Archiv des Autors: Peter Sutter

2,44 Billionen Dollar für Waffen: Pazifismus als einzige vernünftige Alternative

Kaum eine Woche vergeht, ohne dass irgendein Staat bekanntgibt, mehr Geld für sein Militär ausgeben zu wollen. Gemäss dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri erreichten die globalen Militärausgaben 2023 einen neuen Höchststand. Sie stiegen gegenüber dem Vorjahr um 6,8 Prozent auf rund 2440 Milliarden Dollar – es war bereits das neunte Jahr in Folge, in dem die Länder der Erde mehr Geld für ihre Verteidigung ausgaben. Spitzenreiter sind dabei die USA, sie bestritten mit 916 Milliarden Dollar 37 Prozent sämtlicher weltweiter Militärausgaben.

Gleichzeitig sind immer mehr Menschen nicht nur in den Ländern des Südens, sondern auch in den Ländern des Nordens von Armut betroffen. All das Geld, das weltweit in militärische Aufrüstung gesteckt wird, fehlt bei der Grundversorgung von Millionen von Menschen umso schmerzlicher, bei der Bereitstellung günstigen Wohnraums, bei der Wasserversorgung, bei Sozialprogrammen, im Gesundheitswesen, in der Bildung, in der Entwicklungshilfe. Jeden Tag sterben weltweit rund 10’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs, weil sie nicht genug zu essen haben. „Jede Kanone, die gebaut wird“, so der frühere US-Präsident Dwight D. Eisenhower, „jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“ Auch Albert Einstein schrieb schon vor über 70 Jahren: „Was für eine Welt könnten wir bauen, wenn wir alle die Kräfte, die den Krieg entfesseln, für den Aufbau einsetzen würden. Ein Zehntel der Energien, ein Bruchteil des Geldes wären hinreichend, um den Menschen aller Länder zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen.“

Die Lösung wäre so einfach: Es bräuchte nur eine internationale Friedenskonferenz sämtlicher Regierungen, die bald einmal, wenn sie sich ernsthaft mit der Frage nach dem Überleben der Menschheit auseinandersetzen würden, unweigerlich erkennen müssten, dass sie alle nur gewinnen und dass niemand von ihnen etwas verlieren würde, wenn sie all das viel zu viele Geld, das heute für militärische Zwecke verschleudert wird, für zivile Zwecke verwenden würden. Die Einzigen, die dabei verlieren würden, wären die Rüstungskonzerne. Aber auch sie nur auf den ersten Blick. Denn es gibt unendlich viel Sinnvolleres, was man anstelle von Waffen produzieren kann: Wohnungen und Häuser, Anlagen für eine flächendeckende Versorgung mit sauberem Trinkwasser, ausreichende sanitäre Einrichtungen zur Verhinderung von ansteckenden Krankheiten, Spitäler, Geräte für medizinische Grundversorgung, intelligente und energiesparsame Verkehrssysteme, Fahrräder, Schulen, Kulturzentren, Bücher und vieles, vieles mehr. Und das würde all jene, welche ihre Produktion von militärischen auf zivile Güter umstellen würden, erst noch viel glücklicher machen, sie von schlechtem Gewissen und von schlaflosen Nächten befreien. Ja, der Pazifismus, der in der Abschaffung sämtlicher Armeen gipfeln und auf diese Weise endlich Wirklichkeit würde, ist die aktuellste Philosophie der Gegenwart und „aus der Zeit gefallen“ sind einzig und allein nur jene, die das immer noch nicht begriffen haben.

Aber noch etwas müsste an dieser globalen Friedenskonferenz beschlossen werden, nämlich, der UNO eine unvergleichlich viel grössere Macht zu geben als die, über welche sie heute verfügt. Die USA müssen ihre Rolle als Weltpolizist und als Weltmacht Nummer eins, die sich einzig und allein auf das Recht des Stärkeren begründet und an die sie sich je länger je verzweifelter und mit immer gefährlicheren möglichen Folgen festklammern, endlich abgeben. Nicht an China oder irgendeine andere künftige Grossmacht, sondern an eine supranationale Organisation wie die UNO, demokratisch legitimiert und ohne ein Vetorecht irgendeines einzelnen oder einer Gruppe privilegierter Staaten. Jeder Konflikt zwischen zwei Jugendlichen, die sich auf einem Pausenplatz verprügeln, jeder Konflikt zwischen Eheleuten, die nicht mehr miteinander sprechen, und jeder Streit zwischen Nachbarn wegen bellenden Hunden in der Nacht oder Bäumen, die in die falsche Richtung wachsen, wird heute durch den Beizug von Mediatoren oder Friedensvermittlerinnen und durch gemeinsames Suchen nach Kompromissen gelöst. Nur bei den grössten, schwierigsten und gefährlichsten Konflikten, jenen zwischen Völkern oder Staaten, geht man immer noch von der irrigen Annahme aus, diese könnten von den Kontrahenten alleine und ohne Hilfe von aussen gelöst werden. Dass dies definitiv nicht funktionieren kann, müsste die Menschheit aus der viele hundert Jahre währenden Geschichte von Kriegen, bei denen es am Ende nie Gewinner, sondern immer nur Verlierer gegeben hat, eigentlich schon längst gelernt haben.

Vielleicht, und das ist trotz allem die Hoffnung, sind wir dem Punkt einer Entscheidung, die wir nicht mehr viel länger hinausschieben können, heute näher denn je. Denn es gibt nur zwei Wege. „Entweder“, so der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „werden wir als Brüder und Schwestern miteinander überleben, oder aber als Narren miteinander untergehen.“

Ins Paradies

Wenn die Kinder an unserer Seite aus dem Paradies gekommen sind, dann müsste es doch auch umgekehrt möglich sein, dass wir an ihrer Seite auch wieder dorthin zurückkehren können.

