Archiv des Autors: Peter Sutter

Bahira und Ahmad aus Syrien, seit zehn Jahren in der Schweiz: Integration gegen so viele Hindernisse…

Heute habe ich Bahira und Ahmad besucht. Sie mussten 2014 aus Syrien fliehen, als der Krieg zwischen Regierungstruppen und Aufständischen fast über Nacht wie ein gewaltiger Tsunami über sie hereingebrochen war. Ein halbes Jahr lang lebten sie im Libanon, dann erhielten sie im Rahmen eines UNO-Programms für Kriegsflüchtlinge eine Aufenthaltsbewilligung für die Schweiz, mussten aber ein weiteres Jahr warten, bis die notwendigen Formalitäten erledigt waren und sie tatsächlich in die Schweiz einreisen konnten. Ihre Kinder sind heute 16 und 14 Jahre alt. Ahmad, der vor seiner Flucht aus Syrien als Koch in einem guten Restaurant gearbeitet hatte,  hat eine Stelle als Bäcker, verdient aber, weil er keine Lehre absolviert hat, pro Monat tausend Franken weniger als sein Schweizer Arbeitskollege, der genau die gleiche Arbeit leistet. Bahira, die vor der Flucht als Lehrerin gearbeitet hatte, konnte in der Schweiz nur unter Schwierigkeiten gelegentlich einen kleinen, befristeten Job finden. Zurzeit betreut sie stundenweise eine ältere, pflegebedürftige Frau. Fast alle Bewerbungen für eine grössere und dauerhafte Anstellung blieben unbeantwortet, auf einige erhielt sie eine Absage, meistens mit dem Hinweis auf ihr Kopftuch, das in dem betreffenden Job nicht toleriert würde. Bahira ist gebürtige Syrerin, Ahmad ist Palästinenser, seine Grosseltern mussten 1948 aus ihrer Heimat fliehen, und in seinem Pass stehen unter der Bezeichnung «Nationalität» drei X, was so viel bedeutet wie «staatenlos», etwas, was ihn bis heute zutiefst schmerzt, weil es ihm das Gefühl vermittelt, weniger wert zu sein als andere Menschen. Die Familie leidet unter grossem finanziellen Druck, kann sich nur das Allernötigste leisten, Bahira und Ahmad haben es aber geschafft, sich bis heute nicht zu verschulden, nicht zuletzt auch dank der Übernahme einiger Kosten durch die Caritas, ohne die es zeitweise gar nicht gut ausgesehen hätte.

Voller Stolz zeigt mir Bahira ein Buch, das sie im Verlaufe der vergangenen Jahre geschrieben hat und das kürzlich in arabischer Sprache veröffentlicht wurde. Sie beschreibt darin ihre Geschichte als Flüchtlingsfrau in Form eines Romans. Leider hat sie erst zehn Exemplare verkaufen können. Ihr grösster Traum wäre es, dieses Buch auch in einer deutschen Übersetzung erscheinen zu lassen. Eine Bekannte von ihr hat bereits damit angefangen, den Text zu übersetzen, Bahira sucht nun aber jemanden mit Deutsch als Muttersprache für eine abschliessende Gesamtüberarbeitung des Texts. Was für ein Strahlen in ihren Augen, als ich ihr anbiete, diese Aufgabe zu übernehmen.

Bahira erzählt: «Das Leben in Syrien war vor dem Beginn des Kriegs wunderbar. Wir waren nicht reich, aber wir hatten alle genug für ein gutes Leben. Der Krieg kam sozusagen über Nacht und zerstörte unser ganzes früheres Leben… An die Zeit im Libanon haben wir nur schlechte Erinnerungen. Ohne Aufenthaltsbewilligung hielten wir uns ganz knapp über Wasser, ich als schwarz angestellte Hilfslehrerin und Ahmad als Hilfskoch, für den er keinen Lohn, sondern nur ein gelegentliches Trinkgeld erhielt… Die Aussicht, in der Schweiz ein neues Leben aufbauen zu können, erfüllte uns mit grosser Hoffnung, doch kaum waren wir in der Schweiz, holte uns auch schon die bittere Realität wieder ein. Im Aufnahmezentrum für Asylsuchende kam ich mir vor wie in einem Gefängnis. Ich verstand auch nicht, weshalb man uns die Handys wegnahm. Eines Tages hatte ich das dringende Bedürfnis, meine Mutter anzurufen, irgendwie spürte ich, dass es ihr nicht gut ging, ich schrie und weinte, doch man weigerte sich, mir das Handy zu geben. Eine Woche später erfuhr ich, dass meine Mutter genau an diesem Tag infolge eines Verkehrsunfalls gestorben war… Ein halbes Jahr verbrachten wir dann in einem Flüchtlingsheim, in dieser Zeit verfiel ich in eine tiefe Depression, unter der ich etwa drei Jahre lang litt, bevor ich mich davon einigermassen wieder erholen konnte… Oft wurde mir gesagt, ich müsste doch froh sein, in der Schweiz leben zu können, das müsste doch für jemanden wie uns das Paradies sein. Aber leider muss ich, wenn ich an mein Leben in Syrien vor dem Ausbruch des Kriegs zurückdenke, sagen: Damals lebte ich tatsächlich im Paradies, in der Schweiz aber fühlte ich mich anfänglich wie in der Hölle… Wir fühlten uns sehr alleine, niemand half uns, von allen Seiten spürten wir Ablehnung, auch als wir dann nach dem Aufenthalt im Heim in eine kleine Wohnung umziehen konnten. Alles war schwierig, für alles mussten wir kämpfen, und immer standen uns die noch fehlenden Deutschkenntnisse im Weg… Wir nahmen viel Feindseligkeit war, mehrere Male riefen Nachbarn sogar die Polizei, nur weil unsere Kinder beim Spielen ein bisschen laut gewesen waren… Wir kannten die Gepflogenheiten ganz und gar nicht, wir wussten nicht, wie man eine Frage formuliert oder wie man die Menschen ansprechen muss, damit sie sich nicht angegriffen oder verletzt fühlen. Die Blicke, die wir, wenn wir im Dorf einkaufen oder spazieren gingen, wahrnahmen, vermittelten uns stets das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, doch niemand sagte uns, was dieses Falsche gewesen sein könnte… Unsere Versuche, mit Schweizer Familien Kontakt aufzunehmen, scheiterten allesamt, auch für die Kinder war es schwer, mit anderen Kindern Freundschaften zu knüpfen… Schlimm war es jeweils, wenn die Angestellten des Sozialamts zu uns nach Hause kamen und wir alles zeigen mussten und dann manchmal zum Beispiel beanstandet wurde, wenn wir einen Markenartikel gekauft hatten, obwohl wir diesen zu einem sehr günstigen Preis bekommen hatten. Diese Feindseligkeit und das Misstrauen, das wir auf Schritt und Tritt verspürten, war für uns ganz neu, von unserem früheren Leben in Syrien kannten wir es ganz und gar nicht, dort lebten die Menschen friedlich und mit grosser gegenseitiger Offenheit. Egal, zu welchem Volk oder zu welcher Religion man gehörte, alle akzeptierten alle…»

Ahmad erzählt: «In Syrien lebten wir an einer Strasse, da kannten sich alle. Gingst du am Morgen durch die Strasse, wurdest du von allen Menschen freundlich begrüsst, alle lachten, scherzten und diskutierten miteinander. Hier in der Schweiz redet nicht einmal der Nachbar, der neben uns wohnt, mit uns. Und wenn wir am Morgen das Haus veranlassen, sagt uns niemand guten Tag… Das Schlimmste war, als unser Bub noch klein war und auf dem Pausenplatz einen Streit mit einem einheimischen Buben hatte. Am nächsten Tag kam der ältere Bruder des Schweizer Kindes auf den Pausenplatz und verprügelte meinen Sohn. Um diesen Konflikt nicht eskalieren zu lassen und ein friedliches Miteinander möglich zu machen, suchte ich am nächsten Tag die Eltern dieses Buben auf, um alles in Ruhe zu besprechen. Kaum stand ich am Gartentor, kam der Vater schon drohend auf mich zu und warnte mich: Das sei sein Grundstück und wenn ich es zu betreten wage, werde er die Polizei rufen. Ich ging nachhause und dieser Mann hat nie mehr mit mir gesprochen. Und auch ich habe weiter nichts unternommen, denn wir haben alle grosse Angst vor der Polizei.»

Ob dieser Mann, wenn er am nächsten Tag zur Bäckerei gehen wird, sich wohl auch weigern wird, ein Brot zu kaufen und zu essen, das von Ahmad gebacken wurde?

Nach zehn Jahren wollen sich Mariam und Ahmad einbürgern lassen, sie zeigen mir einen Stapel an Formularen, die sie nun ausfüllen müssen. Jetzt schon haben sie Angst vor einem negativen Entscheid. Sie brauchen drei Referenzpersonen, aber wie sollen sie diese finden, wenn sie niemanden kennen? Und wie sollen sie beweisen, dass sie schon gut integriert sind, wenn man ihnen genau das so schwer macht, ihnen so viele Hindernisse in den Weg stellt und ihnen so deutlich zu verstehen gibt, dass die meisten Menschen offensichtlich ja gar nicht wollen, dass sie sich in die hiesige Gesellschaft integrieren?

Es ist nun im Verlaufe der letzten vier Wochen dies das zweite Mal, dass ich Bahira und Ahmad besucht habe. Ich habe zwei wundervolle Menschen kennengelernt. Geradezu verblüfft war ich, als Bahira beim zweiten Besuch gesagt hat, dass sie gar nicht so perfekt sein könne und es auch gar nicht wolle, wie man das offensichtlich von ihnen erwarte. 80 Prozent Perfektion sei genug, sagte sie, den Rest an Unzulänglichkeiten müsse man halt akzeptieren, egal, ob man ein «Schweizer» oder eine «Ausländerin» sei, so viel Toleranz müsse sein, und kein Volk sei besser oder schlechter als ein anderes. So viel Selbstbewusstsein hätte sie mittelweile wieder erlangt, nachdem sie dieses während so langer Zeit beinahe verloren hätte. Verblüfft war ich über ihre «80-Prozent-Regel» vor allem auch deshalb, weil ich selber schon vor vielen Jahren genau auf die gleiche Regel gekommen war und das für mich, der ich zuvor immer übertrieben perfekt sein sollte, so etwas wie eine wunderbare Befreiung war und man dann alles viel gelassener und toleranter sehen kann.

Und noch etwas hat mich verblüfft. Bei meinem ersten Besuch sprachen nur Bahira und ich miteinander, Ahmad sass auf einem Sofa, las in einem Buch und beteiligte sich mit keinem Wort an unserem Gespräch. Beim zweiten Besuch sass er schon von Anfang an mit uns zusammen am Tisch und hätte am liebsten gar nicht mehr aufgehört, von all dem zu erzählen, was er in der Schweiz bisher alles erlebt hat. Wahrscheinlich war es das allererste Mal in diesen zehn Jahren, dass ihm ein Schweizer zwei Stunden lang aufmerksam zugehört hat. Nächstes Mal wollen sie mich zum Essen einladen und nächstens möchten sie mich auch einmal bei mir zu Hause besuchen. So schnell und leicht kann das Eis schmelzen, auch wenn es zehn Jahre lang immer dicker geworden ist…

Während dieser beiden Gespräche mit Bahira und Ahmad musste ich ein paar Mal weinen. Und ein paar Mal war ich richtig wütend. Und ein paar Mal schämte ich mich richtiggehend, ein Schweizer zu sein, nicht zuletzt deshalb, weil doch immer alle Schweizerinnen und Schweizer, welche südliche Länder bereisen, so begeistert von der Gastfreundschaft der dortigen Menschen schwärmen, während sie umgekehrt in ihrem eigenen Land Menschen aus fernen Ländern so unglaublich viel Kälte entgegenbringen…

Am späteren Abend schickt mir Bahira noch ein Video. Es zeigt, wie engagiert sich freiwillige Helferinnen und Helfer der syrischen Community Wiens bei den Aufräumarbeiten nach den jüngsten Überschwemmungen beteiligt haben. Doch im Gegensatz zu dem 26jährigen syrischen Asylbewerber, der vor drei Tagen im deutschen Solingen drei Menschen umgebracht und damit eine gesamteuropäische Diskussion zwecks dramatischer Verschärfungen in der Asylpolitik ausgelöst hat, werden solche Nachrichten keine ebenso weit verbreiteten Diskussionen in die entgegengesetzte Richtung auslösen. Und erst recht nicht werden auch die Geschichten von Bahira und Ahmad auch nur annähernd so hohe Wellen werfen. Selbst wenn gerade dadurch, nämlich durch das Öffnen der Türen, durch gegenseitige Wertschätzung, durch das einander Zuhören und Ernstnehmen Vorfälle wie jener in Solingen höchstwahrscheinlich am wirkungsvollsten verhindert werden könnten…

3sat, 22. September 2024: „Alles im Wunderland“ – eine bitterböse Schulkritik…

Selten habe ich eine so brillante und scharfsinnige Kritik am herrschenden Erziehungs- und Schulsystem angetroffen wie an diesem 22. September 2024 auf 3sat, in der Satiresendung „Die Anstalt“ zum Thema „Alles im Wunderland“ mit Max Uthoff. Im Folgenden einige zentrale Passagen aus seinen Aussagen zu den Themen Erziehung und Schule.

Diese seltsame Sucht nach mehr Autorität in der Politik, woher kommt das? Könnte es sein, dass sich da auch das Grösserwerden im eigenen Haushalt abbildet? Und zwar nicht nur in rechten Haushalten. Alice landet im Wunderland und trifft stets auf grössere Gestalten, ältere Gestalten, die sie unentwegt herabwürdigen. Was meinen Sie? Würden Sie mit einem Erwachsenen, den Sie lieben, ebenso sprechen wie mit Ihren Kindern? Würden Sie zu einem Tiefbauingenieur, mit dem Sie liiert sind, sagen: „Sei artig!“ oder „Benimm dich!“ Würden Sie einer Ärztin, mit der Sie verheiratet sind, sagen: „Das tut man aber nicht!“ oder „Da war jetzt aber jemand besonders unartig!“ Wir beugen uns von oben herab zu den Kindern und sagen ihnen, was sie zu denken und zu fühlen haben. Bizarre Feststellungen wie „Das hat doch gar nicht weh getan!“ oder „Sag mal, wie alt bist du eigentlich?“ oder „Na, wie heisst das Zauberwort?“

Immer diese vermeintliche Weisheit der weissen Königinnen und der verrückten Hutmacher, die glauben, im Recht zu sein. Einzige Begründung: Alter. Das Ansammeln von Lebensjahren reicht aus als Begründung für Zurechtweisung, wir beugen uns von oben herab zu den Kindern und beurteilen sie aus unserer Sicht, was sich Adultismus nennt, weil wir glauben, die sind noch nicht fertig, da müsse man noch herumschrauben. Aber die sind schon fertig, wir sollten sie nur in erster Linie in Ruhe lassen…

Und in der Schule geht es weiter mit den Demütigungen. Was ist eine Fünf in Mathe anders als eine Demütigung. Und Schülerinnen und Schüler, die eine bessere Note haben, freuen sich in diesem Moment ja nur, weil sie die Erwartungshaltung der Gesellschaft oder der Eltern erfüllen. Dieses permanente System der Bewertung von kleinen Menschen, nicht etwa nach Talenten, Solidarität, Kollegialität, nein, wir ersetzen die kindliche Neugierde durch formatiertes Wissen, weil wir vergessen, dass wir vor unserer Formatierung auch einmal neugierig gewesen waren. Nutzloses Wissen, dass zurecht sogleich wieder vergessen geht, weil nur Wissen, dass man intrinsisch und mit Neugierde lernt, dauerhaft bei einem bleibt. Fast das gesamte Wissen, das wir in der Schule lernen, kann man in 20 Sekunden googeln. Das Wissen der Welt verdoppelt sich alle 15 Jahre. Heute ginge es vor allem darum, zu lernen, wie man sich gewisses Wissen vom Leibe halten kann.

Immer noch beurteilen wir Schülerinnen und Schüler danach, wie gut sie gewisse Informationen abrufen können, die sie zeitlebens nie mehr brauchen werden. Und stellen Sie sich nicht vor, dass die Kinder es nicht merken. Meine jüngste Tochter kam nach Hause, da war sie in der 2. Klasse, acht Jahre alt, stellte sich vor uns hin und sagte: „Mama, Papa, die Schule steht meinem Leben im Weg.

Wenn wir unseren Kinder schon in frühen Jahren die Erkenntnis von Søren Kierkegaard vermitteln würden, der Vergleich ist das Ende des Glücks und aller Anfang der Unzufriedenheit, dann würden sie ihre Brotzeitboxen augenblicklich zusammenklappen und nach Hause gehen…

Wie sollen wir eine Demokratie mit Leben füllen, wenn alles, was wir Kindern bis zum 18. Lebensjahr zumuten, die Wahl eines Klassensprechers ist, der nichts zu entscheiden hat. Die bayrische Staatsregierung will nun vermehrt den Kindern Demokratie näherbringen, und wie machen sie es? Indem sie ihnen zusätzlich zum normalen Unterrichtsstoff jetzt jede Woche eine Viertelstunde Verfassungsgeschichte lehren. Das ist etwa so, wie wenn man jemandem das Schwimmen beibringen wollte, indem man ihm einen nassen Waschlappen ins Gesicht wirft...

Und diese lächerliche Panik, die uns immer wieder bei diesen dussligen Pisastudien erfasst. Man hat festgestellt, dass der Schüler in Mathe nicht so gut ist, und was macht man? Jetzt gibt es einfach noch mehr von diesem erfolglosen Matheunterricht, in der Hoffnung, dass noch mehr vom selben zu einem guten Ergebnis führen wird. Gekürzt wird dafür bei so „sinnlosen“ Fächern wie Kunst und Musik.

