Olympische Spiele: Sie nennen es ein „Friedensfest“, tatsächlich aber ist es bloss eine andere Form von Krieg…

Und wieder sind der Jubel der einen und die bitteren Tränen der anderen nur um Millimeter und Tausendstelsekunden voneinander entfernt. Soeben sind acht der 55 Teilnehmerinnen des Frauentriathlons, Seite an Seite auf ihren Fahrrädern mit ihren Konkurrentinnen in horrendem Tempo um den Sieg kämpfend, auf dem nassen und glitschigen Boden ausgerutscht und mit voller Wucht knallhart auf dem Kopfsteinpflaster gelandet, ohne Hoffnung, jemals wieder zur Führungsspitze aufschliessen zu können – und schon durchläuft die strahlende Siegerin unter tosendem Applaus des Publikums das Zielband. Und während die weltbeste Turnerin mit einem Sprung, den noch nie zuvor eine ihrer Konkurrentinnen zu meistern vermochte, schon fast im Himmel des Olymps angelangt ist, muss eine andere Wettkämpferin, die als hoffnungsvolle, ehrgeizige junge Boxerin vom genau gleichen Traum der in unendlichem Glück schwimmenden Goldmedaillengewinnerin beseelt war, schon nach wenigen Sekunden aufgeben, weil ihr die Nase von ihrer Gegnerin dermassen brutal zertrümmert wurde und sie nun so benommen ist, dass sie sich beim nächsten noch so harmlosen Treffer ohne Zweifel kaum mehr wird auf den Beinen halten können. Man nennt es ein „Friedensfest“, bei dem sich die weltbesten Athletinnen und Athleten über alle Grenzen hinweg begegnen, um ihre körperlichen Kräfte, ihre Ausdauer, ihre Geschicklichkeit und ihren Mut aneinander zu messen. Tatsächlich aber ist es bloss eine andere Form von Krieg…

Am 26. September 2004 stürzte der belgische Radrennfahrer Tim Pauwels zu Tode, unmittelbar nachdem er einen Herzstillstand erlitten hatte. Am 26. November 2006 starb der Spanier Isaac Gálvez infolge eines Genickbruchs nach einem Sturz im Sechstagerennen von Genf. Am 31. März 2013 kollidierte der Uruguayer Marcélo Gracés bei der Vuelta Ciclista de Uruguay nach einem Lenkerbruch mit einem Begleitmotorrad und verstarb noch bei der Einlieferung ins Krankenhaus. Am 6. Oktober 2019 verlor der Italiener Giovanni Iannelli, nachdem er mit dem Kopf auf eine Betonplatte geprallt und sein Helm dabei zerbrochen war, das Leben. Am 16. Juni 2023 starb der Schweizer Gino Mäder bei der Tour de Suisse, einen Tag, nachdem er bei der Abfahrt vom Albulapass in eine 20 Meter tiefe Schlucht gestürzt war. Und das sind erst fünf von insgesamt 66 Todesfällen, die allein der Radrennsport in den vergangenen 20 Jahren gefordert hat, zu schweigen von einer noch viel höheren Anzahl von Verletzungen, die zwar nicht zum Tode führten, in vielen Fällen aber lebenslange schwerste Folgen für die Betroffenen hinterlassen haben. Und es ist ja nicht nur der Radrennsport, der so viele Opfer fordert. Auch die Liste von Todesfällen und schwersten Verletzungen in vielen anderen Disziplinen des Spitzensports wie Boxen, Kunstturnen, Tennis, Leichtathletik, Skifahren und vielen anderen wäre ellenlang. Mit Gesundheit hat der heutige Spitzensport auch nicht mehr das Geringste zu tun, eher mit dem Gegenteil…

Doch was treibt Menschen dazu an, solche Strapazen, Qualen, Leiden, Schmerzen, jahrelanges eisernes Training und das permanente Risiko schwerer oder sogar lebensgefährlicher Verletzungen auf sich zu nehmen? Es scheint dahinter so etwas wie eine Art ungeschriebenes Gesetz zu stecken, das man wohl am zutreffendsten als Konkurrenzprinzip bezeichnen könnte: Der Wettbewerb, der Wettkampf, das Feld, auf dem jeder Einzelne alles dafür gibt, besser, schneller, stärker, ausdauernder, mutiger zu sein als alle anderen, diese zu übertreffen, zu überflügeln, auszustechen, um am Ende – The winner takes it all, the loser’s standing small – als Einziger ganz zuoberst auf dem Podest zu stehen, auf alle anderen hinunterschauen zu können und vielleicht sogar in die Geschichte oder das Guinnessbuch der Weltrekorde einzugehen.

Doch ist der Spitzensport bei weitem nicht der einzige Lebensbereich, der von Wettbewerb und Konkurrenzprinzip beherrscht wird. Es beginnt schon in der Schule, beim gegenseitigen Kampf um möglichst gute Noten und die besten Zukunftschancen. Die ganze Arbeitswelt besteht aus nichts anderem als darum, besser und schneller zu sein als andere. Jedes Unternehmen will mehr Gewinn abwerfen und grössere Profite erwirtschaften als alle anderen. Jedes Land will im gegenseitigen Ranking der wirtschaftlich erfolgreichsten möglichst weit oben sein und alle anderen möglichst weit hinter sich zurücklassen. Jede Zeitung will mehr Leserinnen und Leserinnen als alle anderen, jeder Fernsehsender höhere Einschaltquoten als alle anderen, jeder Spielfilm und jede Theaterproduktion mehr Zuschauerinnen und Zuschauer als alle anderen, jede Flug- und jede Schifffahrtsgesellschaft mehr Passagiere als alle anderen, jeder neue Popstar ein grösseres Publikum und mehr verkaufte Tonträger als alle anderen Popstars je zuvor, jeder Teenager auf Tiktok mehr Smileys und Likes als alle anderen. Alles und jedes wird miteinander verglichen, bewertet, rangiert und ist von früh bis spät und rund um die Welt so sehr von Konkurrenzdenken und Wettbewerb geprägt, dass wir uns etwas von Grund auf anderes schon gar nicht mehr vorzustellen vermögen. Tief in uns allen scheint die Überzeugung verankert zu sein, genau dies, der gegenseitige Wettkampf um jeden Preis, entspringe der eigentlichen Natur des Menschen und sei die einzige und beste Art und Weise, um auf allen Lebensgebieten und Arbeitsfeldern dem Menschen die grösstmögliche Verwirklichung seiner Leistungsfähigkeiten und seiner Potenziale abzugewinnen.

Doch es ist nur jahrhundertelange Gewöhnung und weil wir nichts anderes kennen. Tatsächlich aber ist das Konkurrenzprinzip um jeden Preis so ziemlich das Absurdeste und Lebensfeindlichste, was man sich nur vorstellen kann. Denn es beruht auf einer fatalen Illusion, auf einer grandiosen Lüge, und nur weil alle diese Lüge für die Wahrheit halten, kann es weiterhin und in immer bedrohlicherem Ausmass sein Unwesen treiben.

Es ist die Illusion und die Lüge, dass alle zu allem fähig sind, wenn sie sich nur genug anstrengen, nur genug hart an sich arbeiten, nur genug Opfer erbringen, nur auf genug vieles verzichten. Denn jeder und jede, so wird es schon den kleinen Kindern erzählt, könne eines Tages ganz oben auf dem Podium stehen, es sei alles nur eine Frage des Willens und der richtigen Einstellung. Und so wie kleine Kinder an Märchen glauben, so glauben sie auch an dieses Märchen und beginnen davon zu träumen, selber eines Tages ein Prinz oder eine Prinzessin zu sein, der reichste und erfolgreichste Mensch der Welt – oder eben, als Gewinnerin oder Gewinner einer Goldmedaille in die Geschichte einzugehen. Und so sind dann auch allzu viele von ihnen bereit, ihre ganze Kindheit und Jugendzeit diesem Ziel zu opfern, schon im Alter von sechs Jahren um fünf Uhr morgens im kalten Wasser des Hallenbads als zukünftige Synchronschwimmerinnen Ausdauerübungen über sich ergehen zu lassen, bis ihnen fast die Luft ausgeht, sich als zukünftige Kunstturnerinnen und Kunstturner von ihren Trainern jede noch so herablassende Beschimpfung und Beleidigung gefallen zu lassen oder als zukünftige Fussballstars erbarmungslos über das Spielfeld hin und her gejagt zu werden, bis ihnen fast der Schnauf ausgeht.

Die Wahrheit ist, dass eben nicht alle alles erreichen können, selbst wenn sie sich bis zur totalen Selbstaufgabe anstrengen würden. Denn das Konkurrenzprinzip beruht darauf, dass ein jeder Sieg und ein jeder Erfolg des einen nur möglich wird durch die Niederlage und den Misserfolg eines anderen. Dass jedes Glücksgefühl der einen nur entstehen kann aus den Tränen, den Schmerzen und den Enttäuschungen vieler anderer. Dass die einen nur deshalb in der Sonne stehen können, weil sie es geschafft haben, alle anderen in den Schatten zu verdrängen. Dass die Siegerin nur deshalb ganz zuoberst auf dem höchsten Podest stehen kann, weil alle anderen nicht dort oben stehen. Dass einige wenige eben nur deshalb ihre Lebensträume verwirklichen können, weil unzählige andere dazu verdammt sind, sie für immer aufzugeben, auch wenn sie alles Menschenmögliche gegeben und sich mehr angestrengt haben, als sie es jemals für möglich gehalten hätten.

Auch in der Schule, wo jede gute Note nur deshalb eine gute Note ist, weil alle anderen schlechter sind. Auch in dem Modegeschäft, wo die Chefin jeweils am Ende des Monats eine Rangliste aufhängt, auf der ihre Mitarbeiterinnen gemäss des in diesem Monat erzielten Umsatzes abgestuft aufgeführt sind – verbunden mit dem stillen Vorwurf an die Letzte, sie hätte sich wohl einmal mehr viel zu wenig Mühe gegeben. Auch in der Gastronomie, im Tourismus, im Detailhandel, bei den Handwerksbetrieben: Erzielen die einen von ihnen bessere Monats- oder Jahresabschlüsse als in der entsprechenden Vorjahresperiode, dann geht das nur, wenn andere Betriebe im gleichen Zeitraum schlechtere Ergebnisse eingefahren haben. Doch solange die Lüge aufrecht erhalten bleibt, wonach alle alles erreichen können, wenn sie denn nur wollen, solange werden alle, welche die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, stets die Schuld nur bei sich selber suchen und nie bei jener Lüge, die dahinter steckt und alles zusammenhält. Es wird denn auch nie das Ganze in Frage gestellt bzw. neuen Regeln unterworfen oder gar „therapiert“. Therapiert werden nur die einzelnen Individuen, die dem Gesamtsystem zu wenig Nutzen bringen oder bereits dermassen überarbeitet, ausgelaugt oder ihres gesamten Selbstwertgefühls beraubt sind, dass sie nicht mehr „systemkonform“ weiterfunktionieren können.