„Arena“ vom 19. April 2024 am Schweizer Fernsehen zum Thema Klimapolitik: Viel tiefer kann Diskussionskultur nicht mehr fallen…

Eigentlich hatte ich, als ich am Freitagabend nach dem Zürcher Klimastreik wieder zuhause angekommen war, zunächst absolut keine Lust, mir die am gleichen Abend ausgestrahlte SRF-Diskussionssendung „Arena“ zum Thema Klimapolitik anzuschauen. Wahrscheinlich wäre ich sowieso nur einmal mehr zutiefst enttäuscht gewesen und hätte kaum etwas von dem wiedergefunden, was ich während dieser zwei Stunden im Regen und in der Kälte von Zürich erlebt hatte, nichts von dieser überschäumenden Lebensfreude tausender ausschliesslich friedlich und fröhlich für eine lebenswerte Zukunft demonstrierender, vorwiegend junger Menschen, nichts von all dieser wunderbaren Energie und nichts von dem Optimismus, den dies alles in mir ausgelöst hatte. Dennoch habe ich dann zwei Tage später noch kurz in die „Arena“-Sendung hineingeschaut. Und ja, schon zwei kurze Ausschnitte haben genügt, um meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt zu finden…

Im ersten Ausschnitt stellt der Diskussionsleiter Sandro Brotz fest, dass die Klimabewegung in jüngster Vergangenheit wieder „in die öffentliche Wahrnehmung zurückgekehrt“ sei. Dies sei bei „verschiedenen Aktionen“ der vergangenen Wochen deutlich geworden. So etwa beim Zürcher Sechseläuten, wo sich eine Handvoll von Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten mit einer schwarzen Flüssigkeit übergossen hätten – die entsprechenden Bilder werden eingeblendet -, wobei diese Aktion „gar nicht gut angekommen“ sei. Bei dieser Aktion hätte auch Max Vögtli mitgemacht, der später wegen einer Flugreise nach Mexiko in die Schlagzeilen geraten sei. Auch in Basel hätte eine ähnliche Aktion stattgefunden, bei der sogar ein 13Jähriger beteiligt gewesen sei: Im Bild sieht man drei Personen, welche eine schwarze Flüssigkeit über Tramgeleise giessen und sich dann mit einem Transparent auf den Boden setzen, einer von ihnen ist der Dreizehnjährige. Weiter geht es zu den Bildern von zwei Brunnen in der Berner Altstadt, deren Wasser grün eingefärbt worden sei. Und auch heute, am 19. April, so Brotz, seien „weitere Aktionen geplant“. Und ja – Brotz wendet sich nun, anknüpfend an diese Bilder, an den Juso-Präsidenten Nicola Siegrist und wirft ihm die provokative Frage entgegen, ob das nun immer so weiter gehe mit diesen „Strassenblockaden, die uns alle so nerven.“

Man findet kaum Worte, um eine dermassen tendenziöse „Informationsvermittlung“ zu beschreiben. In den drei gezeigten Episoden waren insgesamt nicht einmal zehn sogenannte „Klimaaktivistinnen“ und „Klimaaktivisten“ zu sehen. Während gleichzeitig allein in Zürich rund 4000 Menschen ausnahmslos friedlich, gewaltlos und ohne nur einen Ansatz von Provokation auf die Strasse gegangen sind, um daran zu erinnern, wie weit wir derzeit noch von der Umsetzung der Pariser Klimaziele, mit denen alle Länder der Welt einmal einverstanden gewesen waren, immer noch entfernt sind. Ein Thema, das aktueller nicht sein könnte, das uns eigentlich mit einem gewaltigen Ruck quer durchs ganze Land aufrütteln müsste, wird in der „Arena“ reduziert auf ein paar sensationslüsterne Bilder, die aber aus den Köpfen all jener, welche an keiner dieser friedlichen Demonstrationen dabei waren und nichts von der Leidenschaft, den Hoffnungen und Visionen abertausender junger Menschen mitbekommen haben, kaum jemals mehr auszulöschen sein werden.

Im zweiten Ausschnitt bringt Juso-Präsident Nicola Siegrist in einem kurzen Moment alles auf den entscheidenden Punkt: Das Gründübel sei das auf reine Profitmaximierung und immerwährendes Wachstum ausgerichtete kapitalistische Wirtschaftssystem. Solange dies nicht durch eine nachhaltige, nicht mehr länger auf der Ausbeutung von Mensch und Natur beruhende Wirtschaftsweise ersetzt würde, wäre auch eine Lösung des Klimaproblems nicht machbar. Doch statt jetzt in die alles entscheidende Grundsatzdiskussion einzusteigen, scheinen die beiden Kontrahenten auf der anderen Seite des Podiums, Christian Wasserfallen von der FDP und Christian Imark von der SVP, nur darauf gewartet zu haben, ihrem politischen Gegner die alles entscheidende Niederlage beizufügen. Wie Hyänen lauern sie auf ihre Beute, statt mit ernsthaftem Bemühen um eine möglichst sachbezogene Diskussion reagieren sie mit hämischem Grinsen. Wasserfallen beginnt schon zu reden, bevor Siegrist seinen Gedankengang überhaupt zum Ende bringen konnte. Jetzt, meint er, hätte sich Siegrist definitiv selber verraten, es sei doch immer wieder das gleiche „Narrativ“, es gäbe doch kein einziges sozialistisch-kommunistisches Land, das „klimamässig sauber unterwegs“ sei, die seien doch alle von Armut geprägt, hätten keinerlei Infrastruktur und keinerlei Innovationen, die dazu führen könnten, Klimaschutzmassnahmen überhaupt technisch umzusetzen. Dann wirft er Siegrist vor, dieser wolle doch bloss den Firmen alle Gewinne wegnehmen, Löhne fordern, die gar niemand bezahlen könne, und damit auch keine Mittel mehr übrig zu lassen, um das Klimaproblem zu lösen. „Herr Siegrist“, sagt er, „haben Sie sich das alles schon einmal überlegt? Wahrscheinlich nicht.“ Und dann rät Wasserfallen ihm, endlich von den „marxistisch-roten Büchern“ wegzukommen und in die „betriebswirtschaftliche Realität“ zu gelangen. Und überhaupt, so fährt er nahtlos weiter, sähe man es ja an diesem Max Vögtli, wohin das alles führe, wenn einer solche Aktionen durchführe und dann am nächsten Tag mit dem Flugzeug nach Mexiko verreise.

Eigentlich wäre das jetzt der Moment für den Moderator. Eigentlich müsste der jetzt sagen, dass man so nicht konstruktiv diskutieren könne und nicht alles durcheinanderbringen dürfte, sondern jeweils beim entsprechenden Thema bleiben müsste. Und er müsste zumindest die Frage aufwerfen, ob es denn ausserhalb des profitsüchtigen Kapitalismus und eines zweifellos mit viel zu vielen Mängeln behafteten „sozialistisch-kommunistischen“ Systems nicht möglicherweise noch etwas Drittes geben könnte, das vielleicht noch gar nicht existiert, worüber aber ernsthaft zu diskutieren von grösster Dringlichkeit wäre. Er müsste auch nachweislich falsche Aussagen richtig stellen und zum Beispiel daran erinnern, dass die DDR kurz vor ihrem Zusammenbruch immerhin die sechststärkste Wirtschaftsnation der Welt gewesen war. Doch nichts von alledem geschieht. All die Anschuldigungen, die falschen Behauptungen, die immer wieder neu aufgewärmten Feindbilder bleiben unwidersprochen im Raum hängen. An keiner Stelle findet eine seriöse, vertiefte Auseinandersetzung statt. Ein knallhartes 1:0 für alle, die es immer schon wussten: Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten sind vor allem Menschen, die sich auf Strassen kleben, sich mit schwarzen Flüssigkeiten übergiessen und Flüsse und Brunnen vergiften. Wirtschaftswachstum ist gut. Zum Kapitalismus gibt es keine glaubwürdige Alternative. Deckel darüber. Tiefer kann Diskussionskultur nicht mehr fallen.

