Die Kinder würden, wenn sie könnten, bis zum Mond krabbeln, nur um möglichst viel zu lernen.
Archiv des Autors: Peter Sutter
Die klein-grosse Geschichte eines Schulverweigerers, der heute Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Luzern ist und als DER Experte für chinesische Buchkunst gilt…
Lieber Heinz. Die „Kleine Geschichte“, die du mir heute geschickt hast, ist für mich eine ganz wirklich Grosse Geschichte. Würde man das, was sich aus ihr lernen lässt, wirklich ernst nehmen, würde unser traditionelles, auf Jahrgangsklassen und Lehrpläne zugeschnittenes Schulsystem augenblicklich wie ein längst veraltetes und morsch gewordenes Kartenhaus in sich zusammenbrechen. Danke für deinen Mut und deine Konsequenz, sie sollten allen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, ein leuchtendes Vorbild sein…
Und das ist die klein-grosse Geschichte vom Schulverweigerer, der heute Dozent für Gestaltung an der Hochschule Luzern ist und als DER Experte für chinesische Buchkunst gilt:
Ende der 70er Jahre unterrichtete ich während zwei Jahren an einer Realschule in einer Vorortgemeinde von Luzern. Eine ältere Lehrerin hatte verlangt, nur noch Mädchen zu unterrichten, und das wurde ihr erlaubt. Unglaublich. Also hatte der Neue, also ich, nur Jungs. In meiner Klasse war der Christian, ein lieber Junge, aber das Schulische verweigerte er konsequent – allerdings gar nicht auf eine renitente Art. Er fragte mich einfach, ob er zeichnen dürfe, und zwar wandgross. Das erlaubte ich ihm und spannte ein grosses Papier auf. Wochenlang tat er nun nichts anderes, er zeichnete eine Schlacht, die Preussen gegen die Ulanen, Hunderte von Figuren. Als ruchbar wurde, dass bei mir einer nur zeichne, gab es natürlich Zoff mit der Schulleitung. Doch das war mir egal. Als Christian die Zeichnung fertig hatte, fragte er, ob er seine Nähmaschine in die Schule mitnehmen dürfe. Auch das erlaubte ich ihm, worauf er für etwa 30 Stofftiere Fussballtrikots nähte und dann auf grünem Stoff Matches nachstellte und diese fotografierte.
Auch nach der Zeit, während der er bei mir in der Schule war, hatte ich immer wieder Kontakt mit ihm. Und eines Tages eröffnete er mir, dass er gerne auf dem zweiten Bildungsweg das Lehrerpatent machen würde. Ich sagte ihm, dass er drauf achten müsse, dass die Prüfungskommission nicht merken würde, dass er „nur“ einen Realschulabschluss hatte. Tatsächlich schaffte er es, flog dann aber wegen seiner schlechten Französischkenntnisse hinaus. Inzwischen hatte er aber ein Diplom in Italienisch und Spanisch, was für einen Primarlehrer wohl mindestens so wichtig ist wie das Französische.
Irgendwann rief er mich an, ob er mir die Arbeiten zeigen dürfe, die er für die Aufnahme für den Vorkurs an der Schule für Gestaltung habe anfertigen müssen. Nach dem erfolgreich abgeschlossenen Vorkurs ging er zum Weiterstudium nach Dresden. Dann hörte ich lange nichts mehr von ihm und als er eines Tages wieder auftauchte, erzählte er mir, er sei vier Jahre lang in China gewesen und nun als Dozent an einer Hochschule in Dresden tätig.
Mittlerweile ist Christian 60 Jahre alt und Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Luzern. Er sei, habe ich erfahren, DER Experte, wenn es um chinesische Buchkunst gehe.
Ich will absolut nichts für mich in Anspruch nehmen, aber manchmal frage ich mich schon, was wohl gewesen wäre, wenn ich ihn nicht so lange Zeit ausschliesslich zeichnen und nähen gelassen hätte…
Miguel und die Deutschprüfung zum Thema „Nomen“: Wenn Steine, statt sie wegzuräumen, mitten in den Weg des Lernens gelegt werden…
Der elfjährige Miguel ist vor drei Jahren mit seiner Familie aus Mexiko in die Schweiz gekommen. Jetzt ist er in der fünften Klasse. Morgen steht eine Deutschprüfung zum Thema „Nomen“ an. Wir schauen uns die Lernziele an. Er ist voller Eifer, möchte unbedingt eine gute Note machen. Akribisch notiert er sich die Tipps, die ich ihm gebe, alles in Spanisch, damit er es sich besser einprägen kann.
Eines der Lernziele lautet: Nomen mit dem richtigen Artikel versehen. Also: Was ist korrekt, „der Ball“ oder „das Ball“? Miguel fragt mich, ob es dafür eine Regel gäbe. Leider nicht, sage ich, man muss das bei jedem Wort wieder neu lernen. Es gibt keinen logischen Zusammenhang. Es ist leider auch nicht so, dass es in jeder Sprache gleich ist, im Spanischen ist es „la pelota“, also weiblich, im Deutschen „der Ball“, also männlich. Wie dumm, meint Miguel, warum haben die das nicht miteinander abgemacht, als sie die Sprachen erfunden haben, es wäre doch so viel einfacher. Enttäuscht notiert er in sein Heft „ninguna regla“ – keine Regel. Zweifellos wird er in diesem Teil der Prüfung keine hohe Punktzahl erreichen. Schlicht und einfach deshalb, weil er im Vergleich zu seinen Mitschülerinnen und Mitschülern mit deutscher Muttersprache alle diese Artikel noch viel zu wenig oft gehört hat, um diese sozusagen „automatisiert“ zu haben.
Ein weiteres Lernziel lautet, in einem Text, in dem alle Wörter mit Grossbuchstaben geschrieben sind, die Nomen zu erkennen und diese zu unterstreichen. Eine seltsame Aufgabe, denn normalerweise werden ja in einem Text nie alle Wörter mit Grossbuchstaben geschrieben. Miguel ist offensichtlich verwirrt. Wir lesen eine Beispielübung zu diesem Lernziel und ich stelle fest, dass er – völlig verständlich – die Bedeutung etwa der Hälfte der Wörter gar nicht kennt. Da kommen Wörter vor wie „nacheifern“, „unterstellen“ oder „aufgeben“, die Miguel noch nie gehört hat. Wie soll er nun in einem Text die Nomen erkennen können, wenn er so viele Wörter nicht einmal versteht? Es nützt auch nichts, wenn ich ihm die Bedeutung dieser Wörter erkläre, denn in der Prüfung werden wieder ganz andere Wörter vorkommen, die Miguel ebenfalls noch nie gehört hat. Ich erkläre ihm dann, dass man Nomen dadurch erkennt, dass man sie mit einem Artikel versehen kann. Das probiert er sogleich aus und es funktioniert tatsächlich. Weil er aber die Sätze in ihrem Gesamtzusammenhang nicht erkennt und intuitiv merkt, welches die Nomen sind, muss er nun diese Regel bei jedem einzelnen Wort ausprobieren, was äusserst zweitaufwendig ist. Wenn er das in der Prüfung so machen will, dann wird er für diese einzige Aufgabe vermutlich so viel Zeit brauchen, dass ihm für die restlichen Aufgaben kaum mehr viel Zeit zur Verfügung stehen wird.
Ein drittes Lernziel lautet, aus Adjektiven oder Verben durch Anhängen eines entsprechenden Suffixes ein Nomen zu bilden, also zum Beispiel aus „nachhaltig“ die „Nachhaltigkeit“, oder aus „üben“ die „Übung“. Wieder fragt mich Miguel nach einer Regel. Und wieder muss ich ihn enttäuschen. Es gibt keinen logischen Grund, weshalb es „Nachhaltigkeit“ heisst und nicht „Nachhaltigung“, warum „Übertreibung“ und nicht „Übertreibigkeit“. Man muss die Wörter einfach genug oft gehört haben, es muss einfach genug tief ins Ohr bzw. ins Unbewusste eingedrungen sein, anders kann es sich nicht im Gedächtnis festhalten, ganz abgesehen davon, dass Miguel ja nicht einmal weiss, was „nachhaltig“ bedeutet und es eigentlich völlig absurd ist, wenn er nur Nomen aus Wörtern bilden soll, die für ihn überhaupt keinen Sinn machen. Wieder notiert er in sein Heft „ninguna regla“ und ahnt wahrscheinlich bereits, dass er auch in diesem Teil der Prüfung nicht sehr viele Punkte erreichen wird.
Die weiteren Lernziele sind ähnlich. Wenn es keine muttersprachliche, über viele Jahre schon ab der Geburt nach und nach gewachsene Verankerung im Sprachgedächtnis gibt, kann Miguel noch so viele Regeln auswendig lernen, sich noch so sehr anstrengen – immer wird er hoffnungslos im Nachteil sein gegenüber seinen Mitschülerinnen und Mitschülern deutscher Muttersprache. Nicht weil er weniger „gescheit“ wäre, nicht weil er weniger „sprachbegabt“ wäre, nicht weil er ein schlechteres Gedächtnis hätte, sondern schlicht und einfach deshalb, weil das Deutsche nicht seine Muttersprache ist, die er schon als Baby sozusagen mit der Muttermilch in sich aufgesogen hat. Fazit: Man kann Miguel deshalb gar nicht mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern vergleichen, ebenso wenig, wie man eine Schnecke mit einem Hasen, ein Gänseblümchen mit einer Rose, Äpfel mit Birnen vergleichen kann.
Und doch tut man es. Miguel muss exakt die gleiche Prüfung absolvieren wie alle seine Mitschülerinnen und Mitschüler deutscher Muttersprache. Wozu? Weshalb? Und mit welchen Folgen? Mit Lernförderung hat dies nicht das Geringste zu tun. Lernförderung wäre, Miguel bei seiner individuellen Sprachentwicklung – bei der er im Übrigen innerhalb der drei Jahre, die er bisher in der Schweiz gelebt hat, schon unglaubliche Fortschritte gemacht hat – gezielt zu unterstützen, ihm dabei ganz viele positive Erlebnisse und Gefühle zu vermitteln, ihn dabei immer mehr zu stärken und ihm das Gefühl zu vermitteln, ein unglaublich begabter, intelligenter Mensch zu sein, denn das ist er zweifellos. Aber diese Deutschprüfung zum Thema „Nomen“, mit der er morgen konfrontiert sein wird, wird genau das Gegenteil bewirken. Es wird zweifellos für ihn, der doch so gerne eine gute Note schaffen würde, eine riesige Enttäuschung sein, es wird an seinem Selbstvertrauen nagen und er wird sich vielleicht sogar im schlimmsten Fall die Frage stellen, ob er vielleicht tatsächlich ein bisschen dümmer ist als Röbi, Marianne und Christine, die mit ihren Fünfeinhalbern und Sechsern erhobenen Hauptes nach Hause gehen und von ihren Eltern beglückwünscht werden, während Miguels Papa und Mama die Stirn runzeln und vielleicht nicht einmal so richtig verstehen können, weshalb Miguel keine bessere Note hätte schaffen können, auch wenn er sich noch so sehr angestrengt hätte.
Wie absurd. Lehrkräfte beklagen sich über mangelnde Deutschkenntnisse „fremdsprachiger“ Kinder. Aber sie tun alles, damit es nur noch schlimmer wird. Denn Prüfungen wie diese haben nicht den geringsten Lerneffekt, sie zerstören bloss bereits Vorhandenes. Es ist im Grunde doch völlig zweitrangig, ob es korrekt „der Ball“, „die Ball“ oder „das Ball“ heisst. Es spielt im wirklichen Leben auch nicht die geringste Rolle, ob man das Wort „Ball“ mit einem kleinen oder grossen Anfangsbuchstaben schreibt. Zu 99 Prozent ist das Wesentliche, dass Miguel weiss, was ein „Ball“ ist. Wenn er beim Spielen seinen Ball nicht mehr findet, dann zählt, wenn er das Nachbarkind fragt, ob es ihn irgendwo gesehen habe, einzig und allein, dass er dieses Wort kennt und verwenden kann, alles andere, die grammatikalische „Perfektion“, ist völlig nebensächlich – wie es auch überhaupt nicht wesentlich ist, ob man „ich bin gesessen“ oder „ich bin gesitzt“ sagt, das Entscheidende ist doch einzig und allein, dass mein Gesprächspartner versteht, was für eine Botschaft ich ihm übermitteln will – die Perfektion kommt mit der Zeit ganz von selber, so wie wir das beim natürlichen Lernen der ersten Lebensjahre beobachten können: Auch im Alter von vier oder fünf Jahren sagen viele Kinder noch „Ich bin gesitzt“ – ein oder zwei Jahre später sagt ein jedes von ihnen „ich bin gesessen“, ohne dass hierfür irgendein von aussen vorgeschriebenes „Lernziel“, eine Prüfung oder eine Note nötig gewesen wäre, sondern nur ganz einfach dadurch, dass das Kind genug oft das „Richtige“ gehört und sich dieses Richtige dadurch früher oder später „automatisiert“ hat. Und genau so lernt auch Miguel. Auch er wird eines Tages wissen, dass der Ball „männlich“ ist und die Zitrone „weiblich“ und man nicht „Nachhaltigung“ sagt, sondern „Nachhaltigkeit“. Aber hierfür bräuchte es rein gar nichts in der Art wie die Deutschprüfung, die er morgen absolvieren muss und die ihm heute schon so viel Bauchweh bereitet.