Das Konkurrenzprinzip und der allgemein gegenwärtige Wettbewerb machen den Menschen zum Feind seiner selbst. Wenn die chinesische Kunstturnerin länger und härter trainiert als je zuvor, zwingt sie, ob sie will oder nicht, alle ihre weltweiten Konkurrentinnen von Brasilien über Frankreich bis Russland dazu, ebenfalls noch länger und härter zu trainieren denn je. Wenn der Postbote des Unternehmens X in noch kürzerer Zeit noch mehr Pakete verteilt als je zuvor, dann zwingt er, ob er will oder nicht, alle Postboten und Postbotinnen der Firma Y dazu, ebenfalls in noch kürzerer Zeit noch mehr Pakete zu verteilen, weil ja alle miteinander unter dem gleichen permanenten Druck stehen, im gegenseitigen Konkurrenz- und Verdrängungskampf nicht unterzugehen. Ob Pizzakuriere, die keine Zeit mehr haben für eine Pause und unterwegs in eine mitgebrachte Flasche pinkeln müssen, ob die Arbeiterinnen und Arbeiter amerikanischer Schlachthöfe, die, weil auch ihnen nicht genügend Pausen gegönnt werden, in Windeln zur Arbeit gehen müssen, ob die Bananenarbeiterinnen in Costa Rica und jene an der Elfenbeinküste und jene auf den Philippinen, deren Unternehmen auf dem Weltmarkt gegenseitig um die grössten Marktanteile kämpfen, ob die Kinder in der Schule, die im permanenten gegenseitigen Wettkampf um die besten Noten und die besten Zeugnisse stehen: Je mehr sich die einen anstrengen, umso mehr sind die anderen gezwungen, sich noch mehr anzustrengen – das Konkurrenzprinzip ist das beste, effizienteste und raffinierteste Mittel, alle zu immer höheren Leistungen anzutreiben, die Peitsche in den Händen der Sklaventreiber des 21. Jahrhunderts, der gegenseitige Überlebenskampf in tödlichem Wasser, wo nicht genügend Rettungsringe für alle vorhanden sind und alle deshalb gezwungen sind, sich gegenseitig diese Rettungsringe unter Aufbietung aller Lebenskraft aus den Händen zu reissen.

Das besonders Fatale daran ist, dass sich dieser gegenseitige, tödliche Konkurrenzkampf aller gegen alle naturgemäss immer weiter verschärft. Da es an der Spitze immer enger wird, muss stets eine immer noch grössere Leistung erbracht werden, um sich gegenüber der Konkurrenz wenigstens einen auch noch so winzigen Vorteil zu verschaffen. Aufwand und Ertrag klaffen immer mehr auseinander, für einen immer kleineren Zugewinn auf der einen Seite müssen immer grössere Opfer auf der anderen Seite erbracht werden. Für den Rest des Lebens kaputttrainierte Körper, die explosionsartige Zunahme von Burnouts auf den Chefetagen, die immer weiter ansteigende Zahl von Depressionen und Suizidversuchen Jugendlicher, zunehmender Drogen- und Medikamentenkonsum, immer längere Warteschlangen vor den Türen von psychotherapeutischen Beratungsstellen, Behandlungszimmern, Therapieräumen und Kliniken: Das ist alles kein Zufall, sondern nur die ganze logische Folge des sich naturgemäss immer weiter verschärfenden Konkurrenzprinzips, vergleichbar einem Karussell, das sich immer schneller dreht und in dem es immer schwieriger wird, sich an den einzelnen Sitzen festzuklammern, um nicht in ein unbestimmtes, bedrohliches Nichts hinausgeschleudert zu werden.

Immer wieder wird behauptet, dies alles liege in der Natur des Menschen. Schon die kleinsten Kinder würden es lieben, sich in gegenseitigem Wettstreit zu messen. Was für eine Unterstellung, was für eine Projektion von Phantasien Erwachsener auf das eben erst erwachte Leben der Kinder. Gerade sie zeigen uns doch am deutlichsten, dass der gegenseitige Wettkampf um Erfolg und Misserfolg eben nicht in der Natur des Menschen liegt. Es stimmt, dass ein Kind zu weinen und zu schreien beginnt, wenn ein anderes zwei Spielzeuglastwagen hat und es selber keinen. Es will das, was andere auch haben. Aber das hat nichts zu tun mit Konkurrenzkampf, sondern nur mit dem elementaren Anspruch auf Gerechtigkeit. Lässt man die kleinen Kinder in Ruhe, so zeigen sie ein so hohes Mass an sozialem Verhalten und sind immer darauf bedacht, alles gerecht untereinander zu verteilen, dass wir Erwachsene nur staunen müssten und immer wieder von ihnen lernen könnten. Viel zu schnell aber leben wir ihnen das Gegenteil vor und müssen uns dann freilich nicht wundern, wenn auch die Kinder möglichst schnell in unsere Fussstapfen treten wollen und nach und nach der Wunsch, stärker, besser und reicher zu sein als andere, das ursprünglich so tief verwurzelte soziale Verhalten nach und nach zu verdrängen beginnt.

Auch ein Blick in die Geschichte der Menschheit zeigt, dass das Konkurrenzprinzip nur eine von vielen, aber beileibe nicht die einzige Möglichkeit ist, wie das Arbeiten und das Zusammenleben in einer Gesellschaft organisiert werden können. Wie der an der Universität Wien lehrende Soziologe Khaled Hakami kürzlich in einem Interview mit der „NZZ am Sonntag“ eindrücklich beschrieben hat, beruht zum Beispiel die Lebensphilosophie der Maniq, einem im südlichen Thailand wohnhaft indigenen Volk, auf einem von Grund auf anderen Wertesystem. Tätigkeiten der täglichen Arbeitswelt werden nicht unterschiedlich bewertet, nichts ist mehr oder weniger wert als anderes. Es gibt keine Hierarchien, keine Anführer, keine sozialen, politischen oder ökonomischen Unterschiede und praktisch keine Gewalt. Es gibt keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern und auch nicht zwischen Kindern und Erwachsenen. Ein Maniq würde nie auf die Idee kommen, auf einen Berg zu rennen oder an einen Strand zu wollen. Die Maniq arbeiten zwei bis vier Stunden am Tag, das reicht, um die nötigen Nahrungsmittel zu beschaffen. Den Rest der Zeit ruhen sie sich aus, liegen herum, rauchen, kuscheln und – modern ausgedrückt – chillen. Das Vergleichen ist ihnen fremd. Sie haben in ihrer Sprache, in der es weder einen Komparativ noch einen Superlativ gibt, nicht einmal die Möglichkeit dazu, ebenso wie es auch keine Vergangenheits- und Zukunftsformen gibt. Die Maniq kennen viele Spiele, aber kein einziges, bei dem man gewinnen oder verlieren kann – ihre Spiele enden dann, wenn einer keine Lust mehr hat. Jeglicher Wettbewerb ist ihnen völlig fremd. Zudem sind sie durch und durch friedfertig und gehen sich bei Streitigkeiten aus dem Weg. Auch kennen sie kein Konzept von Eigentum – wenn sie etwas brauchen, nehmen sie es sich einfach. An Dingen wie Smartphones, Messern oder anderen Objekten der „zivilisierten“ Welt zeigen sie absolut kein Interesse. „Unsere westliche Welt“, so Khaled Hakami, „ist für sie vollkommen bedeutungslos“, und er fügt hinzu, dass die Lebensphilosophie der Maniq, gesamtgeschichtlich betrachtet, nicht eine seltene Ausnahme bildet, sondern das verkörpert, was während der weitaus längsten Periode der Menschheitsgeschichte Normalität war: „So wie wir westliche Menschen heute ticken, haben die meisten Menschen, die je auf diesem Planeten gelebt haben, nie getickt.“

Es ist für uns westliche, „moderne“ Menschen, zutiefst beseelt von einem kaum je in Frage gestellten „Fortschrittsglauben“, offensichtlich kein Thema, dass sich Geschichte auch in eine andere Richtung bewegen könnte als nur in jener einer permanenten Profitmaximierung, Leistungssteigerung und technologischer Perfektionierung. Doch nur schon das Wort „Fortschritt“ zeigt uns, dass wir uns, mit dem ständigen Blick in eine noch „perfektere“ Zukunft, gleichzeitig auch von etwas anderem „fort“ bewegen, was nicht a priori schlechter gewesen sein muss als alles „Moderne“. Käme man zur Erkenntnis, dass wir an einer bestimmten Stelle der Menschheitsgeschichte falsch abgebogen sind, was sollte uns dann daran hindern, zu dieser Stelle zurückzugehen und nochmals nachzuschauen, ob es nicht vielleicht einen besseren Weg gegeben hätte. So wie sich jedes Individuum irren kann, so kann sich auch die Menschheit als Ganzes irren. Doch wäre es nicht ein Zeichen grösster Intelligenz, sich einen solchen Irrtum auch ehrlich einzugestehen und daraus die notwendigen Schlüsse zu ziehen?

Doch auch wenn wir nicht rechtzeitig zu einer solchen Einsicht gelangen, wird uns das Leben früher oder später schlicht und einfach dazu zwingen. Denn bald schon werden die Opfer des weltweiten Konkurrenz- und Wettkampfs aller gegen alle so gross sein, dass sich die daraus entstehenden Probleme auch rein ökonomisch nicht mehr werden bewältigen lassen. Und dann wird und muss das Zeitalter des Gegeneinander ein Ende haben und einem neuen Zeitalter des Miteinander Platz machen. Dann werden wir vielleicht eher wieder so leben wie die Maniq im Süden Thailands und alle unsere Begabungen und Lebenskräfte nicht mehr nur darauf verwenden müssen, potenzielle Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, sondern dazu, unser Bestmögliches zum Gelingen und zum Wohl des Ganzen beizutragen. Doch müssen wir wirklich so lange warten, bis alles von selber zusammenbricht? Müssen wir wirklich noch so viele unzählige Opfer in Kauf nehmen? Wäre es nicht jetzt schon höchste Zeit für ein radikales Umdenken zum Wohle aller?

Und um auf den Ausgangspunkt dieses Artikels, die Olympischen Spiele, zurückzukommen: Höchstmögliche körperliche und akrobatische Leistungen werden auch in einem neuen Zeitalter des Miteinander zu bewundern sein. Aber nicht mehr in römischen Amphitheatern, bei Gladiatorenkämpfen, in Wettkampfarenen und bei olympischen Spielen im Kampf aller gegen alle um die paar wenigen goldenen, silbernen und bronzenen Medaillen, während alle anderen leer ausgehen. Sondern auf Plätzen mitten in den Städten, auf einem Dorffest oder in einem Zirkus, wo Menschen ihre besten und aussergewöhnlichsten Talente zur Schau stellen können, nie irgendwer mit irgendwem verglichen wird, alle Formen von Ranglisten für immer der Vergangenheit angehören und das Glück, der Triumph und der Erfolg der einen zugleich immer auch das Glück, der Triumph und der Erfolg aller anderen sind.