Unser Schulsystem regeneriert in seiner Mehrstufigkeit die bestehende Klassengesellschaft. Und es ist in der Benachteiligung von Menschen mit Migrationsgeschichte zutiefst rassistisch…

Der Unterricht beginnt am Morgen zu einer Zeit, da die meisten Schlafforscher noch nicht einmal ihren ersten Kaffee getrunken haben…

Es gibt weltweit keine einzige Studie, die klar belegt, dass Hausaufgaben irgendeinen pädagogischen Nutzen haben, trotzdem können wir nicht damit aufhören…

Die einzige Begründung, die uns für für den menschenverachtenden-Ellbogen-Demütigungsvergleich in Schule und Gesellschaft einfällt, ist: Es hat uns ja auch nicht geschadet. Also: Der Vergleich ist nötig, schon bei den Kleinsten, der Druck für später, denn auch für uns Erwachsene gilt: Der Vergleich ist der Schmierstoff des Systems…

Eigentlich schon verrückt, dass all dies zur besten Sendezeit über Zehntausende von Bildschirmen flimmern kann und auch das Studiopublikum begeistert mitklatscht, ohne dass es längst fällige, radikale Reformen dieses Systems auszulösen vermag, das Uthoff so meisterhaft und zutreffend kritisiert. Aber auch die Worte von Johann Heinrich Pestalozzi, des wohl berühmtesten Pädagogen aller Zeiten, der schon vor über 250 Jahren genau das Gleiche sagte – „Vergleiche nie ein Kind mit dem andern, sondern stets nur jedes mit sich selber“ – sind bisher im Leeren verhallt. Die Kräfte des Bewahrenden und die Macht der Gewohnheit müssen schon nahezu unerschütterlich übermächtig sein und zutiefst resistent gegenüber jeglicher Vernunft.

12. Montagsgespräch vom 9. September 2024: Rückblick auf die Coronakrise und was wir daraus gelernt haben könnten…

Am 12. Buchser Montagsgespräch vom 9. September wurde der Frage nachgegangen, inwieweit sich der Graben quer durch die Bevölkerung, der zur Zeit der Coronakrise zwischen Befürwortern und Gegnern von Impfungen und Schutzmassnahmen entstanden war, in der Zwischenzeit wieder überwunden werden konnte und was man im Rückblich aus dieser Krise gelernt haben könnte.

Übereinstimmend wurde gesagt, dass es schon von Anfang an zu einer Spaltung innerhalb der Bevölkerung gekommen sei. Es hätte sozusagen eine „offizielle“, „staatliche“ Sicht der Dinge gegeben, auf der anderen Seite all jene, welche darauf mit Misstrauen reagierten. Eine differenzierte Diskussion sei kaum mehr möglich gewesen, entweder hätte man sich zum einen Lager bekannt oder zum anderen, es sei zu einem eigentlichen Glaubenskrieg gekommen. Dabei hätten, wie mehrfach geäussert wurde, die Medien eine wichtige Rolle gespielt: Sie hätten kaum Positionen andersdenkender Fachpersonen zugelassen und häufig vor allem jenen Stimmen das Wort gegeben, welche gegen Andersdenkende aufhetzten, was die Spaltung zusätzlich verstärkt habe. Trotz alledem hätte die Schweiz, so betonte ein Gesprächsteilnehmer aus Frankreich, die Krise im Vergleich zu vielen anderen Ländern relativ human und massvoll bewältigt.

Ein Diskussionsteilnehmer erinnerte an die drei G: Geimpft, genesen oder gestorben. Er hätte ein viertes G vermisst: Gesund. Man hätte viel zu wenig darüber gesprochen, wie man das eigene Immunsystem besser stärken könnte, um auf diese Weise nicht nur vor einer Ansteckung durch das Coronavirus, sondern ganz allgemein gegen Krankheiten besser geschützt zu sein. Keiner und keine in der Runde, die sich nicht impfen liessen, bereute dies aus heutiger Sicht, sondern würde es wieder genau gleich machen.

Nicht zuletzt sei es in der Coronakrise auch um Geld gegangen. Einige, besonders die Pharmaindustrie, hätten massiv profitiert, andere hätten erheblich unter Einbussen gelitten. Solche Krisen lägen auch, wie ein Diskussionsteilnehmer meinte, im Interesse des kapitalistischen Wirtschaftssystems, denn der Kapitalismus brauche immer wieder neue „Nahrung“, wie man das auch bei jedem Krieg sehen könne: Bei der Zerstörung profitiere die Rüstungsindustrie, beim Wiederaufbau Bau-, Technologie- und Energieunternehmen.

Etwas vom Wichtigsten, was man aus der Coronakrise lernen könnte, so eine mehrfach geäusserte Meinung, sei die Bedeutung des Dialogs zwischen Menschen mit unterschiedlichen Meinungen. Gegenseitiges Ausgrenzen und Feindbilder seien schädlich für die Demokratie, welche ja gerade davon lebe, dass es in jeder Gesellschaft unterschiedlichste Denkweisen gibt, nicht nur zu diesem Thema. Wahrheit sei nicht etwas, was die eine oder die andere Gruppe für sich alleine in Anspruch nehmen könne, sondern nur etwas, dem man sich gemeinsam und mit Respekt gegenüber anderen Sichtweisen schrittweise annähern könne, indem man sich wieder gegenseitig die Hand reiche.

ARD-Tagesschau vom 13. März 2014: Der Ukrainekrieg ist längst entbrannt und die Waffe ist auf beiden Seiten das Gas…

Folgende Auszüge aus der ARD-Tagesschau vom 13. März 2014 verdeutlichen auf erschreckende Weise, wie grundlegende Tatsachen im Verlaufe der vergangenen zehn Jahre verloren gegangen bzw. mutwillig aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgelöscht worden sind, indem seither die Lüge, der Ukrainekrieg hätte am 24. Februar 2022 mit dem Einmarsch der russischen Truppen begonnen, allen besseren Wissens zum Trotz aufrechterhalten wird. Die Tatsache, dass eine ARD-Tagesschau im Jahre 2024 unmöglich Nachrichten ähnlichen Inhalts verbreiten könnte, ohne mit heftigsten Vorwürfen und Gegenangriffen rechnen zu müssen, zeigt, wie sehr die Menschen im Westen im Verlaufe dieser zehn Jahre einer massiven Gehirnwäsche unterworfen worden sind, was umso schlimmer ist, als wir uns immer noch in einer Welt purer Gedanken- und Meinungsfreiheit wähnen und Zensur stets nur der Gegenseite vorgeworfen wird…

Westliche Energiekonzerne haben nämlich schon längst ihre Ansprüche angemeldet auf die Erdgasvorkommen der Ukraine. Und die US-amerikanische Politik spielt dabei mit. Dabei geht es weniger um die Unabhängigkeit der Ukraine, sondern darum, wer im Herzen Europas zukünftig das Sagen hat...

Er war einer der ersten nach dem Umsturz in der Ukraine anfangs 2024, US-Aussenminister John Kerry reiste demonstrativ nach Kiew und setzte die Weltgemeinschaft gewaltig unter Druck: „Wenn die Russen nicht bereit sind, mit der neuen ukrainischen Regierung direkt zu verhandeln, dann werden unsere Partner keine andere Wahl haben, als uns zu folgen und auch all die Massnahmen zu ergreifen, mit denen wir in den letzten Tagen schon begonnen haben, um Russland zu isolieren, diplomatisch, politisch und wirtschaftlich.“

Hinter den Kulissen hatten Kerrys Leute offenbar schon vor Monaten klar gemacht, wen die USA in der ukrainischen Opposition in der Verantwortung sehen wollen und wen lieber nicht. Zufall oder nicht, genau so ist es gekommen. Arsenij Jazenjuk ist Ministerpräsident geworden, Boxweltmeister Klitschko hat keinen Posten in der Übergangsregierung übernommen, will später für das Präsidentenamt kandidieren. Der Wirtschaftswissenschaftler Jezenjuk ist schon lange ein enger Freund Amerikas, auf der Homepage seiner persönlichen Stiftung macht er keinen Hehl daraus, wer ihn unterstützt. Das US-Statesdepartment ist dabei, die Nato und vor allem viele westliche Thinktanks.

Es war wieder Victoria Nuland, die im Dezember bei einem Auftritt vor der US-ukrainischen Gesellschaft frank und frei erzählte, mit wie viel Geld die USA schon die „Demokratie“ in der Ukraine unterstützt haben: „Wir haben mehr als 5 Milliarden Dollar investiert, um der Ukraine zu helfen, Wohlstand, Sicherheit und Demokratie zu garantieren.“

Wieso ist den Amerikanern ausgerechnet die Ukraine so wichtig? Es geht um geopolitische Ziele, es geht um die Nato, sagen Experten. Simon Koschut von der Universität Erlangen: „Die Ukraine ist wichtig für die Nato vor allem aus Sicht der USA, weil sie dadurch den Einflussbereich der Nato und damit auch der westlichen Politik und den Einfluss der USA weiter in den postsowjetischen Raum vorwärtsbringen und Russland zurückdrängen können. Es sind hier Denkstrukturen des kalten Krieges im Prinzip durchaus noch vorhanden, auch wenn diese nicht immer offen geäussert werden.“

Ein neuer kalter Krieg? Offenbar auch mit den Mitteln der Energiepolitik. Nicht zufällig stand Victoria Nuland bei der US-ukrainischen Gesellschaft vor Sponsortafeln von Exxon Mobil und Chevron, zwei grossen Energiefirmen. Was viele nicht wissen: Beide US-Firmen haben auch massive wirtschaftliche Interessen in der Ukraine. Da sind einmal grosse Schiefergasvorkommen, die Exxon und Chevron mit der Frackingmethode aus dem Boden holen wollen. Und die Firma Exxon würde gerne ein neues Gasfeld im Schwarzen Meer erschliessen.

Grosse Euphorie bei der Vertragsunterzeichnung im November mit dem US-Multi Chevron. Bis 2020, hiess es, könne die Ukraine sogar ganz unabhängig von russischem Gas werden, für die russische Regierung eine Kampfansage. Und das nicht nur mit Gas aus ukrainischem Boden. In den USA machen Republikaner und Firmen massiven Druck auf die Regierung, Schiefergas, das in den USA inzwischen reichlich gefördert wird, solle jetzt vermehrt nach Europa exportiert werden, um die Abhängigkeit der Europäer von russischem Gas zu brechen. Möglich wäre das, wenn mehr Schiefergas in Flüssiggas umgewandelt und in grossen Schiffen nach Europa transportiert würde. Für den russischen Gasmarkt wäre das allerdings eine weitere bedrohliche Konkurrenz.

Auch wenn es in der Ukraine keine militärische Auseinandersetzung geben wird, der Krieg ist längst entbrannt und die Waffe ist auf beiden Seiten das Gas.

Dritter Teil der Geschichte von Amin, Ela, Baran und Aziz: Schlaflose Nächte und Sterne in dunklen Zeiten…

In den ersten beiden Teilen dieser Geschichte habe ich von meinen Erlebnissen mit Amin, Ela, Baran und Aziz erzählt, mit denen ich seit Juni 2024 mein Haus teile. Die Begegnung mit diesen unbeschreiblich liebenswürdigen und trotz allen schlimmen Erfahrungen immer noch so bewundernswert lebenslustigen Menschen aus Afghanistan hat mein Leben in kürzester Zeit tiefgreifender verändert, als dies je zuvor der Fall gewesen war.

Heute erzähle ich von Halime, der vierundzwanzigjährigen, zwei Jahre jüngeren Schwester von Ela, die auf der Flucht aus ihrer Heimat nach einer sechsjährigen Odyssee schliesslich in einem griechischen Flüchtlingscamp landete. Von dort aus flog sie nach Stockholm, zu ihrem Bruder, der ihr das Flugticket besorgt hatte, um anschliessend zu ihrer Schwester und ihrer Familie in die Schweiz zu kommen. Was für unbeschreibliche Glücksgefühle, als sich Ela und Halime nach sechs Jahren zum ersten Mal in die Arme nehmen konnten und Halime ihre beiden Neffen Baran und Aziz zum allerersten Mal gesehen hat…

Halimes Lebensgeschichte erfahre ich nur bruchstückhaft. Ela und Amin haben mir zwar schon einiges erzählt, aber das Allermeiste weiss ich noch nicht. Halime, das spüre ich von Anfang an, möchte nur wenig darüber erzählen. Eben erst ist sie in ihrem neuen Leben angekommen. Ihr grösster Wunsch besteht wohl darin, ihr ganzes bisheriges Leben so schnell wie möglich zu vergessen. Dementsprechend halte ich mich mit Fragen zurück. Doch das Wenige, was ich schon weiss, genügt für schlaflose Nächte mehr als genug…

Mit 18 Jahren, in einem Alter, da junge Frauen bei uns in Strassencafés sitzen, das Leben geniessen und im Sommer nach Mallorca fliegen, musste sich Halime mit ihren paar wenigen Habseligkeiten auf den Weg machen, um einer Hölle von Armut, Gewalt und ständiger Lebensangst zu entfliehen, egal wohin, einfach weit, weit fort, dorthin, wo ein schöneres Leben auf sie warten würde. Zunächst über die Grenze in den Iran…

Wie lange sie im Iran war, wie sie dort überlebte, das alles weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass sie eines Tages versuchte, über die Grenze in die Türkei zu gelangen. Was sie dabei erlebte, auch das entzieht sich momentan noch meiner Kenntnis. Nicht einmal ihrer Schwester und ihrem Schwager gelingt es, ihr mehr als ein paar wenige Worte abzuringen. Und so gehe ich wieder ins Internet, um die noch offenen Lücken in Halimes Odyssee zu füllen…

Human Rights Watch, 18. November 2022: „Die Türkei drängt routinemässig Zehntausende Afghanen an ihrer Landgrenze zum Iran zurück oder schiebt sie direkt nach Afghanistan ab, ohne ihre Ansprüche auf internationalen Schutz zu prüfen. Nähern sich Flüchtlinge der türkischen Grenze, schiessen die Grenzbehörden häufig in ihre Richtung oder direkt auf sie, insbesondere dann, wenn sie die Grenze zu überqueren versuchen. Oft werden die Flüchtlinge mit Schlagstöcken und Eisenstangen geschlagen. Wer es trotzdem schafft, in die Türkei zu gelangen, muss von Glück reden, einen Antrag auf internationalen Schutz stellen zu können, denn alle Städte, in denen bereits ein Fünftel der Bevölkerung ausländischer Herkunft sind, nehmen keine Anträge auf eine Aufenthaltsgenehmigung an.“

Irgendwie, ich weiss es noch nicht genau, schaffte sie es, in die Türkei zu kommen. Dort lebte sie vier Jahre lang, „illegal“, in beständiger Angst, von der Polizei aufgegriffen und wieder ausgeschafft zu werden. Den Lebensunterhalt verdiente sie sich als Kosmetikerin, vier Jahre lang täglich zwölf Stunden mit einer Mittagspause von 20 Minuten, keine Ferien und so wenig Lohn, dass sie damit nur knapp überleben konnte. Mit dem ersten Geld, das sie sich erspart hatte, kaufte sie sich auf einem Jahrmarkt einen Fingerring mit einem kleinen blauen Plastikstein, den sie immer noch trägt. Es war für sie das Grösste, wie auch der kleine Pinsel, mit dem sie sich ihr erstes Makeup auftrug. Das Türkische beherrschte sie bald schon so perfekt, dass die meisten Menschen sie nicht für eine Fremde hielten, was für sie überlebenswichtig war.

Türkische Feriendestinationen sind bei Touristinnen und Touristen aus dem Westen nicht zuletzt deshalb so begehrt, weil dank der ausbeuterischen Löhne für Hotel- und Restaurantangestellte, Masseusen und Kosmetikerinnen höchst attraktive Angebote locken. So etwa ist im Ferienkatalog des österreichischen Reisebüros „Schönheitsreisen – Beauty am Meer“ zu lesen: „Wir spezialisieren uns auf Schönheitsreisen nach Antalya zu äusserst attraktiven Preisen. Wir kümmern uns um den gesamten Ablauf Ihrer Behandlung und Reise. Entscheiden Sie sich für einen Reisezeitraum und überlassen Sie uns den Rest! So können Sie Ihren Aufenthalt stressfrei geniessen. Und Sie sparen erst noch bis zu 70% der Kosten für eine vergleichbare Behandlung im deutschsprachigen Raum.“

Vier Jahre lang machte Halime mit ihrer Arbeit unzählige Menschen, die genug Geld hatten, um sich diesen Luxus leisten zu können, schön und glücklich, schenkte ihnen ein neues Lebensgefühl. Ihre Reise aber, die Reise in der umgekehrten Richtung, war alles andere als eine stressfreie Schönheitsreise. Als die Sehnsucht nach der Schweiz, wo sie sich ein besseres Leben erhoffte, immer stärker geworden war, schloss sich Halime einer Gruppe von Flüchtlingen an, die sich aufmachten, um nach Griechenland zu entfliehen. 16 Mal versuchte sie es, auf unterschiedlichsten Wegen, oft durch dichtestes Gestrüpp, manchmal auch durch Bäche oder Flüsse watend, so schnell und weit als möglich fort rennend, wenn sie Schüsse oder das Schreien von anderen Flüchtlingen hörte, die von den griechischen Grenzwächtern zurückgeprügelt wurden. Die Nächte verbrachte sie irgendwo im Wald, auf dem nackten Boden schlafend, wo sie sich einigermassen sicher fühlte. 16 Mal war auch sie bei denen, die es nicht schafften. Schon beim ersten Mal waren ihr sämtliche der wenigen Habseligkeiten, die sie noch besessen hatte, abgenommen worden, alle Kleider und das ganze Geld, das sie während der vier Jahre mit der Arbeit als Kosmetikerin in der Türkei verdient hatte. Doch sie gab nicht auf. Und beim siebzehnten Mal gelang es ihr, die Grenze an einer unüberwachten Stelle zu passieren und unbemerkt so weit ins Landesinnere zu gelangen, dass sie, als sie kurz darauf von Polizisten aufgegriffen wurde, nicht mehr über die Grenze zurückgeschickt wurde und in einem Flüchtlingscamp landete.

