Archiv des Autors: Peter Sutter

Möglichst viel Sport und Biogemüse, um gesund zu bleiben? Alles pure Illusion…

Meistens, wenn ich älteren Menschen begegne, geht es im Gespräch früher oder später um das Thema Gesundheit, vorher kommt höchstens noch das Wetter oder die Information darüber, wo man die letzten Ferien verbrachte und wohin die nächste Ferienreise gehen soll.

Oft geht es um künstliche Knie- oder Hüftgelenke, zu hohen Blutdruck, Rückenbeschwerden, Kopfschmerzen, Übergewicht oder Schlaflosigkeit. Für viele Menschen, nicht nur für ältere, scheint die Gesundheit fast so etwas wie ihre Hauptbeschäftigung zu sein, schon fast eine Art Religion. Sie besuchen regelmässig für teures Geld ein Fitnessstudio, rackern sich dort an allen möglichen und unmöglichen Geräten fast bis zur Erschöpfung ab und schwingen sich dann, kaum zuhause, zusätzlich noch auf ihren privaten Hometrainer, stemmen Gewichte, machen Liegestütze, Kniebeugen und vieles mehr. Sie ernähren sich ausschliesslich gesund und natürlich biologisch, nehmen möglichst wenig Fett und Zucker zu sich, kontrollieren fast täglich ihr Gewicht. Sie überwachen mit einer immer grösseren Anzahl immer raffinierterer elektronischer Geräte den Zustand ihres Körpers, sind Tag und Nacht auf zwei Stellen nach dem Komma informiert über ihren Puls, ihren Blutdruck, die Zusammensetzung des Blutes und eilen voller Panik in die nächste Notfallstation, wenn irgendeiner dieser Messwerte auf einmal aussergewöhnlich nach oben oder nach unten ausschlägt. Schrittzähler klären sie jeden Abend darüber auf, ob sie an diesem Tag genug Bewegung gehabt und eine genug grosse Anzahl von Schritten zurückgelegt haben. In speziell hierfür eingerichteten Kliniken lernen sie schlafen oder ihr Übergewicht abbauen, in anderen Kliniken werden ihnen Süchte aller Art, Depressionen und Burnouts ausgetrieben. Hotels werben mit Wellnessoasen, Massagen, Yoga und sündhaft teuren Wohlfühlpaketen rund um die Uhr. Falten und andere störende Alterserscheinungen werden wegoperiert, Brillen durch Kontaktlinsen ersetzt, für jede Art von Bewegung ein hierauf spezialisierter Schuh und ein passender Dress gekauft. Und vor allem: Sie treiben Sport, auf Teufel komm raus, fast in jeder Sekunde ihrer Freizeit, legen täglich zwanzig oder fünfzig Längen im Schwimmbecken zurück, klettern möglichst schnell auf möglichst viele hohe Berge, joggen, bis ihnen der Schnauf ausgeht, rasen mit ihren Rennvelos in einem so horrenden Tempo durch die Landschaft, dass man meinen könnte, es ginge ums nackte Überleben. Und doch, seltsamerweise, sind sie nicht wirklich gesund und werden es auch nicht, wie man ja erwarten müsste, immer öfters. Wären sie wirklich gesund, dann würde die Anzahl von Menschen, die regelmässig Medikamente schlucken, nicht in einem so erschreckenden Ausmass laufend zunehmen.

Denn es ist eben alles pure Illusion. Man kann nicht körperlich gesund sein, wenn man nicht gleichzeitig auch geistig-seelisch-sozial gesund ist. Selbst wenn sich alle noch so akribisch gesammelten Messwerte vom Blutdruck über das Körpergewicht bis zum Zustand der Darmflora innerhalb der definierten Normen bewegen, heisst das noch lange nicht, dass man wirklich gesund ist. «Mens sana in corpore sano», sagten schon die alten Römer: Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Das bedeutet nicht nur, dass ein gesunder Geist einen gesunden Körper braucht, sondern eben auch umgekehrt, dass der Körper nicht gesund sein kann, wenn nicht auch der Geist gesund ist.

Und zu diesem Geist gehören eben nicht nur der Intellekt und die Gefühle, sondern auch das Soziale, das sich von der Ganzheitlichkeit des Lebens nicht abtrennen, abspalten oder verdrängen lässt, wie es uns im Zeitalter permanenter «Selbstoptimierung» stets vorgegaukelt wird und letztlich einzig und allein der «Gesundheit» all jener dient, die auf die eine oder andere Weise aus dem Gesundheitsmarkt und der Gesundheitsindustrie einen materiellen Nutzen ziehen und deshalb alle diese Verrücktheiten angeblicher «Gesundheitsförderung» immer noch weiter und weiter auf die Spitze treiben.

Reich sein und keine Gefühle und kein Mitleid haben mit Armen. Üppige Mahlzeiten einzunehmen in einer Welt, wo jeden Tag eine Milliarde Menschen hungrig zu Bett gehen. Fleisch essen, Auto fahren und fliegen, wo man doch weiss, dass dadurch sämtliche Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zerstört werden. Reich werden durch Anteilscheine an Rüstungskonzernen, dank dem Tod Abertausender unschuldiger Kinder, Frauen und Männer. In schamloser Höhe auf Kosten anderer Dividenden und Kapitalgewinne einstreichen, ohne selber dafür arbeiten zu müssen. Lebensgeschichten von Flüchtlingen zu kennen mit all den viel zu vielen Narben auf ihren Körpern und in ihren Seelen, ohne alles in Bewegung zu setzen, um solchen aus Not, Verfolgung und Kriegen entflohenen Menschen eine neue Heimat zu bieten oder aber, alles zu tun im Kampf für eine gerechtere Welt, in der alle Menschen so gut leben können, dass niemand mehr gezwungen sein wird, seine Heimat zu verlassen und an einem ihm gänzlich fremdem Land eine neue Existenz aufzubauen. All das, alles blinde Leben auf der Sonnenseite ohne Mitgefühl für die Menschen auf der Schattenseite, kann nicht wirklich gesund machen, auch wenn man noch so viele Joggingrunden dreht, noch so viele Schlaftherapien absolviert und noch so ausgeklügelte und «gesunde» Nahrung zu sich nimmt.

Wirklich gesund werden können wir nur, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass der Mensch eben nicht ein pures Einzelwesen ist, sondern immer auch Teil eines grossen Ganzen, in dem wir alle gegenseitig füreinander verantwortlich sind, sich alle, denen es besser geht, um jene kümmern müssen, denen es schlechter geht, und wir nur dann wirklich gesund sein können, wenn alle anderen – inklusive Erde, Pflanzen und Tiere – ebenfalls gesund sind, und dies nicht nur innerhalb eines einzelnen Dorfes, einer einzelnen Stadt oder eines einzelnen Landes, sondern weltweit. Solange Milliarden von Menschen, die unter Armut, Hunger, Verfolgung, wirtschaftlicher Ausbeutung, Erniedrigung und Kriegen leiden, nicht gesund sein können, können auch wir, die Reichen und Privilegierten, nicht wirklich gesund sein. Und jegliches Verdrängen, jede Selbstverleugnung, jeder Versuch, die Augen davor zu verschliessen, würde uns nur noch kränker machen.

Weiterführende Texte zu meinem Buch DIE SCHULE NEU ERFINDEN – DAMIT DAS LERNEN WIEDER FREUDE MACHT, Teil 1

BIS KEIN KIND MEHR ZUR SCHULE GEHT

9. Oktober 2024. Eine kantonale Bildungspolitikerin meinte, als sie mein Buch gelesen hatte: „Ich teile deine Vision einer offenen Welt des Lernens anstelle der traditionellen Lehrplan- und Jahrgangsklasse voll und ganz. Ich sehe nur keinen Weg, wie man das konkret umsetzen könnte.“ Gleichzeitig nehmen die psychischen Belastungen der Kinder und Jugendlichen weiter und weiter zu, immer mehr Lehrkräfte resignieren, Eltern laufen Amok, Schulbehörden verzweifeln, der Schulabsentismus greift immer weiter um sich und die Zahl der Kinder, die in Homeschooling unterrichtet werden, wächst von Jahr zu Jahr. Eine radikale Veränderung wird kommen, so oder so. Wenn nicht von innen, dann von aussen. An das „von innen“ glaube ich je länger je weniger. Wahrscheinlich lässt sich diese Schule wirklich nicht radikal verändern, sondern nur auflösen, um etwas von Grund auf Neuem Platz zu machen. Vielleicht müssen wir einfach diese Gegenwelt des offenen, freien, selbstbestimmten und total individuellen Lernens so stark und attraktiv aufbauen, bis eines Tages kein einziges Kind mehr zur traditionellen Schule geht. Dann nimmt mich Wunder, was die Lehrerinnen und Lehrer machen, wenn sie eines Morgens alleine in ihren Schulzimmern sitzen und die Kinder und die Jugendlichen, auf denen sie ein Leben lang herumgehackt haben, einfach nicht mehr erscheinen…