(Nachtrag am 3. August 2024: Anlässlich der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris inszenierten die Sängerin Juliette Armanet und der Pianist Sofiane Pamart auf einem Floss in der Seine treibend und mit einem brennenden Flügel John Lennons „Imagine“. Am polnischen TV-Sender TVP kommentierte ein Moderator diese Darbietung mit folgenden Worten: „Eine Welt ohne Himmel, ohne Nationen und ohne Religion, das ist eine Friedensvision, die alle ergreifen sollte.“ Im Anschluss an die Sendung wurde er entlassen.)

(Nachtrag am 4. August 2024: An den Olympischen Spielen in Paris stemmte sich die Slowakin Tamara Potocká nach ihrem Vorlauf über die 200 Meter Lagen aus dem Becken, brach zusammen und blieb bewusstlos liegen. Später sagte sie: „Ich habe mir gesagt, dass ich alles geben werde und meine Seele im Pool lassen werde.“)

(Nachtrag am 9. August 2024: Seit einer Woche wird heftigst diskutiert, ob die algerische Boxerin Imane Khelif aufgrund ihres männlichen Geschlechtsstatus an den Wettkämpfen der Frauen an den Olympischen Spielen teilnehmen dürfe oder nicht. Es sind zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen Sportlerinnen in solchen Fällen schon Suizid begangen haben. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Im Grunde ist Wettbewerb immer unfair. Denn die Hochspringerin mit den längeren Beinen hat nun mal naturgemäss grössere Chancen als die mit den kürzeren Beinen. Der Skirennfahrer Beat Feuz saust dank seines überdurchschnittlichen Körpergewichts logischerweise schneller ins Tal als seine leichteren Mitkonkurrenten. Und die 14jährige Turnerin hat nun mal biegsamere Gelenke als die 24Jährige. Die einzige logische Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis ist, dass Vergleichen immer absurd und ungerecht ist, sei es in der Schule, am Arbeitsplatz oder im Sport. Kein Mensch verfügt in irgendeinem Leistungsbereich über die genau identischen Voraussetzungen wie ein anderer. Man kann schlichtweg, wie es eine Schweizer Redenwendung sagt, Äpfel nicht mit Birnen vergleichen, auch nicht ein Krokodil mit einem Regenwurm, auch nicht Max mit Röbi. Also: Finger weg vom Vergleichen, vom Wettbewerb, vom Konkurrenzprinzip, das immer nur dem „gerecht“ wird, der die besseren Voraussetzungen mitbringt.)

(Nachtrag am 18. August 2024. Was ebenfalls kaum je thematisiert wird, wenn die „erfolgreichsten“ Nationen nach Olympischen Spielen ihre Medaillen zusammenzählen und ihre Ranglisten von den Besten bis zu den Schlechtesten veröffentlichen: Der Leistungsförderung in den reicheren Ländern stehen unvergleichlich viel höhere finanzielle Mittel zur Verfügung. Ihre Sportlerinnen und Sportler sind weitgehend mit viel Geld und allen weiteren zur Verfügung stehenden Raffinessen und Tricks aufgepumpte Leistungsmaschinen, gegen welche die Menschen in den ärmeren Ländern, selbst wenn sie noch so sportlich begabt wären, nicht die geringste Chance haben. Was wieder den Vergleich mit dem Krieg nahelegt, wo Pfeil und Bogen von Naturvölkern hoffnungslos unterlegen sind im Kampf gegen die Panzer und Raketen aus den Ländern der Reichen. Was für ein unsichtbares Potenzial, von dem niemand spricht. Selbst siebenjährige Kinder irgendwo in Indonesien oder auf einer der Pazifikinseln, die auf ihrem täglichen Schulweg gefährlichste Felswände überwinden oder sich durch den dichtesten Dschungel voller gefährlicher Tiere hindurchkämpfen müssen, vollbringen vermutlich grössere körperliche Leistungen als manch eine Europäerin oder ein US-Amerikaner, der soeben von den Olympischen Spielen in Paris mit einer Medaille nach Hause gekommen und dort wie ein Gott empfangen worden ist. Hätte nicht auch jene zwölfjährige Inderin, die zur Coronazeit ihren an einen Rollstuhl gefesselten Vater über 800 Kilometer weit über Strassen und Wege voller Steine und Löcher stiess, eine olympische Goldmedaille verdient?)

Klimawandel und vieles mehr: Der Kapitalismus darf nicht zerbrechen, nur die Menschen, die zu zerbrechlich sind und eine zu wenig dicke Haut haben, um ihn zu überleben…

„Die Schweiz muss sich besser an die Hitze anpassen“, titelt das Gratisblatt „20 Minuten“ am 30. Juli 2024, dem Beginn einer prognostizierten Hitzewelle, bei der das Thermometer in einzelnen Regionen unseres Landes bis auf über 35 Grad ansteigen dürfte. „Wenn wir jetzt nichts unternehmen, wird die Hitzemortalität, die schon 2022 innerhalb eines einzigen Jahres schweizweit 623 Menschen das Leben gekostet hat, weiter zunehmen“, sagt die Umweltepidemiologin Ana Maria Vicedo-Cabrero und fordert eine „umfassende und systematische Strategie des öffentlichen Gesundheitswesens zum Schutze der Bevölkerung“. Als wirkungsvolle Massnahmen zur Prävention gegen mehr Sterbefälle nennt Vicedo-Cabrero unter anderem „angepasste Kleidung, Reduzierung körperlicher Aktivitäten und Verzicht auf Drogen- und Medikamentenkonsum“. Auch Grünen-Fraktionschefin Aline Trede ärgert sich, dass „zu wenig gemacht wird und vor allem zu wenig koordiniert“. Dabei, so Trede, seien die Grundlagen darüber, was helfe, schon längst klar. So etwa könnten „fliessendes Wasser, angepasste Bäume und Entsiegelungen“ in den Städten für deutlich mehr Abkühlung sorgen.

Der weltweite Kampf gegen den Klimawandel, von dem vor nicht langer Zeit noch die Rede war, scheint sich mittlerweile also nur noch darauf zu beschränken, mit was für Massnahmen die eigene Bevölkerung möglichst wirksam vor den Gefahren zunehmender Hitze geschützt werden kann. So empfiehlt auch das Bundesamt für Gesundheit: Mindestens 1,5 Liter Wasser sollten an einem Hitzetag getrunken werden, Alkohol sei zu meiden, der Konsum von zucker- und koffeinhaltigen Getränken sei zu reduzieren, fettarme Nahrung sei zu bevorzugen, der Körper sollte regelmässig durch kaltes Duschen oder Baden, Lotionen oder Kältepackungen abgekühlt werden, zu Hause sollten tagsüber die Fenster geschlossen werden, Lüften sollte man nur abends, nachts oder morgens früh, körperliche Aktivitäten sollten wenn möglich auf die Morgen- und Abendstunden verschoben werden.

Was für eine Diskrepanz zu jener in der Anfangszeit der grossen Klimademonstrationen immer wieder erhobenen Forderung nach einem „System Change“, einer grundlegenden gesellschaftlichen und ökonomischen Neuorientierung, ausgehend von der Erkenntnis, dass eine auf unbegrenztes Wachstum und unbegrenzte Profitmaximierung fixierte Wirtschaft und das Ziel einer massiven Reduktion der CO2-Emissionen unmöglich miteinander in Einklang gebracht werden können. Auf höchst erschreckende Weise scheint diese so grundlegende, zentrale und alles entscheidende Erkenntnis voll und ganz auf der Strecke geblieben zu sein: Von einem „System Change“ spricht heute fast niemand mehr. Die weit überwiegende Mehrheit der Menschen in den reichen Ländern und die Angehörigen einer wachsenden Oberschicht in den armen und ärmsten Ländern der Welt fliegen auf Teufel komm raus und in immer grösserer Zahl über alle Kontinente, als wäre nichts geschehen. Doch nicht nur das Reisen, auch unzählige andere Luxusvergnügungen, die sich eine privilegierte und immer reicher werdende Minderheit der Weltbevölkerung zu leisten vermag, schlagen alle Rekorde. Nur noch ein paar wenige „Unverbesserliche“ tragen die Hoffnungen, von denen eben noch Millionen junge Menschen weltweit erfüllt waren, in ihren Herzen und müssen zu immer drastischeren Mitteln greifen, um überhaupt irgendwie noch wahrgenommen zu werden, während Millionen andere längst schon alle Hoffnungen auf eine lebenswerte Zukunft wohl für immer begraben haben.

Selbst Menschen, die eben noch an vorderster Front für ein radikales „Umdenken“ und ein neues „Wertesystem“ eintraten und von denen einige sogar von einer baldigen „Zeitenwende“ träumten, scheinen sich kleinlaut damit abgefunden zu haben, dass sie heute bestenfalls noch „Expertinnen“ und „Experten“ sind beim Empfehlen von Massnahmen, mit denen sich eine sowieso schon höchst privilegierte, winzige Minderheit der gesamten Weltbevölkerung mit kühlem Wasser, Kältepackungen, Schatten, geschlossenen Fensterläden, wenig Bewegung, geringem Alkoholkonsum und fettarmer Ernährung gegen die zunehmende Hitze schützen kann, während siebenjährige Kinder in Indien bei 50 Grad auf endlosen Baustellen unter ihren Lasten fast zerbrechen, aus steinharter, tief vertrockneter Erde sich in immer weiter und weiter ausbreitenden Zonen des Südens kaum noch etwas Essbares herausarbeiten lässt, ganze Inselvölker ihre Häuser im Kampf gegen einen unerbittlich steigenden Meeresspiegel für immer zu verlieren drohen und selbst in den „wohlhabenden“ Ländern des Nordens Strassenarbeiter beim Ausgiessen von 160 Grad heissem Asphalt und Landarbeiterinnen beim Ausstechen von Spargeln selbst zur heissesten Mittagszeit wohl nur ein müdes Lächeln übrig haben können, wenn irgendein „Gesundheitsexperte“ in seinem vollklimatisierten Büro die Empfehlung herausgibt, schwere körperliche Arbeit sei in die frühen Morgenstunden oder späten Abendstunden zu verlegen.

