien zu schaffen. Wenn heute, dreieinhalb Jahre später, ein paar Tausend Menschen aus Afghanistan, Eritrea oder dem Kongo in der Schweiz Schutz suchen, geht das grosse Wehklagen los, die Schweiz würde von Flüchtlingen «überflutet» und das «Boot» sei langsam «voll».

Als es um die Flüchtlinge aus der Ukraine ging, sprach kein Mensch von Überflutung und einem vollen Boot. Ganz im Gegenteil: Unzählige Türen, die zuvor dicht verschlossen waren, gingen plötzlich wie durch ein Wunder auf. Plötzlich sprachen die Medien auffallend oft, wenn es um Ukrainerinnen und Ukrainer ging, nicht mehr von «Flüchtlingen», sondern von «Schutzsuchenden». Tausende von Familien und Einzelpersonen nahmen ukrainische Flüchtlinge bei sich zuhause auf. Lastwagenweise wurden Möbel, Decken, Kleider, Spielsachen und Nahrungsmittel zusammengekarrt. Ganze Vereine wurden extra zu dem Zweck gegründet, Unterstützung für Menschen aus der Ukraine zu organisieren. Freiwillige Helferinnen und Helfer leisteten Tausende von Stunden Gratisarbeit. Eigens für ukrainische Kinder wurden Spiel- und Lerngruppen geschaffen, pensionierte Lehrkräfte sprangen für Deutschkurse ein, an welchen niemand ausser Menschen aus der Ukraine teilnehmen durften. Man organisierte ganze Kunstausstellungen, Theater- und Konzertaufführungen, an denen sich ausschliesslich Menschen aus der Ukraine aktiv beteiligen durften. An zahllosen Balkonen, auf Kirchtürmen und selbst an Regierungsgebäuden wehten landauf landab auf einmal überall ukrainische Nationalflaggen und nicht wenige Schweizerinnen und Schweizer erachteten es sogar plötzlich als besonders schick, Kleider oder Accessoires in den ukrainischen Nationalfarben zu tragen. Eine schon fast überirdische Euphorie war ausgebrochen, die bis heute, auch wenn sie an ihrer anfänglichen Überschwänglichkeit inzwischen etwas eingebüsst hat, immer noch an allen Ecken und Enden zu spüren ist. Selbst auf der Webseite der «Schweizerischen Flüchtlingshilfe» gibt es eine Hotline ausschliesslich für ukrainische Flüchtlinge, ein Privileg, dass keiner einzigen anderen Nationalität zugestanden wird.

Von Kiew bis an die Schweizer Grenze sind es 2108 Kilometer. Laut Google schafft man das mit einem SUV in 23 Stunden und 23 Minuten. An jedem Grenzübergang wird man freundlich durchgewinkt. Und am Ziel wird man zu einem Festmahl eingeladen in ein prachtvoll eingerichtetes Haus, wo alle Betten schon für die neuen Gäste frisch angezogen worden sind.

Von Kabul bis an die Schweizer Grenze sind es 6705 Kilometer. Rechnet man die vielen Umwege dazu, welche Flüchtlinge aus Afghanistan notgedrungen auf sich nehmen müssen, kommt man auf geschätzte 7500 Kilometer. Zu Fuss ist man zwischen einem und acht Jahren unterwegs. An den Grenzübergängen wird man entweder – als Frau – brutal vergewaltigt oder – als Mann – halb zu Tode geprügelt. Es wird auf einen geschossen, es werden einem die Kleider vom Leib gerissen, man geht sämtlicher Habseligkeiten verlustig und man wird von Bluthunden in unwirtliches Umland gehetzt, wo es nichts zu essen und zu trinken gibt. Hat man das Pech, unterwegs von der Polizei oder von Armeeangehörigen aufgegriffen zu werden, wird man früher oder später an diesen Ort zurückgeschafft, selbst wenn die dortigen Lebensbedingungen jeglicher Menschenwürde spotten. Und steht man dann trotz alledem nach sechs oder acht Jahren an der Schweizer Grenze, gibt es kein Festmahl und keine frisch angezogenen Betten, sondern allerhöchstens einen Fusstritt und ein Stück Papier mit der Aufforderung, sich nie wieder hier blicken zu lassen.