ZWEI LERNSTUNDEN ZWISCHEN CHUR UND CELERINA

15. Oktober 2024. Lernen findet überall im Alltag statt, ob wir wollen oder nicht. Schulen im traditionellen Sinne, in der Art und Weise, dass man 20 oder 25 Kinder in ein Zimmer einsperrt und sie einem vorgegebenen Lehrplan unterwirft, sind in Bezug auf das Lernen nicht nur überflüssig, sondern geradezu schädlich. Im Zug von Chur nach Celerina sitzt ein Grossvater mit drei Enkelinnen im Alter zwischen fünf und zehn Jahren. In seinem sympathischen Bündner Dialekt und stets mit einem Schmunzeln im Gesicht erzählt er eine Geschichte nach der andern und zwei Stunden lang ohne Pause sind die Mädchen Aug und Ohr, hängen buchstäblich an seinen Lippen, saugen jedes seiner Worte auf und lachen immer wieder laut auf. Jede Geschichte löst bei den drei Kindern weitere Fragen aus und aus jeder dieser Fragen entsteht wieder eine neue Geschichte, wie ein Baum, der immer wieder neue Zweige und neue Blüten hervorzaubert. Ich glaube, das könnte noch zehn Stunden so weitergehen und wäre immer noch nicht langweilig. So sehr es dem Grossvater Spass macht, seine Geschichten zu erzählen, so sehr scheint es den Kindern Spass zu machen, ihm zuzuhören. Ich glaube nicht, dass diese drei Mädchen so schnell wieder vergessen werden, was ihr Grossvater ihnen während diesen zwei Stunden alles erzählt hat. Lernen in Reinkultur. Es ist so spannend, dass auch ich, zwei Abteile davon entfernt, zuhören muss, ob ich will oder nicht. Gerade erklärt er in allen Einzelheiten, wie man Holz scheitet. Einem der Mädchen kommt dabei der „Hau-den-Lukas“ in den Sinn, den sie mal auf einem Jahrmarkt sah. Und schon ist der Jahrmarkt das nächste Thema. Weiter geht es mit dem Schulweg des Grossvaters, was er als Kind dabei alles erlebte, was für Strafen es damals in der Schule gab und dass man sogar zehn Minuten nachsitzen musste, wenn man sich während des Unterrichts am Kopf kratzte. Weiter mit Geschichten aus dem Militär, wie man von den Vorgesetzten herumschikaniert wurde. Dann hat eines der Mädchen die Karte mit dem Bündner Eisenbahnnetz entdeckt, die auf der Tischplatte am Zugfenster zu sehen ist. Und schon ist der Grossvater in einem neuen Element und schöpft aus seinem fast endlos scheinenden Wissen: Wie man das Eisenbahnnetz plante, wann und wo, wie man die Brücken baute und die Tunnels, was daran schwierig war und welche der Pläne realisiert werden konnten und welche nicht und weshalb. Dann der Blick durchs Fenster hinaus, neue Bilder, neue Fragen, ein Bach, der endlos weitersprudeln würde, wenn wir nicht gerade in Celerina angekommen wären und alle den Zug verlassen müssten. Was für eine Heiterkeit auf den Gesichtern des Grossvaters und seiner drei Enkelkinder. „Lernen ohne Freude“, sagte Johann Heinrich Pestalozzi, „ist keinen Heller wert.“

POLITIKER DIE VON PÄDAGOGIK KEINE AHNUNG HABEN

16. Oktober 2024. Fast täglich schiesst FDP-Präsident Thierry Burkhart in den Medien aus allen Rohren gegen Inklusion, Integration, spricht von „immer mehr verhaltensgestörten Kindern“ und fordert die Wiedereinführung von Klein- und Sonderklassen. Ein Politiker, der von Pädagogik rein gar nichts versteht, hat die Themenführerschaft übernommen, wenn es darum geht, wie sich die Schule in Zukunft verändern und entwickeln sollte. Dabei ist doch nicht die Integration das Problem, auch nicht die Inklusion, auch nicht „verhaltensgestörte Kinder“ und auch nicht „schwierige Eltern“. Das eigentliche Grundproblem ist doch die Fiktion der Jahrgangsklasse, die auf der Illusion beruht, man könnte 20 oder 25 Kinder nach dem gleichen Lehrplan, mit den gleichen Methoden und im gleichen Tempo sinnvoll und erfolgreich unterrichten, bloss weil sie im gleichen Jahr geboren wurden. Tatsächlich kann eine Schulklasse nie homogen sein, auch wenn man sich das noch so sehr wünschte. Schon zwei Kinder bilden eine heterogene Lerngruppe. Homogen wäre die Klasse erst, wenn sie aus einem einzigen Kind bestehen würde. Denn glücklicherweise ist die grösstmögliche Verschiedenartigkeit das wesentlichste Merkmal des Menschen. Nicht die Inklusion muss abgeschafft werden, sondern nur die Schule in ihrer heutigen Form. Denn diese schlägt sich bloss mit Problemen herum, die es ohne sie gar nicht gäbe.

DEMOKRATISIERUNG DES GESCHICHTSUNTERRICHTS

17. Oktober 2024. In der traditionellen Lehrplanschule bekommen alle Kinder einer Schulklasse den genau gleichen Geschichtsunterricht, vorgegeben durch den staatlichen Lehrplan und geprägt von einer einzelnen Lehrperson. Ihnen ist das Kind ohne Alternative ausgeliefert. Ganz anders in einer offenen Lernwelt, wo verschiedenste Angebote in Form von Filmen, Büchern, Kursen, Referaten, Workshops und Debattierklubs zur Verfügung stehen, aus denen sich alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen je nach Interessen ihren jeweiligen eigenen „Geschichtsunterricht“ zusammenzimmern können. Nicht politische Parteien bzw. politische Mehrheitsverhältnisse, nicht irgendwelche Interessengruppen oder „Bildungsexperten“ bzw. „Bildungsexpertinnen“ würden dann aufgrund gegenseitiger Machtkämpfe über die Inhalte des Vermittelten bestimmen, sondern einzig und allein die Lernenden selber. Dies gilt freilich auch für alle anderen Wissensgebiete ebenso.

13. Montagsgespräch vom 14. Oktober 2024: KI – Chancen, Grenzen und Gefahren

KI könne, so wurde mehrfach gesagt, in einzelnen Lebensbereichen wie auch in der Arbeitswelt wichtige Fortschritte beflügeln, so etwa bei der Entwicklung von Hörgeräten, in der Unterstützung von komplizierten chirurgischen Eingriffen, bei der Betreuung oder bei therapeutischen Massnahmen im Alters-, Pflege- oder Behindertenbereich, in der Verwaltung durch Verschlankung von Abläufen sowie in der Landwirtschaft.

Wo es um Informationsbeschaffung geht, sei der Faktencheck wichtig. Nicht alles, was KI liefere, sei vertrauenswürdig. Vor allem seien die Quellen nicht transparent, sodass auch extreme und einseitige Inhalte einfliessen könnten. Den Schreibprogrammen standen mehrere Diskussionsteilnehmende skeptisch gegenüber. Wer Texte von KI schreiben lasse und nicht mehr selber formuliere, könne unter Umständen wichtige Grundfertigkeiten wie etwa die Kreativität mit der Zeit einbüssen. Auch würden von KI zusammengestellte Briefe die Authentizität der Schreibenden verwässern. Hätte man früher aufgrund eines besonders freundlich formulierten Briefs auf den Charakter der betreffenden Person schliessen können, so handle es sich heute meistens um vorgegebene Textbausteine, hinter denen sich die Schreibenden verstecken könnten. Zu befürchten sei auch der Verlust zahlloser Arbeitsplätze durch KI.

KI berge, so mehrere Voten, Gefahren im Bereich von Betrügereien, indem man zum Beispiel bereits Stimmen täuschend echt nachahmen könne. Auch die Machtkonzentration bei ein paar wenigen Grosskonzernen, die weitgehend über Inhalt und Verwendung von KI entscheiden, sei problematisch, weil nicht transparent sei, wer dahinter stecke und welche Interessen dabei verfolgt würden, insbesondere dann, wenn es darum ginge, Kontrolle über andere Menschen auszuüben und diese zu manipulieren. Besonders gefährlich könnte KI im Bereich von Kriegsführung sein, wenn Entscheide so schnell gefasst würden, dass der Mensch gar keine Chance mehr hätte, rechtzeitig einzugreifen und Schlimmes zu verhindern. Aus ökologischer Sicht zu denken geben müsste auch der massive Energie- und Wasserverbrauch, der für die Entwicklung von KI erforderlich sei. Fazit: KI könne in einzelnen konkreten Anwendungen durchaus wertvolle Dienste leisten. Wer aber, wie etwa KI-Forscher Demis Hassbis von der EPF Lausanne, davon träume, dass erst KI die Menschheit zur „vollen Entfaltung“ bringen könne, bewege sich wohl eher im Bereich von Religion als von Wissenschaft. Denn das, was den Menschen ganz wesentlich von der Maschine unterscheide, darin war sich fast die gesamte Diskussionsrunde einig, nämlich das Emotionale, die Gefühle und das Zwischenmenschliche, könnte niemals durch KI ersetzt werden. Es wäre ja auch absurd, wenn der Mensch technischen „Fortschritt“ bloss zu dem Zwecke vorantreiben würde, um sich letztlich selber überflüssig zu machen.

Eine Kellnerin und hundert Gäste: Kapitalistisch-patriarchale Klassengesellschaft pur an einem Sonntagnachmittag im Bahnhofrestaurant

Alle Tische sind besetzt und am Eingang stehen schon ungeduldig ein paar weitere, die unbedingt auch noch einen Platz wollen. Und wenn sie dann einen haben: Alles muss möglichst rasch gehen, denn der Zug wartet nicht und wird auf die Sekunde abfahren…

Die Kellnerin hetzt von Tisch zu Tisch, hier abräumen und einen Berg Teller zur Geschirrsammelstelle schleppen, dort eine Bestellung aufnehmen, hier einem älteren englischsprachigen Ehepaar die Speisekarte erklären, dort einen Tisch putzen und neues Gedeck sowie die Speisekarte auflegen, hier die bestellten Speisen und Getränke servieren, dort den Rechnungsbetrag einziehen, am einen Tisch bar, am nächsten mit der Kreditkarte und wieder an einem anderen mit Twint. Steht sie an einem der Tische und nimmt die Bestellungen auf, schnippen hinter ihr schon drei weitere Gäste mit den Fingern, rufen „Bedienung!“, wollen ebenfalls so schnell wie möglich etwas bestellen oder schon wieder bezahlen, um den Tisch freizugeben für die Nächsten. Was für eine unglaubliche Leistung. Nur mit der alleräussersten Anstrengung schafft sie es, die Gäste immer gerade so weit zufriedenzustellen, dass nicht plötzlich einer ausrastet und die Nerven verliert, weil er zu lange warten musste. Wie ein auf die maximale Höchststufe getrimmter Roboter hetzt sie mit den schnellstmöglichen Schritten von Tisch zu Tisch, die längeren Strecken zur Speiseausgabe und wieder zurück zu den Tischen oder hinüber zur Geschirrsammelstelle legt sie meistens im Laufschritt zurück. Kein Wunder, ist sie total ausser Atem, als sie an meinem Nebentisch eine Bestellung aufnimmt und zuerst einmal tief Luft holen muss, bevor sie die Frage des älteren Herrn beantworten kann, welchen Wein sie ihm zu dem von ihm ausgesuchten Menu empfehlen würde. Als der Herr zwischendurch ungeduldig auf seine Uhr schaut, sagt sie, es tue er leid, dass er so lange warten musste, aber es sei im Moment einfach unglaublich viel los. Vermutlich wären selbst drei Angestellte, wenn man die Arbeit der Kellnerin auf diese verteilen würde, immer noch mehr als ausgelastet…