Aus der „Frankfurter Rundschau“ vom 19. Juni 2023: „Immer häufiger werden an der griechisch-türkischen Grenze sogenannte Pushbacks durch kriminelle Gruppen durchgeführt. Schutzsuchende werden von griechischen Sicherheitskräften festgenommen und dann an bewaffnete Männer übergeben. Diese bringen die Betroffenen dann meistens an den Grenzfluss Evros und schicken sie mit einem Schlauchboot zurück auf die türkische Seite. Zuvor werden den Männern und Frauen sämtliche Wertgegenstände und Mobiltelefone weggenommen. Den Geflüchteten wird das Recht auf Schutz verwehrt, auch einen Antrag auf Asyl dürfen die Menschen nicht stellen. Betroffene berichten auch immer wieder von Gewalt durch die maskierten Männer. Nicht selten werden Frauen vergewaltigt.“

Drei Monate lang verbrachte Halime in diesem Flüchtlingscamp in der Nähe von Athen. Auch von dieser Zeit weiss ich erst wenig und lese im Internet nach…

„Meist sind es leere Container“, berichtete die „Deutsche Welle“ am 3. Februar 2023, „manchmal gibt es nicht einmal Matratzen. Die Essenszuteilung erfolgt nach willkürlichen Vorgaben des Aufsichtspersonals, je nach Menge der vorhandenen Lebensmittel und der Zahl der Schutzsuchenden, die von Tag zu Tag erheblich schwanken kann. Wer Pech hat und nicht auf der jeweiligen Tagesliste aufgeführt ist, bekommt die Reste, wenn alle anderen im Camp ihr Essen bereits bekommen haben. Meist sind die Mahlzeiten kaum geniessbar. Am schlimmsten aber ist die ständige Unsicherheit und das oft wochenlange Warten auf den Asylentscheid. Da die Türkei mittlerweile durch die EU als sicheres Herkunftsland eingestuft wurde, ist die Gefahr gross, wieder dorthin zurückgeschafft zu werden.“

Zu ihrer grossen Erleichterung wurde nach dem Ablauf der drei Monate ihrem Antrag auf Asyl in Griechenland zugestimmt, die zermürbende Ungewissheit hatte ein Ende. Mit viel Glück, da Ausweiskontrollen am Athener Flughafen nur stichprobenweise erfolgen, konnte sie nach Stockholm fliegen und sich dort bei ihrem Bruder während vier Wochen von den jahrelangen Strapazen ein klein wenig erholen. Dann zog es sie in die Schweiz, zu ihrer Schwester Ela und ihrem Schwager Amin, die sie vor sechs Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, und zu ihren Neffen Baran und Aziz, die sie überhaupt noch nie gesehen hatte.

4. September, Mittwoch. Was für Glücksgefühle! Halime schäkert mit den beiden Buben, küsst sie auf die Ohren und auf die Nasen, drückt sie immer wieder ganz fest an sich, und immer wieder lacht sie mit Ela und Amin aus vollem Herzen, jedes Mal, wenn Amin, der Witzbold, wieder etwas Lustiges gesagt hat, wovon ich natürlich kein einziges Wort verstehe, aber es muss schon sehr, sehr lustig sein, denn auch die beiden Buben kugeln sich immer wieder vor Lachen. Was für eine Lebenskraft muss in dieser jungen Frau stecken, die während mindestens acht Jahren – über ihre Kindheit weiss ich ja erst recht noch rein gar nichts – so viel Schreckliches erlebt hat, so viele schlaflose Nächte vor Angst, so viele Verletzungen in ihrem Körper und in ihrer Seele, so viele Tage, an denen sie kaum etwas zu essen hatte, und alles andere, was noch so viel schlimmer gewesen sein muss, dass sie jetzt nicht einmal ihrer Schwester etwas davon erzählen möchte. Was für eine Lebenskraft dies allem zum Trotz, dass sie jetzt so herzhaft lachen und so liebevoll mit den beiden Buben umgehen kann, als hätte sie die glücklichste Kindheit gehabt, die man sich nur vorstellen kann.

5. September, Donnerstag. Nach dem glücklichen Wiedersehen nach so vielen Jahren hat uns auf einen Schlag die Realität knallhart wieder zu Boden geworfen. Denn Halime kann ja höchstwahrscheinlich nicht einfach hier in der Schweiz bei ihren Familienangehörigen bleiben, was verständlicherweise ihr allergrösster Traum wäre. „Dublin-Abkommen“, zischt wie ein greller Blitz durch meine Gedanken. Ein Wort, das so harmlos klingt. Aber konkret bedeutet es, dass Asylsuchende in dem Land bleiben müssen, in dem sie zum ersten Mal einen Schutzstatus bzw. eine Aufenthaltsbewilligung bekommen haben. Beantragen sie in einem anderen Land Asyl, wird aufgrund ihrer Fingerabdrücke mithilfe eines gesamteuropäischen Computersystems in Sekundenschnelle festgestellt, ob sie nicht schon in einem anderen Land einen positiven Asylentscheid haben. Wenn ja, können sie entweder freiwillig dorthin gehen oder werden dorthin ausgeschafft…

Griechenland ist, wie alle wissen, die sich nur einigermassen im europäischen Asylwesen auskennen, das mit Abstand berüchtigste Land. Jegliche finanzielle Unterstützung für Flüchtlinge endet im Moment der Statusgewährung automatisch. 30 Tage nach der Anerkennung des Schutzstatus verlieren die Betroffenen auch ihren bisherigen Unterbringungsplatz, wenn sie denn überhaupt einen hatten. Anschlusslösungen gibt es nicht. Die Schutzberechtigten müssen sich ohne staatliche Hilfe auf dem freien Wohnungsmarkt selber zurechtfinden. Erst wenn sie eine Wohnung haben, erhalten sie eine Sozialversicherungsnummer, welche sie zum Bezug einer knappstens bemessenen Überlebenshilfe berechtigt. Auch bei der Arbeitssuche sind sie voll und ganz auf sich selber gestellt. Und Zugang zur Gesundheitsversorgung erhalten sie ebenfalls erst nach dem Vorlegen zahlreicher Dokumente, über welche die meisten gar nicht verfügen. Aufgrund aller dieser kaum überwindbaren Hürden sind unzählige Flüchtlinge, auch wenn sie über einen offiziellen Schutzstatus verfügen, obdachlos, werden zu Opfern von Menschenhändlern oder landen in der Prostitution.

In der folgenden Nacht kann ich nicht schlafen. Unentwegt sehe ich Halime vor mir, wie sie am Flughafen von Athen ankommt, ohne Geld, mit einem kleinen Koffer und ihren paar wenigen Habseligkeiten, ohne die geringsten Kenntnisse der Landessprache, ohne auch nur einen einzigen Menschen, der ihr hilft. Ich sehe sie schon irgendwo in einer dunklen Strassenecke liegen, todmüde, hungrig, frierend, und wie ein bulliger Mann auf sie zukommt, sie packt, in sein Auto zerrt und später einem anderen bulligen Mann vor die Füsse wirft, der diese wunderschöne junge Frau, diese Blume mitten in der Nacht, zerreissen und in kurzer Zeit zu einem Wrack machen wird. Mir ist, als würde mir das Herz aus dem Leibe gerissen. Einen Moment lang denke ich, wenn ich jetzt nur sterben könnte, um dieses Bild nicht ertragen zu müssen.

Auch in den folgenden Tagen beschäftigt mich Halimes Schicksal so tief, dass ich mich kaum mehr auf die alltäglichen Dinge konzentrieren kann. Ich vergesse den Geburtstag eines lieben Freundes. Es klingelt an der Tür und da steht eine Bekannte, mit der ich abgemacht, es aber komplett vergessen hatte. Ich verwechsle die Wochentage. Plötzlich sehe ich eine Zeitung, die ich vor drei Tagen irgendwo hingelegt und noch gar nicht gelesen habe. Am Billettautomat löse ich ein Ticket, bezahle es, aber im Zug, als die Billettkontrolle kommt und ich mein Portemonnaie öffne, ist es leer – mein Ticket liegt wahrscheinlich jetzt noch in diesem Automaten…

7. September, Samstag. Heute ist Aziz zwei Jahre alt. Sie haben mir gesagt, ich solle oben im Büro warten, sie rufen mich dann, wenn es so weit ist. Und als ich dann kurz darauf gerufen werde und das Wohnzimmer betrete, verschlägt es mir fast den Atem. Meine Frau und ich hatten ja auch, als unsere eigenen Kinder noch klein waren, an Geburtstagen jeweils das Wohnzimmer festlich dekoriert. Aber so etwas habe ich noch nie gesehen. Die ganze Decke hängt voller Ballone, die Fenster sind mit Silberfäden behangen, mitten im Raum ragt ein über einen Meter hoher goldener Ballon in Form einer Zwei in die Höhe, auf dem Tisch glitzert Flitter und mehrere Schüsseln sind mit vielen kleinen, selber gebackenen Küchlein gefüllt. Und mittendrin Halime, in einem langen Festkleid voller Blumenmuster, das sie sich wahrscheinlich von Ela geliehen hat. Und wieder dieses wundervolle Lachen, das alles durchdringt und bis ganz tief in die Seele geht. Sie scheint diese wunderbare Gabe zu besitzen, wie ein Kind voll und ganz nur im Augenblick zu leben und alles, aber auch alles auszublenden, was vorher gewesen ist und was nachher sein wird. Ja, vielleicht ist sie ja noch immer dieses Kind ihrer allerersten Lebenszeit, weil ja alles andere, alles, was später kam, gar kein wirkliches Leben war oder nichts von dem, was man sich normalerweise darunter vorstellt.

Die nächste Nacht ist fast noch schlimmer. Jetzt sehe ich sie nicht nur an einem Strassenrand als Opfer eines Menschenhändlers irgendwo inmitten von Athen. Jetzt sehe ich sie gleichzeitig als ein vollkommenes, an Schönheit nicht zu übertreffendes Geschenk des Himmels. Sie könnte hier, bei uns, zusammen mit ihren Liebsten, ein Leben führen wie im Paradies. Und gleichzeitig könnte sie von einem stockbesoffenen Freier im Hinterhof einer griechischen Kneipe halb zu Tode geprügelt werden und wäre mitten in der Hölle.

8. September, Sonntag. Das Wochenende war die reinste Tortur, weil wir untätig warten mussten. Manchmal lacht Halime in ihrer vollkommenen inneren und äusseren Schönheit durch das ganze Haus. Dann aber wieder sitzt sie irgendwo vor einem offenen Fenster und starrt mit tieftraurigem Blick ins Leere hinaus. Was wohl in diesen Augenblicken in ihr vorgeht? Das Beste an diesem Tag ist noch, dass ein plötzlicher heftiger Südwind das Plakat mit dem Bunkermann auf der anderen Seite der Strasse weggerissen und weit fort geblasen hat.

9. September, Montag. Endlich. Ich erreiche telefonisch die Auskunftsstelle des HEKS, Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz. Und innerhalb weniger Minuten fällt mir wohl der schwerste Stein vom Herzen, der jemals dort gelegen hatte. Als alleinstehende Frau, die schon in jungen Jahren so viel Gewalt erfahren musste und eine so unvorstellbare Leidensgeschichte hinter sich hat, ist die Chance gross, dass Halime, trotz des griechischen Schutzstatus, in der Schweiz eine F-Bewilligung für eine befristete Aufenthaltsbewilligung bekommen kann, die sich später in eine definitive Aufenthaltsbewilligung umwandeln lässt. Nach dem Telefonat muss ich minutenlang weinen vor Glück.

Als ich ihr die gute Nachricht überbringe, kann sie es im ersten Moment gar nicht glauben. Noch sieht sie wahrscheinlich in solchen Momenten, wenn sie alles immer wieder einholt, nur lauter riesige, schwarze Wände rund um sich. Wahrscheinlich genügt dann nur schon der winzigste Rest von Zweifel, um nicht allzu viel Hoffnung aufkommen zu lassen, die sich dann ohnehin wieder als reine Illusion entpuppen könnte. Mir wird bewusst, wie zerbrechlich diese Blume noch ist und wie viele gute Erlebnisse und Erfahrungen es noch brauchen wird, damit der Boden unter ihren Füssen allmählich wieder fester werden kann. Denn mindestens 18 Jahre lang zwischen der Kindheit und dem Ankommen im Erwachsenenalter, welches die schönste Zeit des Lebens hätte sein können, hat sie nur eines erfahren: Dass sie nicht willkommen ist, nicht im Hause ihres Mannes, nicht in dem Land, wo sie geboren wurde, nicht im Iran, nicht in der Türkei, nicht in Griechenland und nicht einmal in der Schweiz, wo jetzt wieder an allen Ecken und Enden diese Plakate hängen und aus allen Rohren gegen alles geschossen wird, was mit „Ausländischem“ oder „Fremdem“ zu tun hat. Das Einzige, was sie bis jetzt gehört hat: Geh fort, wir brauchen dich nicht, wir wollen dich nicht, für dich gibt es keinen Platz in dieser Welt.

15. September, Sonntag. Über Nacht ist es bitterkalt geworden, laut Wetterbericht der grösste Temperatursturz seit 30 Jahren. Heute werden wir eine Vorstellung in dem kleinen Zirkus besuchen, der wie durch einen glücklichen Zufall diese Woche in unserer Stadt gastiert. Auf dem Weg dorthin fällt mir auf, dass Halime trotz der Kälte nur ein dünnes Jäckchen trägt. Eine Winterjacke hat sie nicht. Wir werden so schnell wie möglich etwas besorgen müssen…

Und dann, der magische Moment, in dem Amin, Ela, Halime und die beiden Buben das Zirkuszelt betreten. Es ist das allererste Mal in ihrem Leben, dass sie einen Zirkus besuchen und in eine Welt eintauchen werden, von der sie bisher höchstens so viel mitbekommen haben wie von irgendeinem Märchen aus tausend und einer Nacht. Als wir in der Loge sitzen und es zuerst ganz dunkel wird, bis die Musik beginnt, von allen Seiten Scheinwerfer aufleuchten und die erste Akrobatin in ihrem Glitzerkleid die Manege betritt, beginnen für mich zwei Stunden, die ich ganz gewiss in meinem ganzen Leben nie mehr vergessen werde, so schön ist es, die Freude, die Begeisterung, das Lachen und die weit offenen, staunenden und strahlenden Augen von fünf Menschen mitzuerleben, die zum ersten Mal in ihrem Leben in einem richtigen Zirkus sind. Wenn jetzt eine Fee käme und ich könnte mir drei Dinge wünschen, dann würde ich mir drei Mal genau das Gleiche wünschen: Dass alles Geld, welches heute noch für Kreuzfahrtschiffe, Opernhäuser, Luxushotels, Weltraumraketen oder, noch viel, viel schlimmer, für Raketen, Bomben und Kampfflugzeuge verschleudert wird, dafür verwendet wird, dass es in jedem Land auf der Welt so viele und so schöne Zirkusse gibt, dass ein jedes Kind mit seinen Eltern, egal ob in Norwegen, Äthiopien, Neuseeland, Bangladesch oder Mexiko, das erleben dürfte, was Amin, Ela, Halime, Baran und Aziz an diesem Sonntagmorgen in unserer kleinen Stadt in dem kleinen Zirkuszelt erleben durften.

Morgen werden Ela und ich Halime ins Aufnahmezentrum für Asylsuchende begleiten. Zaco aus Pristina, der selber einmal ein Flüchtlingskind war und heute im Asylwesen tätig ist, hat uns noch ein paar wertvolle Tipps mit auf den Weg gegeben: Halime müsse offen über alles reden, was sie erlebt hat und auch vor Unangenehmem nicht zurückschrecken, denn genau das sei oft das Problem, dass sich Frauen für das schämen, was ihnen angetan wurde, lieber darüber schweigen und dann so in den Befragungen nicht die ganze Tragik ihrer Lebensgeschichte sichtbar wird. Weiters sollten wir unbedingt darauf drängen, dass in der Befragung durch Hilfswerke und Migrationsamt sowie vor allem beim Übersetzen vom Persischen ins Deutsche ausschliesslich Frauen diese Aufgaben wahrnehmen. Dies alles könnte entscheidend sein für einen positiven Asylentscheid. Die Verbindung zu Zaco hat mir Medina verschafft, eine langjährige gute Freundin, selber mit Migrationshintergrund, die mir schon von Beginn an, als Amin zum ersten Mal mein Haus betrat und Ela und die Kinder noch im Iran auf ihre Ausreisepapiere warteten, ihre bedingungslose Unterstützung angeboten hatte. Was für Sterne in so dunklen Zeiten.

Ein Bekannter meinte, das wäre ja alles gut und recht. Aber ob ich nicht auch schon daran gedacht hätte, dass Amin, Ela, Baran, Aziz und Halime ja nicht die Einzigen sind mit einer solchen Lebensgeschichte und man ja eigentlich allen helfen müsste und nicht nur ein paar wenigen „Glückspilzen“. Natürlich weiss ich das. Natürlich weiss ich, dass es weltweit Millionen von Amins und Halimes gibt, auf die jetzt gerade an irgendeiner Grenze Bluthunde gehetzt werden und denen tausendfach um die Ohren gebrüllt wird, dass sie nicht willkommen sind, weder hier noch dort noch anderswo. Aber das kann doch nicht Anlass dafür sein, dass ich mich nicht jetzt gerade mit aller Zeit und Energie, die mir zur Verfügung stehen, dafür einsetzen werde, dass Halime in der Schweiz bleiben kann, inmitten von Menschen, die sie gernhaben, und ihr Leben nicht in irgendeinem griechischen Strassengraben viel, viel zu früh enden muss.

Denn, wie es die deutsche Historikerin und Autorin Dagmar Fohl so wunderschön gesagt hat: „Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.“

Wenn du wissen möchtest, wie diese Geschichte angefangen hat und wie sie weitergeht, dann schreibe doch bitte eine Email mit dem Stichwort „Afghanistan“ an: info@petersutter.ch. Dann bekommst du die bisherigen und die zukünftig erscheinenden Artikel und Infos.