Die Schule schafft es, diesem einen Prozent Unwesentlichen gegenüber dem 99 Prozent Wesentlichen unvergleichlich viel zu viel Gewicht zu geben und damit den lernenden Kindern unnötig viel zu viele Steine in den Weg zu legen, über die sie stolpern können, statt alle diese Steine möglichst aus dem Weg zu räumen und die Flügel der Kinder, egal woher sie kommen und egal, welche Lernerfahrungen sie schon gesammelt haben, auf dem Weg ihres Lernens immer mehr zu stärken. Denn die brutale Folge ist, dass Miguel wegen der schlechten Note in der „Nomenprüfung“, die fast zwangsläufig auf ihn zukommen wird, mehr oder weniger viel von seinem Selbstvertrauen verlieren wird, sein Verhältnis zur Sprache dadurch auch mehr und mehr negativ belastet werden könnte, er auch in einer weiteren Prüfung vermutlich wieder scheitern wird und die Konsequenz von alledem darin besteht, dass er irgendwann als Schüler mit „schwachen“ sprachlichen Leistungen taxiert wird und ihm deshalb dann zahlreiche zukünftige Lern-, Entwicklungs- und Bildungswege verwehrt bleiben werden, die für andere ganz selbstverständlich sind. Nicht weil er weniger intelligent, weniger ehrgeizig, fleissig und wissbegierig wäre, sondern einzig und allein deshalb, weil er das „Pech“ hatte, erst im Alter von acht Jahren in jenes „Sprachbad“ eintauchen zu können, in dem sich alle anderen schon acht Jahre lang bewegt hatten. So absurde und lernfeindliche Dinge wie eine Deutschprüfung, bei der Kinder wie Miguel resigniert zum Schluss gelangen müssen, dass es leider „ninguna regla“ gibt, müssten für immer der Vergangenheit angehören…
(Nachtrag am 5. September 2024. Mein Brief an die Deutschlehrerin von Miguel: „Er hat sich voller Eifer auf diesen Test vorbereitet, er wollte unbedingt eine gute Note machen. Aber beim Üben wurde mir bewusst, dass dies für ihn, da ja Deutsch nicht seine Muttersprache ist, nahezu unmöglich ist. Er kennt einfach noch nicht die korrekten Artikel bzw. das Geschlecht der Nomen. Kann er auch nicht, weil es ja hierfür keine logischen Regeln gibt und er einfach, im Gegensatz zu seinen Mitschülerinnen und Mitschüler mit deutscher Muttersprache, dies noch nicht „im Ohr“ hat, noch nicht verinnerlicht hat, es noch nicht in seinem Gedächtnis verankert und in seinem Unterbewusstsein angekommen ist. Er könnte stundenlang üben, aber es würde nicht viel nützen. Das Gleiche, wenn er in einem Text, in dem alle Wörter mit Grossbuchstaben geschrieben sind, die Nomen erkennen soll. Wenn er etwa die Hälfte der Wörter gar nicht versteht und deshalb auch keinen Sinnzusammenhang hat, kann er, wiederum im Gegensatz zu seinen deutschsprachigen Mitschülerinnen und Mitschülern, nicht intuitiv erfassen, welches die Nomen sein könnten, also muss er bei jedem einzelnen Wort ausprobieren, ob man ihm einen Artikel voranstellen könnte oder nicht. Das braucht aber so viel Zeit, dass ihm dann wahrscheinlich viel zu wenig Zeit bleibt, um auch noch die übrigen Aufgaben zu bewältigen. Auch herauszufinden, wie man aus Adjektiven Nomen bilden kann, ist für ein Kind, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist, extrem anspruchsvoll. Wenn er nicht einmal die Bedeutung des Wortes „nachhaltig“ kennt, wie soll er dann wissen, dass das zugehörige Nomen „Nachhaltigkeit“ heisst? Es könnte ja ebenso gut „Nachhaltigung“ lauten, er verfügt deshalb über keine Regel, auf die er sich abstützen kann. Bei allen Aufgaben des Tests ist das fremdsprachige Kind zum Vornherein überfordert und gegenüber den deutschsprachigen Mitschülerinnen und Mitschülern krass benachteiligt. Und so kam es, wie ich erwartet hatte: Trotz fleissigem Üben und seinem starken Willen und Ehrgeiz schaffte er nur eine 3,5, die – wie er mir sagte – viertschlechteste Note der Klasse, und war entsprechend enttäuscht. Ich habe mir dann überlegt, ob man nicht für diese Kinder einen separaten Test machen könnte, in dem sie zeigen können, was sie schon alles können und gelernt haben, und nicht damit konfrontiert werden, was sie noch nicht können und noch nicht lernen konnten. Folgende Testaufgaben könnte ich mir für anderssprachige Kinder vorstellen: Sie sollen zu vorgegebenen Nomen ein passendes Adjektiv setzen, also zum Beispiel zu „Ball“ das Adjektiv „rund“ oder zu „Haus“ das Adjektiv „hoch“. Eine andere Aufgabe könnte sein, dass sie 10 Nomen bekommen, die sie in einem Lückentext an der richtigen Stelle einsetzen müssten. Oder Sätze mit korrekten Aussagen (z.B. Viele Flüsse fliessen ins Meer) von Sätzen mit falschen Aussagen (z.B. Kieselsteine sind grösser als Berge) unterscheiden, immer mit einem ihren Möglichkeiten angepassten Wortschatz. Oder von 5 Nomen (z.B. Rose – Apfelbaum – Igel – Löwenzahn – Gras) herausfinden, welches von ihnen nicht zu den anderen vier passt. Wahrscheinlich würden sie auch dann nicht alles korrekt lösen können, aber mindestens hätten sie eine echte Chance auf eine gute Note, und das würde ihr Selbstvertrauen stärken, welches ja die wichtigste Voraussetzung ist für erfolgreiches Lernen. Mir ist völlig klar, dass es eine grosse Herausforderung für die Lehrkräfte wäre, für anderssprachige Kinder andere Prüfungen zu machen. Aber ich denke, es würde sich lohnen. Um das Selbstvertrauen dieser Kinder zu fördern, sie auf ihrem individuellen Weg des Lernens, auf dem sie nun einmal unmöglich gleich weit sein können wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, welche in die deutsche Sprache von klein auf hineinwachsen konnten, zu unterstützen und zu begleiten, damit sie auf ihrem „Leiterchen“ ebenso erfolgreich in die Höhe klettern wie die anderen auf ihren „Leiterchen“. Es versteht sich von selber, dass Sie allein als einzelne Lehrerin diese Herausforderung nicht stemmen können. Aber es wäre vielleicht ein Thema im Lehrerkollegium oder anlässlich einer Weiterbildung.“)
„Neue Autorität“: Ein neuer Begriff geistert durch die pädagogische Landschaft – doch was steckt dahinter?
Voll des Lobes ist Thomas Minder, Präsident des Verbands der schweizerischen Schulleiterinnen und Schulleiter, in einem im Elternmagazin „Fritz und Fränzi“ vom 17. April 2024 veröffentlichten Artikel über die sogenannte „Neue Autorität“, mit der sich, wie es der Titel des Artikels besagt, Eltern, Lehrkräfte und ganz allgemein Erziehungspersonen wieder „Respekt“ verschaffen können, ohne sich deswegen dem Vorwurf ausgesetzt zu sehen, „autoritär“ zu sein. Die „Neue Autorität“ ist ein pädagogisches Konzept, das in den 1980er Jahren vom israelischen Psychologen Haim Omer entwickelt wurde und sich seither in der pädagogischen Fachwelt und bei zahlreichen Erziehungspersonen grosser Beliebtheit erfreut. Ein Konzept, auf das wohl all jene, die schon seit Jahren bedauern, Erwachsene verfügten, im Gegensatz zu früher, nicht mehr über genügend Wirksamkeit, um sich gegen rebellische, widerspenstige oder sonstwie „schwierige“ Kinder und Jugendliche durchzusetzen, lange schon sehnlichst gewartet hatten. Doch je näher man sich mit den Hintergründen dieser Theorie auseinandersetzt, umso erstaunter muss man feststellen, dass sich dahinter uralte, längst überholte Muster im Umgang von Erwachsenen mit Kindern und Jugendlichen verbergen und bloss, in ein „modernes“ Kleid verpackt, dadurch etwas harmloser erscheinen sollen. Alter Wein in neuen Schläuchen…
„Oft ist zu hören, dass Kinder den Erwachsenen nicht den nötigen Respekt zollen“, so ist im ersten Abschnitt des Artikels zu lesen. Und damit ist von Anfang an schon die falsche Spur gelegt und man wird wieder gedanklich in frühere, angeblich bessere Zeiten zurück katapultiert, als die Welt eben noch in „Ordnung“ war und Erwachsene über genügend Respekt verfügten, um ihre Vorstellungen von Moral und „richtigem“ Verhalten bei ihren Kindern bzw. Schülerinnen und Schülern durchzusetzen. Doch müsste es eigentlich schon längst allgemeines Gedankengut sein, dass man so etwas wie Respekt nur erwarten darf, wenn man ihn gegenüber anderen ebenso konsequent an den Tag legt. Respekt darf nie etwas Einseitiges sein, und schon gar nicht so etwas wie ein „Recht“, über das ältere Menschen gegenüber jüngeren verfügen, bloss weil sie älter sind. Es gibt keinen einsichtigen Grund dafür, dass Erwachsene Kindern und Jugendlichen nicht genau den gleichen Respekt entgegen bringen sollten, den sie auch von diesen gegenüber ihnen erwarten. Im Gegenteil: Etwas glaubwürdig vertreten kann man nur, wenn man es mit dem eigenen Beispiel vorlebt. Nicht nur Kinder und Jugendliche können von Erwachsenen etwas lernen, genau so vieles und genau so Wichtiges können auch Erwachsene von Kindern und Jugendlichen lernen. Wo immer der Altersunterschied zwischen Kindern und Erwachsenen dazu missbraucht wird, dass die einen über die anderen Macht ausüben, dadurch besondere Privilegien geniessen und im Zweifelsfall immer Recht haben, ist es eine Verletzung elementarer Menschenrechte. Nähme man das ernst, müsste kein Mensch mehr von „neuer Autorität“ sprechen, man könnte sich diesen ganzen Artikel ersparen und auch die gesamte dahinter steckende Theorie.
„Man kann nur auf Menschen einwirken“, so ist im Weiteren zu lesen, „mit denen man eine Beziehung pflegt.“ Darum sei es so schwierig, einer unbekannten Person, die sich im öffentlichen Raum nicht gebührend verhält, zu sagen, sie solle mit dem störenden Verhalten aufhören: „Folglich müssen wir in den Schulen stetig an der Beziehung zu unseren Schützlingen arbeiten.“ Wieder wird unhinterfragt davon ausgegangen, „nicht gebührendes und störendes Verhalten“ sei ausschliesslich den jüngeren Menschen, in diesem Falle den Schülerinnen und Schülern, zuzuschreiben, und es sei deshalb ausschliesslich die Pflicht der Erwachsenen bzw. der Lehrpersonen, gegen solches „Fehlverhalten“ einzuschreiten. Kein Wort davon, dass auch Erwachsene und selbst Lehrpersonen durchaus in gewissen Situationen „ungebührendes und störendes“ Verhalten an den Tag legen können, und zwar immer dann, wenn sie die Kinder und Jugendlichen nicht respektvoll behandeln bzw. ihre Privilegien als sozusagen öffentliche „Erziehungspersonen“ in Form von Zurechtweisungen, Moralisieren oder gar irgendwelchen Strafmassnahmen missbrauchen. Und ebenfalls kein Wort davon, dass die sogenannte „Widerspenstigkeit“ oder das sogenannte „Fehlverhalten“ von Kindern und Jugendlichen meist nichts anderes ist als eine natürliche Reaktion auf Bevormundung, Fremdbestimmung oder Machtdemonstration seitens der Erwachsenen, gegen die sich die jungen Menschen gar nicht anders wehren können als durch „Frechheit“ oder „Ungehorsam“. Trügerisch ist auch die Verknüpfung mit dem Begriff der „Beziehung“. Persönliche „Beziehung“ soll also dazu dienen, dem jungen Menschen das „richtige“ Verhalten beizubringen. Dabei beruhen echte menschliche Beziehungen stets auf Gegenseitigkeit und schliessen das Durchsetzen von Machtinteressen der einen gegen die andere Seite zum Vornherein aus. Ins Auge sticht auch das Wort „Schützling“, das man früher meist im Zusammenhang mit „Mündel“ und „Schutzbefohlenen“ verwendete und damit meinte, einzig die für sie verantwortliche Erziehungs- bzw. Autoritätsperson wisse, was für diese gut sei und was nicht.