Es ist immer wieder die gleiche Methode, mit der man sich einer demokratischen, diskursiven Auseinandersetzung entzieht, indem man den politischen Kontrahenten mundtot zu machen versucht: Wer nur schon die leiseste Vermutung äussert, auch der Westen trage infolge der NATO-Osterweiterung eine Mitschuld am Ukrainekonflikt, ist ein „Putinfreund“. Wer auch nur ansatzweise die derzeitige Politik Israels und den Völkermord an den Menschen im Gazastreifen zu kritisieren wagt, ist ein „Antisemit“. Und wer nur schon den geringsten Zweifel darüber äussert, ob die kapitalistische Ideologie unbeschränkter Profitmaximierung und eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums eine Zukunft haben kann, wird zum „Kommunisten“ abgestempelt. Damit aber ist jegliche auch nur ansatzweise demokratische Auseinandersetzung bereits im Keim erstickt.

Meine Eindrücke vom Klimastreik in Zürich, die Begegnungen mit so vielen wunderbaren Menschen voller Idealismus und voller Leidenschaften. Und dann die „Arena“. Zwei Dinge, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Wäre nicht endlich die Zeit reif dafür, sich nicht mehr länger verheizen zu lassen, nicht mehr länger solche Spiele mitzuspielen, sich nicht mehr länger in den Fleischwolf jener werfen zu lassen, die aus dem lautstarken Schlagabtausch oberflächlicher scheinbarer „Wahrheiten“ immer wieder als „Sieger“ hervorgehen und dabei einer ernsthaften, zukunftsgerichteten Auseinandersetzung schon zum Vornherein jeglichen Boden unter den Füssen entziehen? Es gäbe, so der chinesische Künstler, Dissident und Systemkritiker Ai Weiwei in einem kürzlich mit Sky News geführten Interview, auffallende Ähnlichkeiten zwischen der politischen Zensur in den aktuellen westlichen Gesellschaften und der Unterdrückung der Meinungsfreiheit während der Herrschaft Mao Zedongs. Diese „Arena“ war einmal mehr ein zutiefst erschreckendes Beispiel dafür.

(Ich habe auch bis heute nicht verstanden, was dieses Konzept der „schweigenden Masse im Hintergrund“ bei den Arena-Sendungen eigentlich soll. Während sich im Vordergrund seit eh und je immer wieder die gleichen Politköpfe, deren immergleiche Worthülsen man längst schon bis zum Überdruss kennt, gegenseitig „duellieren“, sitzen da rund hundert meist junge Menschen, die wohl unzählige Fragen hätten und mit neuartigen, unkonventionellen Ideen das sich stets nach den gleichen Regeln abrollende Ritual aufwirbeln und aufbrechen könnten. Aber nein, sie sind zum Schweigen verdammt, gleichsam die anonyme Masse der nicht wahrgenommenen Bevölkerung symbolisierend, reine Statistinnen und Statisten, reine Dekoration, um dem Ganzen einen einigermassen demokratischen Anstrich zu geben, tatsächlich aber etwas zutiefst Antidemokratisches und das pure Gegenteil dessen, was man als partizipativ bezeichnen könnte, signalisierend, dass sie alle gefälligst zu schweigen haben, weil die da vorne, die wirklich „Wichtigen“, so viel Gescheites zum Besten geben, was man auf keinen Fall stören oder gar in Frage stellen darf. Jeden Freitag eine schallende Ohrfeige für all jene, die seit Jahren dafür kämpfen, dass die Jugend über viel mehr politische Mitsprache verfügen müsste. Gerade bei einem Thema wie Klimapolitik, von dem ja die heute noch unter 30Jährigen in ihrem zukünftigen Leben weit mehr betroffen sein werden als alle älteren Jahrgänge.)

Generation Z – eine „Gefahr für den Schweizer Wohlstand“? Die seltsamen Ansichten des „Generationenforschers“ Rüdiger Maas…

„Junge gefährden den Schweizer Wohlstand“, lese ich auf der Titelseite des „St. Galler Tagblatts“ vom 17. April. Es folgt auf Seite 3 ein ganzseitiges Interview mit dem „Generationenforscher“ Rüdiger Maas. Dieser nennt die Generation Z – die heutigen 15- bis 30Jährigen – „arbeitsunfähig“. Maas beklagt sich darüber, dass die Arbeit für diese Altersgruppe nicht mehr der „Mittelpunkt des Lebens“ sei, dass sie bei Vorstellungsgesprächen „kein bisschen nervös“ seien, dass sie ein „angenehmes Arbeitsumfeld“ einem „starken Leistungsdruck“ vorziehen, dass ihre Eltern nicht mehr „Erziehungspersonen“ seien, sondern die „besten Freunde ihrer Kinder“, dass Eltern und Kinder heute „die selben Werte teilen“ und dass die Unternehmen heute viel zu grosszügig seien, den stellensuchenden Jugendlichen, um sie anzuwerben, „viel zu viele Geschenke machen“ und ihnen sogar „Viertagewochen, Obstkörbe, Tablets und Bildschirme fürs Homeoffice“ zur Verfügung stellen. Maas beklagt sich auch darüber, dass heute zunehmend verhindert werde, den Kindern auch das „Verlieren“ beizubringen.