Beispiellose Hexenjagd gegen eine unbequeme junge Frau, die niemandem etwas zuleide getan hat: 40’000 Menschenleben darf man zerstören, ein Papierbild nicht…

Wenn Sanija Ameti, Co-Präsidentin der schweizerischen Operation „Libero“, mit ihrer Sportpistole gezielt auf ein Bild von Maria und Josef geschossen hätte, wäre das zugegebenermassen eine ziemlich derbe Geschmacklosigkeit gewesen. Aber wahrscheinlich war es ja nicht einmal das, sondern ganz einfach ein dummes Mischgeschick, ein zufällig aus einem Kunstkatalog herausgerissenes Bild. Und selbst wenn sie es bewusst gemacht hätte: Dumm und unüberlegt, aber sie hat damit keinem einzigen Menschen etwas zuleide getan. Wenn Anna Wanner im „Tagblatt“ vom 10. Dezember 2024 schreibt: „Und jetzt die Schüsse auf Jesus“, so ist das eine fahrlässige Verzerrung der Realität. Sie hat nicht auf Jesus geschossen, sondern auf ein Bild von Jesus. Und das ist doch ein wesentlicher oder sogar der entscheidende Unterschied. Zudem hat sie sich für diesen Fehler sofort entschuldigt und sogar dem Bischof von Chur einen Brief geschrieben, er möge ihr verzeihen. Auch ist sie alles andere als eine fanatische Religionsanhängerin, sondern, ganz im Gegenteil, eine bekennende Atheistin und hat sich auch noch nie zu Religionsfragen öffentlich geäussert. „Eigentlich“, so die „Republik“ am 11. September, „hat sie alles richtig gemacht. Wann hat das letzte Mal jemand in der Schweizer Politik so schnell, so bedingungslos und ohne jegliche Relativierung einen Fehler zugegeben? In dieser Hinsicht verdient sie nicht Ausschluss und Häme, sondern Respekt und Grossmut.“

Dennoch waren die Reaktionen erbarmungslos. Innerhalb eines Tages verlor Sanija Ameti ihren Job als Co-Chefin der Operation „Libero“ und ihre Stelle bei der PR-Agentur Farner, musste aus der kantonalen Parteileitung austreten und sieht sich jetzt mit einem Ausschlussverfahren ihrer Mutterpartei, der GLP, konfrontiert.

Aber noch viel schlimmer ist die Welle des Hasses, die über sie hereinbrach: Innerhalb kürzester Zeit erhielt sie auf ihrem Post über 3000 fast ausschliesslich negative, vielfach islamophobe Kommentare. Die Junge SVP verglich sie mit einer „islamischen Terroristin“ und reichte gegen sie eine Strafanzeige wegen „Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit“ ein. Ex-SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli versuchte ebenfalls einen Zusammenhang zu konstruieren zwischen Sanija Ameti und islamistischen Anschlägen. Nicolas Rimoldi bezeichnete sie als „feindliche Agentin“, die „böswillig unsere Heimat zersetzen“ wolle, und als „fremde Invasorin“, die „deportiert werden“ müsse. Die „Junge Tat“ schrieb: „Raus mit diesem Albanerweib!“. Und die „NZZ“: „Eine Grünliberale, die als schiessfreudige Muslimin die Gefühle von Christen beleidigt, ist das Letzte, was die GLP benötigen kann.“ Sogar der Vizechef der deutschen Afd-Jugendorganisation mischte sich ein und fand, Ameti habe „weder bei uns noch in der Schweiz etwas verloren“. Ein rechtsgerichtetes österreichisches Onlinemagazin verbreitete die Lüge, Ameti habe in ihrem Post geschrieben: „Tötet Maria und Josef!“. Und der russische Propagandasender RT veröffentlichte einen Kommentar, in dem Ameti eine „Kugel in den Kopf“ gewünscht wird. „Es erinnert“, so Peter Blunschi auf „Watson“, „an eine mittelalterliche Hexenjagd. Es ist unerträglich, dass man sie als moderne Hexe auf dem virtuellen Scheiterhaufen verbrennt. Immerhin bittet sie um Vergebung, was doch guter christlicher Tradition entspricht.“ Und der Kommunikationsexperte David Schaerer lässt im „Tagesanzeiger“ vom 11. September verlauten, er habe“noch nie erlebt, dass jemand öffentlich so fertiggemacht, so vernichtet wurde.“

Umso verwerflicher und scheinheiliger ist das alles, wenn man bedenkt, dass ausgerechnet die SVP, welche hier wieder einmal an vorderster Front Feindbilder schürt und mit total verzerrten Schuldzuweisungen um sich wirft, genau jene politische Kraft ist, die sich in diesen Tagen im Nationalrat mit der Forderung durchgesetzt hat, dass die Schweiz dem palästinensischen Hilfswerk UNRWA zukünftig kein Geld mehr zur Verfügung stellen soll, und dies, obwohl sämtliche Länder der Welt ausser den USA aufgrund eines Expertenberichts, der die Vorwürfe der israelischen Regierung gegenüber der UNRWA weitgehend als unbegründet befunden hat, ihre Zahlungen an die UNRWA inzwischen wieder aufgenommen haben, selbst Deutschland, das sich noch am längsten um einen Entscheid gedrückt hatte. Sie alle wissen nur zu gut, dass sich ohne diese Zahlungen an die UNRWA schon in naher Zukunft eine humanitäre Katastrophe ungeahnten Ausmasses anzubahnen droht. „Die Lage im Gazastreifen“, so der Zürcher SP-Gemeinderat Severin Meier, der mittels eines Postulats an den Stadtrat die Auszahlung von UNRWA-Geldern durch die Stadt Zürich erwirken möchte, „ist verheerend: 81 Prozent der Haushalte haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, 1,1 Millionen Menschen haben ihre Essensvorräte aufgebraucht, eine Hungersnot steht kurz bevor.“ Nicolas Walder, grüner Aussenpolitiker, gibt zu bedenken, dass im Gazastreifen keine andere Organisation vorhanden ist, welche die Aufgaben der UNRWA übernehmen könnte: „Die UNRWA bleibt die tragende Säule der humanitären Hilfe in Gaza. Fällt die UNRWA weg, würde dies zu einem Zusammenbruch des gesamten humanitären Systems in Gaza führen.“ Und Philippe Lazzarini, Schweizer Diplomat und seit mehreren Jahren Chef der UNRWA, erklärte bereits am 28. März 2024 in einem Interview mit der “Wochenzeitung”: “Was wir heute in Gaza beschreiben müssen, ist eine drohende Hungersnot, die absolut unfassbar ist. Mehr als eine Million Menschen befinden sich in einer katastrophalen, akuten Hungersituation. Wo bleibt die Weltempörung? Es ist, als ob wir der Tragödie, die sich vor unseren Augen abspielt, fast völlig unbeteiligt zusehen würden. Die Hungersnot könnte zwar noch abgewendet werden. Doch dazu müssten wir den Gazastreifen mit Nahrungsmitteln überschwemmen. Als ich letzte Woche nach Gaza einreisen wollte, wurde ich von den israelischen Behörden ohne jegliche Begründung daran gehindert. Die Anschuldigungen gegen die UNRWA-Mitarbeitenden haben sich bis heute nicht bewahrheitet. Es läuft eine unabhängige Untersuchung zu diesem Vorwurf, aber bislang haben weder Israel noch andere Staaten Beweise vorgelegt – obwohl sie dazu aufgerufen wurden. Ich bin überrascht, wie sehr Anschuldigungen und Behauptungen für bare Münze genommen werden.” Doch die Nachricht von der endgültigen Sperrung des Schweizer Beitrags an die UNRWA mitsamt all ihren verheerenden Folgen ging im Getöse des Vernichtungsfeldzugs gegen Sanija Ameti komplett unter. Würde man hundert Schweizerinnen und Schweizer befragen, ob sie diese Nachricht mitbekommen hätten, gäbe es vermutlich nur ein paar vereinzelte, welche diese Frage bejahen würden.

Besonders brisant ist, dass die SVP als treibende Kraft für die Blockierung des Schweizer Beitrags an die UNRWA sich nicht zu schade war, ihre gesamte Argumentation im Nationalrat auf einen einzigen, von einem Genfer Büro aus agierenden kanadischen Anwalt abzustützen, nämlich Hilel Neuer, der seit Jahren alles daran setzt, sein Publikum auf eine Zerschlagung der UNRWA einzuschwören. Der SVP gelang es auf diese Weise, dieser einzelnen Stimme mehr Gewicht zu verleihen als dem langjährigen Leiter der UNRWA, sämtlichen Vertreterinnen und Vertretern schweizerischer Hilfswerke und Menschenrechtsorganisationen sowie einer von 45’000 Schweizerinnen und Schweizer unterzeichneten Petition, welche die Weiterführung der Zahlungen an die UNRWA forderte. Ausgerechnet für die SVP, welche sich sonst stets mit lautestem Geschrei gegen jegliche Einmischung von aussen wehrt, scheint also die Stimme eines einzelnen kanadischen Anwalts ausschlaggebender zu sein als die Stimmen des Schweizer UNRWA-Chefs, zahlloser Schweizer Hilfswerke und weiterer Organisationen sowie den Stimmen von 45’000 Bürgerinnen und Bürger ihres eigenen Landes. Noch viel brisanter und noch viel unglaublicher und erschreckender aber ist, dass sich genügend weitere Parlamentarierinnen und Parlamentarier anderer bürgerlicher Parteien vor diesen Karren spannen liessen und die Schweiz nun somit, abgesehen von den USA, das einzige Land der Welt ist, das sich für eine vorauszusehende humanitäre Katastrophe mit Hunderttausenden, wenn nicht Millionen von Opfern verantwortlich erklären muss. Das Land, das einmal als Hort der Menschenrechte, der Humanität und der Friedensförderung galt und in der gegenwärtig auch noch das Letzte kaputt zu gehen droht, was an diese Zeit erinnert. „Eines der reichsten Länder der Welt“, schreibt die „Wochenzeitung“ am 12. September, „ist nicht bereit, auch nur einen Rappen an eine international anerkannte und als unverzichtbar beschriebene Organisation zu spenden, um das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung wenigstens rudimentär zu mildern.“

In totalem Gegensatz zur Schiessübung von Sanija Ameti wurden im Gazastreifen seit dem vergangenen Oktober nicht etwa Papierbilder zerstört, sondern das reale Leben von über 40’000 Kindern, Frauen und Männern, von denen höchstwahrscheinlich weit über 99 Prozent nicht das Geringste mit dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 zu tun hatten, weitere rund 100’000 wurden verletzt und eine Vielzahl von Spitälern, Schulen, Universitäten, Bibliotheken und Museen wurden dem Erdboden gleichgemacht, ohne dass dies bei jenen politischen Kräften, die nun am heftigsten über Sanija Ameti herfallen, auch nur eine annähernd so grosse Empörung ausgelöst hätte. Und nicht einmal die Tatsache, dass nun infolge der Sperrung des UNRWA-Beitrags weitere Abertausende Unschuldige von baldigem Hungertod betroffen sein könnten, erregt auch nur ansatzweise so viel Empörung, nicht einmal bei all denen, die sich ganz und gar nicht als Anhängerinnen oder Anhänger der SVP oder der anderen, ins gleiche Horn blasenden bürgerlichen Politikerinnen und Politiker verstehen. Fazit: Menschen darf man zerstören, Papierbilder nicht.

Zerstört wird hingegen jetzt auch das Leben einer jungen, unangepassten, vielleicht manchmal etwas aufmüpfigen Frau, die immerhin viel frischen Wind in die oft allzu starre und festgefahrene Schweizer Politlandschaft gebracht hatte und keinem Menschen je irgendeinen Schaden zugefügt hat. Während die israelische Regierung unter Präsident Netanyahu ihr Tötungswerk ungehindert und in aller Ruhe weiterführen kann und die mächtigsten Politiker des Westens dies sogar mit einem nicht mehr zu überbietenden Zynismus damit rechtfertigen, dass es hierbei um die Verteidigung westlicher Werte wie Menschenrechte, Meinungsfreiheit oder Demokratie gehe. In was für einer verrückten Zeit leben wir eigentlich und um noch wie viel verrückter ist, dass wir diese Verrücktheit offensichtlich nicht einmal mehr als solche wahrzunehmen vermögen?

Abstimmung über die Pensionskassenreform: Scheingefechte, um von der eigentlichen Grundsatzfrage abzulenken…

„Knapp einen Monat vor der Abstimmung über die Pensionskassenreform“, schreibt der „Tagesanzeiger“ am 28. August 2024, „streiten sich Befürworter und Gegner über die Auswirkungen der Vorlage.“ Das Ja-Komitee verkaufe die Reform als Gewinn, insbesondere für Geringverdienende und Frauen. Die Linke widerspreche dieser Behauptung: Aus ihrer Sicht wären bei einem Ja mehr Menschen von Rentenverlusten betroffen, als von den Befürwortern berechnet worden sei. Die Stimmbevölkerung werde mit „realitätsfernen“ und „beschönigenden“ Zahlen in die Irre geführt, so Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB. Gemäss eigenen Berechnungen führe die Senkung des Umwandlungssatzes bereits für Löhne über 4000 Franken zu sinkenden BVG-Renten. Zudem treffe entgegen anderslautenden Behauptungen die Reform auch die Pensionierten selber, denn bei einer Annahme der Vorlage müssten viele Rentnerinnen und Rentner noch länger auf den Teuerungsausgleich warten. Auch seien die Kosten für die Kompensationsmassnahmen vom Bund zu tief geschätzt worden, in den 11,3 Milliarden Franken seien beispielsweise die administrativen Kosten für die Umsetzung der Reform ausgeklammert worden. Indessen wolle der Bund zu diesen Fragen vorläufig keine Stellung nehmen. Das Bundesamt für Statistik (BFS) gäbe lediglich zu bedenken, dass es bei der beruflichen Vorsorge „schwierig“ oder gar „unmöglich“ sei, für die Gesamtheit der Versicherten oder der Versicherungsträger gültige Aussagen zu erhalten, denn das ganze System bestehe aus gegen 1400 Einrichtungen, von denen jede anders sei, eine andere Versicherungsstruktur habe, eine andere Rechtsform, andere Versicherungspläne anbiete, andere angeschlossene Arbeitgeber mit unterschiedlicher Lohnstruktur habe und so weiter.

Doch eigentlich sind das alles Scheingefechte. Sie lenken bloss von der Tatsache ab, dass das schweizerische System der Altersvorsorge von Anfang an eine immense Fehlkonstruktion war und ist. Denken wir uns einmal alles Bestehende weg, dieses ganze komplizierte, intransparente und von so vielen Unwägbarkeiten abhängige Gebilde aus einer ersten, zweiten und dritten Säule mit seinem gewaltigen administrativen Aufwand und all den gegenseitig um möglichst grossen materiellen Nutzen ringenden Playern, dann würden wir am Ende nämlich bei einer ganz simplen Frage angekommen sein: Was sollte das eigentliche Ziel und der eigentliche Sinn einer Altersvorsorge sein?

Dieses Ziel und dieser Sinn müssten doch darin liegen, allen Menschen in diesem Land einen Lebensabend in Würde und materieller Sicherheit zu gewährleisten – so banal dies klingen mag, doch es gibt nichts Wesentliches hinzuzufügen. So einfach es ist, so einfach wäre auch die Lösung: Eine Volkspension, welche diesen Namen tatsächlich verdient. Dann bräuchte es weder eine zweite noch eine dritte Säule, alles Überflüssige an Administration würde wegfallen, es gäbe keinerlei Nutzniesser mehr, die sich auf Kosten anderer bereichern, und buchstäblich jeder Franken, der in diese Volkspension hineinfliessen würde, käme auf der anderen Seite wieder heraus als ein Franken, mit dem sich alle Menschen auch nach ihrer Pensionierung ein möglichst gutes Leben leisten können. Mehr braucht es nicht. Aber auch nicht weniger.

So wie jedes Haus ein Fundament braucht und jeder Baum Wurzeln, ohne die er nicht in die Höhe wachsen könnte, so brauchen auch gesellschaftliche Institutionen, ja letztlich ein ganzes Staatswesen wie auch das gesamte Wirtschaftssystem so etwas wie eine geistige Grundlage, auf der erst alles Einzelne aufbauen kann. Dabei geht es in allererster Linie um das Menschenbild, um die Frage, ob der Mensch von Natur aus „schlecht“ oder „gut“ ist, „faul“ oder „fleissig“, „egoistisch“ oder „sozial“. Dominiert in gesellschaftspolitischen Diskussionen nach wie vor eher ein negatives Menschenbild mit allen daraus resultierenden Folgen für die Gesetzgebung, so setzt sich im Gegensatz dazu, auch in der wissenschaftlichen Forschung, immer mehr die Erkenntnis durch, dass der Mensch von Natur aus ein „gutes“, „mitfühlendes“, „soziales“, nicht nur auf das eigene Wohl bedachtes Wesen ist. Der beste Beweis dafür ist die Art und Weise, wie sich die Kinder in ihren ersten Lebensjahren verhalten und miteinander umgehen. Machtstreben, Konkurrenzkampf, übertriebener Egoismus und Missgunst bilden sich erst nach und nach im Kontakt mit den Normen der kapitalistischen Wertewelt.