Aber das Verrückteste ist, dass sie, kaum ist sie an einem Tisch angekommen, jedes Mal die Ruhe selbst ist. Als könnte sie pausenlos vom Modus höchster Geschwindigkeit ohne Übergang in einen Modus absoluter Ruhe und Gelassenheit wechseln. Mit unfassbarer Geduld wartet sie, stets freundlich lächelnd, bis sich die Gäste, oft nach langem Hin und Her, für eines der Menus sowie Getränke und mögliche Zusatzwünsche entschieden haben, während an allen Ecken und Enden viele andere ebenfalls darauf warten, bedient zu werden. Mir fällt auf, dass sie sogar manchmal dem einen oder anderen Gast die Hand auf die Schulter legt, sich auf einen kurzen Smalltalk einlässt oder laut auflacht, wenn an einem Tisch die eine oder andere witzige Bemerkung fällt. Nun ja, die Gastgeberin in Reinkultur, wie man sie sich perfekter nicht vorstellen könnte: Einerseits eine Arbeitsmaschine auf Höchsttouren, anderseits mit so viel Wärme, Fröhlichkeit und persönlicher Ausstrahlung ausgestattet, dass nicht nur den kulinarischen, sondern auch den emotionalen Bedürfnissen der Gäste nur das Allerbeste geboten wird. Und ja, was denn sonst: eine Ausländerin!

Und auf einmal frage ich mich: Wo sind denn die anderen Angestellten des Restaurants? Meine Blicke überfliegen den grossen, fast bis auf den letzten Platz gefüllten Saal. Und ja, ob man es glauben will oder nicht: In der einen Hälfte des Saales mit mindestens hundert Plätzen sehe ich nur sie an der Arbeit. In der anderen Hälfte des Saales, mit ebenfalls rund hundert Plätzen, sind es drei Männer, die ich dort arbeiten sehe und die sich um einiges langsamer und gemächlicher von Tisch zu Tisch bewegen. Ist das von den Vorgesetzten bewusst so geplant? Oder ist es etwas, was sich einfach sozusagen von selber daraus ergibt, wenn eine Frau sich bis zum Äussersten aufopfert und die Männer so die Möglichkeit bekommen, sich immer weiter nach und nach zurückzuziehen?

Aber noch viele weitere Fragen schwirren mir durch den Kopf: Um wie viel höhere Einkommen als diese Kellnerin haben wohl all jene, die auf den „höheren Ebenen“ dieses Gastrounternehmens angesiedelt sind, als Verwalter, Geschäftsführer, Buchhalter und was immer bis hinauf zum Manager und noch weiter hinauf zu den Besitzern, wahrscheinlich Aktionäre, die von jedem Franken, welche die Kellnerin bis zum Umfallen erschuftet, die Hälfte einsacken, ohne dafür auch nur einen Fuss vor den andern setzen und ohne Riesenberge von Geschirr schleppen zu müssen und ohne der permanenten Ungeduld all jener ausgesetzt zu sein, die auf keinen Fall ihren Zug verpassen dürfen? Müssten nicht eigentlich sie, die dank möglichst niedriger Lohnkosten ihren Profit aus dem Unternehmen quetschen, und nicht die Kellnerin, dafür entschuldigen, wenn ein Gast zu lange warten musste?

Kapitalistisch-patriarchale Klassengesellschaft wie seit eh und je, drastischer könnte ich sie an diesem Sonntagnachmittag in diesem Bahnhofrestaurant nicht mitbekommen haben. Und als dann, als Tüpfelchen auf dem i, nicht etwa die Kellnerin, sondern einer der Männer, den ich bis jetzt fast immer nur neben der Kasse herumstehen gesehen habe, mit der Rechnung zu mir an den Tisch kommt und dies vermutlich nicht zuletzt mit der Erwartung auf ein nettes Trinkgeld verbindet, verliere ich für einen kurzen Augenblick jeglichen Glauben daran, dass die Gleichberechtigung von Frauen in den vergangenen zehn oder zwanzig Jahren tatsächlich auf breiter Ebene Fortschritte gemacht hat. Zumindest nicht in diesem Bahnhofrestaurant an diesem Sonntagnachmittag. Und wahrscheinlich ebenso wenig an unzähligen anderen Orten der kapitalistischen Arbeitswelt. Bevor ich das Restaurant verlasse, gehe ich zur Kellnerin, danke ihr für ihre unglaubliche Arbeitsleistung und ihre unfassbare Freundlichkeit inmitten von soviel Stress und drücke ihr fünf Franken in die Hand. „Danke“, sagt sie, „ich versuche einfach, mein Bestes zu geben.“ Es sind vermutlich nicht viele, die ihr an diesem Sonntagnachmittag dafür gedankt haben, dass sie sich trotz eines so miesen Lohnes dermassen für das Wohl ihrer Gäste aufopfert und damit jene Basisarbeit leistet, ohne welche sämtliche ihrer Vorgesetzten, Chefs und Besitzer auch nicht einen einzigen Franken verdienen könnten…

Zuletzt stellt sich mir unweigerlich die Frage, wie viele der Gäste, die sich heute in diesem Restaurant von Ausländerinnen und Ausländerinnen bedienen lassen, möglicherweise die Gleichen sind, die bei jeder anderen Gelegenheit mit denen mitbrüllen, die sich die „Ausländer-raus-Parolen“ auf die Fahnen geschrieben haben. Würden sie dann, wenn alle Ausländerinnen und Ausländer endlich „raus“ wären, wohl das Essen im Restaurant selber kochen und sich selber bedienen? Würden sie, wenn alle Ausländerinnen und Ausländer „raus“ wären, ihre Strassen und Häuser wieder selber bauen, und würden sie, wenn sie einmal alt geworden wären und im Alters- oder Pflegeheim leben würden, ihre Windeln selber wechseln? Wohl kaum. Wächst doch die Zahl jener, die genug Geld haben, um sich an allen Ecken und Enden von anderen bedienen zu lassen, in gleichem Masse, wie die Zahl jener abnimmt, die überhaupt noch bereit sind – und wenn, dann nur, weil sie keine andere Wahl haben -, zu miesen Bedingungen andere rund um die Uhr bedienen zu müssen und sich dabei erst noch alle möglichen Schikanen gefallen zu lassen. Bis dann vielleicht eines Tages diese Kellnerin noch die Einzige sein wird und ganz alleine über zweihundert Gäste bedienen wird, während draussen beim Eingang weitere zweihundert ungeduldig warten, damit sie ihren Zug auf keinen Fall verpassen werden…

Ausgeklinkt

Bahnhof St. Gallen, zwischen dem Ausstieg aus dem soeben angekommenen Zug und dem Weg zum Bahnhofplatz. Eine junge Mutter, sie schiebt den Kinderwagen mit ihrem Baby, neben ihr die etwa fünfjährige Tochter, die beim Schieben des Kinderwagens mithilft, Mutter und Kind plaudern eifrig. Einen halben Meter hinter ihnen der Papa, die Ohren zugepflastert mit einem grossen dicken Kopfhörer.

Bahira und Ahmad aus Syrien, seit zehn Jahren in der Schweiz: Integration gegen so viele Hindernisse…

Heute habe ich Bahira und Ahmad besucht. Sie mussten 2014 aus Syrien fliehen, als der Krieg zwischen Regierungstruppen und Aufständischen fast über Nacht wie ein gewaltiger Tsunami über sie hereingebrochen war. Ein halbes Jahr lang lebten sie im Libanon, dann erhielten sie im Rahmen eines UNO-Programms für Kriegsflüchtlinge eine Aufenthaltsbewilligung für die Schweiz, mussten aber ein weiteres Jahr warten, bis die notwendigen Formalitäten erledigt waren und sie tatsächlich in die Schweiz einreisen konnten. Ihre Kinder sind heute 16 und 14 Jahre alt. Ahmad, der vor seiner Flucht aus Syrien als Koch in einem guten Restaurant gearbeitet hatte,  hat eine Stelle als Bäcker, verdient aber, weil er keine Lehre absolviert hat, pro Monat tausend Franken weniger als sein Schweizer Arbeitskollege, der genau die gleiche Arbeit leistet. Bahira, die vor der Flucht als Lehrerin gearbeitet hatte, konnte in der Schweiz nur unter Schwierigkeiten gelegentlich einen kleinen, befristeten Job finden. Zurzeit betreut sie stundenweise eine ältere, pflegebedürftige Frau. Fast alle Bewerbungen für eine grössere und dauerhafte Anstellung blieben unbeantwortet, auf einige erhielt sie eine Absage, meistens mit dem Hinweis auf ihr Kopftuch, das in dem betreffenden Job nicht toleriert würde. Bahira ist gebürtige Syrerin, Ahmad ist Palästinenser, seine Grosseltern mussten 1948 aus ihrer Heimat fliehen, und in seinem Pass stehen unter der Bezeichnung «Nationalität» drei X, was so viel bedeutet wie «staatenlos», etwas, was ihn bis heute zutiefst schmerzt, weil es ihm das Gefühl vermittelt, weniger wert zu sein als andere Menschen. Die Familie leidet unter grossem finanziellen Druck, kann sich nur das Allernötigste leisten, Bahira und Ahmad haben es aber geschafft, sich bis heute nicht zu verschulden, nicht zuletzt auch dank der Übernahme einiger Kosten durch die Caritas, ohne die es zeitweise gar nicht gut ausgesehen hätte.

Voller Stolz zeigt mir Bahira ein Buch, das sie im Verlaufe der vergangenen Jahre geschrieben hat und das kürzlich in arabischer Sprache veröffentlicht wurde. Sie beschreibt darin ihre Geschichte als Flüchtlingsfrau in Form eines Romans. Leider hat sie erst zehn Exemplare verkaufen können. Ihr grösster Traum wäre es, dieses Buch auch in einer deutschen Übersetzung erscheinen zu lassen. Eine Bekannte von ihr hat bereits damit angefangen, den Text zu übersetzen, Bahira sucht nun aber jemanden mit Deutsch als Muttersprache für eine abschliessende Gesamtüberarbeitung des Texts. Was für ein Strahlen in ihren Augen, als ich ihr anbiete, diese Aufgabe zu übernehmen.