«Was mich umtreibt», schreibt Peter G. Kirchschläger, Ethikprofessor an der Uni Luzern, im «Tagesanzeiger» vom 29.11.24, «ist der Versuch von Bundesrat und Parlament, die grosse Solidarität mit der Ukraine durch gleichzeitig unsolidarisches Handeln gegenüber den Ärmsten in den Ländern des Globalen Südens zu realisieren. Wir sind als humanitärer Akteur unglaubwürdig, wenn unsere Solidarität nur jeweils bis zu unserem nächsten Nachbar reicht und wir vor dem Elend, das weiter weg geschieht, die Augen verschliessen. Von der ohnehin schon knausrigen Schweizer Entwicklungshilfe – sie beträgt derzeit nur knapp die Hälfte des international vereinbarten Ziels von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens – werden 13% ausschliesslich für die Ukraine verwendet. Und die ausschliesslich für den Wiederaufbau der Ukraine vorgesehenen 1,5 Milliarden Franken werden erst noch vom Gesamtbetrag aller Entwicklungshilfegelder  abgezogen, sodass für sämtliche Hilfsleistungen beispielsweise in ganz Subsahara-Afrika weniger Geld übrigbleibt als die für die Ukraine gesprochenen Leistungen. Dazu kommt, dass von den für den Wiederaufbau der Ukraine erforderlichen Mitteln ein Drittel an Schweizer Unternehmen fliesst und somit eigentlich nicht als Entwicklungshilfe, sondern als Wirtschaftsförderung budgetiert werden müsste.»

Wahlen in der ehemaligen Sowjetrepublik Moldau: Die westlichen Medien werden immer unverschämter…

Peter Sutter, 3. Oktober 2025

„Moskau zieht uns zurück in die Grauzone“, so der Titel eines Artikels in der Schweizer Gratiszeitung „20minuten“ vom 28. September 2025 zu den bevorstehenden Parlamentswahlen in der ehemaligen Sowjetrepublik Moldau. Die Ex-Sowjetrepublik, so ist zu lesen, „steht vor einem Zukunftsentscheid: Russland oder Europa“. Diese Wahlen, so wird die proeuropäische Regierungspräsidenten Maia Sandu zitiert, würden darüber entscheiden, ob „wir unsere Demokratie festigen und der EU beitreten oder ob Russland uns zurück in eine Grauzone zieht und uns zu einem regionalen Risiko macht“. Die proeuropäische Regierung von Maia Sandu, so „20minuten“, wolle das Land bis 2028 in die EU führen. Russland halte dagegen und versuche mit „Desinformation, Stimmenkauf und Störmanövern, den prowestlichen Kurs des Landes zu unterdrücken“. Sollten am 29. September die prorussischen Kräfte gewinnen, so Maia Sandu, drohe nicht nur ein „Ende des bisherigen Reformkurses des Landes“, sondern dies wäre auch ein „geopolitischer Rückschlag weit über Moldau hinaus“. Hinweise auf eine russische Einflussnahme auf diese Wahlen gäbe es „en masse“, so „20minuten“. So hätte eine Recherche der BBC ein „Netzwerk“ aufgedeckt, das eine „gefälschte Umfrage zu politischen Präferenzen verbreitet“ hätte. Mithilfe eines „verdeckten Reporters“ hätte man herausgefunden, dass das Netzwerk „dafür bezahlt“ hätte, dass „prorussische Propaganda und Fake News gestreut und so die proeuropäische Regierungspartei untergraben“ werde. Auch der Politologe Valeriu Pasa spreche von einer „massiven Desinformationskampagne“ Russlands. So habe er mit seiner Organisation Watchdog unter anderem „Online-Falschinformationen“ und „andere Manipulationen im Netz“ dokumentiert.

Trotz dieser angeblichen massiven Einmischung Russlands in den Wahlkampf errang die Proeuropäische Regierungspartei in den Tags darauf stattfindenden Wahlen eine Mehrheit von 50,1 Prozent der Stimmen, während sich der prorussische Patriotische Block mit 24,2 Prozent zufrieden geben musste. Die westliche Presse jubelte: Gerade noch mal gut gegangen, die Demokratie gerettet…

Doch was war tatsächlich daran, an diesen zahlreichen „Störmanövern“, den massiven „Desinformationskampagnen“, dem „Stimmenkauf“, den „gefälschten Umfragen“ und den „Manipulationen im Netz“, mit denen Russland versucht haben soll, auf diese Wahlen dermassen massiv Einfluss zu nehmen, um sie nach seinen Gunsten zu drehen?