Wir können davon ausgehen, dass jeder Mensch willens und bestrebt ist, im Verlaufe seines Lebens das Beste zu geben und seine eigenen, individuellen Begabungen bestmöglich zum Nutzen der gesamten Gesellschaft zu verwirklichen. Doch die äusseren Bedingungen, unter denen dies geschieht, sind höchst unterschiedlich. Je nach sozialer Herkunft, Geschlecht, Sprachkenntnissen, Zugang zu Informationen, persönlichen Beziehungen und vielem mehr klettern die einen leicht und rasch auf der beruflichen und materiellen Karriereleiter in die Höhe, während sich den anderen immer wieder nahezu unüberwindbare Hindernisse in den Weg stellen. Viele haben Glück, viele andere haben Pech. Lebenskrisen, Scheidungen, Burnouts, Unfälle und schwere Krankheiten können selbst die perfektesten Lebenspläne von einem auf den anderen Tag vollständig über den Haufen werfen. Je nach beruflicher Tätigkeit klaffen die Löhne der Gut- und der Schlechtverdienenden bis zum Hundertfachen oder noch weiter auseinander. Frauen leisten häusliche und familiäre Schwerarbeit als grundlegende Basis für das Funktionieren von Gesellschaft und Wirtschaft, ohne einen Rappen Lohn zu bekommen, Manager kassieren schon mehrere tausend Franken, wenn sie nur an irgendeinem Meeting eine Stunde lang auf einem Stuhl sitzen, ohne auch nur eine minimale produktive Arbeit zu leisten.

Man könnte das auch mit einer Reise übers Meer vergleichen. Schon am Land, beim Start, waren die Spiesse höchst ungleich lang. Und erst recht auf der Fahrt selber: Die einen bekommen schon von Anfang an einen Platz auf einem grossen, stark gebauten Passagierdampfer, andere profitieren in eleganten Segelbooten von günstigem Wind und wieder andere müssen sich in winzigen, zerbrechlichen Booten bis zur Erschöpfung durch haushohe Sturmwellen kämpfen. Eines Tages werden sie alle am anderen Ende des Meers an Land gehen, die einen noch fast so frisch und gesund wie bei der Abreise, andere grau und alt geworden und voller Schmerzen in kaputtgearbeiteten Körpern oder mit einem von viel zu viel Stress verbrauchten Herzen, das nur noch kurze Zeit schlagen wird. Sie alle haben 40 oder 50 Jahre lang, die weitaus längste Zeit ihres Lebens, ihr Bestes gegeben, manche vom Glück beflügelt, andere vom Pech verfolgt. Sie haben gegeben, was sie geben konnten, und sie alle haben Aufgaben bewältigt, ohne welche auch alle anderen Aufgaben nicht hätten bewältigt werden können, denn was wäre der Chirurg ohne die Spitalangestellte, die den Operationssaal bis auf den letzten Millimeter sterilisiert, was wäre der Chef einer Grossbäckerei ohne die Arbeiterinnen und Arbeiter, die schon mitten in der Nacht an den Fliessbändern stehen, was wären die Aktionärinnen und Aktionäre eines Immobilienkonzerns ohne die Bauarbeiter, welche bei Wind und Wetter, bei grösster Kälte und in grösster Hitze in schwindelerregender Höhe all die Häuser errichten, aus denen später wieder das Geld in die Taschen jener fliessen wird, die sowieso schon längst viel zu viel davon haben, und was wäre der gutbezahlte IT-Spezialist ohne seine Frau, die jahrelang den Haushalt besorgte und die Kinder aufzog, ohne dafür Geld zu bekommen, und die jetzt, nachdem er sich von ihr scheiden liess, mit einem kargen Lohn als Verkäuferin irgendwie zurecht kommen muss. Jetzt, wo sie alle das Ziel erreicht haben, wäre doch allerspätestens der Zeitpunkt gekommen, da alle, die von der Arbeit anderer profitiert haben, diesen unendlich dankbar sein müssten. Jetzt wäre doch allerspätestens der Zeitpunkt gekommen, all das, was gemeinsam erarbeitet, erwirtschaftet und an Reichtum aufgeschichtet wurde, in einen grossen gemeinsamen Topf zu werfen und gleichmässig unter alle zu verteilen.

Aber nein. Genau das Gegenteil. Ausgerechnet die, welche schon vor der Abreise benachteiligt waren und auf der Fahrt selber erst recht, werden jetzt noch einmal, zum letzten Mal, zur Seite geschoben und müssen mit einer Altersrente zurecht kommen, die nicht einmal oder höchstens nur ganz knapp zum Allernötigsten reicht. Und ausgerechnet die, welche schon vor der Abreise und erst recht auf der Fahrt selber am meisten Glück hatten, können sich jetzt, dank des aufgehäuften Geldes in der zweiten und dritten Säule, jeglichen Luxus leisten, im Kreuzfahrtschiff rund um die Welt reisen, in jedem beliebigen Luxusrestaurant speisen und in jedem noch so teuren Hotel nächtigen. Dass es schon vor der Abreise und auf der Fahrt keine Gerechtigkeit gab, ist bitter genug. Aber dass auch noch der Lebensabend, die letzte verbliebene Zeit vor dem endgültigen Abschiednehmen, nichts anderes ist als die Fortführung aller bereits erlittenen Ungerechtigkeiten, ist nun wirklich das Alleräusserste an Menschenfeindlichkeit. Denn es müsste nicht sein, es liesse sich vermeiden.

Es wäre so logisch, so gerecht und zugleich so einfach: Eine durch Steuern finanzierte Volkspension, die sich für alle auf den genau gleichen Betrag beläuft, gänzlich unabhängig davon, auf welche Weise sie die Reise übers Meer bewältigt hatten, wie viele oder wie wenige Hindernisse sie überwinden mussten und ob sie ihre Arbeit an einem Computer, an einer Supermarktkasse oder in den städtischen Abwasserschächten erledigt hatten. Wenn etwas noch logischer und folgerichtiger wäre als eine Einheitsrente, dann wäre es höchstens eine in der Weise abgestufte Rente, dass jene, die am härtesten arbeiten mussten und am wenigstens verdienen, nun eigentlich, sozusagen als Belohnung oder Wiedergutmachung, eine höhere Rente bekommen müssten als andere.

Nur schon die dadurch bewirkte immense Reduktion all jener unzähligen Gelder, die heute für die Aufrechterhaltung eines immer komplizierten und aufwendigeren Rentensystems verschwendet werden, wäre schon ein schlagendes Argument dafür, würde man doch gleichzeitig mit der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit immense Kosten einsparen. Zukunftsmusik, ich weiss. Aber hie und da sollte man auch wieder mal den Mut haben, gross zu denken, damit wenigstens wieder ein ganz klein bisschen mehr Menschlichkeit möglich werden kann und man sich nicht bloss in solchen Scheindiskussionen verliert, wie sie nun im Vorfeld zur Abstimmung über eine Pensionskassenreform stattfindet, von der niemand ganz genau sagen kann, wie viel oder wie wenig sie tatsächlich bringen würde.

Zweiter Teil der Geschichte von Amin, Ela, Baran und Aziz: Spaghetti im Spielzeugauto, eine dunkelrote Rose und ein Festmahl um zwei Uhr nachts…

In den drei Monaten, seit ich mit Amin, Ela und ihren beiden Buben Baran und Aziz aus Afghanistan zusammenlebe, ist viel geschehen, und fast täglich kommt etwas Neues dazu. Gestern hat sich der viereinhalbjährige Baran den Kopf an einer Bettkante angeschlagen. Der zweijährige Aziz, der für sein älteres Brüderchen alles täte, hat mit seiner Hand, so fest er konnte, auf das Bett geschlagen, um es sozusagen dafür zu bestrafen, dass es Baran weh getan hatte. Dann drückte er seinem Brüderchen zum Trost einen Kuss auf die Wange. Heute haben Baran und Aziz ganz von sich aus die ganze Geschirrspülmaschine ausgeräumt, Baran packte auch schon mal vier Teller zusammen nur mit der einen Hand und ich befürchtete schon einen Scherbenhaufen, doch nichts passierte. Aziz holt immer wieder die Bürste aus dem Putzschrank und fegt damit den Küchenboden. Auch den Staubsauger wollte er holen und am liebsten hätte er wohl das ganze Haus gesaugt, aber der war für ihn einfach noch viel zu schwer. Wunderbar und fast immer friedlich auch, wie die beiden Buben miteinander spielen. Kürzlich haben sie zwei Kissen nebeneinander hingelegt und sich darauf gesetzt, zwischen ihnen ein Bilderbuch, das sie zusammen angeschaut haben. Und ihre Eltern, Amin und Ela: Selten habe ich Eltern gesehen, die so liebevoll, geduldig und verständnisvoll mit ihren Kindern umgehen. Nie fällt ein böses Wort, nie eine barsche Zurechtweisung. Die beiden Buben können die verrücktesten Dinge anstellen, die Spaghetti, statt sie zu essen, in ein Spielzeugauto stopfen, einen Legostein in ein Glas Milch eintauchen, die Papierserviette in tausend klitzekleine Fetzchen zerreissen und sie überallhin verteilen – Amin und Ela finden das mindestens so lustig wie die Kinder und lachen stets mit ihnen mit.

Und dann ist da noch Karim, Elas Onkel, der seit 20 Jahren in München lebt, ein Mensch voller Weisheit, Lebenserfahrung und Humor. Kürzlich war er bei uns auf Besuch. Seit 20 Jahren – Ela war vier Jahre alt, als Karim Afghanistan verliess – hat sie ihn zum ersten Mal wieder gesehen. Mit dabei waren seine beiden Söhne und zwei Schwägerinnen. Um Mitternacht kamen sie an und etwa um zwei Uhr begannen wir zu essen, all die Köstlichkeiten, die Ela etwa drei Stunden lang zuvor gekocht hatte. Vor, während und nach dem Essen wurde geplaudert, gescherzt und gelacht in einer Fülle, wie ich sie in meinem Haus noch nie zuvor erlebt hatte, und das von Menschen, die alle ihre Heimat und zahllose Verwandte und Freunde verloren und auch am eigenen Leib Dinge erlebt haben, die wir uns Schweizerinnen und Schweizer nicht im Entferntesten vorstellen können.

Und auch Milad, Amins Kollege. Über ein Jahr hat er gebraucht, um von Afghanistan in die Schweiz zu kommen, fast alles zu Fuss, war unterwegs zwei Mal im Gefängnis und schleppte auf seinem grossen, starken Rücken einen total erschöpften Mann bei Schneesturm und Eiseskälte über einen 4000 Meter hohen Pass, einen Mann, der ohne Milad heute höchstwahrscheinlich nicht mehr leben würde. Auch Milad wohnt in meiner Stadt und kommt gelegentlich auf Besuch. Ich habe ihm geholfen, einen Job und eine neue Wohnung zu finden und habe ihm ein Fahrrad, das ich nicht mehr brauche, geschenkt. Kürzlich habe ich ihn gesehen, wie er voller Stolz, als wäre er der König von Kabul, durch die Stadt segelte. Seine Dankbarkeit ist grenzenlos. Immer wieder schickt er mir Whatsapps mit dem Symbol der gefalteten Hände und schreibt „Danka“ – was für ein schönes Wort, es tönt für mich so ein bisschen wie eine Mischung aus Deutsch und seiner Muttersprache, dem Persischen. Als wir zusammen eine zur Miete angebotene Wohnung anschauen gingen, brachte er mir zum Dank eine Rose. Eine einzelne tiefrote, fast schwarze Rose, aber sie bedeutete mir mehr als der grösste Blumenstrauss, den ich je bekommen habe.

Wenn ich mir dann aber das Bild vor Augen führe, welches einen „typischen“ Afghanen in den Köpfen der meisten Menschen hierzulande, in fast allen Medien und auf den Plakaten der grössten politischen Partei der Schweiz verkörpert, dann ist das nie ein liebevoller Vater, der mit seinen Kindern auf dem Boden herumkriecht, nie eine Frau, die singt, tanzt und lacht, und schon gar nie ein Kind, das ein anderes liebevoll küsst. Dieser „typische“ Afghane ist fast immer nur ein junger Mann mit einem Messer im Sack, stets darauf aus, anderen etwas zuleide zu tun, ihnen etwas zu klauen, sie zu verletzen oder gar zu töten. Dieses Emporstilisieren einer kleinen Minderheit und deren Instrumentalisierung zu machtpolitischen Profilierungszwecken ist nicht nur eine unerhörte Missachtung jeglicher Objektivität, sondern zugleich eine masslose Beleidigung all jener weitaus viel zahlreicheren Afghaninnen und Afghanen, die, wie Amin, Ela, Baran, Aziz, Karim und Milad, friedlich, respektvoll und dankbar hierzulande leben, aber von den massgeblichen Meinungsmachern so behandelt werden, als gäbe es sie gar nicht. Wie tief muss es so lebenslustige Frauen wie Ela, so liebevolle Väter wie Amin, so mutige und hilfsbereite Männer wie Milad, so weise und fürsorgliche ältere Männer wie Karim und so unglaublich sanfte und liebevolle Kinder wie Baran und Aziz treffen, wenn sie wahrnehmen, dass überall dort, wo man über Menschen aus Afghanistan spricht und sich über sie ein Bild macht, sie selber gar nie vorkommen, sondern immer nur ein paar wenige „Bösewichte“ oder allenfalls noch eine vollverschleierte, in Schwarz gekleidete Frau, die mit 99 Prozent der hierzulande lebenden Afghaninnen auch nicht das Geringste zu tun hat.

Rund 20’000 Afghaninnen und Afghanen leben in der Schweiz. Von diesen 20’000 haben im ersten Halbjahr 2023 – gemäss einer laufend auf der Homepage der SVP veröffentlichten Statistik – ganze zwölf eine Straftat begangen, meistens handelte es sich dabei um Schlägereien zwischen Jugendlichen, zudem gab es zwei Messerattacken, Telefonbetrügereien, einen Mordversuch und einen Mord. Keine dieser Straftaten soll verharmlost oder entschuldigt werden, aber wer nur immer wieder mit solchen Schlagzeilen konfrontiert wird, läuft unweigerlich Gefahr, zu vergessen bzw. auszublenden, dass während diesen sechs Monaten nicht nur zwölf in der Schweiz lebende Afghanen eine Straftat begangen haben, sondern gleichzeitig 19’988 andere Afghaninnen und Afghanen keine einzige Straftat begangen haben. Wohin in letzter Konsequenz eine so einseitige, manipulative Berichterstattung führt, sehen wir in Deutschland, wo bei einem höchstwahrscheinlich ähnlichen Prozentsatz an Straftaten die CDU als wählerstärkste Partei aus populistischen und wahltaktischen Gründen vor rund drei Wochen nicht einmal davor zurückschreckte, einen allgemeinen Aufnahmestopp für Flüchtlinge aus Afghanistan zu fordern.

Kommt dazu, dass sowohl in Deutschland und der Schweiz wie auch in den anderen europäischen Ländern genau in der gleichen Bevölkerungsgruppe, die bei Asylsuchenden besonders stark vertreten ist, ebenfalls die Straftaten und Gewaltdelikte weit über dem Gesamtdurchschnitt liegen, also bei häufig arbeitslosen, armutsgefährdeten Männern mit geringer Schulbildung zwischen 18 und 30 Jahren, wobei bei Flüchtlingen erschwerend dazukommt, dass viele von ihnen bereits selber Gewalt erfahren haben oder durch Verfolgung und Krieg traumatisiert sind, dennoch aber sich in ihrer neuen Lebensumgebung nicht heimisch und nicht willkommen fühlen und auch viel weniger Chancen und Zukunftsperspektiven haben im Vergleich mit der ansässigen Bevölkerung. All das kann erhöhte Gewaltbereitschaft erklären, ohne dass man sie deshalb rechtfertigen muss. Entscheidend ist jedoch, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass Delinquenz grundsätzlich nichts zu tun hat mit der ethnischen Herkunft oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität oder Religion. Unter ähnlichen äusseren Bedingungen würden sich ganz ähnliche Lebensgeschichten entwickeln, ganz unabhängig davon, ob es sich um Menschen aus der Schweiz, Afghanistan, Mexiko oder Marokko handelt. Das Gegenteil zu behaupten, ist nichts anderes als purer Rassismus.

Stünden Gewaltbereitschaft oder andere sozial „unerwünschte“ Verhaltensweisen bzw. „Mentalitäten“ tatsächlich in einem Zusammenhang mit der ethnischen Herkunft, dann wären Baran und Aziz, meine beiden afghanischen Gastkinder – und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie zufälligerweise nur zwei seltene Ausnahmen sind -, nicht so wunderbare Menschen, ebenso wie auch alle anderen Kinder der Welt. Nein, die Gewalt steckt nicht in ihnen, die kommt erst später dazu. Ob ein Kind dereinst als Erwachsener ein Terrorist, ein Mörder oder ein Bankdirektor sein wird, hat nichts mit dem Kind selber und seiner Herkunft zu tun, sondern nur mit der Umgebung und mit den Lebensverhältnissen, in denen es aufwächst.

Aziz, der übermorgen seinen zweiten Geburtstag feiert, nennt mich „Abuda“, ein Wort, das er selber erfunden hat, aber so schön klingt, dass man sich eigentlich nur wundern kann, dass es nicht in irgendeiner Sprache schon längst erfunden wurde. Betrete ich das Haus, höre ich ihn schon „Abuda“ rufen und er springt so schnell die Treppe herunter, dass es mir jedes Mal Angst und Bange wird, er könnte stolpern und über die Stufen hinunterpurzeln. Er lacht mir mit seinen wunderbaren, leuchtenden Augen entgegen, und nimmt mich meistens bei der Hand, um mich irgendwohin zu ziehen, wo ich dann mit ihm spielen soll. Als ich kürzlich zwei Tage fort war, fragte er, wie Amin und Ela mir nachher erzählten, unablässig nach „Abuda“ und jedes Mal, wenn er von der Strasse her eine Stimme hörte, rief er sogleich „Abuda?“. Wenn er ein Brötchen, ein Stück Kuchen oder eine Banane isst, bricht er immer ein winziges Stück davon ab und gibt es mir, ganz so, wie man einen kleinen hungrigen Vogel füttert. Als Ela seinem älteren Bruder eines Abends nach dem Essen liebevoll übers Haar strich, wünschte er sich das ebenso von seiner Mama. Dann bat er sie, auch Amin übers Haar zu streichen. Kaum hatte sie das getan, zeigte er auf mich: Auch Abuda! Diesen Wunsch allerdings konnte ihm nun Ela wirklich nicht erfüllen. Doch in diesem Augenblick dachte ich: Eigentlich ist es ja gar nicht so, dass ich bloss Amin, Ela, Baran und Aziz in die Familie meiner Kinder und Enkelkinder und in mein Haus aufgenommen habe. Eigentlich ist es ja gleichzeitig auch so, dass sie mich in ihre Familie aufgenommen haben und der Kleinste von ihnen dabei so etwas ist wie ein kleiner Brückenbauer, der sich am eifrigsten darum bemüht. Sodass wir uns eigentlich gegenseitig aufgenommen haben und daraus etwas Neues und Grösseres entstanden ist.