Bahira erzählt: «Das Leben in Syrien war vor dem Beginn des Kriegs wunderbar. Wir waren nicht reich, aber wir hatten alle genug für ein gutes Leben. Der Krieg kam sozusagen über Nacht und zerstörte unser ganzes früheres Leben… An die Zeit im Libanon haben wir nur schlechte Erinnerungen. Ohne Aufenthaltsbewilligung hielten wir uns ganz knapp über Wasser, ich als schwarz angestellte Hilfslehrerin und Ahmad als Hilfskoch, für den er keinen Lohn, sondern nur ein gelegentliches Trinkgeld erhielt… Die Aussicht, in der Schweiz ein neues Leben aufbauen zu können, erfüllte uns mit grosser Hoffnung, doch kaum waren wir in der Schweiz, holte uns auch schon die bittere Realität wieder ein. Im Aufnahmezentrum für Asylsuchende kam ich mir vor wie in einem Gefängnis. Ich verstand auch nicht, weshalb man uns die Handys wegnahm. Eines Tages hatte ich das dringende Bedürfnis, meine Mutter anzurufen, irgendwie spürte ich, dass es ihr nicht gut ging, ich schrie und weinte, doch man weigerte sich, mir das Handy zu geben. Eine Woche später erfuhr ich, dass meine Mutter genau an diesem Tag infolge eines Verkehrsunfalls gestorben war… Ein halbes Jahr verbrachten wir dann in einem Flüchtlingsheim, in dieser Zeit verfiel ich in eine tiefe Depression, unter der ich etwa drei Jahre lang litt, bevor ich mich davon einigermassen wieder erholen konnte… Oft wurde mir gesagt, ich müsste doch froh sein, in der Schweiz leben zu können, das müsste doch für jemanden wie uns das Paradies sein. Aber leider muss ich, wenn ich an mein Leben in Syrien vor dem Ausbruch des Kriegs zurückdenke, sagen: Damals lebte ich tatsächlich im Paradies, in der Schweiz aber fühlte ich mich anfänglich wie in der Hölle… Wir fühlten uns sehr alleine, niemand half uns, von allen Seiten spürten wir Ablehnung, auch als wir dann nach dem Aufenthalt im Heim in eine kleine Wohnung umziehen konnten. Alles war schwierig, für alles mussten wir kämpfen, und immer standen uns die noch fehlenden Deutschkenntnisse im Weg… Wir nahmen viel Feindseligkeit war, mehrere Male riefen Nachbarn sogar die Polizei, nur weil unsere Kinder beim Spielen ein bisschen laut gewesen waren… Wir kannten die Gepflogenheiten ganz und gar nicht, wir wussten nicht, wie man eine Frage formuliert oder wie man die Menschen ansprechen muss, damit sie sich nicht angegriffen oder verletzt fühlen. Die Blicke, die wir, wenn wir im Dorf einkaufen oder spazieren gingen, wahrnahmen, vermittelten uns stets das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, doch niemand sagte uns, was dieses Falsche gewesen sein könnte… Unsere Versuche, mit Schweizer Familien Kontakt aufzunehmen, scheiterten allesamt, auch für die Kinder war es schwer, mit anderen Kindern Freundschaften zu knüpfen… Schlimm war es jeweils, wenn die Angestellten des Sozialamts zu uns nach Hause kamen und wir alles zeigen mussten und dann manchmal zum Beispiel beanstandet wurde, wenn wir einen Markenartikel gekauft hatten, obwohl wir diesen zu einem sehr günstigen Preis bekommen hatten. Diese Feindseligkeit und das Misstrauen, das wir auf Schritt und Tritt verspürten, war für uns ganz neu, von unserem früheren Leben in Syrien kannten wir es ganz und gar nicht, dort lebten die Menschen friedlich und mit grosser gegenseitiger Offenheit. Egal, zu welchem Volk oder zu welcher Religion man gehörte, alle akzeptierten alle…»

Ahmad erzählt: «In Syrien lebten wir an einer Strasse, da kannten sich alle. Gingst du am Morgen durch die Strasse, wurdest du von allen Menschen freundlich begrüsst, alle lachten, scherzten und diskutierten miteinander. Hier in der Schweiz redet nicht einmal der Nachbar, der neben uns wohnt, mit uns. Und wenn wir am Morgen das Haus veranlassen, sagt uns niemand guten Tag… Das Schlimmste war, als unser Bub noch klein war und auf dem Pausenplatz einen Streit mit einem einheimischen Buben hatte. Am nächsten Tag kam der ältere Bruder des Schweizer Kindes auf den Pausenplatz und verprügelte meinen Sohn. Um diesen Konflikt nicht eskalieren zu lassen und ein friedliches Miteinander möglich zu machen, suchte ich am nächsten Tag die Eltern dieses Buben auf, um alles in Ruhe zu besprechen. Kaum stand ich am Gartentor, kam der Vater schon drohend auf mich zu und warnte mich: Das sei sein Grundstück und wenn ich es zu betreten wage, werde er die Polizei rufen. Ich ging nachhause und dieser Mann hat nie mehr mit mir gesprochen. Und auch ich habe weiter nichts unternommen, denn wir haben alle grosse Angst vor der Polizei.»

Ob dieser Mann, wenn er am nächsten Tag zur Bäckerei gehen wird, sich wohl auch weigern wird, ein Brot zu kaufen und zu essen, das von Ahmad gebacken wurde?

Nach zehn Jahren wollen sich Mariam und Ahmad einbürgern lassen, sie zeigen mir einen Stapel an Formularen, die sie nun ausfüllen müssen. Jetzt schon haben sie Angst vor einem negativen Entscheid. Sie brauchen drei Referenzpersonen, aber wie sollen sie diese finden, wenn sie niemanden kennen? Und wie sollen sie beweisen, dass sie schon gut integriert sind, wenn man ihnen genau das so schwer macht, ihnen so viele Hindernisse in den Weg stellt und ihnen so deutlich zu verstehen gibt, dass die meisten Menschen offensichtlich ja gar nicht wollen, dass sie sich in die hiesige Gesellschaft integrieren?

Es ist nun im Verlaufe der letzten vier Wochen dies das zweite Mal, dass ich Bahira und Ahmad besucht habe. Ich habe zwei wundervolle Menschen kennengelernt. Geradezu verblüfft war ich, als Bahira beim zweiten Besuch gesagt hat, dass sie gar nicht so perfekt sein könne und es auch gar nicht wolle, wie man das offensichtlich von ihnen erwarte. 80 Prozent Perfektion sei genug, sagte sie, den Rest an Unzulänglichkeiten müsse man halt akzeptieren, egal, ob man ein «Schweizer» oder eine «Ausländerin» sei, so viel Toleranz müsse sein, und kein Volk sei besser oder schlechter als ein anderes. So viel Selbstbewusstsein hätte sie mittelweile wieder erlangt, nachdem sie dieses während so langer Zeit beinahe verloren hätte. Verblüfft war ich über ihre «80-Prozent-Regel» vor allem auch deshalb, weil ich selber schon vor vielen Jahren genau auf die gleiche Regel gekommen war und das für mich, der ich zuvor immer übertrieben perfekt sein sollte, so etwas wie eine wunderbare Befreiung war und man dann alles viel gelassener und toleranter sehen kann.

Und noch etwas hat mich verblüfft. Bei meinem ersten Besuch sprachen nur Bahira und ich miteinander, Ahmad sass auf einem Sofa, las in einem Buch und beteiligte sich mit keinem Wort an unserem Gespräch. Beim zweiten Besuch sass er schon von Anfang an mit uns zusammen am Tisch und hätte am liebsten gar nicht mehr aufgehört, von all dem zu erzählen, was er in der Schweiz bisher alles erlebt hat. Wahrscheinlich war es das allererste Mal in diesen zehn Jahren, dass ihm ein Schweizer zwei Stunden lang aufmerksam zugehört hat. Nächstes Mal wollen sie mich zum Essen einladen und nächstens möchten sie mich auch einmal bei mir zu Hause besuchen. So schnell und leicht kann das Eis schmelzen, auch wenn es zehn Jahre lang immer dicker geworden ist…

Während dieser beiden Gespräche mit Bahira und Ahmad musste ich ein paar Mal weinen. Und ein paar Mal war ich richtig wütend. Und ein paar Mal schämte ich mich richtiggehend, ein Schweizer zu sein, nicht zuletzt deshalb, weil doch immer alle Schweizerinnen und Schweizer, welche südliche Länder bereisen, so begeistert von der Gastfreundschaft der dortigen Menschen schwärmen, während sie umgekehrt in ihrem eigenen Land Menschen aus fernen Ländern so unglaublich viel Kälte entgegenbringen…

Am späteren Abend schickt mir Bahira noch ein Video. Es zeigt, wie engagiert sich freiwillige Helferinnen und Helfer der syrischen Community Wiens bei den Aufräumarbeiten nach den jüngsten Überschwemmungen beteiligt haben. Doch im Gegensatz zu dem 26jährigen syrischen Asylbewerber, der vor drei Tagen im deutschen Solingen drei Menschen umgebracht und damit eine gesamteuropäische Diskussion zwecks dramatischer Verschärfungen in der Asylpolitik ausgelöst hat, werden solche Nachrichten keine ebenso weit verbreiteten Diskussionen in die entgegengesetzte Richtung auslösen. Und erst recht nicht werden auch die Geschichten von Bahira und Ahmad auch nur annähernd so hohe Wellen werfen. Selbst wenn gerade dadurch, nämlich durch das Öffnen der Türen, durch gegenseitige Wertschätzung, durch das einander Zuhören und Ernstnehmen Vorfälle wie jener in Solingen höchstwahrscheinlich am wirkungsvollsten verhindert werden könnten…

3sat, 22. September 2024: „Alles im Wunderland“ – eine bitterböse Schulkritik…

Selten habe ich eine so brillante und scharfsinnige Kritik am herrschenden Erziehungs- und Schulsystem angetroffen wie an diesem 22. September 2024 auf 3sat, in der Satiresendung „Die Anstalt“ zum Thema „Alles im Wunderland“ mit Max Uthoff. Im Folgenden einige zentrale Passagen aus seinen Aussagen zu den Themen Erziehung und Schule.