Einen wichtigen Teil der Zielsetzungen der „Neuen Autorität“ bildet die Forderung nach dem Aufbau von Netzwerken, in denen sich Lehrpersonen und Eltern verbinden und gegenseitig unterstützen sollten, um geeint auftreten und die „notwendigen Veränderungen so lange einfordern zu können, bis die Veränderung eintritt“, denn als „Einzelperson“ sei man meistens überfordert. „Ein starkes Team“, so Minder, „ist hilfreich, die gemeinsame Haltung und die verbindenden Werte sind ein starkes Signal, das nach aussen wirkt, uns als Lehrerteam aber auch intern stärkt.“ Kein Wort davon, dass eigentlich vor allem auch die Kinder und Jugendlichen auf Netzwerke und gegenseitige Unterstützung angewiesen wären, da ja gerade sie als „Einzelpersonen“ möglichem Machtmissbrauch seitens von Erwachsenen in hohem Masse schutzlos ausgeliefert sind – man denke nur an die immer noch in vielen Schulen weit verbreiteten, oft völlig überrissenen Strafmassnahmen nur schon wegen geringster „Vergehen“, an das totale Ausgeliefertsein der Kinder und Jugendlichen an ausschliesslich von Erwachsenen vorgegebene Lehrpläne und schulische Inhalte oder, als besonders krasses Beispiel, an den schon fast als „normal“ akzeptierten Machtmissbrauch seitens von Trainerinnen und Trainern im Spitzensport. Nicht nur im Zusammenhang mit der „Neuen Autorität“, sondern ganz allgemein ist gerade aus Lehrerteams immer wieder zu hören, es sei wünschbar, dass „alle am gleichen Strick ziehen.“ Wenn man sich das dann aber konkret vorstellt, gibt das kein schönes Bild. Denn der „Strick“, an dem Lehr- und Erziehungspersonen gemeinsam ziehen, wird nicht selten zu einem Strick, dessen anderes Ende sich um den Hals der Kinder legt, und je fester das „Erziehungsteam“ daran zieht, desto grösser ist die Gefahr, dass die Kinder dadurch in ihrer Gedanken- und Bewegungsfreiheit unnötig eingeschränkt werden. Ganz abgesehen davon, dass ein Lehrerteam, bei dem alle gleich denken und handeln, nicht gerade das adäquate Abbild einer demokratischen Gesellschaft ist, in der es nun mal ganz unterschiedliche, sich gelegentlich auch gegenseitig widersprechende Ansichten über Erziehung, Moral und Wertesysteme gibt, die man nicht unterdrücken oder gar ausschliessen, sondern vielmehr in einen gemeinsamen fruchtbaren Dialog bringen sollte.
Geradezu zynisch wird es, wenn sich die „Neue Autorität“ auf den sogenannten „gewaltfreien Widerstand“ und dessen berühmtesten Repräsentanten, nämlich Mahatma Gandhi, beruft. Es braucht schon ein ungeheures Mass an Geschichtsblindheit, den „Kampf“ von Erziehungspersonen für das moralische „Wohlverhalten“ von Kindern und Jugendlichen auch nur im Entferntesten mit dem Kampf Gandhis gegen die britische Kolonialherrschaft zu vergleichen. Als wären Kinder und Jugendliche Inbegriffe des Bösen oder geradezu Monster, die man nicht anders bezwingen kann als durch beharrliche „Befehlsverweigerung“ und zivilen Ungehorsam oder, wie es im vorliegenden Artikel von Thomas Minder auf den Punkt gebracht wird: „Wir geben nicht auf, wir sind da und gehen nicht weg, selbst dann nicht, wenn es schwierig wird.“ Auf diese Weise wird die Realität nicht nur ausgeblendet, sondern geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: Der „passive Widerstand“ von Lehrpersonen gegenüber Kindern dient ja nicht dazu, bestehende Machtverhältnisse zu beseitigen, sondern, im Gegenteil, dazu, sie zu verfestigen, zu zementieren und obendrein zu legitimieren, nur eben mit „moderneren“ Mitteln, die in der heutigen Zeit eher akzeptiert werden als der frühere Prügelstock und die frühere Schamecke. Für die Kinder aber wird es dadurch noch schwieriger, sich gegen ungerechtfertigten Machtmissbrauch seitens der Erwachsenen zu wehren: Es ist viel einfacher, sich gegen einen Lehrer zu wehren, der Ohrfeigen verteilt, weil das Kind da nämlich in aller Regel die Eltern und sogar das Gesetz auf seiner Seite hat. Ungleich aber viel schwieriger ist es, sich gegen den Machtmissbrauch eines sanft lächelnden und scheinbar „liebevollen“ Lehrers zu wehren, der seine Machtstellung auf ganz feine, subtile, geradezu unsichtbare Weise ausübt, nur schon dadurch, dass er den umfassenden Repressionsapparat des bestehenden Schulsystems nie grundsätzlich in Frage stellt und damit das pure Gegenteil dessen verkörpert, wofür Mahatma Gandhi ein Leben lang kämpfte.
Man hätte es eigentlich viel einfacher haben können als durch diesen Rückgriff auf die scheinbar „zeitgemässen“ Theorien eines israelischen Psychologen, hinter denen sich nun all jene bequem verstecken können, die immer noch nicht eingesehen haben, dass „Erziehung“, auch wenn sie noch so gut gemeint ist, nie etwas zu tun haben darf mit der Durchsetzung und Aufrechterhaltung bestehender Machtverhältnisse seitens Erwachsener gegenüber Kindern und Jugendlichen, auch und gerade wenn diese noch so subtil und scheinbar „liebevoll“ daherkommen. Statt Haim Omer würde man gescheiter wieder einmal den guten alten Johann Heinrich Pestalozzi lesen. Der wusste nämlich schon vor über 250 Jahren, dass nur die echte, bedingungslose und zweckfreie Liebe zählt und dass die Aufgabe der Erwachsenen nicht darin bestehen darf, die Kinder auf irgendeinen scheinbar „richtigen“ Weg zu ziehen, sondern einzig und allein darin, mit ihnen gemeinsam diesen Weg zu gehen, beständig gegenseitig voneinander zu lernen und, statt „widerspenstige“, „ungehorsame“ oder „freche“ Kinder mit allen Mitteln anpassen und zurechtbiegen zu versuchen, gerade sie in ganz besonderem Masse als Chance zu erkennen, Seite an Seite mit ihnen die Welt jeden Tag ein bisschen neu kennenzulernen und ein bisschen besser, schöner und friedlicher zu gestalten…
18. August 2024: Viel Raum in der Sonntagspresse für die verschrobenen und altertümlichen Ideen eines Zürcher Pädagogikprofessors…
Gleich zwei Mal kommt der an der Universität Zürich lehrende Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach heute Sonntag, 18. August 2024, zu Wort. Einmal mit einem ganzseitigen Interview in der „Sonntagszeitung“, zum andern mit einem weiteren Interview in der „NZZ am Sonntag“, das sich über fast zwei Zeitungsseiten hinweg erstreckt. Ich frage mich, welches wohl die Beweggründe sind, weshalb dieser bisher eher unbekannte Pädagogikprofessor auf einmal eine so grosse Plattform bekommt, um seine verschrobenen und altertümlichen Ideen kundzutun.
Das Interview in der „Sonntagszeitung“ steht unter dem Titel „Schule ohne Noten ist wie Kapitalismus ohne Geld. Das funktioniert nicht.“ Zwar räumt Reichenbach ein, Noten seien „problematisch“ und „weder objektiv noch gerecht“, um dann aber entgegenzuhalten: „Zu behaupten, dass die Leistungen nicht sinken würden, wenn man auf Noten verzichtet, ist fromm.“ Hausaufgaben abzuschaffen findet er „eine schlechte Idee“, denn sie „geben die Möglichkeit, Gelerntes zu konsolidieren und Lerninhalte besser zu verstehen.“ Dass „alle Lehrkräfte der Idee zunicken“, man müsse die Kinder aufgrund ihrer unterschiedlichen Leistungsfähigkeit entsprechend „unterschiedlich behandeln“, bezeichnet er als „pädagogischen Gottesdienst“, denn Lernen, so sagt er, „lässt sich nicht selbstbestimmt und individuell organisieren.“
DAZU MEIN LESERBRIEF AN DIE „SONNTAGSZEITUNG“:
Schule ohne Noten funktioniere nicht, behauptet der Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach. Hat er keine eigenen Kinder gehabt? Sonst müsste er nämlich wissen, wie unglaublich viel höchst Komplexes Kinder in ihren ersten Lebensjahren lernen, ohne je dafür eine Note zu bekommen. Mir wurde schon vor über 50 Jahren während meiner Ausbildung zum Sekundarlehrer an der Uni Zürich der Unterschied zwischen „intrinsischer“ und „extrinsischer“ Motivation beigebracht und dass natürliche, intrinsische Motivation aus Neugierde und echtem Interesse stets zu besseren Lernleistungen führe als all jene Formen von extrinsischer Motivation, die künstliche Anreize schaffen, von Fremdbestimmung, Druck und oft auch von Angstmacherei bestimmt sind und keinen logischen Zusammenhang aufweisen mit dem betreffenden Lerninhalt. Oder, wie es Johann Heinrich Pestalozzi schon vor über 250 Jahren ganz einfach sagte: „Lernen ohne Freude ist keinen Heller wert.“ Echtes Lernen braucht keinen Quervergleich mit anderen Kindern und daher auch keine Prüfungen und Noten. Wenn Schule davon ausgeht, dass Kinder ohne Noten nichts lernen würden, dann ist dies bloss das Eingeständnis der Schule, dass die von ihr vermittelten Lerninhalte offensichtlich viel zu wenig zu tun haben mit den echten Lern- und Lebensbedürfnissen der Kinder, zu deren Erfüllung man kein einziges von ihnen mit irgendwelchen künstlichen Mitteln „motivieren“ müsste, weil sie es nämlich noch so gerne freiwillig und ohne äusseren Druck täten.
Das Interview in der „NZZ am Sonntag“ steht unter dem Titel „Viele Kinder wollen nicht mehr leisten“. Reichenbach sieht als eines der Hauptprobleme die „Krise der Autorität“, die den Lehrerberuf „im Kern“ treffe: „Denn wir wissen, wie wichtig die Autoritätsanerkennung der Lehrperson durch die Schülerinnen und Schüler sowie durch deren Eltern für die Anstrengungs- und Lernbereitschaft ist.“ In welcher pädagogischen Mottenkiste hat Reichenbach wohl diese „Weisheiten“ entdeckt? Und wo, um Himmelswillen, ist er wohl auf folgendes Konstrukt gestossen, das man mindestens zwei Mal lesen muss, um dann immer noch nicht zu begreifen, was er damit wohl gemeint haben könnte: „Natürlich könnten manche Kinder den Schulstoff zu Hause gezielter und schneller lernen als in der Schule. Aber ohne Klassenzimmer, ohne Schulgemeinschaft und die damit verbundenen Rituale und auch individuellen Opfer, ohne die zahlreichen Erfahrungen mit den teilweise störenden Eigenarten der Lehrpersonen hätten diese Kinder am Ende sehr wenig vom Leben verstanden, also von sich und der Welt.“
DAZU MEIN LESERBRIEF AN DIE „NZZ AM SONNTAG“:
„Viele Kinder wollen nicht mehr leisten“ – schon der Titel des Interviews mit dem Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach ist ein Schlag ins Gesicht des Kindes, das in seinen ersten Lebensjahren so komplexe Lernleistungen vollbringt wie das Erlernen der Muttersprache, und dies ohne eine einzige Schulstunde, ohne Lehrplan, ohne Lehrer, ohne Prüfungen und ohne Noten. Wer sich mit Schulfragen beschäftigt, darf dieses zugleich so lustvolle und erfolgreiche Lernen des Kleinkindes nie aus den Augen verlieren. Dann wird nämlich schnell klar, dass fast alle der heute diskutierten Schulprobleme nicht so sehr die Probleme „schwieriger“, „verhaltensgestörter“ oder „lernunwilliger“ Kinder sind, sondern die Probleme einer Schule, die sich viel zu weit von den natürlichen Grundlagen menschlichen Lernens entfernt hat. Eine Schule kann nur in der Weise eine gute Schule sein, als es ihr gelingt, ausnahmslos jedem Kind die Möglichkeit zu bieten, seinen ihm eingeborenen, individuellen und einzigartigen „Lernplan“ zur Entfaltung zu bringen. Besser als die beste Schule wäre daher ein Abschied von der traditionellen Lehrplan- und Jahrgangsklassenschule, die Aufhebung all dessen, was Lernen und Leben voneinander trennt, und die Rückbesinnung auf die zentrale Erkenntnis, wonach die wirkungsvollste Art zu lernen jene des „Learning by Doing“ ist, Lernen durch Tun, durch Beobachten, Forschen und Experimentieren und durch das allmähliche Hineinwachsen des Kindes in die Welt der Erwachsenen.