Offensichtlich trauert Maas den „guten“ alten Zeiten nach, in denen sich Jugendliche gefälligst den drakonischen Erziehungsmassnahmen, Strafen, der Bevormundung und der Rechthaberei und Besserwisserei seitens der Erwachsenen zu unterwerfen hatten und man ihnen bei jeder Gelegenheit zu verstehen gab, dass sie, bei Unstimmigkeiten zwischen ihnen und ihren Vorgesetzten, gefälligst den Mund zu halten hätten. Dabei müsste ein „Generationenforscher“ doch eigentlich wissen, dass sich jede neue Generation von allen vorangegangenen unterscheidet. Nur so ist eine gesellschaftliche Weiterentwicklung möglich, nur so kann die Welt immer wieder neu und anders gesehen und gedacht werden. Wenn die Jungen heute nicht mehr ihr ganzes Leben in den Dienst der Arbeit stellen, sondern vermehrt ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Lebensgenuss anstreben, so ist das etwas vom Besten, was sie tun können. Denn wer ausgeruht, entspannt, mit Freude und im inneren Gleichgewicht mit sich selber arbeitet, leistet insgesamt mehr, als wenn er wie eine Zitrone bis zum Letzten ausgepresst wird und mit der Zeit nur noch lustlos und widerwillig zur Arbeit geht. Entgegen der Schlagzeile, wonach die Jugend den Wohlstand gefährde, ist es genau umgekehrt: Mit ihrer Lebensfreude, ihrem Humor und ihrer Gelassenheit sichern diese jungen Menschen für uns alle und für unsere Zukunft eine neue, bessere Form von Wohlstand, die weit über blosse Pünktlichkeit, vorschriftsgemässes Einhalten von Regeln und Vorschriften und Verausgabung bis zur Erschöpfung hinausgeht.

Blockierte Zahlungen an das palästinensische Flüchtlingshilfswerk UNRWA

An FDP Schweiz, Neuengasse 20, 3001 Bern
An Generalsekretariat SVP, Postfach, 3001 Bern
An die Partei der Mitte, Seilerstrasse 8a, Postfach, 3001 Bern

Wie die „Rundschau“ auf SRF1 am 18. April 2024 berichtet hat, verweigern die SVP, die FDP und die MITTE die Zahlung von 20 Millionen Franken an das Palästinenser-Hilfswerk UNRWA. Dies allein aufgrund der – bisher noch nicht bewiesenen – Behauptung Israels, am Angriff der Hamas auf israelisches Grenzgebiet vom 7. Oktober 2023 seien zwölf von insgesamt rund 30’000 Mitarbeitenden der UNRWA beteiligt gewesen.

WOLLEN SICH DIE FDP, DIE SVP UND DIE MITTE ALLEN ERNSTES DER BEIHILFE ZUM VÖLKERMORD SCHULDIG MACHEN?

Anja Bezold, Hebamme, berichtet im „Tagesanzeiger“ vom 18. April 2024: „Ich arbeitete in Rafah, wo die letzte Geburtsklinik in ganz Gaza betrieben wird. Sehr viele Kinder kommen zu früh zur Welt, weil die Mütter so gestresst und traumatisiert sind. Das Team muss 100 Geburten pro Tag stemmen und ist völlig überfordert. Es fehlt an Medikamenten und Materialien. Es gibt keine Windeln, es fehlt an Nabelklemmern. Es hat kaum künstliche Babynahrung. Es fehlt an sauberem Wasser. Die Mütter können ihre Babys nicht stillen, sie sind selber total ausgelaugt.“

Ebenfalls im „Tagesanzeiger“ vom 18. Oktober 2024 berichtet der UNRWA-Nothilfekoordinator Sam Rose: „Was ich hier in Rafah sehe, übertrifft alles, was ich bisher gesehen habe. Zehntausende Menschen sitzen in Zelten und Notunterkünften und kämpfen ums tägliche Überleben. Und Israel verwehrt uns den Zugang in den Norden, wo die Bevölkerung noch härter als im Süden von Hungersnot betroffen ist. Unsere Angestellten werden wegen der täglichen Bombenangriffe ständig vertrieben. Das Geld reicht höchstens noch bis Ende Mai, dann müssen wir unsere Arbeit hier einstellen.“

Und Marco Sassòli, Professor für Völkerrecht an der Universität Genf, schreibt im Tagesanzeiger-Newsletter vom 17. April 2024: „Das UNRWA ist auf die Mittel angewiesen, um weiterhin der Zivilbevölkerung in Gaza die dringendst benötigte Nothilfe leisten zu können. Die UNRWA ist die einzige Organisation, die logistisch in der Lage ist, die Verteilung der Nahrungsmittel und der Hilfsgüter zu bewältigen. Zwölf UNRWA-Mitarbeitende (von 30’000) werden verdächtigt, an den Angriffen der Hamas beteiligt gewesen zu sein. Rechtfertig dies, die Unterstützung von zwei Millionen Palästinenserinnen und Palästinensern einzustellen, welche dringend Hilfe benötigen, um zu überleben? Hätte Henri Dunant die Verwundeten von Solferino im Stich gelassen, wenn sich darunter zwölf Vergewaltiger befunden hätten?“

SETZEN SIE SICH DAFÜR EIN, DIE BLOCKIERTEN ZAHLUNGEN AN DIE UNRWA UNVERZÜGLICH FREIZUGEBEN! ALLES ANDERE IST VERSUCHTE BEIHILFE ZU VÖLKERMORD UND WÜRDE EINE NIE DAGEWESENE VERLETZUNG UND MISSACHTUNG DER HUMANITÄREN TRADITION UNSERES LANDES BEDEUTEN.

19. April 2024, Klimastreik in Zürich: Und mittendrin Olivia, 11 Jahre, an der ersten Klimademo ihres Lebens…

Wie viele werden wohl kommen? Olivia, 11 Jahre, kann es kaum erwarten. Es ist die erste Klimademo ihres Lebens. Mindestens vier, scherze ich, du, dein Papa, deine Mama und ich. Nein, lacht sie zurück, mindestens fünf, irgendwer muss das Ganze ja organisiert haben…

Doch glücklicherweise sind es dann nicht nur fünf, sondern etwa 4000, die sich an diesem 19. April 2024 trotz strömendem Regen und Kälte auf dem Helvetiaplatz in Zürich versammeln. Musik dröhnt aus einem Lautsprecherwagen mit vorgespanntem Traktor, da und dort werden Flugblätter verteilt und Transparente aufgerollt. Fünf vor sechs Uhr, wieder ist ein Tram voller Neuankömmlinge eingetroffen, von allen Seiten strömen sie jetzt auf den Platz, junge und ältere Menschen, Frauen und Männer, Omas und Opas, Kinder und Jugendliche. Olivia kommt mit Zählen nicht mehr nach.