Und je länger ich darüber nachdenke, umso mehr wird mir bewusst, was für eine wunderbare Chance das wäre und was für kaum vorstellbare Auswirkungen es hätte, wenn wir überall auf der Welt die Kinder nicht mehr länger daran hindern würden, solche Brücken zwischen den Menschen zu bauen. Lassen wir Erwachsene uns doch alle und überall von den Kindern an die Hand nehmen, schauen wir uns gegenseitig in die Augen um zu sehen, was uns im tiefsten Inneren über alle Grenzen hinweg miteinander verbindet. Lassen wir uns von „Andersartigem“, „Fremdem“ nicht mehr länger abschrecken, sondern berühren und verzaubern. Erzählen wir die vielen guten und schönen Geschichten weiter statt die wenigen schlechten und hässlichen, denn Schlechtes kann man nicht mit Schlechtem zum Verschwinden bringen, sondern nur mit Gutem. Brechen wir, so wie der zweijährige Aziz, von allen unseren Brötchen und Kuchenstücken ein bisschen ab und geben es weiter. Tragen wir Sorge, damit die Rose, die ich von Milad an jenem Samstagnachmittag in St. Gallen bekommen habe, nie mehr verblüht und lassen wir viele weitere Millionen Blumen wachsen überall dort, wo zuvor der Hass, die Gewalt, die fehlende Menschenliebe und der Krieg gewesen waren…

Wenn du wissen möchtest, wie diese Geschichte angefangen hat und wie sie weitergeht, dann schreibe doch bitte eine Email mit dem Stichwort “Afghanistan” an: info@petersutter.ch. Dann bekommst du die bisherigen und die zukünftig erscheinenden Artikel.

Behindert

Wer ist mehr behindert, der Trisomie-21-Bub, der seine Arme und Beine in alle Richtungen verwirft, oder der Bankmanager, der hundert Leute entlässt, ohne ihnen auch nur eine einzige Träne nachzuweinen?

„Grossfamilien“ mit 15 bis 20 Menschen als neues Zukunftsmodell: Damit niemand mehr durch die Maschen fällt…

Die 55jährige Karin hat infolge einer schweren Krankheit und einer nachfolgenden psychischen Krise vor fünf Jahren ihren Job verloren. Sämtliche Versuche, wieder einen Job zu finden, sind gescheitert. Jetzt lebt sie in einer kleinen Mietwohnung am Rande der Stadt. Ausser zu ihrer älteren Schwester, mit der sie sich allerdings schon vor vielen Jahren heillos zerstritten hat, hat sie mit niemandem Kontakt. Ihr einziger treuer Begleiter ist der Alkohol, er spielt in ihrem Leben eine immer dominantere Rolle. Unlängst war sie dermassen betrunken, dass sie zu Boden fiel und nicht mehr aufstehen konnte, sie schaffte es gerade noch, den Notfalldienst zu alarmieren, lag dann zwei Tage und Nächte im Spital, bis sie sich wieder einigermassen auf den Beinen zu halten vermochte. Jeden Morgen denkt sie, dass es eigentlich schöner gewesen wäre, nicht mehr aufzuwachen.

Monika und Heinz sind in der vollen Mitte des Lebens angelangt, da, wo es am turbulentesten ist und die Belastungskurve ihren höchsten Punkt erreicht. Er arbeitet zu hundert Prozent als Rayonchef in einem Warenhaus und schiebt fast jede Woche mindestens fünf Überstunden, sie hat einen 40-Prozent-Job als Zahnarztassistentin. Drei Kinder haben sie: Tom ist drei Jahre alt, Britta sechs und Christa zehn. Jeder Tag ist von früh bis spät auf die Sekunde durchgetaktet, nicht nur für die Eltern, auch für die Kinder, die rund um die Uhr unterwegs sind, von zuhause in die Kita, von der Kita in den Kindergarten oder in die Schule, von der Schule zum Mittagstisch, vom Mittagstisch zur Hausaufgabenhilfe, von der Hausaufgabenhilfe in die Klavierstunde, von der Klavierstunde zur Nachbarin, welche die Kinder betreut, bis die Eltern wieder zuhause sind, um das Essen zu kochen und die Kinder ins Bett zu bringen. Alles andere, Einkaufen, Arztbesuche, Ferienplanung, Abarbeiten von E-Mails, Einzahlungen, Putzen, Gartenarbeiten, Telefonate mit Freunden und Verwandten, Geburtstagspartys, Einladungen, alles muss irgendwo in die kleinen verbliebenen Lücken hineingepresst werden. Ohne dass sowohl Monika wie auch Heinz je ein eigenes Auto hätten, wäre die Bewältigung dieses täglichen Mammutprogramms unvorstellbar. Am Abend wird oft gestritten, die ältere Tochter meint, das käme sicher von dem vielen Stress. Seit drei Monaten wollten Monika und Heinz wenigstens ein einziges Mal an einem Abend gemütlich miteinander auswärts essen gehen, sie haben es nicht geschafft.

Conchita, die gebürtige Mexikanerin, ist vor vierzig Jahren in die Schweiz gekommen, Ruedi folgend, der sich auf einer Südamerikareise unsterblich in sie verliebt hatte. Sie ist mit Leib und Seele eine Familienfrau, Kochen ist ihre grösste Leidenschaft, Singen und Tanzen, Plaudern und Lachen, Partys feiern und einfach das Leben geniessen – sie könnte die glücklichste Frau der Welt sein. Doch seit die Kinder aus dem Haus sind und Ruedi fast immer geschäftlich unterwegs ist, sitzt sie so oft nur noch weinend am Küchentisch und schiebt die eine oder andere angefangene Näharbeit, das eine oder andere begonnene Kreuzworträtsel, den einen oder anderen angefangenen Brief an ihre Schwester nur noch lustlos hin und her. Fast jeden Tag fragt sie sich, wo die Sonne in ihrem Herzen, die früher so stark gebrannt hatte, wohl untergegangen sein könnte.

Amir aus Afghanistan ist vierzehn Jahre alt, seine Eltern leben nicht mehr, von seinen beiden Brüdern hat sich jede Spur verloren. Jetzt liegt er auf einer Matratze im Büro einer früheren Fabrikhalle, die notdürftig in ein Durchgangsheim für unbegleitete jugendliche Asylsuchende umgebaut wurde, zusammen mit 50 anderen Jugendlichen, viele von ihnen ebenfalls aus Afghanistan, andere aus Syrien oder Eritrea. Computerspiele, in denen sich grüne, schwarze und gelbe Männchen gegenseitig abschiessen, sind zurzeit sozusagen sein einziger Lebensinhalt. Ein etwas älterer Junge, der aus der gleichen Gegend stammt wie er, hat ihm erzählt, dass junge heimatlose Menschen wie sie hier, im Land ihrer Träume, von vielen Menschen ganz und gar nicht erwünscht seien und es sogar nicht wenige gäbe, denen es am liebsten wäre, sie wären gar nicht da.

Die 36jährige Andrea kümmert sich seit ihrer Scheidung vor einem halben Jahr alleine um ihren dreieinhalbjährigen Sohn Leon und um den Haushalt. Um über die Runden zu kommen, hat sie zwei Jobs angenommen, einen bei einer Steuerbehörde, den anderen als Hauswartin, dennoch reicht das Geld nur für das Allernotwendigste. Ohne ihre Eltern, die bei der Betreuung ihres Kindes einspringen, würde sie es nicht schaffen. Die pausenlose Mehrfachbelastung setzt ihr dermassen zu, dass ihr schon beim Aufwachen am Morgen schlecht ist und sie jeden Tag nur darauf wartet, bis wieder Abend ist und sie sich ins Bett legen kann. Am meisten leidet sie darunter, dass Leon so oft weint, weil sie so wenig Zeit mit ihm verbringen kann.

Anna, in einem kleinen sizilianischen Bergdorf aufgewachsen und mit ihrem Mann Roberto im Alter von 24 Jahren in die Schweiz gekommen, ist seit einem schweren Verkehrsunfall, bei dem sie im Alter von 54 Jahren auf einem Fussgängerstreifen von einem Lastwagen überfahren wurde und nur mit einer Riesenportion Glück überlebte, zu hundert Prozent pflegebedürftig. Die inneren Verletzungen waren so schwer, dass Anna heute nur noch im Bett liegen kann und rund um die Uhr betreut werden muss. Ein kompliziertes, extra für sie entwickeltes Gerät überwacht pausenlos ihre Körperfunktionen, mindestens einmal pro Stunde muss überprüft werden, ob alles in Ordnung ist. Glücklicherweise haben Anna und Roberto eine so grosse Verwandtschaft, dass man genug Geld zusammenbrachte, damit sich Roberto, der als Maurer gearbeitet hatte, frühzeitig konnte pensionieren lassen. Er wurde zum Vollzeitpfleger. Denn Anna hätte sich niemals vorstellen können, das geliebte Haus zu verlassen und in einem Pflegeheim zu leben. Dieser Wunsch seiner Frau war Roberto heilig. Und so kann er nun sein Haus, wenn er nicht das Leben seiner Frau gefährden will, allerhöchstens für eine Stunde verlassen, und das seit Jahren. Mit Freunden am Abend in einer Kneipe ein Bier trinken, einen kleinen Ausflug übers Wochenende, Boccia spielen oder ins Kino gehen – alles nur noch Erinnerungen an frühere, längst vergangene Zeiten…

Edith und Herbert, sie Lehrerin an einer Oberstufe, er Berufsschullehrer, stecken schon seit einem halben Jahr in einer ganz dicken Ehekrise. Kaum eine Mahlzeit ohne gegenseitige Sticheleien, Vorwürfe und Streit. Erst recht schlimm geworden ist alles, seit sich Amanda, ihre 16jährige Tochter, völlig zurückgezogen und abgekapselt hat. Alles Zureden nützt nichts, Amanda schliesst sich Tag und Nacht in ihr Zimmer ein, verlässt es fast nie und lässt ihre Musik so laut durch alle Wände dröhnen, dass es ihren Eltern auch noch den letzten Nerv ausreisst. Sämtliche Kontakte mit ihren früheren Freundinnen hat sie abgebrochen, nach einem sehr belasteten letzten Schuljahr mit vielen Absenzen weist sie alles, was mit Zukunftsplanung und der Bewerbung für eine Lehrstelle oder eine weiterführende Schule zu tun hat, weit von sich. Seit Wochen trägt sie nur noch schwarze Kleider und hat schon mehrere Kilos abgenommen. Selbst dem Vorschlag ihrer Mutter, sich an eine Beratungsstelle zu wenden, verweigert sie sich mit Haut und Haaren. Edith und Herbert schieben einander die Schuld in die Schuhe und werfen sich gegenseitig vor, sich schon seit Jahren viel zu wenig um Amanda gekümmert zu haben.

Schliesslich ist da noch, wie ihn seine Enkelkinder nennen, der 75jährige Opa Wuzz. Ein Büchernarr, Philosoph und Schreiberling. Seit seine Frau gestorben ist, die Familie seines Sohnes in Deutschland lebt und die Familie seiner Tochter nach Australien ausgewandert ist, ist es recht einsam geworden um ihn. Manchmal, wenn er abends sein Tagebuch hervornimmt und seine Gedanken aufschreibt, tropft eine Träne auf seine alte, verwackelte Schrift und in der Erinnerung fliegt er in die Zeit zurück, als seine Frau noch lebte und seine Kinder mit ihr und ihm auf dem Jahrmarkt Zuckerwatte schleckten, er am Kindergeburtstag seine legendären Schnitzeljagden organisierte und sie gemeinsam im Wald ein Feuer entzündeten und Würstchen grillierten.

Eigentlich ist es verrückt. Die einen fühlen sich so einsam, dass sie manchmal am liebsten sterben würden – die anderen gehen sich gegenseitig dermassen auf die Nerven, dass sie oft davon träumen, am liebsten ganz alleine irgendwo auf einer fernen Südseeinsel zu sein. Den einen ist so langweilig, dass sich jeder einzelne Tag wie eine Ewigkeit anfühlt – die Tage der anderen sind dermassen ausgefüllt und ihre Terminkalender so vollgestopft, dass sie jeden Abend nur noch völlig erschöpft ins Bett fallen und die Liste mit allen unerledigten und hinausgeschobenen Pendenzen gleichzeitig immer länger und länger wird. Die einen leben alleine in einem viel zu grossen Haus mit einem viel zu grossen Garten, der meistens leer ist – die anderen müssen sich in winzige Mietwohnungen zwängen und ihre Kinder werden schon am frühen Morgen von einer pingeligen Hauswartin beschimpft, weil sie mit farbigen Kreiden den Vorplatz beim Hauseingang vollgemalt haben. Die einen verbringen Stunden damit, herauszufinden, wo sie all das Geld, welches sie für ihren täglichen Lebensunterhalt gar nicht brauchen, möglichst gewinnbringend anlegen können – die anderen schätzen sich schon glücklich, wenn sie sich überhaupt bis zum letzten Tag des Monats wenigstens eine einzige warme Mahlzeit leisten können.

„Eltern-Burn-Out“, schreibt „20Minuten“ am 28. August 2024, „ist keine Seltenheit mehr. Der Spagat zwischen Beruf und Familie fordert seinen Tribut. Ein Phänomen, das in den vergangenen Jahren massiv zugenommen hat.“ Kein Wunder, gibt es immer mehr Paare, die kinderlos bleiben und sich all die Belastungen im Zusammenhang mit dem Aufbau einer Familie nicht mehr zumuten möchten. Neue Zahlen, so berichtete der “Tagesanzeiger” am 6. November 2023, zeigen, dass es im Verhältnis zur Bevölkerung in der Schweiz noch nie so wenige Geburten gab. Eine 49Jährige wird im Artikel mit den Worten zitiert, sie sei “jeden Tag dankbar”, dass sie sich gegen Kinder entschieden habe. Erst recht, wenn sie sehe, womit sich ihre Freundinnen und Freunde “herumschlagen” müssten. So viele Mütter, meint sie, würden unter dieser Last leiden und erzählen, wie anstrengend es sei. Alles werde teurer, es fehle an Lehrkräften und Kinderärzten, dem Klima gehe es schlecht und immer wieder käme es zu Kriegen. Weitere Gründe, keine Kinder haben zu wollen, seien die viel zu teuren Krippenplätze, Stress mit der Schule, mit Drogen, Drama bei den Hausaufgaben, psychische Probleme bereits in jungen Jahren, überteuerte Sommerferien mit schlechter Stimmung, Unfälle, Schlafmangel und vor allem: Sorgen, Sorgen, Sorgen.

Überbelastung von Familien auf der einen Seite, sozialer Rückzug auf der anderen: „Wie in allen Industrieländern“, schreibt die „NZZ am Sonntag“ vom 14. Juli 2024, „nimmt auch in der Schweiz die Anzahl einsamer Menschen tendenziell zu. Die Ursachen sind vielfältig, es können Mobbingerfahrungen sein, soziale Ängste, schwierige Erfahrungen mit der Familie, der Druck der Leistungsgesellschaft sowie die sozialen Netzwerke, die einem ständig suggerieren, dass man nicht hübsch oder erfolgreich genug sei. In einer Gesellschaft, die fast andauernd bewertet, ist es nicht einfach, sich zugehörig zu fühlen.“ Die Folgen von Einsamkeit können verheerend sein. Studien beurteilen sie als genauso gefährlich für die Gesundheit wie das Rauchen und sogar schädlicher als Alkoholabhängigkeit. Wer sich häufig oder über längere Zeit einsam fühlt, hat ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen oder Stoffwechselprobleme und trägt in der Regel auch ein erhöhtes Sterberisiko. Einsamkeit kann aber auch dazu führen, dass sich Menschen, die ihre Sorgen mit niemandem teilen können und ihre Verzweiflung über Jahre ganz alleine in sich hineinfressen, plötzlich eines Tages auf ganz aussergewöhnliche Weise Aufmerksamkeit zu verschaffen versuchen. So führten die Spuren einer Serie mehrerer Brandstiftungen im zürcherischen Elgg anfangs 2024, wie der „Tagesanzeiger“ am 12. Juli 2024 berichtete, schliesslich zu einer alleinstehenden 44jährigen Frau, die über Jahre völlig zurückgezogen gelebt und mit niemandem Kontakt gehabt hatte. Und in St. Gallen griff am 11. Juli 2024 gemäss einem Bericht des „Tagblatts“ ein 34jähriger Schweizer im Treppenhaus eines Wohnblocks unvermittelt eine 29jährige hochschwangere Frau an und attackierte im Weiteren deren Vater, welcher ihr zur Hilfe eilte, fügte ihm schwere Verletzungen zu, ebenso wie einer 31jährigen anderen Mieterin und deren drei Monate altem Baby. In seiner Wohnung wurden hernach eine ausgeschüttete brennbare Flüssigkeit sowie Gas festgestellt. „Es gibt immer mehr Menschen“, so ein Sprecher der Kantonspolizei, „die das Potenzial aufweisen, aggressiv zu werden oder sich selbst zu gefährden – die Schwere der Taten hängt sehr davon ab, wie gut oder wie schlecht solche Menschen in familiäre Strukturen eingebunden sind.“

Alles scheint darauf hinzudeuten, dass die Idealvorstellung der harmonischen Kleinfamilie mehr und mehr nur noch eine Illusion und ein Traum aus früheren Zeiten ist. Während sich viele immer noch trotz aller damit verbundener Belastungen an dieses Modell festklammern, haben es viele andere längst aufgegeben, sind aber infolge fehlender Alternativen der Gefahr von sozialer Isolation und aller damit verbundener Gefahren ausgesetzt.