Jahrhundertelange Komplizenschaft zwischen Kapitalismus und Patriarchat
Dies ist das 7. Kapitel aus meinem Buch PRO MEMORIA – EINE ANDERE GESCHICHTE DES KAPITALISMUS, das voraussichtlich Mitte 2025 erscheinen wird. Eine Geschichte der Schattenseiten des Kapitalismus und der Opfer eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das trotz allem immer noch von vielen als die einzige mögliche und alternativlose Art und Weise angesehen wird, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten organisiert werden kann.
Wenn du in der Suchfunktion PRO MEMORIA eingibst, findest du die weiteren bereits publizierten Kapitel des Buches.
Wir wähnen uns zwar in «modernen» Zeiten, senden uns Nachrichten, Fotos und Filme in Bruchteilen von Sekunden rund um den Erdball zu, lassen uns von künstlicher Intelligenz ganze Romane schreiben, Bilder malen, musikalische Meisterwerke komponieren und uns vielleicht schon bald von selbstgesteuerten Automobilen spazieren fahren. Doch mitten in diesen «modernen» Zeiten werden unzählige wiedergeborene Hexen, man nennt sie heute «Prostituierte», Nacht für Nacht stundenlang vergewaltigt und halb zu Tode geprügelt, an eiserne Gestelle gekettet und blutig geschlagen, bis fast zum Ersticken gewürgt, mit Betäubungsmitteln gefügig gemacht und am Ende, wenn sie ihren Dienst getan haben, mit Blutergüssen oder einem gebrochenen Kiefer irgendwo an einen Waldrand geworfen. Und unzählige wiedergeborene Scharfrichter, man nennt sie heute «Freier», scheint genau das, die Machtausübung über Schwächere, ihnen hilf- und schutzlos Ausgelieferte, die allergrösste Lust zu bereiten.
IMMER NOCH TAUSENDFACHE ABHÄNGIGKEITSVERHÄLTNISSE UND MACHTUNTERSCHIEDE
Doch Prostitution ist nicht etwas Exotisches, Singuläres, nicht eine abartige Abweichung von der Normalität. Nein, sie ist nur die extremste Form jener «Normalität» tausendfacher Abhängigkeitsverhältnisse und Machtunterschiede zwischen Frauen und Männern, die bis zum heutigen Tag an viel zu vielen Orten und in viel zu vielen Lebensbereichen immer noch gang und gäbe sind. Denn Geld ist Macht. Und wer, wie die Freier, mehr davon hat, als er zum Leben braucht, kann dadurch Macht ausüben über jene, die, wie die Prostituierten, weniger davon haben, als sie eigentlich zum Leben bräuchten. Nur deshalb ist die Prostituierte dem Freier hilflos ausgeliefert, weil sie ohne das Geld, das er im Übermass besitzt, ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten könnte. Und nur deshalb müssen die Kellnerin, das Zimmermädchen und die Coiffeuse jeden Wunsch des Bankers, des Immobilienmaklers und des IT-Spezialisten erfüllen und, wenn diese damit nicht zufrieden sind, sich von ihnen vielleicht sogar noch beschimpfen lassen, weil sie auf das Geld, welches diese besitzen, existenziell angewiesen sind.
Doch weshalb besitzen Männer so viel mehr Geld und damit so viel mehr Macht als Frauen? Aus dem ganz simplen Grund, weil die meisten bis heute weltweit herrschenden politischen Institutionen, Gesetze, Macht- und Besitzverhältnisse ursprünglich nicht von Frauen, sondern fast ausschliesslich von Männern geschaffen wurden, und natürlich in der Weise, dass sie ihren Interessen, den Interessen der Männer, am meisten entsprachen. Sie, die Männer, haben definiert, was «höherwertige» – hauptsächlich von Männern ausgeübte – und deshalb besser bezahlte Tätigkeiten sind, und was «minderwertige» – hauptsächlich von Frauen ausgeübte – und daher schlechter bezahlte Tätigkeiten sind. Und sie, die Männer, haben sogar die unfassbare Tatsache in die Welt gesetzt, dass eine Frau, die sich «nur» um den Haushalt und die Kinder kümmert, dafür auch nicht einen einzigen Rappen Lohn bekommen darf, so dass man selbst heute noch, wenn man ein Kind fragt, was seine Mutter arbeite, zur Antwort bekommt, sie arbeite nicht, sondern koche nur, putze nur die Wohnung, gehe nur einkaufen, füttere nur die Haustiere, jäte nur den Garten, organisiere nur Geburtstagspartys, pflege nur die kranke Grossmutter, unterhalte nur die Beziehungen mit der Nachbarschaft, kümmere sich nur um die Kinder und helfe ihnen nur bei den Hausaufgaben. Eigentlich müsste man noch ergänzen: Dass die Mutter, die ja angeblich gar nicht arbeitet, «nur» von Zeit zu Zeit auch noch ein Kind gebärt – was aus kapitalistisch-patriarchaler Sicht offensichtlich schon gar nicht auch nur im Entferntesten mit «Arbeit» in Verbindung gebracht wird, obwohl es sich dabei doch im Grunde um die zentralste sämtlicher möglicher Arbeitsleistungen handelt, ohne welche es alle anderen Arbeitsleistungen gar nicht erst gäbe. Der gesamte kapitalistische Überbau beruht auf der Gratisarbeit von Frauen. Würden sie diese verweigern, bräche das gesamte kapitalistische Machtsystem von einer Sekunde zur andern i sich zusammen.
Sie, die Männer, haben auch das gesamte Geldsystem, die Banken, die Finanzflüsse, das Prinzip der Selbstvermehrung von Geld in Form von Zinsen und die Lüge, dass Geld selber arbeiten und seinen Besitzer dadurch immer reicher machen könne, all das so eingerichtet, dass jene, die schon reich sind – und auch das sind vor allem wieder Männer –, immer noch reicher werden, während andere, die schon arm sind – und auch das sind vor allem wieder Frauen – lebenslang arm bleiben. Denn es ist zweifellos alles andere als ein Zufall, dass sich unter den weltweit zurzeit 2640 allerreichsten Menschen, mit je einem Vermögen von über einer Milliarde US-Dollar, gerade mal 399 Frauen befinden und unter den 50 Reichsten der Schweiz gerade mal fünf weiblichen Geschlechts sind.
SELBST GOTT IST EIN MANN
Sie, die Männer, haben auch früh erkannt, wie stark der Zusammenhang ist zwischen Sprache und Denken, und so haben sie dann unzählige Wörter, Begriffe und Redewendungen erfunden, in denen wiederum sie, die Männer, im Mittelpunkt stehen und die Frauen entweder verschwiegen, an den Rand gedrängt oder in ein schiefes Licht gerückt werden. Etwas Schönes ist «herrlich», etwas Unpassendes ist «dämlich». Typisch weibliches und negativ bewertetes Verhalten bezeichnet man als «weibisch», aber niemand kommt auf die Idee, ein als mühsam oder lästig empfundenes typisch männliches Verhalten als «männisch» zu bezeichnen. Das englische Wort «woman» kommt von «wifman», was so viel bedeutet wie «weiblicher Mensch», als wäre nur «man» sozusagen der eigentliche, wahre Mensch. Eine «Künstlerin» ist sozusagen eine weibliche Neben- oder Unterkategorie des eigentlichen – als «Norm» empfundenen «Künstlers». Bis in die jüngste Vergangenheit wurden unverheiratete Frauen selbst im Alter von 50 oder mehr Jahren als «Fräulein» bezeichnet, bemitleidenswerte Geschöpfe, die nach so langer Zeit immer noch keinen Mann gefunden hatten, während unverheirateten Männern als «Junggesellen» auch heute noch durchaus Sympathien infolge ihrer «Eigenständigkeit» und ihrer «freien», «selbstbestimmten» Lebensweise entgegengebracht werden. Eine widerspenstige junge Frau ist eine «Göre», ein widerspenstiger junger Mann dagegen ein «Rebell» oder sogar ein «Held». Frauen, die auf Gleichberechtigung mit Männern pochen, sind «Emanzen», Männer, die an traditionellen Vorrechten von Männern gegenüber Frauen festhalten, werden im Volksmund dagegen nur selten «Patriarchen» genannt, dann schon eher, vor allem wenn sie ein Unternehmen erfolgreich leiten, als «Patrons» von altem Schrot und Korn, was meistens sogar mit einer gewissen Bewunderung oder geradezu Ehrfurcht verbunden ist. Nachbarinnen können sich am Gartenzaun mit noch so philosophisch hochstehenden Themen beschäftigen oder noch so viele wertvolle Erfahrungen im Umgang mit kranken oder hilfsbedürftigen Menschen austauschen, es ist eben nur «Frauengeschwätz», während Verwaltungsräte auch noch mit den dümmsten und unbrauchbarsten Ideen um sich werfen können, stets handelt es sich um, notabene erst noch bestens bezahlte, «Sitzungen», «Konferenzen» oder «Meetings».
Selbst die Wissenschaft haben sie, die Männer, für sich gekapert, und es ist noch gar nicht so lange her, da haben führende und zu ihrer Zeit höchst angesehene Köpfe sogar «wissenschaftlich» zu beweisen versucht, weshalb Frauen weniger intelligent seien als Männer. Das wiederum war dann gefundenes Fressen für jene Mehrheit sämtlicher Männer, die, wie zum Beispiel in der Schweiz, noch bis ins Jahr 1971 felsenfest davon überzeugt waren, Frauen hätten in der Politik nichts zu suchen. Und als Gipfel von allem, aber eigentlich nicht besonders verwunderlich: Der, welcher über allem Irdischen thront, der «Schöpfer» und «Lenker» von allem, ist, wie könnte es auch anders sein – ein Mann. Noch heute wird das Bild dieses «Gottes» den meisten Kindern in den christlichen Ländern schon von klein auf eingeimpft, egal, ob es sich dabei um einen «rachsüchtigen», «allmächtigen» oder «liebevollen» Gott handelt, Hauptsache, es ist ein Mann.
PATRIARCHAT NUR EINES VON ZAHLLOSEN UNTERDRÜCKUNGS-, AUSBEUTUNGS- UND MACHTVERHÄLTNISSEN
Das patriarchale Machtsystem hat sich, wie oft behauptet wird, im Laufe der Zeit nicht abgeschwächt, sondern sich im Gegenteil, Hand in Hand mit allen anderen kapitalistischen Ausbeutungsformen, nach und nach über die ganze Erde ausgebreitet. Patriarchale Machtverhältnisse treffen wir heute nicht nur, in mehr oder weniger starker Ausprägung, in jedem einzelnen kapitalistischen Land an, sie widerspiegeln sich auch in der Dominanz der reicheren und mächtigeren gegenüber den ärmeren und weniger mächtigeren Ländern: So etwa in der erbarmungslosen Ausbeutung von Dienstmädchen aus den Philippinen in den Haushalten der reichen Oberschicht Dubais, Kuwaits oder Saudi-Arabiens, in zwanzigstündigen Arbeitsschichten von Textilarbeiterinnen in Bangladesch zwecks exorbitanter Unternehmensgewinne französischer, italienischer oder kanadischer Modekonzerne, in den bis zum Zerbrechen kaputtgearbeiteten Rücken marokkanischer Erdbeerpflückerinnen unter der sengenden Sonne Andalusiens zur unaufhörlichen Geldvermehrung in den Kassen deutscher oder belgischer Supermärkte und ihrer Aktionäre, in den Leiden und Erniedrigungen brasilianischer, kolumbianischer und kenianischer Prostituierter, aus denen jenes Geld herausgeschunden wird, mit dem dann ihre Zuhälter und weltweit organisierte Menschenhändler wertvollsten Schmuck, prunkvollste Villen und teuerste Luxuskarossen kaufen, mit denen sie ihren Reichtum ganz öffentlich und unverfroren auf den Strassen spanischer oder griechischer Städte zur Schau tragen.
Bei alledem gibt es freilich nicht nur geschlechtsspezifische Macht-, Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse. Im über alle Grenzen hinweg globalisierten Kapitalismus befinden sich die Arbeiter in den kongolesischen Goldminen ebenso auf der Opferseite, wie sich all jene westeuropäischen Frauen auf der Täterseite befinden, welche sich die zahllosen Schmuck- und Luxusgegenstände leisten können, die aus jenem Gold gefertigt wurden, welches die Minenarbeiter qualvoll und unter gefährlichsten Bedingungen aus dem Boden geschürft hatten. Frauen können auch andere Frauen ausbeuten, ebenso wie Männer andere Männer und Frauen Männer, je nach Geburtsort und sozialem Status. Je weiter im Zuge der Globalisierung die Orte des Reichtums und die Orte der Armut auseinandergerissen wurden, umso geringer das öffentliche Bewusstsein darüber, dass letztlich das gesamte kapitalistische Weltwirtschaftssystem letztlich auf nichts anderem beruht als auf der permanenten Ausbeutung jener, die weniger Geld und weniger Macht haben, durch jene, die mehr davon haben. Das Patriarchat ist dabei nur eines von zahlreichen Unterdrückungs-, Ausbeutungs- und Machtverhältnissen, aber zweifellos nach wie vor eines der wesentlichsten und am meisten dominierenden.