Ich konsultiere fünf für die westlichen Medien repräsentative Presseorgane: n-tv, taz, ZDF, Welt und den schweizerischen Tagesanzeiger, alle am 29. bzw. 30. September 2025…

N-tv berichtet, „trotz Störfeuern und massivem Druck aus Moskau“ habe die Proeuropäische Regierungspartei die Wahlen in Moldau „klar gewonnen“.

Taz zitiert in ihrem Bericht die bisherige und wiedergewählte proeuropäische Präsidentin Maia Sandu mit folgenden Worten: „Wir haben der Welt gezeigt, dass wir ein Land mit mutigen und stolzen Bürgern sind. Moldau zeigt uns heute, dass man vor Russland nicht einknicken darf, sondern sich verteidigen und siegen kann.“ Diese Wahlen, so taz, seien eine „Schicksalsentscheidung über die verarmte Ex-Sowjetrepublik an der strategischen Schnittstelle zwischen Rumänien und der Ukraine“ gewesen. Der Kreml habe angesichts der Bedeutung dieser Wahlen „erhebliche Mittel in Stimmenkauf, Desinformation und Social-Media-Kampagnen investiert.“

ZDF zitiert ebenfalls die Regierungspräsidentin Maia Sandu, die „Russlands massive Einflussnahme auf diese richtungsweisende Wahlen“ kritisiert habe und Moskau vorwerfe, „durch Desinformation und Stimmenkauf“ in die Wahlen eingegriffen zu haben. Auch der nationale Sicherheitsberater Stanislaw habe gesagt, es habe „Cyberangriffe auf die Wahlinfrastruktur sowie gefälschte Bombendrohungen in Wahllokalen“ gegeben.

Auch die „Welt“ beruft sich in ihrer Berichterstattung ausschliesslich auf Maia Sandu, die per Facebook mitgeteilt hätte, es habe zahlreiche Berichte gegeben, wonach „Wähler illegal zu Wahllokalen im Ausland gebracht worden“ seien. Das sei „offensichtlich gegen Geld passiert“. Zudem seien „mutmasslich unausgefüllte Stimmzettel aus Wahlurnen entfernt“ worden, damit sie später „bereits gestempelt“ hätten abgegeben werden können.

Ebenso zitiert der schweizerische Tagesanzeiger Maia Sandu mit den Worten, Russland habe sich „massiv eingemischt“. Zudem hätte die Nichtregierungsorganisation Promo-Lex von „254 bestätigten Vorfällen“ berichtet, bei denen „unter anderem unbefugte Personen in Wahllokalen erschienen“ seien oder „Wählerinnen oder Wähler Aufnahmen von ihrem Stimmzettel gemacht“ hätten.

Wenn alle das Gleiche schreiben, so denkt sich nun wohl der geneigte Leser, die geneigte Leserin, muss es ja wohl so sein. Es können sich ja nicht alle irren. Und doch bleibt bei mir ein ungutes Gefühl zurück. Erstens, weil in fast jedem dieser Artikel immerhin doch kurz, meistens zwar nur in einem einzigen Satz, darauf hingewiesen wird, dass Russland sämtlicher dieser Vorwürfe einer Einflussnahme wiederholt dementiert habe. Zweitens, weil in allen diesen Artikeln ausschliesslich westliche Politikerinnen und Politiker, allen vorab Maia Sandu, die proeuropäische Regierungspräsidentin Moldaus, zitiert wird, nie aber eine Sprecherin oder ein Sprecher der russischen Seite. Und drittens, weil viele der scheinbaren Tatsachen mit den Begriffen „mutmasslich“ oder „möglicherweise“ versehen sind, was auf verdächtige Weise aktuell gerade an die zahlreichen „Drohnensichtungen“ über NATO-Ländern erinnert, von denen manchmal innerhalb des gleichen Satzes ihre russische Herkunft nicht im Geringsten in Frage gestellt wird, gleichzeitig aber eingeräumt wird, dass es noch nicht eindeutig geklärt sei, wer und weshalb diese grosse Zahl von Drohnen überhaupt in die Luft geschickt würden. Fake News? False-Flag-Actions? Wem kann man da noch wirklich glauben?

Aber ja, eine wirklich überzeugende Gegendarstellung zu den Behauptungen massiver russischer „Beeinflussung“ und russischer „Störmanöver“ habe ich trotz längerem Recherchieren noch nicht gefunden.