Höchste Zeit, um über Alternativen zur traditionellen Kleinfamilie nachzudenken…

Und damit sind wir wieder bei jenen 17 Menschen, deren aktuelle Lebenssituationen ich am Anfang des Artikels beschrieben hatte. Und wir sind wieder bei Opa Wuzz. Seit er eines Tages einen Artikel gelesen hatte, in dem die Frage aufgeworfen wurde, ob nicht Grossfamilien eine sinnvolle Alternative zur Kleinfamilie sein könnten, liess ihn diese Frage nicht mehr los. Und je länger er darüber nachdachte, umso mehr Begeisterung stieg in ihm auf. Natürlich konnte es nicht die Rückkehr zur klassischen Grossfamilie früherer Zeiten sein, die wachsende Mobilität hatte schon längst über viel zu lange Zeit alle diese familiären Bindungen und Strukturen früherer Zeiten aufgelöst, das wusste er, dessen Kinder und Enkelkinder nach Deutschland und Australien ausgewandert waren, selber ja am besten. Aber man kann sich eine Grossfamilie ja auch anders denken, moderner und zur heutigen Zeit passend. Die Mitglieder einer „Grossfamilie“ müssen ja nicht zwingend miteinander verwandt sein. Opa Wuzz kam ins Schwärmen: Eigentlich sind wir Menschen ja alle irgendwie miteinander verwandt, dachte er. Und irgendwie sind wir doch auch alle miteinander und füreinander verantwortlich. Und eigentlich könnten wir doch mit den Ressourcen, über die wir verfügen, viel sozialer und gemeinschaftlicher umgehen als einfach in der plumpen und egoistischen Art und Weise, dass jeder nur an sich selber oder höchstens an seine eigene kleine Familie denkt.

Und dann, eines Tages, sagte sich Opa Wuzz: Das machen wir. Er kannte sie alle schon, mehr oder weniger gut, einige auch nur ganz flüchtig, die meisten lebten in seinem eigenen Quartier oder nur unweit davon entfernt: Karin, Monika, Heinz und ihre drei Kinder, Conchita und Ruedi, Amir, Andrea und ihren dreijährigen Sohn, Anna und Roberto, Edith, Herbert und die 16jährige Amanda. Sie verstanden zunächst nicht ganz, was er meinte. Sie konnten es sich kaum vorstellen. Doch Opa Wuzz liess nicht locker: Ich weiss ja nicht, ob es funktioniert, sagte er, aber wir könnten es doch mindestens ausprobieren. Verlieren können wir nichts, höchstens etwas gewinnen.

Und so entstand aus diesen 17 Menschen die erste moderne „Grossfamilie“. Ein Jahr später war für sie die Welt eine ganz andere geworden. Und niemand, wirklich niemand von ihnen wollte wieder zurück zu der Zeit, als sie alle noch voneinander getrennt waren. Es ist Herbst im Jahre 2027. Lasst uns schauen, was passiert ist…

Da Monika und Heinz als Einzige der „Grossfamilie“ – ich nennen sie im Folgenden einfach „Familie“ – ein geräumiges Einfamilienhaus mit einem schönen Garten besitzen, ist dieses zu einer Art Lebensmittelpunkt für die ganze Familie geworden. Alle haben ihre bisherigen Wohnungen behalten, verbringen aber stets einen kleineren oder grösseren Teil des Tages im Haus und im Garten von Monika und Heinz, wobei es freilich auch Tage gibt, die Einzelne für sich alleine verbringen oder an denen sie anderweitigen Verpflichtungen oder Aktivitäten nachgehen. Anna kämpft zwar immer noch gegen ihre Alkoholabhängigkeit, hat aber jetzt eine gewisse Tagesstruktur, geht sie doch jeden Morgen für die ganze Familie einkaufen, zudem kümmert sie sich um die Katze von Monika und Heinz, was alleine schon viel Licht in ihr Leben gebracht hat, war es doch ein gewaltiger Schock für sie gewesen, als ihre eigene Katze, ihre eigentliche Lebenspartnerin, vor zwei Jahren gestorben war, nachdem sie 16 Jahre lang zusammen gelebt hatten. Amir hat im Haus von Monika und Heinz ein eigenes Zimmer bekommen, es war das Gästezimmer, das kaum je gebraucht worden war. Frei und selbstbestimmt kann er jetzt in ein für ihn ganz neues gesellschaftliches Umfeld hineinwachsen, mitbeteiligt am gewöhnlichen Alltag seiner neuen Heimat, in einem Umfeld, von dem er sich getragen, willkommen und geliebt fühlt. Conchita, die leidenschaftliche Köchin und Familienfrau aus Mexiko, ihr könnt es euch vorstellen, ist so etwas wie die Seele oder die Mutter der Familie. Sie kocht mittags und abends für alle in der grossen, modernen Küche von Monika und Heinz, und alle essen fast immer gemeinsam im geräumigen Esszimmer, im Wintergarten oder in der schattigen Pergola, wenn es Sommer ist – das sind die Zeiten, wo meistens alle 17 beisammen sind und auch alles ausgetauscht und besprochen wird, was gemeinsame Pläne oder Aufgaben betrifft. Doch Conchita ist nicht nur die Köchin, sie ist einfach die, die immer da ist und immer Zeit hat – jetzt ist sie wieder voll und ganz, mit Leib und Seele, die Familienfrau, die sie immer schon sein wollte, und die Sonne in ihrem Herzen strahlt wieder in voller Kraft wie früher. Die Kinder von Monika und Heinz brauchen weder Spielgruppe noch Kita, denn immer, wenn sie nachhause kommen, ist da jemand, der auf sie wartet, mindestens Conchita, meistens auch Roberto und fast immer Opa Wuzz, der schon wieder, wie in früheren Zeiten, mit den Kindern auf dem Boden herumkriecht oder ihnen, mindestens einmal pro Woche, eines jener Kasperletheaterstücke vorspielt, die er schon vor 30 Jahren seinen eigenen Kindern vorgespielt hatte – das sind dann die Momente, wo die Familie manchmal auch noch ein bisschen grösser wird, weil schon mal zusätzlich noch das eine oder andere Nachbarskind eintrudelt…

Auch Andrea muss sich nicht mehr damit herumschlagen, wer sich um Leon kümmert, wenn sie arbeiten geht, auch das mühsame Suchen nach einem anderen Platz für die Zeit, wenn ihre Eltern in die Ferien verreisten, ist endlich vorbei, bei Conchita, Roberto und Opa Wuzz ist ihr Leon in den besten Händen – dass es ihr schon am Morgen immer schlecht war, dass sie den ganzen Tag nur auf den Abend wartete, um sich dann total erschöpft ins Bett zu werfen, ohne jede Energie für irgendetwas anderes, all das ist nur noch Erinnerung an die schlimmste Zeit ihres Lebens, neulich hat sie zum ersten Mal seit Jahren sogar wieder ein Buch in die Hand genommen und angefangen zu lesen. Und erst Roberto! Da er jetzt nicht mehr ganz alleine seine Frau betreuen muss, sondern sich zusammen mit ihm Karin, Monika, Conchita, Amir, Herbert und manchmal sogar Amanda diese Aufgabe teilen, kann er ohne schlechtes Gewissen am Abend wieder mit seinen Kollegen ein Bier trinken gehen oder eine Runde Boccia spielen. Selbst die Ehekrise von Edith und Herbert hat längst nicht mehr die Dramatik von früher. Die beiden sind nicht mehr gezwungen, sich ganz alleine an einem kleinen Tisch gegenüberzusitzen, bloss darauf wartend, bis wieder das erste böse Wort fällt – jetzt sitzen sie am grossen Tisch mit vielen anderen, mal mit diesem, mal mit jener scherzend und plaudernd, meistens nicht einmal nebeneinander sitzend, und so hat die Möglichkeit, sich bei Belieben jederzeit gegenseitig aus dem Weg gehen zu können, kurioserweise dazu geführt, dass sie sich sogar wieder ein bisschen näher gekommen sind. Und selbst Amanda verkriecht sich nicht mehr den ganzen Tag in ihrem Zimmer, seit sie Conchita ihr ganzes Herz ausgeschüttet und ihr all das anvertraut hat, was sie ihren eigenen Eltern niemals zu sagen getraut hätte – sie trägt wieder farbige Kleider, sie liebt das Essen und die von Conchita zu jeder Tages- und Nachtzeit zubereiteten Drinks über alles, hat wieder zugenommen und seit ein paar Wochen gibt sie sogar Amir jeden Tag eine Deutschstunde, was ihr so grossen Spass macht, dass sie schon davon träumt, später einmal als Lehrerin zu arbeiten.

Auch die Aufgabenteilung und dass alle das machen, was ihnen am meisten Freude macht und sie am besten können, ist für alle wunderbar entlastend. Wenn es um Formulare, Steuererklärungen oder andere schriftliche Dinge geht, ist Opa Wuzz zur Stelle. Heinz ruft man immer, wenn der Staubsauger nicht mehr funktioniert, ein Siphon verstopft ist oder ein neuer Kasten fachgerecht zusammengebaut werden muss. Bei Computerproblemen ist Herbert derjenige, der auch dann immer noch weiterweiss, wenn alle anderen schon längst am Anschlag sind. Und bei Liebeskummer, Prüfungsangst oder einem Konflikt mit dem Chef werden zentnerschwere Probleme plötzlich ganz federleicht, wenn man von Conchita an der Hand genommen und auf jene Wolke mitgenommen wird, von der sie immer wieder erzählt und von wo aus auch die scheinbar grössten und schwersten Felsen so aussehen wie ein paar kleine Kieselsteine.

Und das ist noch längst nicht alles. Zum Beispiel hat die ganze Familie gemeinsam ein Abonnement der Lokalzeitung. Ohne viel zu bezahlen, haben somit dennoch alle den gleichen Zugang zu den wichtigsten Informationen und sind jederzeit darüber orientiert, was in der Stadt so läuft, oft wird auch über das eine oder andere Thema eifrig diskutiert, unterschiedliche Meinungen werden ausgetauscht. Selbst in ökologischer Hinsicht gibt es nur Vorteile: Um die Mahlzeiten für die 17 Personen zuzubereiten, braucht es jetzt nicht mehr vier oder fünf, sondern nur noch eine einzige Küche. Auch die Zahl der Waschmaschinen, Tiefkühlgeräte, Putzmaterial und Werkzeuge hat sich massiv reduziert. Eine Bohrmaschine, um nur ein Beispiel zu nennen, genügt doch vollauf für 17 Personen – was für ein Luxus und was für eine Verschwendung, wenn es in jedem noch so kleinen Haushalt solche Geräte gibt, die man während weit über 99 Prozent der Zeit gar nie braucht. Auch benötigen 17 Personen nicht vier, fünf oder noch mehr Autos, ein einziges müsste eigentlich genügen.

Unlängst hat Opa Wuzz sogar die Idee einer gemeinsamen Kasse in die Runde geworfen, die von allen, die mehr verdienen, als sie zum Leben brauchen, gefüttert werden könnte, und aus der alle anderen sich dann und wann einen kleinen „Luxus“ leisten könnten, einen Ausflug, einen Restaurant- oder Theaterbesuch. Noch radikaler wäre die Idee, alle von den einzelnen Familienmitgliedern erzielten Erwerbseinkommen zusammenzunehmen und unter alle gleichmässig zu verteilen. Doch wahrscheinlich ist, obwohl es tausend gute Gründe dafür gäbe, die Zeit dafür noch nicht reif…

Grossfamilien wären ein Segen vor allem auch für Kinder und Jugendliche. Gewiss kann auch eine „gesunde“, „gut funktionierende“ Kleinfamilie Kindern einen guten, fruchtbaren Boden für ihr späteres Leben bieten. Die Gefahr ist aber gross, dass die Kinder – vor allem, wenn es sich um Einzelkinder handelt – mehr oder weniger schutzlos der Willkür ihrer Eltern ausgeliefert sind. „Raya“, so berichtete das „St. Galler Tagblatt“ am 5. Juni 2024 über eine tatsächlich dokumentierte, überaus tragische Lebensgeschichte eines betroffenen Kindes, „musste mittags Punkt 12 Uhr zuhause sein. Stiess sie eine Minute zu spät die Haustüre auf, schrie der Vater sie an und warf mit Essen um sich. Doch auch wenn sie pünktlich erschien, blieb sie stets auf der Hut. Wie ist Vaters Stimmung? Wie gelingt es, ihn nicht zu reizen? Denn es flog nicht nur das Essen durch die Luft, auch körperlich und seelisch war er gewalttätig, er trank, konsumierte Drogen, hatte Psychosen und Schizophrenie.“ Raya ist inzwischen 39 Jahre alt. Heute weiss sie, weshalb sie als Kind eine extreme innere Anspannung verspürte, häufig an Migräne oder Bauchschmerzen litt und zeitweise feste Nahrung verweigerte. Sie weiss auch, weshalb sie selbst jetzt noch, als Erwachsene, nur mit Medikamenten ihre Ängste kontrollieren kann. Auch Valy war als Kind mit enormen psychischen Belastungen ganz auf sich alleine gestellt. Der Mutter fehlte jegliche Energie, sich um die Tochter zu kümmern. Gleichzeitig lebten sie derart in einem Mikrokosmos, dass sich die Ängste der Mutter auf das Mädchen übertrugen. Etwa, als sich die Mutter mit Panikattacken in der abgedunkelten Wohnung verschanzte: Valy musste damals jeden Abend kontrollieren, ob sich niemand in der Wohnung versteckt hielt und ob alle Storen gut verschlossen waren, plötzlich erlebte auch sie die ganze Welt als eine einzige allgegenwärtige Bedrohung. Und Raya und Valy sind nicht die Einzigen: Zurzeit gibt es in der Schweiz fast zwei Millionen Menschen, die als Kind unter der psychischen Erkrankung eines Familienmitglieds dermassen gelitten haben, dass sie oft lebenslang bleibende Schäden davontragen. Viele von ihnen müssen auch schon in jüngstem Alter Aufgaben im Haushalt und bei der Betreuung von Geschwistern übernehmen, zu denen ihre Eltern nicht imstande sind, was sich meistens auch auf die schulischen Leistungen auswirkt, bleibt ihnen doch kaum Zeit, um ihre Hausaufgaben zu erledigen, oder sind sie am Morgen so müde, dass sie zu spät oder gar nicht zur Schule gehen.

Während Raya, Valy und unzählige andere das alles still ertragen und nicht selten sogar die Schuld für all die Unstimmigkeiten und Qualen bei sich selber suchen, reagieren andere Kinder und Jugendliche auf solche Situationen dadurch, dass sie von zuhause ausreissen. Jahr für Jahr sind es schweizweit rund 25’000 Kinder und Jugendliche, die ihr Zuhause als ein so unaushaltbares Gefängnis empfinden, dass sie keinen anderen Ausweg mehr sehen, als die Flucht zu ergreifen. Viele von ihnen streunen tage- und nächtelang herum, übernachten selbst mitten im Winter irgendwo unter freiem Himmel, nicht wenige von ihnen geraten in die Fänge von Menschenhändlern, werden sexuell ausgebeutet oder verschwinden für immer spurlos – ein nahezu völlig tabuisiertes Thema ausgerechnet in einem so reichen, „fortschrittlichen“ Land wie der Schweiz.

Kinder, die der Willkür ihrer Eltern schutzlos ausgeliefert sind, Kinder, die immer schwerere, von ihren eigenen Eltern aufgebürdete Rucksäcke weitertragen müssen, Kinder, die von zuhause ausreissen und von denen nicht wenige für immer spurlos verschwinden – dies alles wird in einer Grossfamilie mit der von allen gegenseitig ausgeübten Aufmerksamkeit und Unterstützung undenkbar sein, nicht nur was Kinder und Jugendliche betrifft, sondern ganz allgemein häusliche Gewalt und Instrumentalisierung von Kindern durch Probleme, Belastungen und übertriebene Erwartungen seitens ihrer Eltern.

Die alleinige Fokussierung auf die Kleinfamilie hat auch zur Folge, dass bei grösseren Krisen oder Todesfällen das gesamte bisherige Lebensgerüst, an dem sich das Kind festgehalten hat, von einem Tag auf den andern zusammenbricht. Meistens werden solche Kinder in eine Pflegefamilie versetzt und müssen sich ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem sie den ganzen bisherigen Boden unter ihren Füssen verloren haben, in eine völlig neue und ihnen total fremde Umgebung einleben und sind auch dann nicht davor gefeit, dass auch die neuen Bezugspersonen unzimperlich oder bevormundend mit ihnen umgehen. Auch das ist in einer Grossfamilie undenkbar. Wenn eine der 17 Bezugspersonen wegbricht, sind immer noch 16 andere da, welche das bisherige Netz an Sicherheit und Geborgenheit aufrechtzuerhalten vermögen, 16 Menschen, zu denen das Kind bereits eine manchmal vielleicht sogar engere Beziehung aufgebaut haben mag als selbst zu den eigenen Eltern. Auch haben die Kinder in der Grossfamilie nicht nur eines oder zwei Vorbilder, sondern viele verschiedene. Sie können nicht nur von einer einzigen oder von zwei Personen etwas lernen, sondern auch von vielen anderen, von jeder etwas, was für ihre Entwicklung wertvoll sein kann. Sie sind nicht einem einzigen Erziehungsstil ausgeliefert, sondern erleben ganz unterschiedliche Verhaltensweisen von Erwachsenen gegenüber Kindern, die sie kritisch und selbstbestimmt miteinander vergleichen und werten können und die zugleich ein kleines Abbild sind einer vielfältigen demokratischen Gesellschaft, in der es nicht nur Richtig und Falsch gibt, sondern unendlich viel dazwischen. So wird die Grossfamilie zu einer eigentlichen Lerngemeinschaft, in der nicht nur die Jungen von den Alten etwas lernen können, sondern auch die Alten von den Jungen und alle miteinander und voneinander.