Und dann, wie ein Theaterstück, das man perfekter nicht inszenieren könnte. Nur schon diese sich im Schritttempo vorwärts bewegende Menge, wie ein Fluss wälzt sie sich durch die Strassen, ein Bild des totalen Friedens, niemanden rempelt irgendwen an, alle sind fröhlich und lachen sich gegenseitig zu, geniessen es einfach, mit so vielen anderen Menschen zusammen zu sein, durch eine gemeinsame Idee, eine gemeinsame Vision, eine gemeinsame Leidenschaft miteinander verbunden. Wie ein den ganzen Körper durchdringender Herzschlag: Hier eine Parole und, kaum ist sie verklungen, dort eine andere, immer wieder neue Bewegung entfachend, tanzende, auf und ab wippende, nicht mehr zu Ruhe kommende Körper. Sprecherinnen mit Megafonen, bis ihnen die Stimme ausgeht. Dann wieder die vom Traktor gezogene Tanzbühne, dumpfe Bässe, die alles zum Vibrieren bringen, ein Stück Streetparade mitten in der Klimademo. Eine Gruppe von Trommlerinnen und Trommlern, die alle Kraft, die in ihren Körpern steckt, auf ihre Instrumente hauen, Rundumstehende, die begeistert mitklatschen, immer schneller, immer lauter. Und immer wieder Windstösse, der von allen Seiten heranstürmende Regen, flatternde Schirme, eine Kartonschachtel auf dem Kopf eines jüngeren Mannes, um sich gegen die Nässe zu schützen. Gleichzeitig wird es immer dunkler, die Gebäude am Strassenrand versinken nach und nach im Unsichtbaren, während auf der Tanzbühne jetzt Lichter in allen Farben zucken. Und mittendrin Olivia, 11 Jahre jung, elektrisiert, überwältigt von all den Eindrücken, dieser Lebensfreude, diesen lachenden Gesichtern, den vielen Fahnen und und ganz besonders jener von ihnen, die ihr Papa gebastelt hat und die nun auch sie, Olivia, eine Zeitlang tragen darf, bis sie ihr zu schwer wird. Dieser Tag wird wohl für immer in der Erinnerung ihres Lebens einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen…

Ja, diese gemeinsame, so logische und einfache und doch auf nahezu unbegreifliche Weise in immer noch in so weiter Ferne liegende Vision eines guten Lebens nicht nur für heute, sondern auch für morgen und übermorgen, und nicht nur für einzelne mit besonderem Glück und besonderen Privilegien beschenkte Orte, sondern für alle Menschen über alle Grenzen hinweg. Auf dem Traktor, welcher den grossen Musikwagen zieht, klebt ein Schild mit der Aufschrift „Free Palestine!“ und erinnert daran, dass es schon längst nicht mehr bloss um die Reduktion von Treibhausgasemissionen oder die Umstellung von fossiler auf erneuerbare Energieproduktion geht, sondern um etwas viel Grösseres und Umfassenderes. Es geht um weltweiten Frieden und Gerechtigkeit nicht nur zwischen Mensch und Natur, nicht nur zwischen Gegenwart und Zukunft. Es geht auch um die Überwindung sämtlicher Formen von Ausbeutung von Menschen durch andere Menschen. Es geht um die Überwindung jeglicher Machtverhältnisse, dank denen sich Einzelne auf Kosten anderer bereichern. Es geht um die Überwindung von Krieg und jeglicher Anwendung von Gewalt in Konflikten zwischen Menschen, Völkern oder Ländern. Es geht um die Überwindung eines globalen Wirtschaftssystems, welches nicht auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet ist, sondern auf die Bedürfnisse einer sich stetig vermehrenden Menge von Geld und Macht in den Händen einer Minderheit auf Kosten der grossen Mehrheit der Menschen – das, was in der kürzest möglichen Form auch bei dieser Kundgebung mit der Parole SYSTEM CHANGE, NOT CLIMATE CHANGE immer und immer wieder skandiert und auf den Punkt gebracht wird. Frieden, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte lassen sich nicht voneinander trennen oder gar gegeneinander ausspielen. Es gibt nur entweder Frieden in und mit allem oder aber Krieg in unendlich vielen mehr oder weniger gewalttätigen und zerstörerischen Formen. Es gibt nur entweder das blinde Festhalten an der Vergangenheit oder aber den radikalen, mutigen Schritt in eine von Grund auf neue und andere Zukunft. Heute noch werden Klimastreiks, Friedenskundgebungen für Palästina oder die Ukraine, Feiern zum Ersten Mai, Frauenstreiks und Kundgebungen gegen Rassismus völlig unabhängig voneinander organisiert und durchgeführt, als hätte das eine mit dem andern nichts zu tun. Tatsächlich aber hängt alles mit allem zusammen. Würde man alle diese voneinander getrennten Bewegungen in eine einzige, gemeinsame Bewegung für Frieden und Gerechtigkeit zusammenführen, und dies weltweit – kaum auszudenken, welche Auswirkungen dies haben würde…

Schon auf der Fahrt im Zug nach Zürich wollte Olivia unbedingt wissen, ob es überhaupt noch gelingen könne, den Klimawandel aufzuhalten. Als wir Erwachsene hin und her zu diskutieren begannen, ob es dafür nicht vielleicht schon zu spät sein könnte, liess sie dennoch nicht locker und wollte es nicht für möglich halten, dass wir es gemeinsam nicht schaffen würden. Und ja, hat sie nicht recht? Gibt es in dieser so dunklen Zeit voller Ängste und Zweifel nicht auch immer häufigere Anzeichen von Widerstand, Hoffnung und Rebellion, ein immer stärker wachsendes Bewusstsein dafür, dass Geschichte nicht einfach etwas ist, was schicksalshaft über uns Menschen hereinbricht, sondern etwas, was wir Menschen mit unseren eigenen Händen, unserer eigenen Kraft, unserem eigenen Handeln, unseren eigenen Visionen, unseren eigenen Begabungen und Leidenschaften und unserer eigenen Liebesfähigkeit verändern und gestalten können? Könnte es sein, dass wir dem „Kipppunkt“, an dem die alte in die neue Zeit umschlagen wird, schon viel näher sind, als wir uns dessen bewusst sind? Ist nicht allein schon die Tatsache, dass von uns vieren im Zug nach Zürich die elfjährige Olivia die meiste Zeit geredet hat und wir Erwachsene während der meisten Zeit ihr zugehört haben, genau einer dieser unendlich vielen Meilensteine an allen Ecken und Enden auf dem Weg in eine neue Zeit?