Was für ein Triumph für all jene, die, als vor fünf Jahren Millionen von jungen Menschen weltweit mit dem Slogan „System Change“ auf die Strasse gingen, schon das Weiterbestehen des kapitalistischen Wirtschaftssystems in Gefahr sahen. Nun können sie wieder aufatmen. Die Gefahr ist vorüber. Statt die Ursache zu bekämpfen, werden wieder einzig und allein nur die Symptome bekämpft. Statt das System den Menschen anzupassen, wird nun wie eh und je wieder alles daran gesetzt, die Menschen dem System anzupassen. Auch der Skirennfahrerin, die nach einem lebensgefährlichen Sturz das Abtragen einer besonders gefährlichen Schanze fordert, wird von den Rennverantwortlichen gesagt, sie hätte offenbar ihren Beruf verfehlt. Der Kunstturnerin, die sich beim Training den Knöchel gebrochen hat, wird nicht erlaubt, das Training abzubrechen, es wird ihr einfach ein genug dicker Verband angelegt, sodass sie trotz fast unerträglicher Schmerzen das Training fortsetzen kann. Als sich der Postbote bei seinem Vorgesetzten über starke Rückenschmerzen beklagt, die infolge der immer schwereren Pakete und des zunehmenden Zeitdrucks seit Monaten immer mehr zugenommen hätten, wird ihm gesagt, er könne ja kündigen und bei der Konkurrenz eine neue Stelle antreten. Als ein siebzehnjähriger Lehrling auf einer Baustelle infolge einer Betonplatte, die auf seinen Rücken fiel, verstirbt, wird bloss sein direkter Vorgesetzter zur Rechenschaft gezogen, mit keinem Wort aber das dahinter steckende System ständig zunehmenden Zeitdrucks infolge der gnadenlosen Vorgaben von Bauherren, Immobilienfirmen und Investoren auch nur ansatzweise in Frage gestellt. Als ein dreijähriger Bub von einem Lastwagen überrollt wird und seinen schweren Verletzungen erliegt, wird dem Fahrer der Führerschein entzogen, doch an den internen Richtlinien der Firma, welche die Einhaltung der ohnehin schon äusserst knapp bemessenen maximal zulässigen Fahrzeiten bis fast auf die Sekunde reglementieren, wird auch nicht ein einziger Punkt oder ein einziges Komma geändert.

Total überarbeitete und ausgelaugte Angestellte in Führungspositionen, die sich jeden Tag nur noch qualvoll zur Arbeit schleppen, werden zum Psychiater oder in eine Burnoutklinik geschickt, um für ihren Job so schnell wie möglich wieder fit zu werden, ohne dass bei den Arbeitsabläufen der Firma auch nur das Geringste geändert würde. Der Pflegerin im Altersheim, die von einer extrem aggressiven und widerspenstigen Patientin fast zu Tode gebissen worden wäre und nun wünscht, zukünftig bei solchen Einsätzen von einem männlichen Mitarbeiter begleitet zu werden, wird beschieden, dass dies infolge der einzuhaltenden Sparmassnahmen leider nicht möglich sei. Eine Laborantin, die nach 20 Stunden Arbeitseinsatz ohne Pause eine Blutprobe verwechselt hat, was beinahe zum Tod des betroffenen Patienten geführt hätte, nimmt sich das Leben, aber auch ihre Nachfolgerin muss infolge Personalmangels Einsätze von über 20 Stunden ohne Pause leisten und sich dabei permanent davor fürchten, früher oder später ebenfalls einen lebensbedrohlichen Fehler zu begehen. Der Friseurin, die unter fast unerträglichen Schmerzen in den Fingergelenken und ebenso in den Beinen, bedingt durch stundenlanges Stehen, leidet, schlägt ihre Chefin vor, ihr Arbeitspensum zu reduzieren, ohne zu bedenken, dass die alleinerziehende Mutter dann viel zu wenig verdienen würde, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter bestreiten zu können. Als eine Umfrage bei vierzehnjährigen Schülerinnen ergibt, dass immer mehr von ihnen dermassen unter dem schulischen Leistungs- und Prüfungsdruck leiden, dass Suizidversuche in erschreckendem Ausmass zugenommen haben, empfiehlt die zuständige pädagogische Fachstelle nicht etwa die Überprüfung der schulischen Vorgaben, sondern, dass sich diese Mädchen halt, zum Beispiel durch sportliche Betätigung, schlicht und einfach eine „dickere Haut“ zulegen müssten. Wenn nach 300 fast pausenlos aufeinanderfolgenden Konzerten die Stimmbänder der Popsängerin versagen, wird ihr jede erdenkliche medizinische Hilfe zuteil, aber nur, damit sie so schnell wie möglich wieder auf der Bühne steht und auch die nächsten 300 Konzerte zur Zufriedenheit all derer, die damit ihr grosses Geld verdienen, einigermassen unbeschadet zu bewältigen vermag. Denn der Kapitalismus, auch wenn er noch so tödlich ist, darf nicht zerbrechen. Zerbrechen dürfen nur all jene, die offensichtlich zu schwach und zu zerbrechlich sind und eine zu wenig „dicke Haut“ haben, um ihn zu überleben.

Als die Umweltepidemiologin Ana Maria Vicedo-Cabrero eine „umfassende und systematische Strategie des öffentlichen Gesundheitswesens zum Schutze der Bevölkerung“ gefordert hat, habe ich mir darunter eigentlich etwas anderes vorgestellt. Aber dass alles mit allem zusammenhängt und sich ohne eine Überwindung des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells alle jetzt schon mehr als genug grossen Probleme, Belastungen und Zukunftsbedrohungen bis hin zu einer möglichen Auslöschung der gesamten Menschheit infolge von Armut, Hunger, Krieg und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen nur immer weiter verschärfen werden, solange bloss reine Symptombekämpfung betrieben und den tatsächlichen Ursachen von allem auf den Grund gegangen wird, von diesem Gedanken scheint die weit überwiegende Mehrheit der Menschheit zurzeit meilenweit entfernt zu sein, geblendet durch die ungebrochen wiederholten Heilsversprechen einer Minderheit Privilegierter, die aus allem Elend immer noch genug Nutzen ziehen und deshalb kein Interesse haben an einer grundlegenden Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse. Bis auch sie, wie Bertolt Brecht einst sagte, hoch auf ihren goldenen Karossen „von den schwitzenden Zugtieren mit in den Abgrund gerissen werden.“ Noch hätten wir es in der Hand, ein solches Ende zu verhindern. Doch was müsste geschehen, um es nicht so weit kommen zu lassen?

(Nachtrag am 20. August 2024: Der „Tagesanzeiger“ berichtet über ein neu entwickeltes Projekt, bei dem junge Menschen ab 16 Jahren zu „Wellguides“ ausgebildet werden, die mit Schülerinnen und Schülern über Ängste, Sucht und Essstörungen diskutieren sollen. Die „Wellguides“ zeigen, wie man mit seiner psychischen Gesundheit umgeht und wo man sich Hilfe holen kann, sie zeigen als sogenannte „Mental-Health-Influencerinnen“ in aufwendigen Powerpointpräsentationen voller koomplizierter Schemas, wie psychische Krankheiten entstehen, sprechen über Bewältigungsstrategien gegen Stress, weisen auf Internetquellen, Broschüren und Anlaufstellen hin und stellen meistens gleich auch noch die Schulsozialarbeiterin vor, die als Vertrauensperson stets zur Verfügung steht. Nur etwas wird mit keinem Wort erwähnt: Dass es sich bei alledem um reine Symptombekämpfung – und bloss ein weiteres lukratives Geschäftsfeld handelt – handelt, so lange nicht den tieferen Ursachen der psychischen Probleme auf den Grund gegangen wird. Typisch: In den Workshops ist immer wieder die Rede vom Einfluss der sozialen Medien und den durch Klimawandel und Kriege verursachten Ängste. Doch mit keinem Wort wird die Schule mit ihren steigenden Leistungsansprüchen, dem zunehmenden Stress, dem permanenten Prüfungsdruck und dem immer härteren gegenseitigen Konkurrenzkampf um gute Noten, Zeugnisse und Zukunftschancen erwähnt – und dies, obwohl in sämtlichen Umfragen bei Jugendlichen die Schule als Stressfaktor Nummer eins angegeben wird. Doch wird dieses System als etwas so Gottgegebenes, Unveränderbares und Unbeeinflussbares hingenommen, dass nur schon der erste Gedanke an eine mögliche Veränderung dieses Systems sozusagen einem generellen, heimlichen, nicht offen ausgesprochenen und doch einem alles beherrschenden Denkverbot unterworfen ist. Erneut hat auch innerhalb des vergangenen Jahrs die Zahl von Suizidversuchen Jugendlicher zugenommen und liegt jetzt bei fast fünf Prozent. Welche Prozentmarke muss wohl überschritten werden, bis endlich die „Heilige Kuh“ Schule geschlachtet werden kann?)

„Wir brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben“: Die absurden Ideen des „Wirtschaftshistorikers“ Tobias Straumann zum Thema Kolonialismus…

„Die Menschen wollen hören, dass unser Wohlstand auf Blut aufgebaut ist“ – so der Titel eines zweiseitigen Interviews mit dem „Wirtschaftshistoriker“ Tobias Straumann in der „Sonntagszeitung“ vom 28. Juli 2024. Schon mit dieser Aussage suggeriert Straumann, dass eine kritische Sicht auf die Geschichte des Kolonialismus offenbar nicht so sehr mit historischen Gegebenheiten begründet sei, sondern vielmehr ein Zugeständnis sei an ein Publikum, welches hören wolle, dass der westliche Wohlstand möglicherweise auf Verbrechen in der Vergangenheit beruhen könnte. Was für eine absurde Behauptung! Tatsächlich ist es doch genau umgekehrt: Die meisten Menschen wollen eben gerade nicht ein schlechtes Gewissen haben und möglichst nicht daran erinnert werden, dass unser westlicher Wohlstand auch eine ganz andere, dunkle Seite haben könnte. Umso wichtiger ist die wissenschaftliche Aufarbeitung der Zusammenhänge zwischen Reichtum auf der einen, Elend und Ausbeutung auf der anderen Seite. Aber davon will Straumann, wie die folgenden Ausschnitte aus dem Interview zeigen, offensichtlich ganz und gar nichts wissen.