Bis ich auf einen Artikel der Berliner Zeitung vom 29. September 2025 unter dem Titel „So beeinflusst die EU Wahlen und erpresst euroskeptische Länder“ stosse. Und siehe da, auf einen Schlag bestätigen sich alle meine Vermutungen und alle meine Skepsis. Denn die Berliner Zeitung ist alles andere als ein antiwestliches Hetzblatt, sondern schlicht und einfach von Journalisten gemacht, die, statt einfach anderen alles abzuschreiben, offensichtlich noch selbstbestimmt und unabhängig ihre eigenen Recherchen vorzunehmen…

„Das moldauische Volk hat das Recht, ohne äussere Einmischung über seine eigene Zukunft zu entscheiden“, erklärte die EU-Aussenbeauftragte Kaja Kallas vor einem Monat während einer Pressekonferenz des EU-Moldau-Assoziationsrats. Um dieses Recht zu wahren, hat sich die EU jedoch massiv in die jüngsten Wahlen in Moldau eingemischtBei der Parlamentswahl am Sonntag erzielte die proeuropäische Partei der Aktion und Solidarität (PAS) unter der Führung von Maia Sandu nach Auszählung nahezu aller Stimmen 50,1 Prozent. Der prorussische Patriotische Block kam auf 24,2 Prozent. Kurz vor den Wahlen kam es zu zahlreichen Razzien und Gerichtsurteilen, die zum Ausschluss von zwei kremlnahen Parteien führten… Auch in Rumänien erklärte das Verfassungsgericht in Bukarest, nachdem Ende November 2024 der prorussische Kandidat Calin Georgescu die erste Wahlrunde gewonnen hatte, kurz vor der Stichwahl das Ergebnis aufgrund angeblicher Unregelmässigkeiten bei der Wahlkampffinanzierung für ungültig. Der Vorwurf: Russland habe sich in den Wahlprozess eingemischt – handfeste Beweise fehlen bis heute. Schliesslich trat der proeuropäische Kandidat Nicusor Dan als Sieger hervor und wurde Präsident von Rumänien... In Moldau zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Die prorussischen Parteien Herz Moldaus und Moldova Mare sowie der Wahlblock Alternative wurden nur zwei Tage vor der Wahl von der Zentralen Wahlkommission, dem Justizministerium und Gerichten ausgeschlossen, wegen angeblicher illegaler russischer Finanzierungen in Millionenhöhe, Wählerbestechung, Verbindungen zur verbotenen Sor-Partei und „Desinformationskampagnen“ in den sozialen Medien. Konkrete Beweise wurden bisher jedoch nicht öffentlich gemacht. Dennoch kam es unmittelbar vor den Wahlen zu zahlreichen Verhaftungen... Die Wahl ist nun Geschichte, und der „Gewinner“ ist Europa – oder vielmehr die Europäische Union. „Unsere Tür ist offen“, schrieb EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf Bluesky und gratulierte Moldau zum Wahlausgang: „Wir werden ihnen bei jedem Schritt Seite an Seite stehen.“ Das Land hat 2024 offiziell den EU-Beitritt eingeleitet. Der Wunsch Brüssels ist unmissverständlich: „Europa ist Moldau. Moldau ist Europa“, sagte EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola... Doch ist das nicht auch eine Form ausländischer Einflussnahme? Schliesslich stellt die EU zunehmend Mittel für NGOs und Medien in osteuropäischen und EU-skeptischen Ländern zur Verfügung, um ihre Agenda voranzutreiben. Bislang jedoch wurde kein proeuropäischer Kandidat aus den Wahlen ausgeschlossen oder verhaftet... Brüssel versprach Moldau unter anderem einen „Wachstumsplan“ im Wert von 1,8 Milliarden Euro, jedoch nur, wenn die Regierung die EU-Bedingungen erfüllt. Darüber hinaus wurden EU-Steuergelder in Höhe von 200 Millionen Euro als „Verteidigungshilfe“ gegen Russland bereitgestellt. Am 4. September zahlte die EU-Kommission 18,9 Millionen Euro aus dem „Wachstumsplan“ aus. Die EU investiert ausserdem Millionen von Euro in den Osten Europas, um gegen „Desinformation“ vorzugehen und Medien sowie Journalismus-Projekte zu fördern. Im Rahmen des Programms EU4Independent Media (EU4IM) hat die EU zwischen 2022 und 2025 fast acht Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um Medien in der Ukraine, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Belarus und Moldau zu unterstützen. Ziel des Programms ist es unter anderem, „unabhängige Medienorganisationen“ im Kampf gegen „russisch geprägte Fehlinformationen“ zu stärken... Mitte September entsandte die EU-Kommission ein „Rapid Response Team“ nach Moldau, das gegen „russische Desinformation“ und „Wahlmanipulation“ vorgehen sollte. „Wir haben kürzlich ein Expertenteam entsandt, um Moldau im Kampf gegen ausländische Einmischung zu unterstützen“, erklärte die EU-Aussenbeauftragte Kaja Kallas im Vorfeld. Oder, präziser gesagt, um sich selbst in die Wahlen direkt aus Brüssel einzumischen... Nordnews, das Nachrichtenportal, das die Vorwürfe der „russischen Einflussnahme“ bei der Parlamentswahl in Moldau zuerst hervorgebracht hat, wird ebenfalls von der Europäischen Union mitfinanziert.