DAS PATRIARCHAT KAM ERST AM 31. DEZEMBER UM SIEBEN UHR MORGENS AN DIUE MACHT
Blicken wir weiter in die Geschichte zurück, werden wir sogleich feststellen, dass patriarchale Macht- und Ausbeutungsverhältnisse ganz und gar nicht über Jahrtausende hinweg die Norm waren. Eine im Jahre 1998 durchgeführte Studie ergab, dass 160 von insgesamt weltweit 1267 untersuchten Ethnien bis in die jüngste Gegenwart eine rein matrilineare, also ausschliesslich auf weiblicher Erbfolge beruhende Gesellschaftsstruktur aufweisen und weitere 101 Ethnien ein gleichwertiges Nebeneinander von matrilinearen und patrilinearen Abstammungsregeln.
So etwa kennen die Minangkabau auf Sumatra, mit drei Millionen Menschen die grösste matrilineare Bevölkerungsgruppe der Welt, ausschliesslich die mütterliche Erbfolge. Frauen und Männer haben eine gleichrangige Stellung innerhalb der Gesellschaft, Land und Produktionsmittel sind Gemeineigentum. Die Mosuo, ein ebenfalls matrilinear organisiertes Volk im Südwesten Chinas, betreiben eine reine Tauschwirtschaft ohne Verwendung von Geld. Dem weiblichen Haushaltsvorstand sind alle Haushaltsmitglieder beiderlei Geschlechts untergeordnet. Bei den Beziehungen ausserhalb der Grossfamilie treffen Frauen die geschäftlichen, Männer die politischen Entscheidungen. Die Mosuo kennen keine Ehe zwischen Frau und Mann, sie pflegen ausschliesslich «Besuchsbeziehungen», bei denen sowohl Frauen als auch Männer mit mehreren Partnerinnen oder Partnern nebeneinander oder nacheinander sexuelle Beziehungen haben. Die auf den Trobriandinseln im Südpazifik lebenden Trobriander sind für ein auffallend konfliktarmes Gesellschaftsleben bekannt, auch bei ihnen sind sexuelle Freizügigkeit und Tauschhandel die Regel. Eine noch über den Tauschhandel hinausgehende Wirtschaftsweise trifft man bei den Tolai in Papua-Neuguinea an: eine sogenannte «Schenkökonomie», ein auf allgemeiner Solidarität und Grosszügigkeit beruhendes soziales System, in dem Güter und Dienstleistungen ohne direkte oder zukünftige Gegenleistung weitergegeben werden. Bei den Khasi im Nordosten Indiens liegen Grund und Boden ausschliesslich in der Hand von Frauen. Bei den Tuareg in Nordafrika entscheiden die Frauen, wen sie heiraten, die Frau darf ihren Mann verstossen.
Auch auf der Insel Orango vor dem westafrikanischen Guinea-Bissao, «Insel des Friedens» genannt, haben heute noch die Frauen das Sagen, wie Heiner Hoffmann im «Spiegel» vom 3. April 2022 berichtete: «Isabel Yaranto hievt ein Schilfbündel auf den Kopf, es ist Baumaterial für das neue Haus ihrer Schwester. So will es die Tradition, Frauen bauen die Häuser, dafür gehören sie ihnen anschliessend. Männer sind darin höchstens zu Gast. Auf Orango wird die Geburt einer Tochter besonders intensiv gefeiert, denn Frauen gebären nicht nur Kinder, sondern managen auch das Leben im Dorf. Entscheidungen gehen auf Orango so, dass zwei Räte, einer aus Männern und einer aus Frauen, Lösungen für Konflikte oder anstehende praktische Fragen diskutieren und anschliessend miteinander einen Kompromiss aushandeln. Zwar arbeiten auch auf Orango die Frauen viel mehr als die Männer, kümmern sich um die Kindererziehung, die Arbeit auf dem Feld, das Sammeln von Meeresfrüchten, den Hausbau und den Haushalt, während Männern lediglich das Fischen und Sammeln von Palmfrüchten vorbehalten ist. Dafür aber gelten die Frauen als das starke Geschlecht und verfügen über viel mehr Macht als die Männer. Nicht nur die Häuser, sondern auch die unzähligen Hühner, Schweine und Kühe gehören ihnen, somit verfügen sie über die Lebensgrundlage der Haushalte. Auch heute noch wird Okinka Pampa, von 1910 bis 1930 die letzte Königin der Insel und so etwas wie die Urmutter der matriarchalen Strukturen, auf Orango zutiefst verehrt. Sie schaffte die Sklaverei ab, stärkte die Frauenrechte und wehrte mehrere portugiesische Kolonialisierungsversuche erfolgreich ab.»
Solche Relikte matriarchaler Traditionen sowie zahllose archäologische Funde aus der Frühzeit der Menschheit, die auf die Verehrung weiblicher Gottheiten hindeuten, legen die Vermutung nahe, dass matriarchale Gesellschaftsstrukturen bis vor etwa rund 4000 bis 5000 Jahren nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel waren. Wenn wir davon ausgehen, dass die Geschichte der Menschheit vor etwa 2,5 Millionen Jahren begann, dann wären diese letzten 5000 Jahre, in denen das Patriarchat die Oberhand gewann, weniger als ein Klacks: Rechnen wir die gesamte Menschheitsgeschichte in ein Jahr um, dann wäre also das Patriarchat erst am 31. Dezember um sieben Uhr morgens an die Macht gekommen.
DOCH WIE UND WESHALB ERFOLGTE DIE MACHTERGREIFUNG DURCH DIE MÄNNER?
In ihrem 1988 erschienenen und 2015 neu aufgelegten und aktualisierten Buch «Patriarchat und Kapital» erklärt Maria Mies den Aufstieg des Patriarchats wie folgt: Seit Urzeiten gab es eine geschlechtliche Arbeitsteilung zwischen den Frauen, die hauptsächlich sammelten und Hackbau betrieben, und Männern, welche sich auf die Jagd spezialisierten. Auf diese Weise waren, so Mies, «die Frauen in der Lage, die täglichen Lebensmittel nicht nur für sich selbst, sondern auch für den ganzen Clan zu sichern. Sie waren die Ernährerinnen nicht nur ihrer Kinder, sondern weitgehend auch der Männer, die ja nicht immer Glück auf ihren Jagdexpeditionen hatten.» Es ist anzunehmen, dass die Frauen bis zu 80 Prozent der täglichen Nahrung produzierten. Dies verschaffte den Frauen eine gewisse Machtstellung, die sich zum Beispiel bei den Irokesen in der Weise manifestierte, dass die Frauen ein Mitspracherecht bei Entscheidungen über Jagdexpeditionen und Kriegszügen hatten. Wenn sie es ablehnten, den Männern Proviant mitzugeben, mussten mitunter Jagd- und Kriegszüge abgeblasen werden. Archäologische Funde zeigen, dass die ältesten Werkzeuge Behälter waren, um Nahrung aufzusammeln: Körbe, Behälter aus Blättern oder Rinden und Krüge, offensichtlich lauter Erfindungen von Frauen, so wie auch der Grabstock und die Hacke für den frühen Ackerbau. Die von Männern erfundenen Werkzeuge dagegen waren Wurfspiesse sowie Pfeil und Bogen für die Jagd. So waren die Werkzeuge der Frauen eigentliche «Produktionsmittel, die dazu dienten, etwas Neues zu produzieren und das Produzierte zu transportieren und aufzubewahren. Die Jagdinstrumente jedoch, die Waffen, konnten für keinen anderen Zweck benutzt werden als zum Töten.» Und so wie Tiere getötet werden konnten, so konnten auch Menschen getötet werden – der «Ursprung ungleicher und ausbeuterischer gesellschaftlicher Verhältnisse und einer asymmetrischen Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen. Das gab den Jägern eine Macht über lebende Wesen, Tiere und Menschen. So konnten sie sich auch mit Hilfe der Waffen andere Produzentinnen und Produzenten aneignen und unterwerfen. Indem die Jäger nicht nur Tiere jagen, sondern auch Dörfer anderer Gruppen überfallen konnten, hatten sie auch die Möglichkeit, unbewaffnete Frauen und Kinder zu rauben und sich als Beute anzueignen – erste Formen von Privateigentum. Durch das Monopol der Männer über Zwangsmittel, Waffen und direkte Gewalt konnten permanente Herrschaftsbeziehungen zwischen den Geschlechtern aufgebaut und erhalten werden. Bis heute dient die Produktion von Waffen zur Sicherung eines störungsfreien Zuflusses von billigen Rohstoffen aus den Ländern des Südens in die Länder des Nordens. Die internationale Arbeitsteilung würde sofort zusammenbrechen, wenn sie nicht, in letzter Instanz, durch die militärische Überlegenheit der kapitalistischen Industrieländer aufrechterhalten würde.»
Wie eng die gegenseitige Verflechtung von Patriarchat, Kriegsführung und Terrorregimen ist, sehen wir nur schon daran, dass sämtliche Kriege in Vergangenheit wie Gegenwart nahezu ausschliesslich von Männern angeführt wurden und werden und sich auch unter Diktatoren und Despoten, die ihre eigenen Völker mit eiserner Faust regierten und ihnen gegenüber vor keinen noch so grausamen Menschenrechtsverletzungen zurückschreckten, fast ausnahmslos Männer befinden, von Alexander dem Grossen und Ivan dem Schrecklichen über Francisco Pizarro, Hernando Cortez und König Leopold II von Belgien, Adolf Hitler, Idi Amin und Pol Pot bis Benjamin Netanyahu und den sudanesischen Generälen Abdelfatah Burhan und Mohammed Hamdan Daglo, die anfänglich eng befreundet waren, sich dann aber dermassen zerstritten und sich gegenseitig Rache schworen, dass daraus einer der schlimmsten Kriege unserer Zeit entstand, dem bereits über zehntausend Menschen, zu einem grossen Teil Frauen und Kinder, zum Opfer gefallen sind und der rund sechs Millionen Menschen in die Flucht geschlagen hat. Und das ist nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus einer endlosen Liste machtbesessener Männer, von denen die meisten kaum jemals daran gedacht hätten, selber in den Krieg zu ziehen, und die sich stattdessen in sicheren Bunkern und hinter meterdicken Mauern verschanzt hatten und es sich dort wohl ergehen liessen, während unzählige Unschuldige qualvoll für sie leiden und sterben mussten.
Ebenso lang oder vermutlich noch viel länger wäre die Liste der Namen von Pazifistinnen, von Frauen, die oft ihr ganzes Leben dem bedingungslosen Einstehen für eine Welt ohne Waffen und ohne Krieg verschrieben: Bertha von Suttner, Margarete Selenka, Anita Augsburg, Lida Heymann, Minna Cauer, Jane Addams, Edith Ballantyne, Eleonore Romberg, Hedwig von Pötting, Sophie Scholl oder Olga Karach – um nur ein paar ganz wenige von ihnen zu nennen. Doch ihre Namen suchen wir in den allermeisten Geschichtsbüchern vergebens. Obwohl sie sich infolge ihres mutigen und selbstlosen Auftretens in kriegerischen Zeiten grösster Feindseligkeit und nicht selten sogar Lebensgefahr aussetzten und eigentlich als die wahren Heldinnen ihrer Zeit gefeiert werden müssten. Doch die gleiche patriarchale Geschichtsschreibung, welche die Namen der grössten Verbrecher der Menschheitsgeschichte unsterblich gemacht hat, droht ihre Namen, die Namen der Friedenskämpferinnen und all ihrer Mitstreiterinnen, Millionen und Abermillionen namenloser Mädchen und Frauen über Jahrhunderte hinweg, für immer auszulöschen.
PATRIARCHAT UND KAPITALISMUS HAND IN HAND
Patriarchale Macht- und Ausbeutungsverhältnisse gab und gibt es zweifellos auch in vorkapitalistischen Zeiten und in nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen. Aber im Kapitalismus hat das Patriarchat sozusagen einen seiner zuverlässigsten Verbündeten gefunden, beruht der Kapitalismus im Innersten doch auf den genau gleichen Grundprinzipien wie das Patriarchat. «Wie die Kolonien und wie die Natur», so Maria Mies, «so werden im Kapitalismus auch die Frauen als freie Güter betrachtet und auf diese Weise praktisch ohne grosse Kosten ausgebeutet. Diese Kolonisierung von Ländern, Frauen und Natur bildet die Grundlage für den raschen Aufstieg der westlich-kapitalistischen Industrieländer. Ohne all diese Gewalt wäre er nicht möglich gewesen.»