Noch nie habe ich so wild und ausgelassen tanzende Menschen gesehen wie an diesem 19. April 2024 in Zürich. Vielleicht auch wegen des Regens und der Kälte. Vielleicht auch, um so den Widerstand in ganz urtümlicher, aus dem tiefsten Inneren schöpfenden, sprach-loser Weise kundzutun, sozusagen jene Energie anzapfend, die weltweit alle Menschen in ihrem Innersten miteinander verbindet. Und unwillkürlich muss ich an jene legendären Sonnentänze der amerikanischen Ureinwohnerinnen und Ureinwohner denken, mit denen sie zum allerletzten Mal die Übermacht der aus Europa eingedrungenen weissen Kolonialherren zu brechen versuchten. Dass die Weissen ihnen militärisch überlegen waren, wussten sie schon lange und hatten jeglichen Widerstand aufgegeben. Kurz vor der letzten vernichtenden Auslöschung ihrer traditionellen Lebensweise beschlossen sie auf einer grossen stammesübergreifenden Versammlung, so lange zu tanzen, bis wieder ein Gleichgewicht zwischen ihrer und der fremden Kultur hergestellt sein würde. Und so tanzten sie wochenlang, Tag und Nacht, bis zur Erschöpfung. Der erhoffte Erfolg blieb aus. Aber vielleicht hat ja das, was heute in Zürich geschieht, damit etwas zu tun. Vielleicht ist es ganz einfach so, dass sich die Sehnsucht des Lebens nach sich selber schlicht und einfach nicht auslöschen lässt und sich immer und immer wieder aufbäumt, so lange es Menschen gibt. Bis dann, allem Widerstand zum Trotz, eines Tages das, was sich die Sonnentänzerinnen und Sonnentänzer im fernen Amerika damals erträumt hatten, dennoch Wirklichkeit wird.

Im Zug auf dem Heimweg ist Olivia dann schon nach wenigen Minuten in einen tiefen Schlaf gefallen. Kein Wunder, nach zwei Stunden im Regen und in der Kälte und so vielen Eindrücken an der allerersten Klimademo ihres noch so jungen Lebens. Wovon sie jetzt wohl träumt? Es liegt an dir und mir. Es liegt an der Oma, die mit letzter Kraft, auf ihren Rollator gestützt, in dem vieltausendköpfigen Zug mithumpelte. Es liegt an dem jungen bärtigen Mann, der zuerst ungläubig den so ausgelassen tanzenden Frauen zuschaute, bis er, auf einmal, selber zu tanzen begann. Es liegt aber auch an dem elegant und mit Krawatte gekleideten älteren Herrn, der verstohlen hinter dem Vorhang in einem der oberen Stockwerke eines angrenzenden Bankgebäudes hervorlugte und es sich nicht zu verkneifen vermochte, mit seinem Handy den Anblick dieser farbenfrohen, überschäumenden Menschenmenge festzuhalten. Es liegt aber auch an all denen, die an diesem Tag zuhause in der warmen Stube geblieben sind und von diesem Feuer, welches da so hoffnungsvoll entfacht worden war, immer noch nichts wissen wollten, das Kind in ihnen in meterdicke Watte eingehüllt, durch die, immer noch, auch nicht die lautesten Schreie verdursteter Kinder aus dem fernen Afrika hindurchzudringen vermögen, und auch nicht das Wehklagen Abermilliarden von Tieren und Pflanzen in sterbenden Wäldern, Seen, Flüssen und Meeren. Es liegt an dir und mir und uns allen, ob Olivias Traum von einer liebevollen, lebenswerten, lustigen, tanzenden und singenden Welt über alle Grenzen hinweg doch noch eines Tages Wirklichkeit wird oder nicht…

Geschenke am Wegesrand

Eigentlich sollte hier kein Löwenzahn wachsen. Oben ist eine Mauer aus Steinen, unten ein dicker, undurchdringlicher Teerbelag. Und doch ist der Löwenzahn da. Wie ein ungewolltes Kind, das dennoch eines Tages in voller Pracht erblühen wird. Auch wenn alle sagen, es sei der falsche Ort und die falsche Zeit: Manchmal muss man es einfach trotzdem tun. Die unscheinbarsten Dinge erzählen uns oft die bedeutungsvollsten Geschichten.

Baskenland-Radrundfahrt im April 2024: „Das Gefährlichste sind die Fahrer selbst“ – Wie das Konkurrenzprinzip unser Denken verdreht…

Wie das schweizerische „Tagblatt“ am 6. April 2024 berichtete, hat „eine Sturzserie von Top-Fahrern bei der Baskenland-Rundfahrt den Radsport erschüttert“. Am schlimmsten traf es den Dänen Jonas Vingegaard, der neben mehreren Knochenbrüchen auch eine Lungenquetschung erlitt und nach seinem fürchterlichen Sturz lange regungslos am Streckenrand liegen blieb. Der Belgier Remco Evenepoel brach sich das Schlüsselbein und zog sich eine Fraktur des Schulterblatts zu. Und der Australier Jay Vine zog sich einen Halswirbelbruch und zwei Brüche an der Brustwirbelsäule zu. Die Bilder lösten einen derartigen Schock aus, dass selbst Thierry Gouvenou, Renndirektor von Paris-Roubaix, öffentlich die Forderung erhob: „Stopp, stopp, stopp, lassen Sie uns das Massaker beenden. Fangen wir an, über die Geschwindigkeitsprobleme nachzudenken.“

Hätte man nun eine Grundsatzdebatte über Sinn oder Unsinn solcher Sportanlässe erwartet, so wurde man sogleich eines Besseren belehrt. „Ich glaube“, so kommentierte der Niederländer Mathieu van der Poel die Vorfälle, „das gefährlichste Moment sind die Fahrer selbst. Denn alle wollen vorn am gleichen Platz sein, und das ist nicht möglich.“ Auch der Deutsche Simon Geschke meinte: „Es war hundertprozentig die Schuld der Fahrer. Die waren einfach zu schnell. Es ist der Ehrgeiz der Profis, diese Wer-bremst-verliert-Mentalität. Jeder will in die ersten Zehn hinein. Und wenn dann keiner bremst, passiert eben so etwas. Viele Stürze sind allein die Schuld der Fahrer.“

Wie kann man simpelste Tatsachen dermassen ins Gegenteil verdrehen! Sind doch Sportanlässe dieser Art, bei denen es um nichts anderes geht als um Sieg oder Niederlage, von Natur aus auf nichts anderes ausgerichtet als darauf, dass sich die, welche daran teilnehmen, bis aufs Blut gegenseitig zerfleischen. Man stelle sich einmal vor, ein einzelner Fahrer würde tatsächlich kurz vor einer gefährlichen Situation künstlich bremsen oder sich nicht mit der grösstmöglichen Geschwindigkeit auf den allersteilsten Abfahrten in die allerengsten Kurven legen – die ganze Sportwelt, alle Mitkonkurrenten, die Fernsehkommentatoren, die Sponsoren und das gesamte Publikum würden doch wie Hyänen über solche „Weicheier“ herfallen…