Diese seltsame Sucht nach mehr Autorität in der Politik, woher kommt das? Könnte es sein, dass sich da auch das Grösserwerden im eigenen Haushalt abbildet? Und zwar nicht nur in rechten Haushalten. Alice landet im Wunderland und trifft stets auf grössere Gestalten, ältere Gestalten, die sie unentwegt herabwürdigen. Was meinen Sie? Würden Sie mit einem Erwachsenen, den Sie lieben, ebenso sprechen wie mit Ihren Kindern? Würden Sie zu einem Tiefbauingenieur, mit dem Sie liiert sind, sagen: „Sei artig!“ oder „Benimm dich!“ Würden Sie einer Ärztin, mit der Sie verheiratet sind, sagen: „Das tut man aber nicht!“ oder „Da war jetzt aber jemand besonders unartig!“ Wir beugen uns von oben herab zu den Kindern und sagen ihnen, was sie zu denken und zu fühlen haben. Bizarre Feststellungen wie „Das hat doch gar nicht weh getan!“ oder „Sag mal, wie alt bist du eigentlich?“ oder „Na, wie heisst das Zauberwort?“

Immer diese vermeintliche Weisheit der weissen Königinnen und der verrückten Hutmacher, die glauben, im Recht zu sein. Einzige Begründung: Alter. Das Ansammeln von Lebensjahren reicht aus als Begründung für Zurechtweisung, wir beugen uns von oben herab zu den Kindern und beurteilen sie aus unserer Sicht, was sich Adultismus nennt, weil wir glauben, die sind noch nicht fertig, da müsse man noch herumschrauben. Aber die sind schon fertig, wir sollten sie nur in erster Linie in Ruhe lassen…

Und in der Schule geht es weiter mit den Demütigungen. Was ist eine Fünf in Mathe anders als eine Demütigung. Und Schülerinnen und Schüler, die eine bessere Note haben, freuen sich in diesem Moment ja nur, weil sie die Erwartungshaltung der Gesellschaft oder der Eltern erfüllen. Dieses permanente System der Bewertung von kleinen Menschen, nicht etwa nach Talenten, Solidarität, Kollegialität, nein, wir ersetzen die kindliche Neugierde durch formatiertes Wissen, weil wir vergessen, dass wir vor unserer Formatierung auch einmal neugierig gewesen waren. Nutzloses Wissen, dass zurecht sogleich wieder vergessen geht, weil nur Wissen, dass man intrinsisch und mit Neugierde lernt, dauerhaft bei einem bleibt. Fast das gesamte Wissen, das wir in der Schule lernen, kann man in 20 Sekunden googeln. Das Wissen der Welt verdoppelt sich alle 15 Jahre. Heute ginge es vor allem darum, zu lernen, wie man sich gewisses Wissen vom Leibe halten kann.

Immer noch beurteilen wir Schülerinnen und Schüler danach, wie gut sie gewisse Informationen abrufen können, die sie zeitlebens nie mehr brauchen werden. Und stellen Sie sich nicht vor, dass die Kinder es nicht merken. Meine jüngste Tochter kam nach Hause, da war sie in der 2. Klasse, acht Jahre alt, stellte sich vor uns hin und sagte: „Mama, Papa, die Schule steht meinem Leben im Weg.

Wenn wir unseren Kinder schon in frühen Jahren die Erkenntnis von Søren Kierkegaard vermitteln würden, der Vergleich ist das Ende des Glücks und aller Anfang der Unzufriedenheit, dann würden sie ihre Brotzeitboxen augenblicklich zusammenklappen und nach Hause gehen…

Wie sollen wir eine Demokratie mit Leben füllen, wenn alles, was wir Kindern bis zum 18. Lebensjahr zumuten, die Wahl eines Klassensprechers ist, der nichts zu entscheiden hat. Die bayrische Staatsregierung will nun vermehrt den Kindern Demokratie näherbringen, und wie machen sie es? Indem sie ihnen zusätzlich zum normalen Unterrichtsstoff jetzt jede Woche eine Viertelstunde Verfassungsgeschichte lehren. Das ist etwa so, wie wenn man jemandem das Schwimmen beibringen wollte, indem man ihm einen nassen Waschlappen ins Gesicht wirft...

Und diese lächerliche Panik, die uns immer wieder bei diesen dussligen Pisastudien erfasst. Man hat festgestellt, dass der Schüler in Mathe nicht so gut ist, und was macht man? Jetzt gibt es einfach noch mehr von diesem erfolglosen Matheunterricht, in der Hoffnung, dass noch mehr vom selben zu einem guten Ergebnis führen wird. Gekürzt wird dafür bei so „sinnlosen“ Fächern wie Kunst und Musik.

Unser Schulsystem regeneriert in seiner Mehrstufigkeit die bestehende Klassengesellschaft. Und es ist in der Benachteiligung von Menschen mit Migrationsgeschichte zutiefst rassistisch…

Der Unterricht beginnt am Morgen zu einer Zeit, da die meisten Schlafforscher noch nicht einmal ihren ersten Kaffee getrunken haben…

Es gibt weltweit keine einzige Studie, die klar belegt, dass Hausaufgaben irgendeinen pädagogischen Nutzen haben, trotzdem können wir nicht damit aufhören…

Die einzige Begründung, die uns für für den menschenverachtenden-Ellbogen-Demütigungsvergleich in Schule und Gesellschaft einfällt, ist: Es hat uns ja auch nicht geschadet. Also: Der Vergleich ist nötig, schon bei den Kleinsten, der Druck für später, denn auch für uns Erwachsene gilt: Der Vergleich ist der Schmierstoff des Systems…

Eigentlich schon verrückt, dass all dies zur besten Sendezeit über Zehntausende von Bildschirmen flimmern kann und auch das Studiopublikum begeistert mitklatscht, ohne dass es längst fällige, radikale Reformen dieses Systems auszulösen vermag, das Uthoff so meisterhaft und zutreffend kritisiert. Aber auch die Worte von Johann Heinrich Pestalozzi, des wohl berühmtesten Pädagogen aller Zeiten, der schon vor über 250 Jahren genau das Gleiche sagte – „Vergleiche nie ein Kind mit dem andern, sondern stets nur jedes mit sich selber“ – sind bisher im Leeren verhallt. Die Kräfte des Bewahrenden und die Macht der Gewohnheit müssen schon nahezu unerschütterlich übermächtig sein und zutiefst resistent gegenüber jeglicher Vernunft.

12. Montagsgespräch vom 9. September 2024: Rückblick auf die Coronakrise und was wir daraus gelernt haben könnten…

Am 12. Buchser Montagsgespräch vom 9. September wurde der Frage nachgegangen, inwieweit sich der Graben quer durch die Bevölkerung, der zur Zeit der Coronakrise zwischen Befürwortern und Gegnern von Impfungen und Schutzmassnahmen entstanden war, in der Zwischenzeit wieder überwunden werden konnte und was man im Rückblich aus dieser Krise gelernt haben könnte.

Übereinstimmend wurde gesagt, dass es schon von Anfang an zu einer Spaltung innerhalb der Bevölkerung gekommen sei. Es hätte sozusagen eine „offizielle“, „staatliche“ Sicht der Dinge gegeben, auf der anderen Seite all jene, welche darauf mit Misstrauen reagierten. Eine differenzierte Diskussion sei kaum mehr möglich gewesen, entweder hätte man sich zum einen Lager bekannt oder zum anderen, es sei zu einem eigentlichen Glaubenskrieg gekommen. Dabei hätten, wie mehrfach geäussert wurde, die Medien eine wichtige Rolle gespielt: Sie hätten kaum Positionen andersdenkender Fachpersonen zugelassen und häufig vor allem jenen Stimmen das Wort gegeben, welche gegen Andersdenkende aufhetzten, was die Spaltung zusätzlich verstärkt habe. Trotz alledem hätte die Schweiz, so betonte ein Gesprächsteilnehmer aus Frankreich, die Krise im Vergleich zu vielen anderen Ländern relativ human und massvoll bewältigt.

Ein Diskussionsteilnehmer erinnerte an die drei G: Geimpft, genesen oder gestorben. Er hätte ein viertes G vermisst: Gesund. Man hätte viel zu wenig darüber gesprochen, wie man das eigene Immunsystem besser stärken könnte, um auf diese Weise nicht nur vor einer Ansteckung durch das Coronavirus, sondern ganz allgemein gegen Krankheiten besser geschützt zu sein. Keiner und keine in der Runde, die sich nicht impfen liessen, bereute dies aus heutiger Sicht, sondern würde es wieder genau gleich machen.

Nicht zuletzt sei es in der Coronakrise auch um Geld gegangen. Einige, besonders die Pharmaindustrie, hätten massiv profitiert, andere hätten erheblich unter Einbussen gelitten. Solche Krisen lägen auch, wie ein Diskussionsteilnehmer meinte, im Interesse des kapitalistischen Wirtschaftssystems, denn der Kapitalismus brauche immer wieder neue „Nahrung“, wie man das auch bei jedem Krieg sehen könne: Bei der Zerstörung profitiere die Rüstungsindustrie, beim Wiederaufbau Bau-, Technologie- und Energieunternehmen.

Etwas vom Wichtigsten, was man aus der Coronakrise lernen könnte, so eine mehrfach geäusserte Meinung, sei die Bedeutung des Dialogs zwischen Menschen mit unterschiedlichen Meinungen. Gegenseitiges Ausgrenzen und Feindbilder seien schädlich für die Demokratie, welche ja gerade davon lebe, dass es in jeder Gesellschaft unterschiedlichste Denkweisen gibt, nicht nur zu diesem Thema. Wahrheit sei nicht etwas, was die eine oder die andere Gruppe für sich alleine in Anspruch nehmen könne, sondern nur etwas, dem man sich gemeinsam und mit Respekt gegenüber anderen Sichtweisen schrittweise annähern könne, indem man sich wieder gegenseitig die Hand reiche.