Und hier schliesst sich der Kreis von der Auslöschung der amerikanischen Urbevölkerung über die Hexenverfolgungen bis zur auch in unseren Tagen ungebrochen weitergeführten Ausplünderung der Erde auf Kosten zukünftiger Generationen. Heute, Hunderte Jahre später, empören wir uns über die barbarische Auslöschung der indigenen Urbevölkerung Nordamerikas, über die unfassbaren, von den spanischen und portugiesischen Konquistadoren an den Indios in Zentral- und Südamerika begangenen Grausamkeiten, über die Zwangsdeportation und Versklavung von bis zu 15 Millionen Afrikanerinnen und Afrikanern, über die Ausschweifungen des Sonnenkönigs und seines Gefolges in Versailles und über die unbeschreiblichen, von Männern an Frauen verübten Entsetzlichkeiten im Zuge der Hexenverfolgungen, ganz so, als wären dies alles nur einzelne, voneinander unabhängige Erscheinungen in der Geschichte der Menschheit, von denen jede einen ganz bestimmten Anfang und ein ganz bestimmtes Ende hatte. Tatsächlich aber fand dies alles mehr oder weniger zur gleichen Zeit statt und waren dies alles logisch in sich miteinander verbundene Ausprägungen jenes im Grunde immer gleichen, in sich miteinander verbundenen kapitalistischen Grundprinzips, immer mehr natürliche Ressourcen und immer mehr menschliche Arbeitskraft in immer höhere Profite für die Reichen und Mächtigen umzuwandeln bis zum heutigen Tag.
«Der gesamte Aufstieg der modernen Naturwissenschaft und Technik», so Maria Mies, «gründete letztlich auf nichts anderem als einem gewaltsamen Angriff und einer Vergewaltigung der Mutter Erde. So etwa empfahl Francis Bacon, einer der Väter der modernen Naturwissenschaft, im Bestreben, der Mutter Natur ihre Geheimnisse zu entreissen, die gleichen gewalttätigen Mittel, wie sie von Kirche und Staat benutzt wurden, um zu den Geheimnissen der Hexen vorzustossen, nämlich Folter und Inquisition. Die Tabus gegenüber dem Bergbau, dem Graben von Löchern in den Leib der Mutter Erde, wurden gewaltsam gebrochen, weil die neuen Patriarchen an die wertvollen Metalle und andere Rohmaterialien herankommen wollten, die im Schoss der Erde verborgen waren. Der Aufstieg der modernen Naturwissenschaften, einer rein mechanistischen Weltanschauung, stützte sich auf das Töten der Natur als lebendigen Organismus und ihre Umwandlung in ein gewaltiges Vorratslager an natürlichen Ressourcen, die vom Mann analysiert und in seine neuen Maschinen integriert wurden, mit denen er bestrebte, sich von der Natur mehr und mehr unabhängig zu machen.»
11. Montagsgespräch vom 12. August 2024: SRG-Halbierungsinitiative – wer würde profitieren, wer nicht?
Leider hat an diesem Montagsgespräch nur eine einzige Person teilgenommen – wahrscheinlich war es einfach zu heiss und man wollte lieber irgendwo gemütlich im Schatten sitzen… Somit entfällt ein ausführlicherer Bericht mit kontroversen Gesichtspunkten zu diesem Thema, ebenso wie der übliche Zeitungsartikel. Stattdessen an dieser Stelle zwei Wortmeldungen, die mir im Vorfeld des Anlasses zugestellt worden sind. EG schreibt: „Ich würde es sehr schlimm finden, wenn die Initiative angenommen würde. Die möglichst unabhängige Berichterstattung muss erhalten bleiben.“ JB schreibt: „Ich finde die Abgabe ohnehin sehr unsozial. Denn jeder Haushalt ob reich oder arm muss genau gleich viel bezahlen. Da es jeder bezahlen muss, wäre die richtige Konsequenz, dass die Kosten vollständig vom Bund übernommen werden. Damit wäre auch das Thema vom Tisch, welche Unternehmen beitragen müssen und welche nicht. Es wäre ein reiner Service-Public. Natürlich geht dies am Anliegen der Halbierungsinitiative vorbei. Diese wollen die Prämie abschaffen, um das Budget der SRG zu schmälern. Aber der tiefere und eigentliche Grund ist, damit die Privatmedien zu bevorteilen, die man dann mit genügend Geld zusammenkaufen kann. Entsprechende Macht dem Geld, einmal mehr. Diesen letzten Grund sollte man klarer hervorheben. Und daraus ergibt sich das Hauptargument, dass die Presse eine unabhängige neutrale Instanz bleiben muss und nicht in Privathände gehört.“
Die „Sonntagszeitung“ vom 4. August 2024 und der Nahostkonflikt: Haben bald nur noch Hardliner das Wort?
Gleich zwei absoluten Hardlinern in Sachen Nahostkonflikt erteilt die „Sonntagszeitung“ vom 4. August 2024 das Wort und lässt damit jegliche Ausgewogenheit und demokratische Vielfalt auf geradezu fahrlässige Art vermissen. Es handelt sich einerseits um Shira Kaplan, ehemaliges Mitglied des israelischen Nachrichtendienstes (ausführliches Interview auf Seiten 2 und 3), anderseits um den Publizisten Markus Somm (Kolumne auf S. 17).
Schon der Titel des Interviews mit Shira Kaplan: „Was Israel durchmacht, wird auch auf die Schweiz zukommen“ spricht Bände. Einmal mehr das Beschwören der Opferrolle Israels ohne Hinweis darauf, dass die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen seit dem 7. Oktober 2023 wohl unvergleichlich viel mehr mitgemacht und unvergleichbar viel mehr Opfer erbracht hat als die Bevölkerung Israels während dieser Zeit. Und einmal mehr die Solidarisierung der Schweiz mit Israel: Was Israel durchmacht, könnte schon bald auch die Schweiz durchmachen müssen…
Zur gezielten Tötung des Hizbollah-Kommandanten Fuad Shukr und des Hamas-Führers Ismail Haniya meint Kaplan: „Der Schlag zeigte: Wir sind doch zu etwas fähig.“ Das mag sich auch die Regierung der USA nach den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki gedacht haben: Wir sind doch zu etwas fähig. Was für ein Armutszeugnis, wenn die beste eigene „Fähigkeit“ bloss darin besteht, andere vernichten oder demütigen zu können, statt etwa darin, eine menschenwürdige Politik zu betreiben, sich um gewaltlose Konfliktlösungen zu bemühen, Menschenleben zu retten. Genau das alles aber hat Israel mit diesen „präzisen Vernichtungsschlägen“ verhindert, indem Ismail Haniya ausgerechnet in dem Augenblick, als ein von ihm initiierter Vorschlag für einen Waffenstillstand im Gazastreifen kurz vor dem Durchbruch stand, „eliminiert“ wurde. Haben Kaplan und ähnlich Denkende nicht einen einzigen Funken psychologischen Verständnisses? Ist ihnen wirklich nicht bewusst, dass mit jeder Demütigung des „Gegners“ dessen Wut und Hass nur immer weiter angestachelt wird und das, was man angeblich zu vernichten versucht, dadurch nur immer noch stärker und mächtiger wird? Aber vermutlich wollen sie ja genau das und träumen schon von der letzten und grössten aller Schlachten mit dem Endsieg des „Guten“ gegen das „Böse“.
Nach zehn Monaten Gazakrieg und den quälenden Fragen „Was machen wir da eigentlich? Ist es gut oder schlecht?“ hätte nun, so Kaplan, glücklicherweise wieder das befreiende Gefühl Oberhand bekommen, „wir können etwas erreichen.“ PR-mässig, so Kaplan, sei die Tötung des Hamas-Führers in Teheran ein „Coup“ gewesen, den man zum Beispiel mit der Erschiessung von Osama bin Laden 2011 durch die USA vergleichen könne, und der „in aller Bescheidenheit“ gezeigt habe, wie „kreativ“ Israelis sind, wenn es darum ginge, „gute Lösungen zu finden“. Man kann nur noch leer schlucken…
Vehement wehrt sich Kaplan gegen jede Kritik an Israel „aus der sicheren europäischen Warte“: „Sorry, wir befinden uns zufälligerweise im Nahen Osten und stehen damit an der vordersten Front der westlichen Zivilisation.“ Einer westlichen Zivilisation, die unter Führung der USA seit 1945 über 40 völkerrechtswidrige Kriege und Militärschläge geführt hat und 50 Millionen unschuldige Todesopfer und 500 Millionen Verletzte, Verstümmelte und für den Rest ihres Lebens Traumatisierte zurückgelassen hat…
Noch bunter treibt es Markus Somm in seiner Kolumne unter dem Titel „Von Israel lernen heisst siegen lernen“. Von Michael Gorbatschow und seinem weltberühmten Zitat, wonach man Kriege nicht gewinnen, sondern nur verlieren kann, und echte Siege nur im Schaffen von Frieden bestehen, scheint er noch nie etwas gehört zu haben. „Diese Woche“, so Somm, „hat Israel von neuem bewiesen, dass es vermutlich die schlagkräftigste und intelligenteste Militärmacht der Gegenwart ist.“ Wie pervers muss man denken, dass man eine Militärmacht, die innerhalb von zehn Monaten über 40’000 unschuldige Kinder, Frauen und Männer auf dem Gewissen hat, als „Intelligent“ bezeichnen kann…
Wie für Kaplan, scheint auch für Somm das höchste Ziel die Demütigung des Gegners zu sein – ungeachtet aller daraus möglicherweise resultierender Gegenreaktionen in Form von Wut, Hass, Verbitterung, allfälligen Terroranschlägen oder gar kriegerischen Rachefeldzügen: „Was für eine Demütigung“, frohlockt Somm, „für das Regime der tödlichen Maulhelden in Teheran!“ Die Botschaft sei zwar „primitiv“, doch: „Manchmal ist primitiv besser als kompliziert.“ Merkt Somm eigentlich nicht, dass er mit seinen Ausführungen in höchstem Grade genau das betreibt, was er dem vermeintlichen „Gegner“ unterstellt, nämlich Hass, Aufruf zu Gewalt, Kriegstreiberei? Ist Somm nicht selber das krasseste nur vorstellbare Spiegelbild jener Feinde, die er an die Wand malt? „Wer meint, mit ihnen philosophische Verhandlungen führen zu können ohne ihnen die Hölle heiss zu machen“, so die offensichtlich höchste Stufe seiner Erkenntniskraft, „bleibt besser in der Kaninchenzucht.“ Krieg oder Frieden, so Somm, sei ja gar keine Frage mehr: „Der Krieg ist sowieso schon längst da. Wenn der Westen ihn gewinnen will – ob im Nahen Osten, in der Ukraine oder vielleicht bald in Asien -, dann helfen uns weder humanitäres Völkerrecht noch die UNO, regelbasierte Ordnungen oder gesundbetende Diplomatie, sondern allein eine hochgerüstete Armee und Politiker, die auch bereit sind, sie in Marsch zu setzen.“
Glücklicherweise ist Markus Somm keiner dieser Politiker, sonst wären wir vermutlich schon heute mitten im dritten Weltkrieg. Dass er regelmässig in der „Sonntagszeitung“ mit seinen ewiggestrigen, hasserfüllten und geschichtsverleugnenden Theorien seine Kolumne füllen darf, ist schon schlimm genug. Besser wäre es wohl, er würde seinen eigenen Tipp befolgen und sich zukünftig ausschliesslich der Kaninchenzucht widmen, wobei einem selbst diese Tiere noch leid tun müssten. Doch fast noch schlimmer als seine sonntägliche Hasspredigt ist, dass eine der meist gelesenen Schweizer Zeitungen in der gleichen Ausgabe zwei derartig einseitigen Stimmen das Wort erteilt und weit und breit auch nicht die klitzekleinste redaktionelle Einordnung, Relativierung oder kritische Gegenfrage zu lesen ist. Selbst die Leserschaft scheint vor so viel Gewaltverherrlichung förmlich erschlagen zu sein: In der Ausgabe vom 11. August findet sich zumindest kein einziger Leserbrief, welcher der Empörung über so viel Hass und so viel Einseitigkeit Raum zu verschaffen versucht…
Die Mücke
Was ist denn daran so schlimm, wenn dich mitten in der Nacht eine Mücke sticht? Im Gegenteil, sie hat sich vielleicht schon tagelang auf dieses Festmahl gefreut. Wir werden ja auch nicht zu Tode gequetscht, nur weil wir uns am Sonntag einen feinen Schmorbraten gönnen.