Auf die Frage, ob die Schweizerinnen und Schweizer ein Volk von Ausbeutern, Profiteuren und Komplizen des Kolonialismus sei, antwortet Straumann mit der Gegenfrage: „Wie kommen Sie darauf?“, um dann weiter auszuführen: „Ein solches Bild ist völlig übertrieben.“ Im Widerspruch dazu steht dann aber folgende Aussage: „Wir wissen schon lange, dass Schweizer Kaufleute bereits im 18. Jahrhundert sehr international orientiert waren und deshalb direkt oder indirekt mit Kolonialismus und Sklaverei zu tun hatten.“ Aha, also doch? Gänzlich kann ja auch Straumann nicht sämtliche historische Tatsachen ausblenden. Und doch geht durch seine ganzen Ausführungen hindurch ein fast reflexartiges sich Aufbäumen und die Zurückweisung all jener Theorien, wonach die Schweiz einen wesentlichen Anteil ihres Wohlstands kolonialer Ausbeutung in Vergangenheit und Gegenwart verdanke: „Dass die Schweiz mitverantwortlich sei für das Elend der Welt“, so Straubhaar, „diese Behauptung ist historisch und theoretisch falsch.“

Vielmehr sei, so Straumann, der heutige Wohlstand der Schweiz – und damit auch der anderen westlichen Länder des globalen Nordens – sozusagen fast ausschliesslich der Eigenleistung dieser Länder zu verdanken: „Länder werden nur reich, wenn sie konstant die Effizienz und die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft durch Forschung, Entwicklung und Innovation zu steigern vermögen.“ Deshalb kann Straumann auch den Thesen von Howard French, US-Publizist, Uniprofessor und Autor des Bestsellers „Afrika und die Entstehung der modernen Welt“, wonach erst die Gewinne aus dem transatlantischen Sklavengeschäft die europäische Industrialisierung ermöglicht hätten, ganz und gar nichts abgewinnen: „Diese These ist falsch, kein seriöser Historiker teilt sie.“

Was aber tatsächlich falsch ist, das ist nicht diese These von Howard French, sondern die Behauptung Straumanns, die europäische Industrialisierung – und damit die Grundlage des modernen Kapitalismus – hätte nichts zu tun mit dem transatlantischen Sklavengeschäft. Das pure Gegenteil ist der Fall. Nur dank der gnadenlosen Ausbeutung von rund 15 Millionen afrikanischen Sklavinnen und Sklaven auf den Plantagen und in den Bergwerken Amerikas konnten jene Profite erwirtschaftet werden, dank denen europäische Banken und Handelshäuser entstehen konnten und damit die finanzielle Basis für die Industrialisierung. Und nur weil alle hierzu benötigten Rohstoffe wie Baumwolle, Metalle, aber auch Landwirtschaftsprodukte wie Zucker, Kakao und Kaffee zu dermassen tiefen Preisen oder fast kostenlos aus dem Süden in den Norden verfrachtet wurden und dort zu industriellen Fertigprodukten verarbeitet und zu einem x-fach höheren Preis weiterverkauft werden konnten, wurden die Länder des Nordens immer reicher und verarmten die Länder des Südens gleichzeitig immer mehr – koloniale Ausbeutung, die bis zum heutigen Tag ungebrochen weitergeht: Wo früher in den Ländern des Südens Nahrungsmittel für die Eigenversorgung angebaut wurden, werden heute fast ausschliesslich Produkte angebaut, die für den Export in die reichen Länder bestimmt sind, der überwiegende Teil davon Luxusprodukte, die auf den Tischen der Reichen landen, und zwar in einem derartigen Überfluss, dass rund ein Drittel davon gar nicht konsumiert wird, sondern im Abfall landet – während gleichzeitig in den Ländern des Südens jeden Tag rund 10’000 Kinder schon vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben.

Tatsachen, die heute in jeder einigermassen seriösen wissenschaftlichen Analyse zu finden sind. Ich frage mich, was für Bücher Tobias Straumann liest. Und ich frage mich, ob er sich noch nie gefragt hat, weshalb die Schweiz so reich ist. In Anbetracht der Tatsache, dass die Schweiz praktisch über keinerlei Bodenschätze verfügt und der Anteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche weit geringer ist als in den meisten anderen Ländern, müsste die Schweiz nämlich eines der ärmsten Länder der Welt sein. Dass sie eines der reichsten ist, ist nur mit – kapitalistischen – Handels- und Ausbeutungsbeziehungen zu erklären: Grosskonzerne wie Nestlé verdanken ihre Riesengewinne nahezu ausschliesslich der Differenz zwischen tiefen Rohstoffpreisen und x-fach höheren Preisen für Fertigprodukte – von den zehn Franken, die wir bei Starbucks für eine Tasse Kaffee bezahlen, sieht die Kaffeebäuerin in Kenia, die zwölf Stunden pro Tag schuftet und mit ihrem Lohn dennoch ihre Familie kaum zu ernähren vermag, bloss ein paar wenige Rappen. Keinen Tropfen Öl finden wir in Schweizer Boden, kein Körnchen Gold und kein Körnchen Silber, keinen einzigen Diamanten, nicht ein Milligramm Lithium oder Kobalt – und doch verdienen Rohstoffkonzerne wie Glencore oder Xstrata mit dem Kaufen und Verkaufen dieser Produkte und mit ihrem Hin- und Herschieben über den gesamten Globus Milliardengewinne. Auch von den fast 8000 Milliarden Franken, welche auf Schweizer Banken liegen, stammt rund die Hälfte aus dem Ausland, gewonnen aus der Verwertung natürlicher Ressourcen und der Arbeitsleistung von Millionen von zu Hungerlöhnen schuftender Arbeiterinnen und Arbeiter in Ländern, wo es an allem mangelt. Laut der Entwicklungsorganisation Oxfam erwirtschaftet die Schweiz im Handel mit sogenannten „Entwicklungsländern“ einen 50 Mal höheren Gewinn, als sie diesen Ländern in Form von „Entwicklungshilfe“ wieder zurückerstattet. Wenn Straumann behauptet, der „Anteil der Schweizer Wirtschaft am globalen Kolonialismus“ sei „unbedeutend“ gewesen, so ist das nichts anderes als eine totale Geschichtsverfälschung. Kolonialismus besteht ja nicht nur darin, wie stark ein Land in den transatlantischen Sklavenhandel verstrickt war – obwohl auch hier die Schweiz durchaus ganz gehörig ihre Finger im Spiel hatte, wie mehrere neuere Studien belegen -, sondern vor allem auch darin, wie stark ein Land in das global installierte kapitalistische Wirtschafts-, Ausbeutungs- und Machtsystem integriert ist – und es wird wohl niemand ernsthaft bestreiten können, dass die Schweiz da an vorderster Front stets mit dabei ist, dieses Land, das Jean Ziegler dereinst sogar als „Gehirn des Monsters“ bezeichnete.

Tatsachen, von denen Straumann offensichtlich nichts wissen will. Stattdessen versteigt er sich zu Behauptungen wie „Handel entsteht dann, wenn beide Seiten einen Gewinn daraus ziehen“, „Die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung hat heute einen viel höheren Lebensstandard als praktisch alle Menschen, die vor 1800 lebten“, „Der Westen ist die einzige Kultur, welche die Sklaverei wirklich abgeschafft hat“ und „Selbstkritik ist eine grosse Stärke der westlichen Kultur“. Aussagen, die jeglicher wissenschaftlicher Seriosität zutiefst widersprechen: Erstens wäre es ja schön, wenn Handel immer beiden Seiten zugute käme, aber diese Idealvorstellung existiert wohl nur in der naiven Traumwelt eines „Wissenschaftlers“, der selber zu jener Gesellschaftsschicht gehört, die von finanziellen Alltagssorgen fast gänzlich befreit ist und offensichtlich nicht mehr mitbekommt, dass die meisten „Handelsbeziehungen“ stets auch mehr oder weniger krasse „Ausbeutungsbeziehungen“ sind, in denen höchst selten alle über die gleich langen Spiesse verfügen, um ihre Interessen auch tatsächlich adäquat durchzusetzen. Zweitens trifft es zwar zu, dass ein grosser Teil der Weltbevölkerung über ein historisch einmalig hohes Niveau von Wohlstand verfügt, aber eine solche Behauptung verliert ganz und gar ihre Glaubwürdigkeit, wenn man nicht gleichzeitig auch darauf hinweist, dass die Einkommens- und Vermögensunterschiede weltweit ebenfalls in der Geschichte noch nie so gross waren wie heute und dass der „durchschnittliche“ Wohlstand all jenen über 800 Millionen Menschen, die jeden Abend hungrig schlafen gehen, ganz und gar nichts nützt, und zudem der heutige „Wohlstand“ zu einem überwiegenden Teil auf einer derart massiven Ausbeutung der natürlichen Lebensgrundlagen beruht, dass von diesem „Wohlstand“ für zukünftige Generationen nur wenig oder vielleicht sogar überhaupt nichts mehr übrig bleiben wird. Drittens ist es geradezu zynisch, davon zu sprechen, der Westen sei die einzige „Kultur“, welche die Sklaverei abgeschafft habe. Bevor man sie nämlich abschaffen konnte, musste man sie erst einmal schaffen, und dies war ganz und gar ein Werk kapitalistisch-westlicher „Kultur“. Zudem verschweigt Straumann an dieser Stelle, dass sklavenartige Arbeitsverhältnisse bis in die Gegenwart andauern: Noch heute müssen gemäss Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO weltweit 28 Millionen Menschen Zwangsarbeit verrichten, auf Baustellen, in Steinbrüchen, auf Feldern, in Minen, in Textilfabriken, als Hausangestellte oder in der Prostitution. 160 Millionen Kinder zwischen 5 und 17 Jahren sind gezwungen, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, weil ihre Familien sonst nicht überleben könnten, viele von ihnen müssen unter gefährlichen Bedingungen arbeiten, sind giftigen Substanzen ausgesetzt oder müssen viel zu schwere Lasten tragen. Viertens ist auch die Behauptung, Selbstkritik sei eine „grosse Stärke der westlichen Kultur“ in Anbetracht der Tatsache, dass die USA als führende westlich-kapitalistische Staatsmacht seit 1945 über 40 völkerrechtswidrige Kriege und Militärschläge mit über 50 Millionen Todesopfern angezettelt haben, ohne dass dies jemals zu Einsicht, Reue oder einer grundsätzlichen Neubesinnung geführt hätte, mehr als vermessen.

Befremdlich ist nicht nur, dass ein „Wirtschaftshistoriker“ mit Fakten und Zusammenhängen, die doch eigentlich sein Forschungsgebiet sein müssten, dermassen einseitig und geradezu demagogisch umgeht, bloss um sein eigenes Weltbild aufrechtzuerhalten und gegen jegliche Störfaktoren zu verteidigen. Mindestens so befremdlich ist, dass ein allgemein als seriös und „objektiv“ wahrgenommenes Informationsmedium wie die „Sonntagszeitung“ solchen Ausschweifungen ganze zwei Zeitungsseiten zur Verfügung stellt, ohne wenigstens in Form eines redaktionellen Kommentars die eine oder andere Aussage zu relativieren, zu ergänzen oder kritisch zu hinterfragen. Auf erschreckende Weise wird in solchen Momenten deutlich, wie weit Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien offensichtlich schon zu einem Machtsystem verschmolzen sind, das bereits als völlig „normal“ und „alternativlos“ hingenommen wird und keine grundsätzlich anderen Sicht- und Denkweisen mehr zulässt. Mitgeschrieben von einem „Wirtschaftshistoriker“, von dem man eigentlich erwarten würde, ein bisschen etwas sowohl von Wirtschaft wie auch von Geschichte zu verstehen, und der sogar so anmassend ist, seine eigene „Wahrheit“ als die einzig richtige darzustellen und allen anderen vorzuwerfen, sie hätten bloss populistische Motive und würden nur deshalb die Geschichte des Kolonialismus kritisch analysieren, weil dies gerade „im Trend“ und nun leider auch „auf die Schweiz übergeschwappt“ sei.