Wie auch die Organisatoren mehrerer Skirennen, bei denen es im letzten Winter überdurchschnittlich viele schwere Stürze gab, von „Weicheiern“ sprachen, als einzelne Fahrerinnen die Entschärfung besonders gefährlicher Streckenabschnitte forderten. Diese Frauen, so meinte ein auffallend fettleibiger Verbandsfunktionär, den man sich beim besten Willen nicht mit über hundert Stundenkilometern die Pisten hinabrasend vorstellen kann, hätten offensichtlich den falschen Job gewählt. Ebenso wie jene Kunstturnerin wohl den falschen Job gewählt hat, die sich darüber beschwerte, dass ihr Trainer sie gezwungen hätte, trotz gebrochenem Knöchel weiterzuturnen, und ebenso wie auch jene Synchronschwimmerin ganz offensichtlich den falschen Job gewählt hat, die sich weigerte, noch länger unter Wasser zu bleiben, nachdem sie im letzten Training beinahe ohnmächtig geworden war.

Aber nein. Das Gefährliche sind nicht die glitschigen Pflastersteine, über welche die Radrennfahrer gehetzt werden. Auch nicht die immer gefährlicheren Sprünge, welche von Kunstturnerinnen gefordert werden, und auch nicht die immer anstrengenderen Figuren, welche Synchronschwimmerinnen bewältigen müssen. Auch nicht die immer engeren Kurven auf den Skipisten, in denen Becken, Kniegelenke und Wirbelsäule der Fahrerinnen und Fahrern immer höheren tonnenweisen Belastungen ausgesetzt sind. Nein, das Gefährliche sind die Sportlerinnen und Sportler selber. So wie das Gefährliche auch der LKW-Fahrer ist, der während 24 Stunden ohne Schlaf unterwegs war, einen schweren Unfall baute und dafür mit dem Entzug seines Fahrausweises bestraft wurde, während sein Arbeitgeber weiterhin alle anderen verbliebenen Fahrer mit viel zu engen Zeitlimiten und mit viel zu wenig Schlaf über die Strassen jagt, auf denen in immer horrenderem Tempo alle gegenseitig ums Überleben kämpfen. Schuld daran, dass sie ihre Stimme verloren haben und Konzerte absagen mussten, waren auch Shania Twain, Jan Delay, Tim Bendzko, Ed Sheeran, Sam Brown, Rita Ora, Phil Collins, Rod Stewart, Selena Gomez, Rihanna und Christina Aguilera ganz alleine – und nicht etwa ihre Manager und Produzenten, von welchen sie erbarmungslos an 300 Tagen oder mehr pro Jahr von Bühne zu Bühne gehetzt und während der verbliebenen Zeit zu unzähligen Werbe-, Interview- und Fototerminen verpflichtet werden. Und selbst all jene Schülerinnen, welche unlängst in erschreckend hoher Anzahl in einer Befragung aller Vierzehnjährigen im Kanton Zürich zu Protokoll gaben, unter Depressionen, Ängsten und Suizidgedanken zu leiden, sind offensichtlich ganz alleine selber Schuld – deshalb wurde ihnen vom Kantonalen Schulpsychologen ans Herz gelegt, mehr Sport zu treiben und sich mehr „Resilienz“ anzueignen, um weniger stark unter dem Leistungs-, Prüfungs- und Notendruck der Schule zu leiden.

Offensichtlich haben wir das durch alle Lebensbereiche hindurchwirkende Konkurrenzprinzip, welches darauf beruht, die Menschen in einen permanenten gegenseitigen Konkurrenzkampf zu zwingen, um ein Höchstmass an Leistung aus ihnen herauszupressen, bereits dermassen verinnerlicht, dass uns seine ganze Absurdität und Zerstörungskraft und die Tatsache, dass seine Opfer am Ende noch selber daran Schuld sein sollen, schon gar nicht mehr besonders auffällt. Vermutlich ist da selbst nicht einmal mehr jener Gedanke besonders fern, wonach auch der ukrainische oder der russische Soldat, der im von ferner Hand aufgezwungenen gegenseitigen Vernichtungskampf das Leben verliert oder eine schwere Verletzung mit oft lebenslänglichen Folgen erleidet, an seinem Schicksal selber Schuld ist, hätte er doch härter kämpfen, mehr Mut haben oder sich besser schützen können…

Auf den Zuckerrohrplantagen der Karibik bestand bis ins 19. Jahrhundert eine Lieblingsbeschäftigung von Plantagenbesitzern darin, ihre Sklaven in zwei gleich grosse Gruppen aufzuteilen. Die beiden Gruppen mussten dann innerhalb einer gewissen Zeit möglichst viel Zuckerrohr ernten. Die, welche eine grössere Menge geerntet hatten, bekamen zur Belohnung eine Tasse Tee. Die anderen wurden ausgepeitscht…

Das Konkurrenzprinzip ist bis heute die Peitsche in den Händen der Reichen und Mächtigen, das effizienteste Mittel, um die Menschen gegenseitig zu entsolidarisieren und sie in einen permanenten gegenseitigen Kampf ums Überleben zu zwingen, der – ob in der Arbeitswelt, dem Sport, dem Showbusiness, der Schule oder ganz allgemein der kapitalistischen Klassengesellschaft, in der die Armen der Ärmsten gezwungen sind, immer härter gegenseitig um einen immer kleiner werdenden Kuchen zu streiten – zwangsläufig immer zerstörerische Formen annehmen muss, wie ein Wettrennen, in dem die an der Spitze gezwungen sind, sich immer mehr und bis zur Erschöpfung anzustrengen, um nicht von den anderen eingeholt zu werden, und die, welche hinten sind, ebenfalls gezwungen sind, immer grössere Anstrengungen zu unternehmen, um nicht den Abschluss zu verlieren. Alle anderen werden ausgespuckt und bleiben mit gebrochenen Körpern, zerstörten Träumen und kaputten Seelen am Strassenrand liegen. Und natürlich sind auch sie alle selber Schuld, wer denn sonst…

„Schwere Stürze lösen Debatte aus“ – so der Titel des anfänglich zitierten Zeitungsartikels über die Sturzserie an der Baskenland-Rundfahrt vom April 2024. Die Debatte lässt auf sich warten…