Olympische Spiele: Sie nennen es ein „Friedensfest“, tatsächlich aber ist es bloss eine andere Form von Krieg…
Und wieder sind der Jubel der einen und die bitteren Tränen der anderen nur um Millimeter und Tausendstelsekunden voneinander entfernt. Soeben sind acht der 55 Teilnehmerinnen des Frauentriathlons, Seite an Seite auf ihren Fahrrädern mit ihren Konkurrentinnen in horrendem Tempo um den Sieg kämpfend, auf dem nassen und glitschigen Boden ausgerutscht und mit voller Wucht knallhart auf dem Kopfsteinpflaster gelandet, ohne Hoffnung, jemals wieder zur Führungsspitze aufschliessen zu können – und schon durchläuft die strahlende Siegerin unter tosendem Applaus des Publikums das Zielband. Und während die weltbeste Turnerin mit einem Sprung, den noch nie zuvor eine ihrer Konkurrentinnen zu meistern vermochte, schon fast im Himmel des Olymps angelangt ist, muss eine andere Wettkämpferin, die als hoffnungsvolle, ehrgeizige junge Boxerin vom genau gleichen Traum der in unendlichem Glück schwimmenden Goldmedaillengewinnerin beseelt war, schon nach wenigen Sekunden aufgeben, weil ihr die Nase von ihrer Gegnerin dermassen brutal zertrümmert wurde und sie nun so benommen ist, dass sie sich beim nächsten noch so harmlosen Treffer ohne Zweifel kaum mehr wird auf den Beinen halten können. Man nennt es ein „Friedensfest“, bei dem sich die weltbesten Athletinnen und Athleten über alle Grenzen hinweg begegnen, um ihre körperlichen Kräfte, ihre Ausdauer, ihre Geschicklichkeit und ihren Mut aneinander zu messen. Tatsächlich aber ist es bloss eine andere Form von Krieg…
Am 26. September 2004 stürzte der belgische Radrennfahrer Tim Pauwels zu Tode, unmittelbar nachdem er einen Herzstillstand erlitten hatte. Am 26. November 2006 starb der Spanier Isaac Gálvez infolge eines Genickbruchs nach einem Sturz im Sechstagerennen von Genf. Am 31. März 2013 kollidierte der Uruguayer Marcélo Gracés bei der Vuelta Ciclista de Uruguay nach einem Lenkerbruch mit einem Begleitmotorrad und verstarb noch bei der Einlieferung ins Krankenhaus. Am 6. Oktober 2019 verlor der Italiener Giovanni Iannelli, nachdem er mit dem Kopf auf eine Betonplatte geprallt und sein Helm dabei zerbrochen war, das Leben. Am 16. Juni 2023 starb der Schweizer Gino Mäder bei der Tour de Suisse, einen Tag, nachdem er bei der Abfahrt vom Albulapass in eine 20 Meter tiefe Schlucht gestürzt war. Und das sind erst fünf von insgesamt 66 Todesfällen, die allein der Radrennsport in den vergangenen 20 Jahren gefordert hat, zu schweigen von einer noch viel höheren Anzahl von Verletzungen, die zwar nicht zum Tode führten, in vielen Fällen aber lebenslange schwerste Folgen für die Betroffenen hinterlassen haben. Und es ist ja nicht nur der Radrennsport, der so viele Opfer fordert. Auch die Liste von Todesfällen und schwersten Verletzungen in vielen anderen Disziplinen des Spitzensports wie Boxen, Kunstturnen, Tennis, Leichtathletik, Skifahren und vielen anderen wäre ellenlang. Mit Gesundheit hat der heutige Spitzensport auch nicht mehr das Geringste zu tun, eher mit dem Gegenteil…
Doch was treibt Menschen dazu an, solche Strapazen, Qualen, Leiden, Schmerzen, jahrelanges eisernes Training und das permanente Risiko schwerer oder sogar lebensgefährlicher Verletzungen auf sich zu nehmen? Es scheint dahinter so etwas wie eine Art ungeschriebenes Gesetz zu stecken, das man wohl am zutreffendsten als Konkurrenzprinzip bezeichnen könnte: Der Wettbewerb, der Wettkampf, das Feld, auf dem jeder Einzelne alles dafür gibt, besser, schneller, stärker, ausdauernder, mutiger zu sein als alle anderen, diese zu übertreffen, zu überflügeln, auszustechen, um am Ende – The winner takes it all, the loser’s standing small – als Einziger ganz zuoberst auf dem Podest zu stehen, auf alle anderen hinunterschauen zu können und vielleicht sogar in die Geschichte oder das Guinnessbuch der Weltrekorde einzugehen.
Doch ist der Spitzensport bei weitem nicht der einzige Lebensbereich, der von Wettbewerb und Konkurrenzprinzip beherrscht wird. Es beginnt schon in der Schule, beim gegenseitigen Kampf um möglichst gute Noten und die besten Zukunftschancen. Die ganze Arbeitswelt besteht aus nichts anderem als darum, besser und schneller zu sein als andere. Jedes Unternehmen will mehr Gewinn abwerfen und grössere Profite erwirtschaften als alle anderen. Jedes Land will im gegenseitigen Ranking der wirtschaftlich erfolgreichsten möglichst weit oben sein und alle anderen möglichst weit hinter sich zurücklassen. Jede Zeitung will mehr Leserinnen und Leserinnen als alle anderen, jeder Fernsehsender höhere Einschaltquoten als alle anderen, jeder Spielfilm und jede Theaterproduktion mehr Zuschauerinnen und Zuschauer als alle anderen, jede Flug- und jede Schifffahrtsgesellschaft mehr Passagiere als alle anderen, jeder neue Popstar ein grösseres Publikum und mehr verkaufte Tonträger als alle anderen Popstars je zuvor, jeder Teenager auf Tiktok mehr Smileys und Likes als alle anderen. Alles und jedes wird miteinander verglichen, bewertet, rangiert und ist von früh bis spät und rund um die Welt so sehr von Konkurrenzdenken und Wettbewerb geprägt, dass wir uns etwas von Grund auf anderes schon gar nicht mehr vorzustellen vermögen. Tief in uns allen scheint die Überzeugung verankert zu sein, genau dies, der gegenseitige Wettkampf um jeden Preis, entspringe der eigentlichen Natur des Menschen und sei die einzige und beste Art und Weise, um auf allen Lebensgebieten und Arbeitsfeldern dem Menschen die grösstmögliche Verwirklichung seiner Leistungsfähigkeiten und seiner Potenziale abzugewinnen.
Doch es ist nur jahrhundertelange Gewöhnung und weil wir nichts anderes kennen. Tatsächlich aber ist das Konkurrenzprinzip um jeden Preis so ziemlich das Absurdeste und Lebensfeindlichste, was man sich nur vorstellen kann. Denn es beruht auf einer fatalen Illusion, auf einer grandiosen Lüge, und nur weil alle diese Lüge für die Wahrheit halten, kann es weiterhin und in immer bedrohlicherem Ausmass sein Unwesen treiben.
Es ist die Illusion und die Lüge, dass alle zu allem fähig sind, wenn sie sich nur genug anstrengen, nur genug hart an sich arbeiten, nur genug Opfer erbringen, nur auf genug vieles verzichten. Denn jeder und jede, so wird es schon den kleinen Kindern erzählt, könne eines Tages ganz oben auf dem Podium stehen, es sei alles nur eine Frage des Willens und der richtigen Einstellung. Und so wie kleine Kinder an Märchen glauben, so glauben sie auch an dieses Märchen und beginnen davon zu träumen, selber eines Tages ein Prinz oder eine Prinzessin zu sein, der reichste und erfolgreichste Mensch der Welt – oder eben, als Gewinnerin oder Gewinner einer Goldmedaille in die Geschichte einzugehen. Und so sind dann auch allzu viele von ihnen bereit, ihre ganze Kindheit und Jugendzeit diesem Ziel zu opfern, schon im Alter von sechs Jahren um fünf Uhr morgens im kalten Wasser des Hallenbads als zukünftige Synchronschwimmerinnen Ausdauerübungen über sich ergehen zu lassen, bis ihnen fast die Luft ausgeht, sich als zukünftige Kunstturnerinnen und Kunstturner von ihren Trainern jede noch so herablassende Beschimpfung und Beleidigung gefallen zu lassen oder als zukünftige Fussballstars erbarmungslos über das Spielfeld hin und her gejagt zu werden, bis ihnen fast der Schnauf ausgeht.
Die Wahrheit ist, dass eben nicht alle alles erreichen können, selbst wenn sie sich bis zur totalen Selbstaufgabe anstrengen würden. Denn das Konkurrenzprinzip beruht darauf, dass ein jeder Sieg und ein jeder Erfolg des einen nur möglich wird durch die Niederlage und den Misserfolg eines anderen. Dass jedes Glücksgefühl der einen nur entstehen kann aus den Tränen, den Schmerzen und den Enttäuschungen vieler anderer. Dass die einen nur deshalb in der Sonne stehen können, weil sie es geschafft haben, alle anderen in den Schatten zu verdrängen. Dass die Siegerin nur deshalb ganz zuoberst auf dem höchsten Podest stehen kann, weil alle anderen nicht dort oben stehen. Dass einige wenige eben nur deshalb ihre Lebensträume verwirklichen können, weil unzählige andere dazu verdammt sind, sie für immer aufzugeben, auch wenn sie alles Menschenmögliche gegeben und sich mehr angestrengt haben, als sie es jemals für möglich gehalten hätten.
Auch in der Schule, wo jede gute Note nur deshalb eine gute Note ist, weil alle anderen schlechter sind. Auch in dem Modegeschäft, wo die Chefin jeweils am Ende des Monats eine Rangliste aufhängt, auf der ihre Mitarbeiterinnen gemäss des in diesem Monat erzielten Umsatzes abgestuft aufgeführt sind – verbunden mit dem stillen Vorwurf an die Letzte, sie hätte sich wohl einmal mehr viel zu wenig Mühe gegeben. Auch in der Gastronomie, im Tourismus, im Detailhandel, bei den Handwerksbetrieben: Erzielen die einen von ihnen bessere Monats- oder Jahresabschlüsse als in der entsprechenden Vorjahresperiode, dann geht das nur, wenn andere Betriebe im gleichen Zeitraum schlechtere Ergebnisse eingefahren haben. Doch solange die Lüge aufrecht erhalten bleibt, wonach alle alles erreichen können, wenn sie denn nur wollen, solange werden alle, welche die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, stets die Schuld nur bei sich selber suchen und nie bei jener Lüge, die dahinter steckt und alles zusammenhält. Es wird denn auch nie das Ganze in Frage gestellt bzw. neuen Regeln unterworfen oder gar „therapiert“. Therapiert werden nur die einzelnen Individuen, die dem Gesamtsystem zu wenig Nutzen bringen oder bereits dermassen überarbeitet, ausgelaugt oder ihres gesamten Selbstwertgefühls beraubt sind, dass sie nicht mehr „systemkonform“ weiterfunktionieren können.
Das Konkurrenzprinzip und der allgemein gegenwärtige Wettbewerb machen den Menschen zum Feind seiner selbst. Wenn die chinesische Kunstturnerin länger und härter trainiert als je zuvor, zwingt sie, ob sie will oder nicht, alle ihre weltweiten Konkurrentinnen von Brasilien über Frankreich bis Russland dazu, ebenfalls noch länger und härter zu trainieren denn je. Wenn der Postbote des Unternehmens X in noch kürzerer Zeit noch mehr Pakete verteilt als je zuvor, dann zwingt er, ob er will oder nicht, alle Postboten und Postbotinnen der Firma Y dazu, ebenfalls in noch kürzerer Zeit noch mehr Pakete zu verteilen, weil ja alle miteinander unter dem gleichen permanenten Druck stehen, im gegenseitigen Konkurrenz- und Verdrängungskampf nicht unterzugehen. Ob Pizzakuriere, die keine Zeit mehr haben für eine Pause und unterwegs in eine mitgebrachte Flasche pinkeln müssen, ob die Arbeiterinnen und Arbeiter amerikanischer Schlachthöfe, die, weil auch ihnen nicht genügend Pausen gegönnt werden, in Windeln zur Arbeit gehen müssen, ob die Bananenarbeiterinnen in Costa Rica und jene an der Elfenbeinküste und jene auf den Philippinen, deren Unternehmen auf dem Weltmarkt gegenseitig um die grössten Marktanteile kämpfen, ob die Kinder in der Schule, die im permanenten gegenseitigen Wettkampf um die besten Noten und die besten Zeugnisse stehen: Je mehr sich die einen anstrengen, umso mehr sind die anderen gezwungen, sich noch mehr anzustrengen – das Konkurrenzprinzip ist das beste, effizienteste und raffinierteste Mittel, alle zu immer höheren Leistungen anzutreiben, die Peitsche in den Händen der Sklaventreiber des 21. Jahrhunderts, der gegenseitige Überlebenskampf in tödlichem Wasser, wo nicht genügend Rettungsringe für alle vorhanden sind und alle deshalb gezwungen sind, sich gegenseitig diese Rettungsringe unter Aufbietung aller Lebenskraft aus den Händen zu reissen.