Die Blaue Moschee in Hamburg: Der „Terrorismus“ in unseren Köpfen und die Frage, ob nicht alles auch ganz anders sein könnte…

„Der Aussenposten des Iran muss schliessen“, so berichtet der schweizerische „Tagesanzeiger“ vom 25. Juli 2024. Gemeint ist das vom deutschen Innenministerium erlassene Verbot des Islamischen Zentrums Hamburg, welches nach Ansicht der deutschen Behörden „Terror und Islamismus“ propagiere. Vermummte und bewaffnete Beamte seien um 6 Uhr früh vorgefahren, mit Trennschleifern und einer Ramme, zur Razzia in der Imam-Ali-Moschee, auch genannt „Blaue Moschee“, Sitz des Trägervereins Islamisches Zentrums Hamburg (IZH). Wenig später hätten Polizisten die ersten „Kartons mit Beweismaterial“ herausgetragen, darunter „einen Sack voller Geldmünzen“. Ebenso seien fünf weitere Vereine verboten worden, die „teilweise oder komplett unter der Kontrolle des IZH“ stünden. Die Polizisten hätten zudem insgesamt weitere 53 „dem IZH ideologisch nahestehende Einrichtungen in acht deutschen Bundesländern“ untersucht. Das deutsche Innenministerium begründe das Verbot damit, dass das IZH „gegen die verfassungsmässige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland und den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet“ sei und ausserdem „gegen Strafgesetze“ verstosse. Dem IZH werde „Terrorunterstützung“ vorgeworfen, insbesondere die Unterstützung der in Deutschland verbotenen libanesischen Hizbollah. Das IZH, so die deutsche Innenministerin Nancy Faeser, propagiere eine „islamistische, totalitäre Ideologie“, die sich „gegen die Menschenwürde, gegen Frauenrechte, gegen eine unabhängige Justiz und gegen unseren demokratischen Staat“ richte. Dazu käme ein „aggressiver Antisemitismus“. Als weiterer zentraler Grund für das Verbot wird ins Feld geführt, dass das IZH den deutschen Behörden als „Aussenposten des iranischen Regimes“ gelte, das „unter dem Deckmantel einer ganz normalen Moscheegemeinschaft und Bildungsinstitution“ agiere.

Auch das schweizerische „Tagblatt“ vom 25. Juli spricht vom IZH als „Irans Vorposten in Europa“, als „Spionagenest“ und „Propagandazentrale der Mullahs“, welche „totalitäre Herrschaftsmodelle“ propagiere, „gegen Juden und gegen Israel“ hetze und die in Deutschland verbotene „Terrororganisation“ Hizbollah unterstütze. Der Hamburger Verfassungsschutz beobachte das IZH bereits seit 1993. Anfang 2020 sei in der Blauen Moschee eine Trauerfeier für Qassem Soleimani abgehalten worden, den General der iranischen Revolutionsgarden, den das amerikanische Militär auf Befehl des damaligen US-Präsidenten Donald Trump getötet hatte. Lange Zeit aber sei das IZH zumindest von Teilen der Hamburger Politik „als Partner betrachtet“ worden, bis 2022 hätte das IHZ der Schura angehört, einem Rat islamischer Gemeinschaften, mit denen Hamburg einen Staatsvertrag abgeschlossen hatte, um Fragen von beiderseitigem Interesse, wie etwa den Religionsunterricht, zu regeln. Erst 2022 seien das IZH und einige kleinere Organisationen aus der Schura ausgetreten, nachdem „Politiker von CDU und Grünen ihren Rauswurf gefordert“ hätten.

Beim Lesen der beiden Artikel macht mich einiges stutzig: Wenn das IZH bereits seit 1993 unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stand, also seit über 30 Jahren, dann können ja die Gründe für das jetzt vollzogene Verbot nicht allzu schwergewichtig gewesen sein, sonst hätte man ja dieses Verbot schon viel früher erlassen. Völlig befremdlich erscheint mir auch, dass ausgerechnet die Trauerfeier für Qassem Soleimani anstössig gewesen sein soll, während das wirklich Anstössige daran wohl eher darin bestehen dürfte, dass dieser Repräsentant der iranischen Revolutionsgarden auf Befehl der US-Regierung umgebracht worden war – man stelle sich einmal vor, die iranische Regierung würde die Ermordung des deutschen Bundespräsidenten in Auftrag geben! Ebenfalls zu denken geben muss die Tatsache, dass das IZH bis 2022 bei der Schura mitmachte und sich somit einem interreligiösen Dialog verpflichtet hatte, der erst durch die Initiative deutscher Politiker zerstört wurde. Vielsagend erscheint mir auch, dass zwar immer wieder von „totalitärer Ideologie“, „Antisemitismus“, „Verstössen gegen Menschenwürde und Demokratie“, „Verletzung der verfassungsmässigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland“ und dergleichen die Rede ist, es sich dabei aber offensichtlich bloss um Unterstellungen und Vermutungen zu handeln scheint, während sich die tatsächlichen „Beweise“ für all das vorerst auf einen „Karton mit Beweismaterial“ und einen „Sack voller Geldmünzen“ beschränken.

Etwas differenzierter wird das Verbot der IZH in der „Zeit online“ vom 24. Juli dargestellt: „Die Blaue Moschee“, so ist zu lesen, „ist nicht nur ein politischer, sondern auch ein religiöser Ort. Das, was Gläubige dort vom Imam zu hören bekommen, ist laut dem Bundesinnenministerium nicht verbotswürdig. In Verlautbarungen treten die Verantwortlichen gemässigt auf. Die Predigten lassen sich sogar auf dem YouTube-Kanal des Islamischen Zentrums abrufen. Zum Gebet kommen nicht nur Radikale, viele Besucherinnen und Besucher sind konservativ oder moderat. Man kann das Islamische Zentrum deshalb nicht verbieten, ohne einen Plan zu entwickeln, wie man die Lücke schliesst, die man damit in das religiöse Gefüge und die Glaubenspraxis von 30’000 Menschen reisst. Sollte sich bei diesen der Eindruck verfestigen, ein Verbot des IZH sei ein Angriff auf ihre Religion als Ganzes, dann könnten sich Teile der schiitischen Gemeinde radikalisieren. Die Hamburger Innenbehörde hat sich mit dem Szenario noch nicht auseinandergesetzt, wie Insider aus Behördenkreisen sagen. Das sollte sie aber – eine mögliche Radikalisierung einzelner Schiiten abseits der Blauen Moschee würde nicht vor den Augen der Sicherheitsbehörden ablaufen, sondern verdeckt in Hinterzimmern.“

Könnte es sein, dass das Verbot des Islamischen Zentrums Hamburg nicht nur mit diesem selber bzw. seiner ihm unterstellten zunehmenden Radikalisierung zu tun hat, sondern ebenso auch mit einer zunehmenden Radikalisierung deutscher bzw. westlicher Regierungspolitik, verstärkt durch eine zunehmend polarisierte, auf das Schüren von Feindbildern ausgerichtete und von den Medien systematisch geschürte öffentliche Meinungsbildung? Vieles deutet darauf hin. Es ist wohl kein Zufall, dass zum Beispiel auch die Tageszeitung „Junge Welt“ seit 1998 regelmässig im Verfassungsschutzbericht erwähnt wird. Ihr wird zur Last gelegt, sich an marxistischen Gesellschaftsanalysen zu orientieren, eine Überwindung des Kapitalismus zu fordern und eine sozialistische Gesellschaftsordnung anzustreben, was angeblich gegen eine „freiheitliche demokratische Grundordnung“ verstosse und deshalb als „linksextremistisch“ einzustufen sei. Vergeblich klagte die „Junge Welt“ unlängst gegen diese Diffamierung, welche sie sowohl bei ihrer redaktionellen Meinungsfreiheit, bei der Suche nach Autorinnen und Autoren wie auch beim Gewinnen von Werbepartnern stark einschränke: Am 18. Juli 2024 wies das Verwaltungsgericht Berlin die Klage ab und beurteilte die Beobachtung der „Jungen Welt“ durch den Verfassungsschutz als gerechtfertigt, Differenzierungen zwischen Marxismus, Leninismus und Stalinismus, wie sie der „Jungen Welt“ bei ihrer redaktionellen Arbeit wichtig sind, liess das Gericht nicht gelten. Ebenso, wie ganz allgemein Differenzierungen in der öffentlichen Meinungsbildung eine zunehmend schwindende Bedeutung haben: Beinahe unterschiedslos werden immer öfters Begriffe wie Islam, Islamismus und Terrorismus in den gleichen Topf geworfen, auch zwischen „links“ und „linksextrem“ wird kaum mehr ein Unterschied gemacht, mit dem Begriff „Nazi“ wird immer inflationärer um sich geworfen und jeder, der es auch nur ansatzweise wagt, den von der israelischen Regierung im Gazastreifen begangenen Völkermord anzuprangern, wird sogleich als „Antisemit“ abgestempelt. Hauptsache, wir sind die Guten und alle anderen sind die Bösen. Bezeichnend ist auch, dass die kürzlich erfolgte Zusicherung des neuen iranischen Präsidenten Massud Peseschkian, sein Land werde keine Atombomben bauen, keinerlei Eingang fand in die westlichen Mainstreammedien. Dies, nachdem die Atombombengefahr durch Iran seit Jahrzehnten von westlichen Politikern und Medien an die Wand gemalt wurde und auch als Grund für harte wirtschaftliche Sanktionen diente. Aber einer Mitteilung wert ist offensichtlich nur das, was möglichst haargenau ins bestehende Feindbild hineinpasst.

Auch der Begriff des „Terrorismus“ ist, aus westlich-kapitalistischer Warte, so klar und eindeutig besetzt, definiert und tief in den Köpfen verankert, dass man sich gegenteilige Interpretationen schon gar nicht mehr zu denken wagt. Einfach gesagt: Das „Gute“ ist die „demokratisch-freiheitliche“ Ordnung des Westens und ihrer Wertewelt, angeführt von den USA als Weltmacht Nummer eins. Alles, was sich gegen diese Wertewelt auflehnt, ob die iranischen Revolutionsgarden, Putin, die libanesische Hizbollah, ewiggestrige Marxisten und Kommunisten oder die Blaue Moschee in Hamburg ist „Terrorismus“ und daher mit allen Mitteln zu bekämpfen.