Umgekehrt liegt in der Grossfamilie auch nicht mehr die ganze Last der Betreuung und der Begleitung der Kinder auf bloss vier oder zwei Schultern. Während sich in der Kleinfamilie Papa und Mama oder sogar ausschliesslich die Mama von früh bis spät, Tag und Nacht, buchstäblich um alles kümmern muss und für alles verantwortlich ist und sich, wenn es trotz allem nicht wie gewünscht herauskommt, als totale Versagerin fühlt, ist dies alles in der Grossfamilie auf viele verschiedene Schultern verteilt, alle tragen Verantwortung für alle und niemand muss es als persönliches Versagen empfinden, wenn dabei, was ja völlig normal ist, vorübergehend auch Schwierigkeiten und Krisen auftreten, die man dann gemeinsam viel besser meistern kann, als wenn man ganz alleine auf sich gestellt und dabei oft hilflos überfordert ist. Wie ein bekanntes afrikanisches Sprichwort besagt, braucht es „ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“. Oder zumindest eine Grossfamilie, wie auch der bekannte Neurobiologe Gerald Hüther in einer Publikation des Humanistischen Verbands Deutschlands vom 1. Oktober 2021 ausführte: „Erziehung muss nicht eine Individualangelegenheit der Eltern sein. Eingebettet in eine grössere soziale Gemeinschaft bringt sie grosse Chancen für eine ganzheitliche Entwicklung des Kindes. Denn Menschen sind zutiefst soziale Wesen, die bereits im Mutterleib als solche entstehen – sichtbar an physiologischen Mustern, die auf Verbindung mit anderen Menschen abzielen.“

Grossfamilien hätten zweifellos auch eine präventive Wirkung gegen die Gefahr von politischem oder religiösem Extremismus und würden wohl wesentlich dazu beitragen, dass es bei „Randgruppen“ nicht zu einer Entwicklung in Richtung Gewalttätigkeit käme. Würde Amir auch noch im Alter von 15 oder 16 Jahren in einem Heim oder an einem anderen, von der übrigen Gesellschaft abgeschotteten Raum leben, weiterhin mit allen möglichen und unmöglichen Botschaften, Aufrufen und Ideologien im Internet und den sozialen Medien sich selber überlassen bleiben, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass er eines Tages einer jener „delinquierenden ausländischen Jugendlichen“ sein könnte, die landauf und landab in den Medien und in den Kampagnen gewisser politischer Parteien Schlagzeilen machen, wohl unvergleichlich viel grösser, als wenn er in einer sozialen Gemeinschaft gross werden kann, in der er sich verstanden, geborgen und geliebt fühlt und täglich von anderen Menschen Wertschätzung erfährt.

Wahrscheinlich müsste man früher oder später auch den Begriff der „Liebe“ ganz anders definieren, als dies heute der Fall ist. Liebe ist doch nicht nur eine – in aller Regel mit Sexualität in Verbindung gebrachte – Paarbeziehung oder allenfalls noch die „Affenliebe“ von Eltern, die ihre Kinder verhätscheln und ihnen jeden Wunsch erfüllen. Liebe ist doch auch, wenn Amanda Amir Deutschstunden gibt. Liebe ist doch auch, wenn Anna oder Herbert Roberto einen Teil seiner Betreuungsarbeit für Anna abnehmen, damit er am Wochenende seine Freunde treffen kann. Liebe ist doch auch, wenn Karin jetzt wieder eine Katze an ihre Brust drücken und sie liebkosen kann. Liebe ist doch auch, wenn man möglichst umweltbewusst zu leben versucht und einem die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen nicht egal sind. Liebe ist doch alles, was sich Menschen gegenseitig an Aufmerksamkeit, Zuneigung, Anteilnahme und Mitgefühl schenken können, das, was wir auch, seit Jesus diese wunderbare Botschaft in die Welt gebracht hat, als Nächstenliebe bezeichnen und zutiefst auch mit innerer Verbundenheit, Verantwortungsgefühl und Solidarität zu tun hat.

Die neue Grossfamilie wäre so etwas wie der erste Kreis, in den ein Mensch hineingeboren wird und in dem er sich bedingungslos willkommen fühlt. Ein Ort der Geborgenheit und der Gewissheit, dass er auch dann nicht zerbrechen wird, wenn einzelne Teile von ihm in Gefahr sind. Den zweiten Kreis könnten zum Beispiel Quartiervereine bilden, grössere soziale Gemeinschaften, in denen aber gleichermassen das Miteinander und das gegenseitige Verantwortungsgefühl im Vordergrund stehen. Der dritte Kreis, das wäre dann die Kommune, die auf den gleichen Grundsätzen weiterbauen müsste. In der heutigen kapitalistischen Leistungs-, Wettbewerbs- und Konkurrenzgesellschaft, in der jeder gezwungen ist, für sich den grösstmöglichen Anteil an Ansehen und materiellem Erfolg zu gewinnen, und so die Mitmenschen vor allem als Konkurrenten im Kampf um einen zunehmend kleiner werdenden Kuchen wahrgenommen werden, fehlt der erste Kreis gänzlich und auch der zweite ist, selbst wenn es ihn da und dort noch gibt, vom Aussterben bedroht. Die Menschen brauchen immer mehr Zeit und Energie für den individuellen Existenzkampf, so dass immer weniger Zeit und Energie für das Gemeinschaftliche, für das Miteinander, für die Solidarität mit Schwächeren übrig bleibt. Solange aber der erste und zweite Kreis fehlen, können auch die weiteren, darüber gestülpten Kreise nicht wirklich funktionieren. Die Menschen, die derart umfassend von ihrem individuellen Kampf für den Aufstieg und gegen den Abstieg innerhalb der herrschenden Klassengesellschaft absorbiert sind, haben kaum noch Ressourcen, sich um das Gemeinwohl innerhalb grösserer Bevölkerungssegmente zu kümmern, alles „Politische“ wird zunehmend ausgeklammert und an den Rand gedrängt, was sich nur schon an der geringen Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen zeigt. Gleichzeitig führen auch Einsamkeit und Isolation und das Gefühl der zu kurz Gekommenen, zunehmend an den Rand gedrängt und nicht mehr als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, dazu, sich kaum mehr auf etwas einzulassen, was auch nur im Entferntesten mit „Politik“ zu tun hat, denn alle damit verbundenen Erwartungen wurden schon viel zu oft enttäuscht. Dies alles aber ist nichts anderes als eine zunehmende, scheibchenweise Erosion der Demokratie bis in letzter Konsequenz hin zu ihrem völligen Verschwinden.

Unsere Demokratie ist nicht in erster Linie durch irgendwelche ferne Autokraten bedroht, wie so oft behauptet wird, und was dann zynischerweise noch als Begründung für militärische Aufrüstung herhalten muss und damit für die Reduktion öffentlicher Gelder, die man ausgerechnet für soziale Sicherheit und damit für die Aufrechterhaltung einer demokratischen Ordnung dringendst bräuchte. Unvergleichlich in viel höherem Ausmass als durch ferne Autokraten ist unsere Demokratie durch durch unsere eigene Ideologie des kapitalistischen Konkurrenzprinzips bedroht, das auf der Zerschlagung all dessen beruht, was mit gegenseitiger Solidarität zu tun hat, und die Menschen einzig und allein auf den Kampf ums individualistische Überleben reduziert, genau so, wie es die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1987 in einem Interview sagte: „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht, es gibt nur Individuen.“ Diese auch als „neoliberal“ bezeichnete Geisteshaltung, die nebst Thatcher vor allem auch von US-Präsident Ronald Reagan gepredigt wurde, stiess damals noch bei vielen Menschen auf erbitterte Kritik, heute ist sie sozusagen der „Normalzustand“, an den wir uns weitgehend gewöhnt haben und zu dem weitherum keine Alternative mehr in Sicht zu sein scheint.

Diese bloss auf den individuellen Überlebenskampf reduzierte Sicht, aufbauend auf jahrhundertelang zementierter Lügen wie jener, jeder sei „seines eigenen Glückes Schmied“, hat auch dazu geführt, dass die gegenseitige Anteilnahme, das gegenseitige Verantwortungsgefühl und das Interesse für gesellschaftliche Zusammenhänge nicht nur gegenüber den Nachbarn und den Mitbürgerinnen und Mitbürgern im eigenen Dorf und in der eigenen Stadt immer mehr verloren geht, sondern erst recht gegenüber allem, was noch weiter entfernt ist. Wurden noch in den Sechzigerjahren die wirtschaftlichen Ausbeutungsmechanismen zwischen der sogenannten „Ersten“ und der sogenannten „Dritten“ Welt öffentlich breit diskutiert, so werden die Länder des Südens heute von den meisten überprivilegierten Menschen des Nordens bestenfalls noch als möglichst billige und zugleich höchst attraktive Ziele für die nächste Ferienreise wahrgenommen – die Saat von Thatcher, Reagan und Ihresgleichen ist voll aufgegangen: Alle schwärmen von der Schönheit indischer Kunst- und Bauwerke, von der Farbenvielfalt auf den Gemüsemärkten in Kalkutta und Bangalore, und schicken Tausende Fotos all dieser Schönheiten rund um den Globus, aber niemand spricht davon, dass es im gleichen Land alleinerziehende Mütter gibt, die früh am Morgen ihrem Kind ein so starkes Schlafmittel verabreichen, dass es bis am Abend nicht mehr aufwacht, damit die Mutter zehn Stunden lang in mörderischer Hitze auf einer Baustelle arbeiten kann, nur damit sie und ihr Kind nicht verhungern müssen – was nichts anderes heisst, als dass es einer alleinerziehenden Mutter in der Schweiz, in Kanada oder in Mexiko im Grunde genau gleich geht wie einer alleinerziehenden Mutter in Indien, Kenia oder Bangladesch und nur die weltweite Übernahme gegenseitiger Verantwortung, das Wahrnehmen der weltweiten sozialen, wirtschaftlichen Zusammenhänge und die Solidarität einer möglichst grossen Zahl Privilegierter mit den Unterprivilegierten dauerhaft daran etwas zu ändern vermöchte.

Es ist nur ein kleiner Schritt, dachte sich Opa Wuzz eines Abends, als er wieder einmal sein Tagebuch zur Hand nahm. Aber es könnte vielleicht der Anfang von etwas Grösserem sein. Irgendwo muss es ja beginnen. Und wieder tropfte eine Träne in das Tagebuch, aber dieses Mal war es eine Träne der Freude, und erstaunlicherweise war auch seine Schrift längst nicht mehr so wacklig wie noch drei Jahre zuvor. Als wäre er wieder ein bisschen jünger geworden, seit er mit den kleinen Kindern in seiner Grossfamilie am Boden herumkriecht und mit ihnen all die wunderbaren Luftschlösser baut, die vielleicht eines Tages auf der Wolke von Conchita stehen werden oder im Herzen von Amir, wenn er irgendwann seine Zukunftsträume verwirklichen kann und vielleicht, wer weiss, eine eigene neue Grossfamilie gründen wird…

(Nachtrag am 11. September 2024: Michael Schulte-Markwort berichtet auf „FOCUS-Online“ über die seelische Verwahrlosung der Kinder in deutschen Kitas. In Schweizer Kitas wird es vermutlich auch nicht grundsätzlich anders sein. Gäbe es nur noch Grossfamilien wie jene von Opa Wuzz, bräuchte es auch keine Kitas mehr. Schulte-Markwort schreibt: „300 Fachleute schlagen Alarm und warnen in einem offenen Brief vor den Folgen der Kitakrise für Kinder. Die Erzieherinnen müssen viel zu viele Kinder betreuen, was sehenden Auges für die Fachkräfte bedeutet, mitzuerleben, wie schlecht die Kinder selbst bei grössten Bemühungen versorgt sind. Untersuchungen haben gezeigt, dass es mindestens 20 Prozent der kleinen Kinder nicht gut geht. Das ist eine Form der institutionellen Verwahrlosung. Gerade die kleinen Kinder, die noch nicht in der Lage sind, über ihre seelischen Zustände zu sprechen, sind darauf angewiesen, dass sie liebevoll und umfassend gesehen und versorgt sind. Das ist aber nicht der Fall und führt zu psychischen Veränderungen in Form von Rückzug und Introversion und mutet mindestens an wie Vorformen depressiver Symptome… Auf der Seite der Fachkräfte führt zum einen das Erleben der mangelhaften Versorgung, aber auch der Engpass als solches zu psychischen Belastungen, die schnell mit Symptomen wie Erschöpfung oder auch psychosomatischen Krankheitszeichen einhergehen. Der dann entstehende Krankenstand führt zu einem Kreislauf, der die Ausfälle und die Erschöpfung verstärkt und zu immer ausgeprägteren Gefühlen der Sinnlosigkeit führen… Die Familien schliesslich sind immer wieder mit Ausfällen der Fachkräfte konfrontiert, die kompensiert werden müssen. Darüber hinaus müssen sie mit dem Gefühl leben, dass ihr Kind nicht gut versorgt ist und unter Umständen sehr leidet – ohne dass es dazu eine Alternative gibt. Insgesamt ein Kreislauf, der für die Schwächsten unserer Gesellschaft zu unzumutbaren Belastungen führt, die sie mit denen teilen, die sie versorgen wollen… Kinder reagieren immer auf die Psyche der sie umgebenden Menschen. Das ist keine Frage des Alters oder sprachlicher Fähigkeiten. Auch kleine Kinder erspüren immer, wie es zum Beispiel ihren Eltern geht, in welcher seelischen Verfassung sie sind – auch, wenn diese nicht darüber sprechen. Dasselbe gilt für die Fachkräfte in den Kitas. Wenn diese überfordert, erschöpft oder gar depressiv sind, dann erspüren die betreuten Kinder dies immer. Das führt entweder zu einer Übertragung dieser Belastung oder zu kindlichen Phantasien, dass sie selber zu belastend sein könnten für die Erzieherinnen. Damit verstärkt sich auf beiden Seiten die Belastung und unausweichliche Zirkel von psychischen Symptomen entstehen. Wenn die Erzieherinnen merken, wie schlecht es den Kindern geh, strengen sie sich noch mehr an, was die Belastung und Erschöpfung verstärkt, was dann wiederum die Belastung der Kinder erhöht. Ein Kreislauf ohne Aussicht auf Auflösung… Videoanalysen haben unter anderem gezeigt, dass 20 Prozent der Kinder in ihrer Mimik und Körpersprache signifikant ausdrucksloser als die anderen Kinder sind. Das erinnert an depressive Menschen, die hypomimisch werden, an Gesichtsausdruck verlieren und überhaupt weniger Energie und Ausdruck zeigen… Wir wissen aus anderen Untersuchungen an Kindern im Alter zwischen 4 und 8 Jahren, dass etwa 8 Prozent von ihnen die Kriterien für eine Depression erfüllt haben. Entgegen früherer Annahmen wissen wir heute, dass Depressionen auch im Kindes- und Jugendalter vorkommen, mit einer langsamen Zunahme mit dem Alter bis auf etwa 8 Prozent im Jugendalter… Je jünger die Kinder sind, desto weniger psychische Mechanismen haben sie, um mit Stressoren anders umzugehen, als sie aufzunehmen. Die Kleinen können nicht darüber sprechen, man kann ihnen keine Skills beibringen und auch alle anderen gängigen Strategien, auf die man professionell mit gestressten und/oder depressiven Menschen reagiert, können hier nicht zum Einsatz kommen. Da Kitakinder sich in der Regel über ihr psychisches Befinden noch nicht sprachlich ausdrücken können, sind sie darauf angewiesen, dass feinfühlige Eltern sich aufmerksam auf ihr Kind konzentrieren, um Signale wahrzunehmen. Eines der offensichtlicheren ist die Weigerung oder der anhaltende morgendliche Unwille des Kindes, in die Kita gebracht zu werden. Kein Arbeitnehmer würde lange an seinem Arbeitsplatz verweilen, wenn dieser mit morgendlichem Unwillen einhergeht. Komischerweise glauben viele Erwachsene, dass man dies den Kleinsten sehr wohl zumuten kann, weil sie sich dem elterlichen Willen am Ende unterordnen. Diese Unterordnung kann aber psychische Veränderungen nicht aufhalten… Weitere Symptome können körperliche Beschwerden wie Bauchschmerzen oder Appetitlosigkeit in der Kita sein. Die Umlenkung seelischer Impulse in körperliche Symptome sind im Kindesalter weit verbreitet. Ebenso können die Kinder mit (Ein-)Schlafstörungen oder Trennungsangst sowie einer erhöhten Weinerlichkeit auffallen… Natürlicherweise stehen die kindlichen Symptome manchmal den elterlichen Notwendigkeiten, zum Beispiel ihrer Arbeit pünktlich nachzugehen, im Wege. Das kann dazu führen, dass Eltern in ihrer Not die kindlichen Symptome nicht wahrnehmen oder bagatellisieren… Es gibt nach wie vor in unserer Gesellschaft die unausgesprochene Annahme, dass Kinder umso unwichtiger erscheinen, je jünger sie sind. Die Kleinsten werden nicht von Pädagoginnen der frühen Kindheit versorgt, sie sind in viel zu grossen Gruppen mit zu wenig Fachpersonal und dieser Trend setzt sich fort, indem Grundschullehrer weniger gelten als Gymnasiallehrer, Kinderärzte schlechter bezahlt werden als Erwachsenenmediziner und vieles andere mehr. Kinder haben keine Lobby, sie protestieren nicht, passen sich ungenügenden Umständen an und versuchen immer, es uns Erwachsenen recht zu machen. Im Umkehrschluss verwechseln wir diese Stille der Kinder mit Zufriedenheit. Immer wieder wird fürsorglichen Eltern Überfürsorglichkeit unterstellt – dahinter steckt die Annahme, dass Kinder sich von unreif zu reif, von unmündig zu mündig zu entwickeln haben und sie mit zu viel Aufmerksamkeit verwöhnt und lebensunfähig werden. Das Gegenteil ist der Fall!)