Ein B, das Flügel bekam und sich in eine Biene verwandelte: Wie Star lesen und schreiben lernte…

Meine Enkelin Star war viereinhalb Jahre alt, als sie mir eines Tages ganz aufgeregt etwas zeigte. „Schau, Opa“, sagte sie, „das ist ein X!“ Es war tatsächlich der Buchstabe X, den sie in einem Wort gefunden hatte, welches ihre sechs Jahre ältere Schwester Leonie auf ein Blatt Papier geschrieben hatte. „Und das hier kenne ich auch“, sagte sie und zeigte auf die Buchstaben N, O und A. „Aber die hier“, sie zeigte auf die anderen Buchstaben im Wort, „die weiss ich noch nicht.“ Und dann bat sie mich, in ihr Zimmer zu kommen. Voller Stolz nahm sie eine kleine, bunte Blechdose von ihrem Nachttischchen und öffnete sie: „Schau, hier sind sie!“ In der Blechdose lagen, in verschiedenen Farben auf kleine Zettel geschrieben, tatsächlich die Buchstaben X, N, O und A. Mila, ihre zwei Jahre ältere Schwester, hatte sie auf die Zettelchen geschrieben und ihr versprochen, jeden Tag ein weiteres mit einem neuen Buchstaben hinzuzufügen.

Doch nach sieben Tagen hatte Star genug. „Das reicht“, sagte sie. Auch während der folgenden zwei Wochen zeigte sie kein Interesse mehr an den Buchstaben. Wäre das alles zwei Jahre später geschehen, mitten in der Schule, hätte die klassische Lehrerin wahrscheinlich schon von einer Lernverzögerung oder gar von einer Lernverweigerung gesprochen. Doch Star hatte jetzt ganz einfach ihr Interesse vorübergehend auf anderes ausgerichtet, zum Beispiel auf die Farben des Regenbogens, mit denen sie verschiedene Tiere malte, oder auf eine Kartonschachtel, aus der sie eine Öffnung herausgeschnitten hatte und die sie sich nun über den Kopf stülpte, um einen Hasen zu spielen. Die nächsten Buchstaben konnten noch etwas warten…

Auch auf dem Nachttischchen ihres Zwillingsbruders Bosni lag eine kleine, bunte Blechdose. Aber die war noch leer. Dafür hatte er jetzt noch keine Zeit. Viel zu sehr war er damit beschäftigt, alles Erdenkliche, was sich auseinandernehmen liess, in seine Einzelteile zu zerlegen und dann wieder zusammenzufügen. Oder mithilfe von Google-Street die Häuser der Grosseltern, den Bahnhof oder den Migros-Supermarkt aufzusuchen, so zielsicher und in einem so horrenden Tempo, dass ich mit meinen Augen seiner Fahrt schon gar nicht mehr zu folgen vermochte. Aber die Blechdose hatte er sich trotzdem nicht nehmen lassen. Und wahrscheinlich wusste er bereits, dass auch er sie eines Tages zu füllen beginnen würde.

Kurz darauf begann Star, in Bilderbüchern jene Buchstaben zu suchen, die sie schon kannte. Dabei fiel ihr auf, dass einige Wörter mit grossen Anfangsbuchstaben geschrieben wurden und andere mit kleinen. Mila wusste auch nicht genau weshalb, aber Leonie konnte die Angelegenheit klären. Nun begann Star, zum ersten Mal selber kleine Wörter zu schreiben. Und eines Nachts sah sie im Traum vor sich den Buchstaben B. Der war plötzlich ganz gross angeschwollen und war zur Seite gekippt, so dass unten die gerade Seitenlinie lag und oben die zwei Bögen wie kleine Buckel. Diese begannen sich auf einmal in zwei Flügel zu verwandeln und plötzlich flog der zu einer Biene gewordene Buchstabe B fort, in unsichtbare Ferne. Überhaupt, die Träume. Wären sie sichtbar gewesen, dann hätten sie wahrscheinlich einem grossen See geglichen, in den oben immer wieder neue, kleine, grosse, bunte, glitzernde, bekannte und unbekannte Buchstaben hineinfielen, um sich dann, im Wasser hin und her schaukelnd, langsam auf den Grund des Sees hinab zu senken. Das waren dann wohl jene Augenblicke, in denen Star wieder etwas Neues „gelernt“ hatte.

Und so ging das weiter, über Wochen und Monate, mal schneller, mal langsamer, mal gar nicht. Eine Reise voller Abenteuer und Entdeckungen. Die Blechdose füllte sich nach und nach, alles bewegte sich in Richtung Vollkommenheit, denn das ist das Wesen des Lernens: Es gibt nichts Perfektionistischeres als ein Kind. Es will ALLES und es will alles so GUT wie nur irgend möglich. Wir könnten uns untrüglich darauf verlassen: Eines Tages würde Star ebenso perfekt lesen und schreiben können, wie sie auch mündlich ihre Muttersprache so perfekt und in allen nur erdenklichen Variationen beherrschte – vorausgesetzt, es wäre stets alles von guten Gefühlen begleitet, von unbändiger Entdeckungslust, vom Triumph, plötzlich Dinge zu können, die eben noch völlig unbekannt gewesen waren. Ja, es müsste funktionieren, aber nur, wenn sich die Erwachsenen nicht zu früh in dieses wundervolle Geschehen einmischen, nicht leichtfertig die Sache der Kinder zu ihrer eigenen Sache machen und nicht auf einmal das Erlernen von Buchstaben mit schlechten Gefühlen verbinden würden, mit Ängsten, Über- oder Unterforderungen, mit übertriebenen Erwartungen, unnötigem Belehren, langweiligen Übungsblättern ohne jegliche Glücksgefühle und viel zu vielen weiteren künstlichen Eingriffen, die wie Giftpfeile das Lernen der Kinder, dieses heilige Wunder, nur zu schnell und unbedacht zu stören, zu verletzen, zu blockieren und zu zerstören drohen. Denn es ist eben ganz genau so, wie der Entwicklungspsychologe Jean Piaget einst so treffend sagte: „Alles, was den Kindern beigebracht wird, können sie selber nicht mehr lernen.“

Nur noch die gleichen Geschichten

Irgendwann ist alles, was sich innerhalb des Kapitalismus sagen lässt, gesagt. Dann dreht sich alles nur noch im Kreis. Und es sind immer wieder die gleichen Geschichten, die sich wiederholen. Ab jetzt finden die wahrhaft neuen, begeisternden Geschichten nur noch ausserhalb und jenseits des Kapitalismus statt.