Doch könnte man das Ganze nicht auch in der genau entgegengesetzten Richtung sehen? Wo, wie und weshalb entsteht denn überhaupt „Terrorismus“? Weshalb lebten in Palästina alle Menschen friedlich miteinander und gab es dort keine „Terroristen“, bevor die jüdischen Siedler ins Land kamen und die arabische Bevölkerung aus ihren Wohngebieten zu verdrängen begannen? Entstanden „terroristische“ Volksbefreiungsbewegungen in südamerikanischen Ländern nicht ausgerechnet immer gerade dort, wo Militärdiktaturen am verheerendsten wüteten? War die libanesische Hizbollah nicht eine militante Antwort auf den völkerrechtswidrigen Einmarsch israelischer Truppen in den Süden Libanons im Jahre 1982? Sind „terroristische“ Verbände wie die ISIS nicht letztlich eine Folge des völkerrechtswidrigen Kriegs der USA gegen den Irak im Jahr 2003? „Terrorismus“ ist die Waffe in der Hand der Ohnmächtigen, der Ausgestossenen, der Ungeliebten, der Gedemütigten, derer, die so verzweifelt sind, dass sie am Ende sogar bereit sind, ihr eigenes Leben zu opfern, bloss um die Welt ein bisschen gerechter zu machen. „Wenn man einem Menschen verbietet, das Leben zu leben, das er für richtig hält“, sagte Nelson Mandela, „hat er keine andere Wahl, als zum Rebell zu werden.“

Das grösste terroristische Netzwerk aller Zeiten ist nicht Al-Qaida, IS oder andere „islamistische“ Gruppierungen. Auch nicht die Hizbollah oder die Hamas. Auch nicht die Farc oder andere lateinamerikanische Widerstandsbewegungen. Auch nicht die Blaue Moschee in Hamburg. Und schon gar nicht linke Zeitungen wie die „Junge Welt“. Das grösste terroristische Netzwerk aller Zeiten ist das zunächst von Grossbritannien, später von den USA angeführte kapitalistische Wirtschafts- und Machtsystem, das beinahe die gesamte indigene Urbevölkerung Amerikas ausgelöscht, rund 15 Millionen afrikanische Kinder, Frauen und Männer als Sklavinnen und Sklaven nach Amerika deportiert, den amerikanischen wie auch den afrikanischen Kontinent innerhalb weniger hundert Jahre seiner sämtlichen Reichtümer beraubt und die Früchte und Bodenschätze des Südens in den Luxus des Nordens verwandelt hat. Es ist das kapitalistische Wirtschafts- und Machtsystem, das mit seiner Speerspitze in Form des US-Imperialismus verantwortlich ist für über 40 völkerrechtswidrige Kriege und Militärschläge allein seit 1945, denen insgesamt rund 50 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind und das 500 Millionen verletzte, verstümmelte und traumatisierte Menschen zurückgelassen hat. Es ist das kapitalistische Wirtschafts- und Machtsystem, das bis heute Tag still und heimlich jeden Tag rund 10’000 Kinder schon vor ihrem fünften Lebensjahr ermordet, weil all die Lebensmittel, mit denen diese Kinder ernährt werden könnten, in ferne Länder geschafft werden, wo sie möglichst gewinnbringend verkauft werden. Und es ist dieses kapitalistische Wirtschafts- und Machtsystem, das unbeirrt am Dogma eines endlosen Wachstums festhält und aus reiner Profitgier die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen systematisch zerstört.

Wenn der Kapitalismus ins Gesicht des vermeintlichen „Terrorismus“ schaut, dann schaut er ins Spiegelbild seines eigenen Gesichts. Damit aber kann er sich gleichzeitig aller seiner Verbrechen entschuldigen und entledigen, denn wenn das andere das „Böse“ ist, dann muss er selber logischerweise das „Gute“ sein. Und er wird, mit jeder Polizeitruppe, die frühmorgens um sechs Uhr ausrückt, mit jeder Drohne, die irgendwo über „Feindesland“ abgeworfen wird, mit jeder Zeitung, die verboten wird, mit jeder Nachricht, die gezielt verschwiegen wird, mit jeder Zahl, die ins Gegenteil verdreht wird, und mit jedem Satz und jeder Schuldzuschreibung, mit der Wörter zusammengeworfen werden, die nichts miteinander zu tun haben, alles daran setzen, dass die Wahrheit so lange wie nur irgend möglich nicht ans Licht kommt.

(Dies alles soll freilich nicht darüber hinweg täuschen, dass auch im Islam – wie übrigens in jeder anderen Religion ebenso – extremistische Tendenzen oder Bewegungen nie ganz ausgeschlossen werden können und fanatische oder gar Hass predigende Wortführer durchaus eine höchst gefährliche und schädliche Wirkung entfalten können. Deswegen aber gleich ganze Kirchenhäuser zu schliessen, den Dialog abzubrechen und Beschuldigungen auf ganze Religionsgemeinschaften auszudehnen, ist zweifellos der genau falsche Weg und führt in aller Regel zu Radikalisierungen, Abspaltungen und all dem, was man eigentlich verhindern möchte. Der seit Jahrzehnten an vielen Orten der Welt höchst erfolgreich geführte interreligiöse Dialog, um sich gegenseitig besser zu verstehen und voneinander zu lernen, ist wohl eine der wichtigsten Errungenschaften unserer Zeit und darf auf keinen Fall leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden.)

Topmodel Bella Hadid eine Antisemitin? Höchst tendenziöse Berichterstattung in der „Sonntagszeitung“ vom 21. Juli 2024…

Unter dem Titel „Noch jemand wach im Marketing?“ wirft Marlene Knobloch in der „Sonntagszeitung“ vom 21. Juni Bella Hadid, mit der Adidas seine neuen Sneaker bewirbt, „Antisemitismus“ vor, weil sie auf Demos den Slogan „From the River to the Sea, Palestine will be free“ brülle. Knobloch wirft die Frage auf, ob es wohl „eine gute Idee“ gewesen sei, als „Gesicht für diese Werbekampagne“ eine „palästinensische Aktivistin“ zu wählen, die „regelmässig gegen den israelischen Staat austeilt“. Ohne auch nur einen einzigen weiteren Beleg für die angeblich antisemitische Haltung von Bella Hadid anzuführen, vergleicht Knobloch im gleichen Atemzug diese Werbekampagne mit jener aus dem Jahre 2013, als das damalige Adidas-Markengesicht Kanye West ein Hakenkreuz auf eine Schuhskizze gekritzelt und einem Adidas-Mitarbeiter geraten haben solle, jeden Tag ein Bild von Hitler zu küssen.

Warum verschweigt Knobloch, dass man den erwähnten Slogan auch ganz anders interpretieren kann? So versteht ihn der amerikanische Historiker Robin D.G. Kelley als „Forderung nach einem einheitlichen, demokratischen und säkularen Staat, in dem die Juden volle Gleichberechtigung geniessen sollten.“ Die israelischen Historiker Amos Goldberg und Alon Confino weisen darauf hin, dass man, wenn man den Slogan als Forderung nach der Zerstörung Israels interpretiert, dann konsequenterweise auch die israelische Forderung nach einem „Gross-Israel vom Mittelmeer bis zum Jordan“ als Aufruf zur Vernichtung des palästinensischen Volkes ansehen müsste. Und Ruth Dreifuss, ehemalige Schweizer Bundesrätin mit jüdischen Wurzeln, sagt: “Ich verstehe diese Parole so, dass die Region vom Jordan bis zum Mittelmeer frei sein soll von Krieg und Diskriminierung. Das wäre eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts.”

Wozu eine so tendenziöse Berichterstattung? Wird nicht ohnehin schon genug Öl ständig von allen Seiten ins Feuer gegossen? Seriöser, nicht aufs sensationslüsterne Zuspitzung bedachter Journalismus müsste doch bestehende Feindbilder durch möglichst sachliche Informationsvermittlung abbauen, statt sie zusätzlich zu schüren.

Ferienbeginn: Vom ersten Hamsterrad ins zweite Hamsterrad…

48 Wochen lang warten wir auf ihn, träumen wir von ihm, nehmen ihm zuliebe alle Mühsal in Kauf, haben ihn uns im Innersten, in schlaflosen Nächten, schon in den schönsten Farben ausgemalt, ihn minutiös vorausgeplant, sein Reiseziel in wochenlangen Preis- und Qualitätsvergleichen auserkoren und in den letzten Tagen zuvor in Erwartung auf ihn den Sekundenzeiger auf unserer Uhr kaum mehr aus den Augen gelassen: Es ist der erste Tag der Ferien, der erste Tag, an dem das Leben so richtig beginnen kann und all die so lange aufgestauten und nicht ausgelebten Träume endlich Wirklichkeit werden dürfen…

Und dann, kaum zwei, drei Mal durchgeatmet, stieben wir, nachdem alle Koffer gepackt, das Auto auf Hochglanz poliert und die Nachbarin organisiert ist, welche in der Zwischenzeit den Briefkasten leeren und die Blumen tränken wird, in alle Richtungen davon, die einen nach Norwegen oder Island, die anderen auf die Kanarischen Inseln, wieder andere in die Toscana oder an die portugiesische Atlantikküste und noch einmal andere nach Bali oder auf die Malediven…

Bis dann so oft die Ernüchterung bald schon einmal auf dem Fuss folgt, spätestens beim stundenlangen Warten in endlosen Autokolonnen oder bei der Ankunft im Hotelzimmer, das so ganz anders aussieht als auf den schönen Bildern auf der Homepage oder im Hochglanzprospekt, oder am total überfüllten Badestrand, wo wir kaum einen Platz finden, um uns noch irgendwo dazwischen hinein zu quetschen, oder auf einem Zeltplatz, wo Mücken und das Schnarchen des Nachbarn uns immer und immer wieder den Schlaf verderben, oder in einer Garage, wo erst nach stundenlangem Warten jemand auftaucht, um unser kaputtes Auto zu reparieren, oder auf einem Tourismusbüro, wo wir alles daran setzen, ein besseres Hotel zu bekommen, bis wir uns, genervt und mit durchgeschwitzten Kleidern, damit abfinden müssen, dass die ganze Destination bis auf das letzte Bett ausgebucht ist. Windeln wechseln im Sand, Wandern unter stechender Sonne mit quengelnden Kindern, viel zu schwere Rucksäcke, endloses Suchen nach einem Parkplatz, zermürbende, ellenlange Diskussionen darüber, welches Restaurant zum Abendessen aufgesucht werden soll, kein frisches Brot im Campingladen, unterschiedlichste, nie unter einen Hut zu bringende Erwartungen an den nächsten Tag – selten wird so viel gestritten wie in den Ferien, zu keiner anderen Zeit gehen in so kurzer Zeit so viele Beziehungen in die Brüche…