ARD-Tagesschau vom 13. März 2014: Der Ukrainekrieg ist längst entbrannt und die Waffe ist auf beiden Seiten das Gas…

Folgende Auszüge aus der ARD-Tagesschau vom 13. März 2014 verdeutlichen auf erschreckende Weise, wie grundlegende Tatsachen im Verlaufe der vergangenen zehn Jahre verloren gegangen bzw. mutwillig aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgelöscht worden sind, indem seither die Lüge, der Ukrainekrieg hätte am 24. Februar 2022 mit dem Einmarsch der russischen Truppen begonnen, allen besseren Wissens zum Trotz aufrechterhalten wird. Die Tatsache, dass eine ARD-Tagesschau im Jahre 2024 unmöglich Nachrichten ähnlichen Inhalts verbreiten könnte, ohne mit heftigsten Vorwürfen und Gegenangriffen rechnen zu müssen, zeigt, wie sehr die Menschen im Westen im Verlaufe dieser zehn Jahre einer massiven Gehirnwäsche unterworfen worden sind, was umso schlimmer ist, als wir uns immer noch in einer Welt purer Gedanken- und Meinungsfreiheit wähnen und Zensur stets nur der Gegenseite vorgeworfen wird…

Westliche Energiekonzerne haben nämlich schon längst ihre Ansprüche angemeldet auf die Erdgasvorkommen der Ukraine. Und die US-amerikanische Politik spielt dabei mit. Dabei geht es weniger um die Unabhängigkeit der Ukraine, sondern darum, wer im Herzen Europas zukünftig das Sagen hat...

Er war einer der ersten nach dem Umsturz in der Ukraine anfangs 2024, US-Aussenminister John Kerry reiste demonstrativ nach Kiew und setzte die Weltgemeinschaft gewaltig unter Druck: „Wenn die Russen nicht bereit sind, mit der neuen ukrainischen Regierung direkt zu verhandeln, dann werden unsere Partner keine andere Wahl haben, als uns zu folgen und auch all die Massnahmen zu ergreifen, mit denen wir in den letzten Tagen schon begonnen haben, um Russland zu isolieren, diplomatisch, politisch und wirtschaftlich.“

Hinter den Kulissen hatten Kerrys Leute offenbar schon vor Monaten klar gemacht, wen die USA in der ukrainischen Opposition in der Verantwortung sehen wollen und wen lieber nicht. Zufall oder nicht, genau so ist es gekommen. Arsenij Jazenjuk ist Ministerpräsident geworden, Boxweltmeister Klitschko hat keinen Posten in der Übergangsregierung übernommen, will später für das Präsidentenamt kandidieren. Der Wirtschaftswissenschaftler Jezenjuk ist schon lange ein enger Freund Amerikas, auf der Homepage seiner persönlichen Stiftung macht er keinen Hehl daraus, wer ihn unterstützt. Das US-Statesdepartment ist dabei, die Nato und vor allem viele westliche Thinktanks.

Es war wieder Victoria Nuland, die im Dezember bei einem Auftritt vor der US-ukrainischen Gesellschaft frank und frei erzählte, mit wie viel Geld die USA schon die „Demokratie“ in der Ukraine unterstützt haben: „Wir haben mehr als 5 Milliarden Dollar investiert, um der Ukraine zu helfen, Wohlstand, Sicherheit und Demokratie zu garantieren.“

Wieso ist den Amerikanern ausgerechnet die Ukraine so wichtig? Es geht um geopolitische Ziele, es geht um die Nato, sagen Experten. Simon Koschut von der Universität Erlangen: „Die Ukraine ist wichtig für die Nato vor allem aus Sicht der USA, weil sie dadurch den Einflussbereich der Nato und damit auch der westlichen Politik und den Einfluss der USA weiter in den postsowjetischen Raum vorwärtsbringen und Russland zurückdrängen können. Es sind hier Denkstrukturen des kalten Krieges im Prinzip durchaus noch vorhanden, auch wenn diese nicht immer offen geäussert werden.“

Ein neuer kalter Krieg? Offenbar auch mit den Mitteln der Energiepolitik. Nicht zufällig stand Victoria Nuland bei der US-ukrainischen Gesellschaft vor Sponsortafeln von Exxon Mobil und Chevron, zwei grossen Energiefirmen. Was viele nicht wissen: Beide US-Firmen haben auch massive wirtschaftliche Interessen in der Ukraine. Da sind einmal grosse Schiefergasvorkommen, die Exxon und Chevron mit der Frackingmethode aus dem Boden holen wollen. Und die Firma Exxon würde gerne ein neues Gasfeld im Schwarzen Meer erschliessen.

Grosse Euphorie bei der Vertragsunterzeichnung im November mit dem US-Multi Chevron. Bis 2020, hiess es, könne die Ukraine sogar ganz unabhängig von russischem Gas werden, für die russische Regierung eine Kampfansage. Und das nicht nur mit Gas aus ukrainischem Boden. In den USA machen Republikaner und Firmen massiven Druck auf die Regierung, Schiefergas, das in den USA inzwischen reichlich gefördert wird, solle jetzt vermehrt nach Europa exportiert werden, um die Abhängigkeit der Europäer von russischem Gas zu brechen. Möglich wäre das, wenn mehr Schiefergas in Flüssiggas umgewandelt und in grossen Schiffen nach Europa transportiert würde. Für den russischen Gasmarkt wäre das allerdings eine weitere bedrohliche Konkurrenz.

Auch wenn es in der Ukraine keine militärische Auseinandersetzung geben wird, der Krieg ist längst entbrannt und die Waffe ist auf beiden Seiten das Gas.

Dritter Teil der Geschichte von Amin, Ela, Baran und Aziz: Schlaflose Nächte und Sterne in dunklen Zeiten…

In den ersten beiden Teilen dieser Geschichte habe ich von meinen Erlebnissen mit Amin, Ela, Baran und Aziz erzählt, mit denen ich seit Juni 2024 mein Haus teile. Die Begegnung mit diesen unbeschreiblich liebenswürdigen und trotz allen schlimmen Erfahrungen immer noch so bewundernswert lebenslustigen Menschen aus Afghanistan hat mein Leben in kürzester Zeit tiefgreifender verändert, als dies je zuvor der Fall gewesen war.

Heute erzähle ich von Halime, der vierundzwanzigjährigen, zwei Jahre jüngeren Schwester von Ela, die auf der Flucht aus ihrer Heimat nach einer sechsjährigen Odyssee schliesslich in einem griechischen Flüchtlingscamp landete. Von dort aus flog sie nach Stockholm, zu ihrem Bruder, der ihr das Flugticket besorgt hatte, um anschliessend zu ihrer Schwester und ihrer Familie in die Schweiz zu kommen. Was für unbeschreibliche Glücksgefühle, als sich Ela und Halime nach sechs Jahren zum ersten Mal in die Arme nehmen konnten und Halime ihre beiden Neffen Baran und Aziz zum allerersten Mal gesehen hat…

Halimes Lebensgeschichte erfahre ich nur bruchstückhaft. Ela und Amin haben mir zwar schon einiges erzählt, aber das Allermeiste weiss ich noch nicht. Halime, das spüre ich von Anfang an, möchte nur wenig darüber erzählen. Eben erst ist sie in ihrem neuen Leben angekommen. Ihr grösster Wunsch besteht wohl darin, ihr ganzes bisheriges Leben so schnell wie möglich zu vergessen. Dementsprechend halte ich mich mit Fragen zurück. Doch das Wenige, was ich schon weiss, genügt für schlaflose Nächte mehr als genug…

Mit 18 Jahren, in einem Alter, da junge Frauen bei uns in Strassencafés sitzen, das Leben geniessen und im Sommer nach Mallorca fliegen, musste sich Halime mit ihren paar wenigen Habseligkeiten auf den Weg machen, um einer Hölle von Armut, Gewalt und ständiger Lebensangst zu entfliehen, egal wohin, einfach weit, weit fort, dorthin, wo ein schöneres Leben auf sie warten würde. Zunächst über die Grenze in den Iran…

Wie lange sie im Iran war, wie sie dort überlebte, das alles weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass sie eines Tages versuchte, über die Grenze in die Türkei zu gelangen. Was sie dabei erlebte, auch das entzieht sich momentan noch meiner Kenntnis. Nicht einmal ihrer Schwester und ihrem Schwager gelingt es, ihr mehr als ein paar wenige Worte abzuringen. Und so gehe ich wieder ins Internet, um die noch offenen Lücken in Halimes Odyssee zu füllen…

Human Rights Watch, 18. November 2022: „Die Türkei drängt routinemässig Zehntausende Afghanen an ihrer Landgrenze zum Iran zurück oder schiebt sie direkt nach Afghanistan ab, ohne ihre Ansprüche auf internationalen Schutz zu prüfen. Nähern sich Flüchtlinge der türkischen Grenze, schiessen die Grenzbehörden häufig in ihre Richtung oder direkt auf sie, insbesondere dann, wenn sie die Grenze zu überqueren versuchen. Oft werden die Flüchtlinge mit Schlagstöcken und Eisenstangen geschlagen. Wer es trotzdem schafft, in die Türkei zu gelangen, muss von Glück reden, einen Antrag auf internationalen Schutz stellen zu können, denn alle Städte, in denen bereits ein Fünftel der Bevölkerung ausländischer Herkunft sind, nehmen keine Anträge auf eine Aufenthaltsgenehmigung an.“

Irgendwie, ich weiss es noch nicht genau, schaffte sie es, in die Türkei zu kommen. Dort lebte sie vier Jahre lang, „illegal“, in beständiger Angst, von der Polizei aufgegriffen und wieder ausgeschafft zu werden. Den Lebensunterhalt verdiente sie sich als Kosmetikerin, vier Jahre lang täglich zwölf Stunden mit einer Mittagspause von 20 Minuten, keine Ferien und so wenig Lohn, dass sie damit nur knapp überleben konnte. Mit dem ersten Geld, das sie sich erspart hatte, kaufte sie sich auf einem Jahrmarkt einen Fingerring mit einem kleinen blauen Plastikstein, den sie immer noch trägt. Es war für sie das Grösste, wie auch der kleine Pinsel, mit dem sie sich ihr erstes Makeup auftrug. Das Türkische beherrschte sie bald schon so perfekt, dass die meisten Menschen sie nicht für eine Fremde hielten, was für sie überlebenswichtig war.