Und ja. Heute traf ich mich mit Freunden zu einem Bier. Alles Leute, die man als „gebildet“ und „belesen“ bezeichnen könnte und die nicht grundsätzlich alles blindlings glauben, was man ihnen vor die Nase setzt. Und doch war ich der Einzige in der Runde, der im Zusammenhang mit den Wahlen in Moldau nicht ausschliesslich von Beeinflussung und Störmanövern durch Russland sprach. Offensichtlich hatte keiner von ihnen die Berliner Zeitung gelesen. Wäre ja auch purer Zufall gewesen.

Die westlichen Medien werden immer unverschämter. Einst war der Journalismus neben der Legislative, der Exekutive und der Justiz die vierte, unabhängige Gewalt im demokratischen Staat. Tempi passati, heute plappern fast alle Medien das nach, was ihnen von den politischen, ökonomischen und militärischen Machtträgern vorgekaut wird. Der Grund dafür, dass fast alle das Gleiche schreiben, ist nicht, dass es die Wahrheit ist, sondern nur, dass sich alle alles gegenseitig abschreiben und sich schon kaum irgendwer noch die Mühe nimmt, selber und unabhängig der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Und so muss man selber und mit einem Riesenaufwand diese Arbeit leisten, bis man zum Beispiel irgendwann, oder vielleicht auch nicht, auf eine Berliner Zeitung stösst, wie auf eine Nadel im Heuhaufen. Aber kann es denn allen Ernstes die Aufgabe des Einzelnen sein, diese Arbeit mit einem Riesenaufwand an Zeit, die heute ja kaum jemandem in diesem Ausmass noch zur Verfügung steht, zu leisten? Wäre es nicht viel demokratischer, anstelle Dutzender Medienprodukte, die sich praktisch wie ein Ei dem andern ähneln, nur noch eine einzige, dafür umso aufwendiger recherchierte Tageszeitung zu haben, in der zu jeder Darstellung der einen Seite zwingendermassen immer auch eine gleichgewichtete Gegendarstellung der anderen Seite zu lesen wäre? Denn eigentlich müssten sich ja die einzelnen Bürgerinnen und Bürger ganz frei von jeglichen „Beeinflussungen“ und „Störmanövern“ ihre ganz eigene, selbstbestimmte und fundierte Meinung bilden können…

In diesem Augenblick erinnere ich mich an einen Albtraum, den ich vor vielen Jahren hatte, aber bis heute nicht vergessen konnte. Ich sah zuerst eine Wiese, auf der die Gräser alle in verschiedene Richtungen schauten, als wäre es das Recht oder gar die Bestimmung jedes einzelnen Grases, selber zu entscheiden, nach welcher Seite es sich ausrichten wollte. Doch auf einmal zog ein Sturmwind über den Himmel und wie von Zauberhand gesteuert schauten alle Gräser plötzlich nur noch in eine einzige gleiche Richtung. Es lief mir eiskalt über den Rücken. Erst heute verstehe ich so richtig, was dieser Traum mir sagen wollte: Lasst es nie so weit kommen. Wenn alle Menschen plötzlich gleich denken, nur weil ein unsichtbarer Sturm sie alle in die gleiche Richtung drängt, dann sind die Zeiten nicht mehr gut. Denn das ist die Zeit vor dem Tag, an dem auf einmal so unvorstellbare Dinge wie Krieg wieder denkbar werden. Doch noch ist, dank jeder einzelnen kritischen Stimme, Hoffnung. Erst wenn sich der allerletzte Grashalm verbogen hat, ist es endgültig zu spät.