Das besonders Fatale daran ist, dass sich dieser gegenseitige, tödliche Konkurrenzkampf aller gegen alle naturgemäss immer weiter verschärft. Da es an der Spitze immer enger wird, muss stets eine immer noch grössere Leistung erbracht werden, um sich gegenüber der Konkurrenz wenigstens einen auch noch so winzigen Vorteil zu verschaffen. Aufwand und Ertrag klaffen immer mehr auseinander, für einen immer kleineren Zugewinn auf der einen Seite müssen immer grössere Opfer auf der anderen Seite erbracht werden. Für den Rest des Lebens kaputttrainierte Körper, die explosionsartige Zunahme von Burnouts auf den Chefetagen, die immer weiter ansteigende Zahl von Depressionen und Suizidversuchen Jugendlicher, zunehmender Drogen- und Medikamentenkonsum, immer längere Warteschlangen vor den Türen von psychotherapeutischen Beratungsstellen, Behandlungszimmern, Therapieräumen und Kliniken: Das ist alles kein Zufall, sondern nur die ganze logische Folge des sich naturgemäss immer weiter verschärfenden Konkurrenzprinzips, vergleichbar einem Karussell, das sich immer schneller dreht und in dem es immer schwieriger wird, sich an den einzelnen Sitzen festzuklammern, um nicht in ein unbestimmtes, bedrohliches Nichts hinausgeschleudert zu werden.
Immer wieder wird behauptet, dies alles liege in der Natur des Menschen. Schon die kleinsten Kinder würden es lieben, sich in gegenseitigem Wettstreit zu messen. Was für eine Unterstellung, was für eine Projektion von Phantasien Erwachsener auf das eben erst erwachte Leben der Kinder. Gerade sie zeigen uns doch am deutlichsten, dass der gegenseitige Wettkampf um Erfolg und Misserfolg eben nicht in der Natur des Menschen liegt. Es stimmt, dass ein Kind zu weinen und zu schreien beginnt, wenn ein anderes zwei Spielzeuglastwagen hat und es selber keinen. Es will das, was andere auch haben. Aber das hat nichts zu tun mit Konkurrenzkampf, sondern nur mit dem elementaren Anspruch auf Gerechtigkeit. Lässt man die kleinen Kinder in Ruhe, so zeigen sie ein so hohes Mass an sozialem Verhalten und sind immer darauf bedacht, alles gerecht untereinander zu verteilen, dass wir Erwachsene nur staunen müssten und immer wieder von ihnen lernen könnten. Viel zu schnell aber leben wir ihnen das Gegenteil vor und müssen uns dann freilich nicht wundern, wenn auch die Kinder möglichst schnell in unsere Fussstapfen treten wollen und nach und nach der Wunsch, stärker, besser und reicher zu sein als andere, das ursprünglich so tief verwurzelte soziale Verhalten nach und nach zu verdrängen beginnt.
Auch ein Blick in die Geschichte der Menschheit zeigt, dass das Konkurrenzprinzip nur eine von vielen, aber beileibe nicht die einzige Möglichkeit ist, wie das Arbeiten und das Zusammenleben in einer Gesellschaft organisiert werden können. Wie der an der Universität Wien lehrende Soziologe Khaled Hakami kürzlich in einem Interview mit der „NZZ am Sonntag“ eindrücklich beschrieben hat, beruht zum Beispiel die Lebensphilosophie der Maniq, einem im südlichen Thailand wohnhaft indigenen Volk, auf einem von Grund auf anderen Wertesystem. Tätigkeiten der täglichen Arbeitswelt werden nicht unterschiedlich bewertet, nichts ist mehr oder weniger wert als anderes. Es gibt keine Hierarchien, keine Anführer, keine sozialen, politischen oder ökonomischen Unterschiede und praktisch keine Gewalt. Es gibt keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern und auch nicht zwischen Kindern und Erwachsenen. Ein Maniq würde nie auf die Idee kommen, auf einen Berg zu rennen oder an einen Strand zu wollen. Die Maniq arbeiten zwei bis vier Stunden am Tag, das reicht, um die nötigen Nahrungsmittel zu beschaffen. Den Rest der Zeit ruhen sie sich aus, liegen herum, rauchen, kuscheln und – modern ausgedrückt – chillen. Das Vergleichen ist ihnen fremd. Sie haben in ihrer Sprache, in der es weder einen Komparativ noch einen Superlativ gibt, nicht einmal die Möglichkeit dazu, ebenso wie es auch keine Vergangenheits- und Zukunftsformen gibt. Die Maniq kennen viele Spiele, aber kein einziges, bei dem man gewinnen oder verlieren kann – ihre Spiele enden dann, wenn einer keine Lust mehr hat. Jeglicher Wettbewerb ist ihnen völlig fremd. Zudem sind sie durch und durch friedfertig und gehen sich bei Streitigkeiten aus dem Weg. Auch kennen sie kein Konzept von Eigentum – wenn sie etwas brauchen, nehmen sie es sich einfach. An Dingen wie Smartphones, Messern oder anderen Objekten der „zivilisierten“ Welt zeigen sie absolut kein Interesse. „Unsere westliche Welt“, so Khaled Hakami, „ist für sie vollkommen bedeutungslos“, und er fügt hinzu, dass die Lebensphilosophie der Maniq, gesamtgeschichtlich betrachtet, nicht eine seltene Ausnahme bildet, sondern das verkörpert, was während der weitaus längsten Periode der Menschheitsgeschichte Normalität war: „So wie wir westliche Menschen heute ticken, haben die meisten Menschen, die je auf diesem Planeten gelebt haben, nie getickt.“
Es ist für uns westliche, „moderne“ Menschen, zutiefst beseelt von einem kaum je in Frage gestellten „Fortschrittsglauben“, offensichtlich kein Thema, dass sich Geschichte auch in eine andere Richtung bewegen könnte als nur in jener einer permanenten Profitmaximierung, Leistungssteigerung und technologischer Perfektionierung. Doch nur schon das Wort „Fortschritt“ zeigt uns, dass wir uns, mit dem ständigen Blick in eine noch „perfektere“ Zukunft, gleichzeitig auch von etwas anderem „fort“ bewegen, was nicht a priori schlechter gewesen sein muss als alles „Moderne“. Käme man zur Erkenntnis, dass wir an einer bestimmten Stelle der Menschheitsgeschichte falsch abgebogen sind, was sollte uns dann daran hindern, zu dieser Stelle zurückzugehen und nochmals nachzuschauen, ob es nicht vielleicht einen besseren Weg gegeben hätte. So wie sich jedes Individuum irren kann, so kann sich auch die Menschheit als Ganzes irren. Doch wäre es nicht ein Zeichen grösster Intelligenz, sich einen solchen Irrtum auch ehrlich einzugestehen und daraus die notwendigen Schlüsse zu ziehen?
Doch auch wenn wir nicht rechtzeitig zu einer solchen Einsicht gelangen, wird uns das Leben früher oder später schlicht und einfach dazu zwingen. Denn bald schon werden die Opfer des weltweiten Konkurrenz- und Wettkampfs aller gegen alle so gross sein, dass sich die daraus entstehenden Probleme auch rein ökonomisch nicht mehr werden bewältigen lassen. Und dann wird und muss das Zeitalter des Gegeneinander ein Ende haben und einem neuen Zeitalter des Miteinander Platz machen. Dann werden wir vielleicht eher wieder so leben wie die Maniq im Süden Thailands und alle unsere Begabungen und Lebenskräfte nicht mehr nur darauf verwenden müssen, potenzielle Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, sondern dazu, unser Bestmögliches zum Gelingen und zum Wohl des Ganzen beizutragen. Doch müssen wir wirklich so lange warten, bis alles von selber zusammenbricht? Müssen wir wirklich noch so viele unzählige Opfer in Kauf nehmen? Wäre es nicht jetzt schon höchste Zeit für ein radikales Umdenken zum Wohle aller?
Und um auf den Ausgangspunkt dieses Artikels, die Olympischen Spiele, zurückzukommen: Höchstmögliche körperliche und akrobatische Leistungen werden auch in einem neuen Zeitalter des Miteinander zu bewundern sein. Aber nicht mehr in römischen Amphitheatern, bei Gladiatorenkämpfen, in Wettkampfarenen und bei olympischen Spielen im Kampf aller gegen alle um die paar wenigen goldenen, silbernen und bronzenen Medaillen, während alle anderen leer ausgehen. Sondern auf Plätzen mitten in den Städten, auf einem Dorffest oder in einem Zirkus, wo Menschen ihre besten und aussergewöhnlichsten Talente zur Schau stellen können, nie irgendwer mit irgendwem verglichen wird, alle Formen von Ranglisten für immer der Vergangenheit angehören und das Glück, der Triumph und der Erfolg der einen zugleich immer auch das Glück, der Triumph und der Erfolg aller anderen sind.
(Nachtrag am 3. August 2024: Anlässlich der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris inszenierten die Sängerin Juliette Armanet und der Pianist Sofiane Pamart auf einem Floss in der Seine treibend und mit einem brennenden Flügel John Lennons „Imagine“. Am polnischen TV-Sender TVP kommentierte ein Moderator diese Darbietung mit folgenden Worten: „Eine Welt ohne Himmel, ohne Nationen und ohne Religion, das ist eine Friedensvision, die alle ergreifen sollte.“ Im Anschluss an die Sendung wurde er entlassen.)
(Nachtrag am 4. August 2024: An den Olympischen Spielen in Paris stemmte sich die Slowakin Tamara Potocká nach ihrem Vorlauf über die 200 Meter Lagen aus dem Becken, brach zusammen und blieb bewusstlos liegen. Später sagte sie: „Ich habe mir gesagt, dass ich alles geben werde und meine Seele im Pool lassen werde.“)
(Nachtrag am 9. August 2024: Seit einer Woche wird heftigst diskutiert, ob die algerische Boxerin Imane Khelif aufgrund ihres männlichen Geschlechtsstatus an den Wettkämpfen der Frauen an den Olympischen Spielen teilnehmen dürfe oder nicht. Es sind zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen Sportlerinnen in solchen Fällen schon Suizid begangen haben. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Im Grunde ist Wettbewerb immer unfair. Denn die Hochspringerin mit den längeren Beinen hat nun mal naturgemäss grössere Chancen als die mit den kürzeren Beinen. Der Skirennfahrer Beat Feuz saust dank seines überdurchschnittlichen Körpergewichts logischerweise schneller ins Tal als seine leichteren Mitkonkurrenten. Und die 14jährige Turnerin hat nun mal biegsamere Gelenke als die 24Jährige. Die einzige logische Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis ist, dass Vergleichen immer absurd und ungerecht ist, sei es in der Schule, am Arbeitsplatz oder im Sport. Kein Mensch verfügt in irgendeinem Leistungsbereich über die genau identischen Voraussetzungen wie ein anderer. Man kann schlichtweg, wie es eine Schweizer Redenwendung sagt, Äpfel nicht mit Birnen vergleichen, auch nicht ein Krokodil mit einem Regenwurm, auch nicht Max mit Röbi. Also: Finger weg vom Vergleichen, vom Wettbewerb, vom Konkurrenzprinzip, das immer nur dem „gerecht“ wird, der die besseren Voraussetzungen mitbringt.)
(Nachtrag am 18. August 2024. Was ebenfalls kaum je thematisiert wird, wenn die „erfolgreichsten“ Nationen nach Olympischen Spielen ihre Medaillen zusammenzählen und ihre Ranglisten von den Besten bis zu den Schlechtesten veröffentlichen: Der Leistungsförderung in den reicheren Ländern stehen unvergleichlich viel höhere finanzielle Mittel zur Verfügung. Ihre Sportlerinnen und Sportler sind weitgehend mit viel Geld und allen weiteren zur Verfügung stehenden Raffinessen und Tricks aufgepumpte Leistungsmaschinen, gegen welche die Menschen in den ärmeren Ländern, selbst wenn sie noch so sportlich begabt wären, nicht die geringste Chance haben. Was wieder den Vergleich mit dem Krieg nahelegt, wo Pfeil und Bogen von Naturvölkern hoffnungslos unterlegen sind im Kampf gegen die Panzer und Raketen aus den Ländern der Reichen. Was für ein unsichtbares Potenzial, von dem niemand spricht. Selbst siebenjährige Kinder irgendwo in Indonesien oder auf einer der Pazifikinseln, die auf ihrem täglichen Schulweg gefährlichste Felswände überwinden oder sich durch den dichtesten Dschungel voller gefährlicher Tiere hindurchkämpfen müssen, vollbringen vermutlich grössere körperliche Leistungen als manch eine Europäerin oder ein US-Amerikaner, der soeben von den Olympischen Spielen in Paris mit einer Medaille nach Hause gekommen und dort wie ein Gott empfangen worden ist. Hätte nicht auch jene zwölfjährige Inderin, die zur Coronazeit ihren an einen Rollstuhl gefesselten Vater über 800 Kilometer weit über Strassen und Wege voller Steine und Löcher stiess, eine olympische Goldmedaille verdient?)