Türkische Feriendestinationen sind bei Touristinnen und Touristen aus dem Westen nicht zuletzt deshalb so begehrt, weil dank der ausbeuterischen Löhne für Hotel- und Restaurantangestellte, Masseusen und Kosmetikerinnen höchst attraktive Angebote locken. So etwa ist im Ferienkatalog des österreichischen Reisebüros „Schönheitsreisen – Beauty am Meer“ zu lesen: „Wir spezialisieren uns auf Schönheitsreisen nach Antalya zu äusserst attraktiven Preisen. Wir kümmern uns um den gesamten Ablauf Ihrer Behandlung und Reise. Entscheiden Sie sich für einen Reisezeitraum und überlassen Sie uns den Rest! So können Sie Ihren Aufenthalt stressfrei geniessen. Und Sie sparen erst noch bis zu 70% der Kosten für eine vergleichbare Behandlung im deutschsprachigen Raum.“

Vier Jahre lang machte Halime mit ihrer Arbeit unzählige Menschen, die genug Geld hatten, um sich diesen Luxus leisten zu können, schön und glücklich, schenkte ihnen ein neues Lebensgefühl. Ihre Reise aber, die Reise in der umgekehrten Richtung, war alles andere als eine stressfreie Schönheitsreise. Als die Sehnsucht nach der Schweiz, wo sie sich ein besseres Leben erhoffte, immer stärker geworden war, schloss sich Halime einer Gruppe von Flüchtlingen an, die sich aufmachten, um nach Griechenland zu entfliehen. 16 Mal versuchte sie es, auf unterschiedlichsten Wegen, oft durch dichtestes Gestrüpp, manchmal auch durch Bäche oder Flüsse watend, so schnell und weit als möglich fort rennend, wenn sie Schüsse oder das Schreien von anderen Flüchtlingen hörte, die von den griechischen Grenzwächtern zurückgeprügelt wurden. Die Nächte verbrachte sie irgendwo im Wald, auf dem nackten Boden schlafend, wo sie sich einigermassen sicher fühlte. 16 Mal war auch sie bei denen, die es nicht schafften. Schon beim ersten Mal waren ihr sämtliche der wenigen Habseligkeiten, die sie noch besessen hatte, abgenommen worden, alle Kleider und das ganze Geld, das sie während der vier Jahre mit der Arbeit als Kosmetikerin in der Türkei verdient hatte. Doch sie gab nicht auf. Und beim siebzehnten Mal gelang es ihr, die Grenze an einer unüberwachten Stelle zu passieren und unbemerkt so weit ins Landesinnere zu gelangen, dass sie, als sie kurz darauf von Polizisten aufgegriffen wurde, nicht mehr über die Grenze zurückgeschickt wurde und in einem Flüchtlingscamp landete.

Aus der „Frankfurter Rundschau“ vom 19. Juni 2023: „Immer häufiger werden an der griechisch-türkischen Grenze sogenannte Pushbacks durch kriminelle Gruppen durchgeführt. Schutzsuchende werden von griechischen Sicherheitskräften festgenommen und dann an bewaffnete Männer übergeben. Diese bringen die Betroffenen dann meistens an den Grenzfluss Evros und schicken sie mit einem Schlauchboot zurück auf die türkische Seite. Zuvor werden den Männern und Frauen sämtliche Wertgegenstände und Mobiltelefone weggenommen. Den Geflüchteten wird das Recht auf Schutz verwehrt, auch einen Antrag auf Asyl dürfen die Menschen nicht stellen. Betroffene berichten auch immer wieder von Gewalt durch die maskierten Männer. Nicht selten werden Frauen vergewaltigt.“

Drei Monate lang verbrachte Halime in diesem Flüchtlingscamp in der Nähe von Athen. Auch von dieser Zeit weiss ich erst wenig und lese im Internet nach…

„Meist sind es leere Container“, berichtete die „Deutsche Welle“ am 3. Februar 2023, „manchmal gibt es nicht einmal Matratzen. Die Essenszuteilung erfolgt nach willkürlichen Vorgaben des Aufsichtspersonals, je nach Menge der vorhandenen Lebensmittel und der Zahl der Schutzsuchenden, die von Tag zu Tag erheblich schwanken kann. Wer Pech hat und nicht auf der jeweiligen Tagesliste aufgeführt ist, bekommt die Reste, wenn alle anderen im Camp ihr Essen bereits bekommen haben. Meist sind die Mahlzeiten kaum geniessbar. Am schlimmsten aber ist die ständige Unsicherheit und das oft wochenlange Warten auf den Asylentscheid. Da die Türkei mittlerweile durch die EU als sicheres Herkunftsland eingestuft wurde, ist die Gefahr gross, wieder dorthin zurückgeschafft zu werden.“

Zu ihrer grossen Erleichterung wurde nach dem Ablauf der drei Monate ihrem Antrag auf Asyl in Griechenland zugestimmt, die zermürbende Ungewissheit hatte ein Ende. Mit viel Glück, da Ausweiskontrollen am Athener Flughafen nur stichprobenweise erfolgen, konnte sie nach Stockholm fliegen und sich dort bei ihrem Bruder während vier Wochen von den jahrelangen Strapazen ein klein wenig erholen. Dann zog es sie in die Schweiz, zu ihrer Schwester Ela und ihrem Schwager Amin, die sie vor sechs Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, und zu ihren Neffen Baran und Aziz, die sie überhaupt noch nie gesehen hatte.

4. September, Mittwoch. Was für Glücksgefühle! Halime schäkert mit den beiden Buben, küsst sie auf die Ohren und auf die Nasen, drückt sie immer wieder ganz fest an sich, und immer wieder lacht sie mit Ela und Amin aus vollem Herzen, jedes Mal, wenn Amin, der Witzbold, wieder etwas Lustiges gesagt hat, wovon ich natürlich kein einziges Wort verstehe, aber es muss schon sehr, sehr lustig sein, denn auch die beiden Buben kugeln sich immer wieder vor Lachen. Was für eine Lebenskraft muss in dieser jungen Frau stecken, die während mindestens acht Jahren – über ihre Kindheit weiss ich ja erst recht noch rein gar nichts – so viel Schreckliches erlebt hat, so viele schlaflose Nächte vor Angst, so viele Verletzungen in ihrem Körper und in ihrer Seele, so viele Tage, an denen sie kaum etwas zu essen hatte, und alles andere, was noch so viel schlimmer gewesen sein muss, dass sie jetzt nicht einmal ihrer Schwester etwas davon erzählen möchte. Was für eine Lebenskraft dies allem zum Trotz, dass sie jetzt so herzhaft lachen und so liebevoll mit den beiden Buben umgehen kann, als hätte sie die glücklichste Kindheit gehabt, die man sich nur vorstellen kann.

5. September, Donnerstag. Nach dem glücklichen Wiedersehen nach so vielen Jahren hat uns auf einen Schlag die Realität knallhart wieder zu Boden geworfen. Denn Halime kann ja höchstwahrscheinlich nicht einfach hier in der Schweiz bei ihren Familienangehörigen bleiben, was verständlicherweise ihr allergrösster Traum wäre. „Dublin-Abkommen“, zischt wie ein greller Blitz durch meine Gedanken. Ein Wort, das so harmlos klingt. Aber konkret bedeutet es, dass Asylsuchende in dem Land bleiben müssen, in dem sie zum ersten Mal einen Schutzstatus bzw. eine Aufenthaltsbewilligung bekommen haben. Beantragen sie in einem anderen Land Asyl, wird aufgrund ihrer Fingerabdrücke mithilfe eines gesamteuropäischen Computersystems in Sekundenschnelle festgestellt, ob sie nicht schon in einem anderen Land einen positiven Asylentscheid haben. Wenn ja, können sie entweder freiwillig dorthin gehen oder werden dorthin ausgeschafft…

Griechenland ist, wie alle wissen, die sich nur einigermassen im europäischen Asylwesen auskennen, das mit Abstand berüchtigste Land. Jegliche finanzielle Unterstützung für Flüchtlinge endet im Moment der Statusgewährung automatisch. 30 Tage nach der Anerkennung des Schutzstatus verlieren die Betroffenen auch ihren bisherigen Unterbringungsplatz, wenn sie denn überhaupt einen hatten. Anschlusslösungen gibt es nicht. Die Schutzberechtigten müssen sich ohne staatliche Hilfe auf dem freien Wohnungsmarkt selber zurechtfinden. Erst wenn sie eine Wohnung haben, erhalten sie eine Sozialversicherungsnummer, welche sie zum Bezug einer knappstens bemessenen Überlebenshilfe berechtigt. Auch bei der Arbeitssuche sind sie voll und ganz auf sich selber gestellt. Und Zugang zur Gesundheitsversorgung erhalten sie ebenfalls erst nach dem Vorlegen zahlreicher Dokumente, über welche die meisten gar nicht verfügen. Aufgrund aller dieser kaum überwindbaren Hürden sind unzählige Flüchtlinge, auch wenn sie über einen offiziellen Schutzstatus verfügen, obdachlos, werden zu Opfern von Menschenhändlern oder landen in der Prostitution.

In der folgenden Nacht kann ich nicht schlafen. Unentwegt sehe ich Halime vor mir, wie sie am Flughafen von Athen ankommt, ohne Geld, mit einem kleinen Koffer und ihren paar wenigen Habseligkeiten, ohne die geringsten Kenntnisse der Landessprache, ohne auch nur einen einzigen Menschen, der ihr hilft. Ich sehe sie schon irgendwo in einer dunklen Strassenecke liegen, todmüde, hungrig, frierend, und wie ein bulliger Mann auf sie zukommt, sie packt, in sein Auto zerrt und später einem anderen bulligen Mann vor die Füsse wirft, der diese wunderschöne junge Frau, diese Blume mitten in der Nacht, zerreissen und in kurzer Zeit zu einem Wrack machen wird. Mir ist, als würde mir das Herz aus dem Leibe gerissen. Einen Moment lang denke ich, wenn ich jetzt nur sterben könnte, um dieses Bild nicht ertragen zu müssen.

Auch in den folgenden Tagen beschäftigt mich Halimes Schicksal so tief, dass ich mich kaum mehr auf die alltäglichen Dinge konzentrieren kann. Ich vergesse den Geburtstag eines lieben Freundes. Es klingelt an der Tür und da steht eine Bekannte, mit der ich abgemacht, es aber komplett vergessen hatte. Ich verwechsle die Wochentage. Plötzlich sehe ich eine Zeitung, die ich vor drei Tagen irgendwo hingelegt und noch gar nicht gelesen habe. Am Billettautomat löse ich ein Ticket, bezahle es, aber im Zug, als die Billettkontrolle kommt und ich mein Portemonnaie öffne, ist es leer – mein Ticket liegt wahrscheinlich jetzt noch in diesem Automaten…

7. September, Samstag. Heute ist Aziz zwei Jahre alt. Sie haben mir gesagt, ich solle oben im Büro warten, sie rufen mich dann, wenn es so weit ist. Und als ich dann kurz darauf gerufen werde und das Wohnzimmer betrete, verschlägt es mir fast den Atem. Meine Frau und ich hatten ja auch, als unsere eigenen Kinder noch klein waren, an Geburtstagen jeweils das Wohnzimmer festlich dekoriert. Aber so etwas habe ich noch nie gesehen. Die ganze Decke hängt voller Ballone, die Fenster sind mit Silberfäden behangen, mitten im Raum ragt ein über einen Meter hoher goldener Ballon in Form einer Zwei in die Höhe, auf dem Tisch glitzert Flitter und mehrere Schüsseln sind mit vielen kleinen, selber gebackenen Küchlein gefüllt. Und mittendrin Halime, in einem langen Festkleid voller Blumenmuster, das sie sich wahrscheinlich von Ela geliehen hat. Und wieder dieses wundervolle Lachen, das alles durchdringt und bis ganz tief in die Seele geht. Sie scheint diese wunderbare Gabe zu besitzen, wie ein Kind voll und ganz nur im Augenblick zu leben und alles, aber auch alles auszublenden, was vorher gewesen ist und was nachher sein wird. Ja, vielleicht ist sie ja noch immer dieses Kind ihrer allerersten Lebenszeit, weil ja alles andere, alles, was später kam, gar kein wirkliches Leben war oder nichts von dem, was man sich normalerweise darunter vorstellt.

Die nächste Nacht ist fast noch schlimmer. Jetzt sehe ich sie nicht nur an einem Strassenrand als Opfer eines Menschenhändlers irgendwo inmitten von Athen. Jetzt sehe ich sie gleichzeitig als ein vollkommenes, an Schönheit nicht zu übertreffendes Geschenk des Himmels. Sie könnte hier, bei uns, zusammen mit ihren Liebsten, ein Leben führen wie im Paradies. Und gleichzeitig könnte sie von einem stockbesoffenen Freier im Hinterhof einer griechischen Kneipe halb zu Tode geprügelt werden und wäre mitten in der Hölle.

8. September, Sonntag. Das Wochenende war die reinste Tortur, weil wir untätig warten mussten. Manchmal lacht Halime in ihrer vollkommenen inneren und äusseren Schönheit durch das ganze Haus. Dann aber wieder sitzt sie irgendwo vor einem offenen Fenster und starrt mit tieftraurigem Blick ins Leere hinaus. Was wohl in diesen Augenblicken in ihr vorgeht? Das Beste an diesem Tag ist noch, dass ein plötzlicher heftiger Südwind das Plakat mit dem Bunkermann auf der anderen Seite der Strasse weggerissen und weit fort geblasen hat.

9. September, Montag. Endlich. Ich erreiche telefonisch die Auskunftsstelle des HEKS, Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz. Und innerhalb weniger Minuten fällt mir wohl der schwerste Stein vom Herzen, der jemals dort gelegen hatte. Als alleinstehende Frau, die schon in jungen Jahren so viel Gewalt erfahren musste und eine so unvorstellbare Leidensgeschichte hinter sich hat, ist die Chance gross, dass Halime, trotz des griechischen Schutzstatus, in der Schweiz eine F-Bewilligung für eine befristete Aufenthaltsbewilligung bekommen kann, die sich später in eine definitive Aufenthaltsbewilligung umwandeln lässt. Nach dem Telefonat muss ich minutenlang weinen vor Glück.

Als ich ihr die gute Nachricht überbringe, kann sie es im ersten Moment gar nicht glauben. Noch sieht sie wahrscheinlich in solchen Momenten, wenn sie alles immer wieder einholt, nur lauter riesige, schwarze Wände rund um sich. Wahrscheinlich genügt dann nur schon der winzigste Rest von Zweifel, um nicht allzu viel Hoffnung aufkommen zu lassen, die sich dann ohnehin wieder als reine Illusion entpuppen könnte. Mir wird bewusst, wie zerbrechlich diese Blume noch ist und wie viele gute Erlebnisse und Erfahrungen es noch brauchen wird, damit der Boden unter ihren Füssen allmählich wieder fester werden kann. Denn mindestens 18 Jahre lang zwischen der Kindheit und dem Ankommen im Erwachsenenalter, welches die schönste Zeit des Lebens hätte sein können, hat sie nur eines erfahren: Dass sie nicht willkommen ist, nicht im Hause ihres Mannes, nicht in dem Land, wo sie geboren wurde, nicht im Iran, nicht in der Türkei, nicht in Griechenland und nicht einmal in der Schweiz, wo jetzt wieder an allen Ecken und Enden diese Plakate hängen und aus allen Rohren gegen alles geschossen wird, was mit „Ausländischem“ oder „Fremdem“ zu tun hat. Das Einzige, was sie bis jetzt gehört hat: Geh fort, wir brauchen dich nicht, wir wollen dich nicht, für dich gibt es keinen Platz in dieser Welt.

15. September, Sonntag. Über Nacht ist es bitterkalt geworden, laut Wetterbericht der grösste Temperatursturz seit 30 Jahren. Heute werden wir eine Vorstellung in dem kleinen Zirkus besuchen, der wie durch einen glücklichen Zufall diese Woche in unserer Stadt gastiert. Auf dem Weg dorthin fällt mir auf, dass Halime trotz der Kälte nur ein dünnes Jäckchen trägt. Eine Winterjacke hat sie nicht. Wir werden so schnell wie möglich etwas besorgen müssen…

Und dann, der magische Moment, in dem Amin, Ela, Halime und die beiden Buben das Zirkuszelt betreten. Es ist das allererste Mal in ihrem Leben, dass sie einen Zirkus besuchen und in eine Welt eintauchen werden, von der sie bisher höchstens so viel mitbekommen haben wie von irgendeinem Märchen aus tausend und einer Nacht. Als wir in der Loge sitzen und es zuerst ganz dunkel wird, bis die Musik beginnt, von allen Seiten Scheinwerfer aufleuchten und die erste Akrobatin in ihrem Glitzerkleid die Manege betritt, beginnen für mich zwei Stunden, die ich ganz gewiss in meinem ganzen Leben nie mehr vergessen werde, so schön ist es, die Freude, die Begeisterung, das Lachen und die weit offenen, staunenden und strahlenden Augen von fünf Menschen mitzuerleben, die zum ersten Mal in ihrem Leben in einem richtigen Zirkus sind. Wenn jetzt eine Fee käme und ich könnte mir drei Dinge wünschen, dann würde ich mir drei Mal genau das Gleiche wünschen: Dass alles Geld, welches heute noch für Kreuzfahrtschiffe, Opernhäuser, Luxushotels, Weltraumraketen oder, noch viel, viel schlimmer, für Raketen, Bomben und Kampfflugzeuge verschleudert wird, dafür verwendet wird, dass es in jedem Land auf der Welt so viele und so schöne Zirkusse gibt, dass ein jedes Kind mit seinen Eltern, egal ob in Norwegen, Äthiopien, Neuseeland, Bangladesch oder Mexiko, das erleben dürfte, was Amin, Ela, Halime, Baran und Aziz an diesem Sonntagmorgen in unserer kleinen Stadt in dem kleinen Zirkuszelt erleben durften.

Morgen werden Ela und ich Halime ins Aufnahmezentrum für Asylsuchende begleiten. Zaco aus Pristina, der selber einmal ein Flüchtlingskind war und heute im Asylwesen tätig ist, hat uns noch ein paar wertvolle Tipps mit auf den Weg gegeben: Halime müsse offen über alles reden, was sie erlebt hat und auch vor Unangenehmem nicht zurückschrecken, denn genau das sei oft das Problem, dass sich Frauen für das schämen, was ihnen angetan wurde, lieber darüber schweigen und dann so in den Befragungen nicht die ganze Tragik ihrer Lebensgeschichte sichtbar wird. Weiters sollten wir unbedingt darauf drängen, dass in der Befragung durch Hilfswerke und Migrationsamt sowie vor allem beim Übersetzen vom Persischen ins Deutsche ausschliesslich Frauen diese Aufgaben wahrnehmen. Dies alles könnte entscheidend sein für einen positiven Asylentscheid. Die Verbindung zu Zaco hat mir Medina verschafft, eine langjährige gute Freundin, selber mit Migrationshintergrund, die mir schon von Beginn an, als Amin zum ersten Mal mein Haus betrat und Ela und die Kinder noch im Iran auf ihre Ausreisepapiere warteten, ihre bedingungslose Unterstützung angeboten hatte. Was für Sterne in so dunklen Zeiten.

Ein Bekannter meinte, das wäre ja alles gut und recht. Aber ob ich nicht auch schon daran gedacht hätte, dass Amin, Ela, Baran, Aziz und Halime ja nicht die Einzigen sind mit einer solchen Lebensgeschichte und man ja eigentlich allen helfen müsste und nicht nur ein paar wenigen „Glückspilzen“. Natürlich weiss ich das. Natürlich weiss ich, dass es weltweit Millionen von Amins und Halimes gibt, auf die jetzt gerade an irgendeiner Grenze Bluthunde gehetzt werden und denen tausendfach um die Ohren gebrüllt wird, dass sie nicht willkommen sind, weder hier noch dort noch anderswo. Aber das kann doch nicht Anlass dafür sein, dass ich mich nicht jetzt gerade mit aller Zeit und Energie, die mir zur Verfügung stehen, dafür einsetzen werde, dass Halime in der Schweiz bleiben kann, inmitten von Menschen, die sie gernhaben, und ihr Leben nicht in irgendeinem griechischen Strassengraben viel, viel zu früh enden muss.

Denn, wie es die deutsche Historikerin und Autorin Dagmar Fohl so wunderschön gesagt hat: „Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.“

Wenn du wissen möchtest, wie diese Geschichte angefangen hat und wie sie weitergeht, dann schreibe doch bitte eine Email mit dem Stichwort „Afghanistan“ an: info@petersutter.ch. Dann bekommst du die bisherigen und die zukünftig erscheinenden Artikel und Infos.