Nur zu oft wird die Ferienreise, statt zum so sehnlich erhofften Ausbruch aus dem Hamsterrad, bloss zu einem zweiten Hamsterrad, das sich fast noch schneller dreht als das erste. Statt uns von Fremdbestimmung und Ausbeutung erholen zu können, unterwerfen wir uns bloss neuer Fremdbestimmung und Ausbeutung, lassen uns mithilfe raffiniertester Propagandatricks mit Spezialrabatten, Sonderangeboten, Vergünstigungen und Billigflügen an die entferntesten Destinationen verführen, nehmen längste Reisen in Kauf, stehen stundenlang in der prallen Sonne, bloss um ein paar Überbleibsel längst untergegangener Kulturen zu bestaunen, ertragen Hitze und Lärm, die uns, wären wir zu Hause geblieben, ganz und gar erspart gewesen wären, kaufen für die jammernden Kinder im Souvenirladen Spielsachen, die schon bald wieder kaputt sein oder in unserer Wohnung sinnlos herumliegen werden, lesen Bücher, die wir ebenso gut auch zu Hause lesen könnten, und bezahlen für einen Teller Pommes das Zwanzigfache dessen, was sie gekostet hätten, wenn wir sie daheim im Supermarkt gekauft hätten. Bis wir dann zwei oder drei Wochen später, nicht selten erschöpfter als zuvor, wieder nach Hause zurückkehren, wo uns alles zuvor Aufgestaute und Verdrängte, all die nicht gelösten Konflikte doppelt und dreifach wieder einholen, Berge von Wäsche, Hunderte von Emails, die abgearbeitet werden müssen, und Dutzende von Rechnungen, die zu bezahlen sind. „Ich brauche“, sagte mir unlängst eine Bekannte, „meistens mindestens zwei Wochen, um mich von den Ferien wieder ganz zu erholen.“ Und es ist kein Zufall, dass es eine Frau war. Die Doppelt- und Dreifachbelastungen, denen so viele Frauen schon übers ganze Jahr ausgesetzt sind, erreichen zu Ferienzeiten geradezu weitere Rekordwerte.

Das kapitalistische Spiel mit dem Zuckerbrot und der Peitsche. Wenn du nur genug hart arbeitest, darfst du dafür drei Wochen lang am Strand liegen und dich rund um die Uhr bedienen lassen. Wie die Wurst an der Schnur, die man dem Hund stets eine Nasenlänge und in immer schnellerem Tempo vor seinem weit offenen Maul herzieht und ihm erst zu fressen gibt, wenn ihn schon fast all seine Kräfte verlassen haben. Wie die Strafe, mit der König Tantalos in Homers Odyssee gepeinigt wurde: Jedes Mal, wenn er sich nach dem Wasser zu seinen Füssen bückte, entwich es ein wenig tiefer nach unten, jedes Mal, wenn er seine Hand zu den Früchten emporreckte, die über ihm an den Zweigen baumelten, wurden diese wie durch Zauberhand ein wenig weiter in die Höhe gehoben. Und auch genau so, wie die Priester von der hohen Kanzel über Jahrhunderte zum „gewöhnlichen“ Volk predigten: Wenn du dein Leben lang nur genug hart arbeitest und auf möglichst viel verzichtest, kommst du dann wenigstens als Lohn dafür nach deinem Tod in den Himmel…

An fünf Tagen pro Woche und während 48 Wochen pro Jahr wird alles daran gesetzt, möglichst viel Arbeit in möglichst viel Kapital zu verwandeln, indem Menschen für ihre Plackerei von früh bis spät viel weniger Geld bekommen, als ihre Arbeit eigentlich wert wäre. An den übrigen zwei Tagen pro Woche und während der übrigen vier oder fünf Wochen pro Jahr wird sodann alles daran gesetzt, den gleichen Menschen mithilfe einer in solcher Fülle noch nie dagewesenen Freizeit- und Tourismusindustrie möglichst viel von dem Geld, das nach all der Aussaugerei noch übrig geblieben ist, wieder abzuknöpfen. Denn auch das Buchen von Hotelzimmern, das ermüdende Autofahren oder qualvolle Warten in stehenden Kolonnen, das Besänftigen meckernder Kinder, das Aufbauen eines Zeltes bei Wind und Wetter, das improvisierte Kochen, Putzen und Waschen mit einfachsten Mitteln auf dem Campingplatz, Fussmärsche und Radtouren in Lärm und Abgasen – auch dies alles sind, fern aller Musse, Formen von Arbeit, die sich beständig in den Reichtum anderer verwandelt, unsichtbar und an unzähligen anderen Orten, hinter dicksten Mauern versteckt.

Doch was bleibt, nach allem, übrig? Was suchen wir in der Ferne, was uns in der Nähe scheinbar so schmerzlich fehlt? Was wissen wir nachher, was wir vorher nicht gewusst haben? Zu wie vielen tiefen Begegnungen ist es tatsächlich gekommen? War es die Reise wirklich wert, der ganze Aufwand, das ganze Geld? Sind nicht die Reisen ins Innere die schönsten Reisen, die wertvollste Bereicherung des Lebens – und erst noch, ohne dass wir dafür etwas bezahlen müssen? Dieser Sommermorgen, an dem ich noch vor den Vögeln erwachte und drei Stunden lang an einem Artikel weiterschrieb, bevor ich mich noch einmal zur Ruhe legte, während es allmählich hell wurde. Diese Wolkengebilde drüben über dem Berg nach einem Gewitter, die sich gegenseitig auftürmen, ineinander verquirlend und immer wieder neue kunstvollste Bilder kreierend, die mich unlängst derartig in Bann zogen, dass ich sogar Angst hatte, viel zu viel zu verpassen, wenn ich sie nicht stundenlang bestaunen würde, Bilder, die es nur ein einziges Mal gibt und die sich niemals mehr in der gleichen Weise wiederholen werden. Dieser Sommertag, an dem ich an der Blumenwiese beim Bahnhof vorbeischlenderte und dachte, keine Blumenwiese in Mexiko, Namibia oder Vietnam kann schöner sein. Dieser Regentag, an dem ich zwei Stunden bei einer ehemaligen Schülerin verbrachte, die gerade ihre über alles geliebte Katze verloren hatte und der zu allem Überdruss infolge eines dummen Zwischenfalls mit ihrem Vermieter auch noch die Wohnung gekündigt worden war. Die Spaziergänge mit dem 95jährigen Pierre, der seit einem halben Jahr an den Rollstuhl gefesselt ist und sich immer schon eine ganze Woche lang auf diese Spaziergänge freut wie ein kleines Kind, besonders auf all die Rosen in den Gärten auf unserem Weg, an denen er so genüsslich schnuppert – ohne diese Spaziergänge würde er den ganzen Sommer lang einsam und traurig in seinem Zimmer sitzen wie in einem Gefängnis. Und dann dieser Sommerabend mit Amin, dem Papa der vierköpfigen afghanischen Flüchtlingsfamilie, die seit zwei Monaten in meinem Haus lebt. Diese unfassbaren Geschichten, die sich kaum in Worte fassen lassen…

Und jetzt, plötzlich, prallen die eine Geschichte, die Geschichte der Luxusreisen der reichen Menschen aus dem Norden in den Süden, und die andere Geschichte, die Geschichte der Flüchtlinge, die so verzweifelt und mit Todesmut einen Weg zu finden suchen aus dem Süden in den Norden, auf geradezu gespenstische Weise aufeinander: Wenn an den Badestränden von Teneriffa, wo sich die sonnenhungrigen Menschen aus Deutschland, Schweden oder der Schweiz ihre Cocktails servieren lassen, immer wieder mal die Leiche eines afrikanischen Kindes an Land geschwemmt wird und sich die riesigen Kreuzfahrtschiffe des Nordens, vollgespickt mit erlesensten Köstlichkeiten aus aller Welt, und die winzigen, ganz und gar nicht gegen die hohen Wellen gewappneten Boote der Flüchtlinge geradezu auf Augenhöhe begegnen. Noch nie waren weltweit so viele Menschen aus reichen Ländern oder aus den reichen Oberschichten armer Länder weltweit unterwegs. Und noch nie gab es, gleichzeitig, weltweit so viele Flüchtlinge aus Krisen-. Kriegs- und Hungergebieten und aus Ländern, die vom zunehmenden Klimawandel immer stärker betroffen sind. Nur dass für die Menschen aus den Zonen des Reichtums alle Grenzen geöffnet sind und sie sogar mit allen Mitteln dazu angespornt werden, diese Grenzen zu überschreiten, um sich mehr denn je all die Annehmlichkeiten der von ihnen besuchten Länder einzuverleiben und sich von den dort lebenden Menschen auch noch die absurdesten Luxusbedürfnisse befriedigen zu lassen. Während den Menschen, die auf dem umgekehrten Weg auf der Reise sind, immer höhere Mauern entgegengebaut werden, Grenzen immer dichter und mit immer tödlicheren Mitteln befestigt werden und man ihnen keine Blumen und keine Willkommensgrüsse entgegenschickt, sondern nur Bluthunde auf sie hetzt, ihnen die Kleider vom Leibe reisst, sie vergewaltigt und zu Tode prügelt.

Doch ebenso wenig, wie die reicheren Menschen der Welt ihren Alltagssorgen dadurch entfliehen können, indem sie immer längere Reisen unternehmen, so wenig können sie dabei auch ihr schlechtes Gewissen beruhigen, selbst wenn sie es noch so zu verdrängen versuchen. Zwar werden die Fluchtwege aus den reichen in die ärmeren Zonen der Welt von den in die Gegenrichtung laufenden Fluchtwegen geradezu chirurgisch voneinander getrennt, sodass es möglichst selten zu so unliebsamen Begegnungen kommt wie jenen paar wenigen auf den Kanarischen Inseln, welche die ganze aufgeladene Ferienfreude auf einen Schlag vernichten würden. Doch im Allerinnersten wird es auf die Dauer wohl niemanden wirklich in Ruhe lassen, da können wir eine noch so grosse Hektik entfalten, uns mit noch so vielen künstlichen Verlockungen abzulenken versuchen und noch so viele Schlaf- und Beruhigungsmittel in uns hineinpumpen. Haben wir auch nur ein einziges dieser Bilder gesehen, auch nur eine einzige dieser Geschichten gehört, werden wir sie zeitlebens nie mehr wirklich vergessen können, tief in unserem Innersten werden sie uns nie mehr in Ruhe lassen.

Menschen auf der Flucht. Noch nie in so grosser und immer weiter wachsender Zahl. Die einen im Kampf ums nackte Überleben. Die anderen auf der Jagd nach nie wirklich erfüllbaren Illusionen. Und manchmal kommt es mir vor, als seien sie letztlich auf der Flucht vor sich selber, verzweifelt in der Aussenwelt etwas suchend, was sie in ihrer Innenwelt immer noch nicht gefunden haben und auf diese Weise auch niemals finden werden. In der berühmten Geschichte von Antoine de Saint-Exupéry steht der kleine Prinz an einem Bahngeleise, auf dem ein Zug pfeilschnell in die eine Richtung donnert und ein anderer kurz darauf in die entgegengesetzte Richtung. Und der kleine Prinz fragt höchst verwundert: „Warum kommen sie denn so schnell wieder zurück, waren sie dort, wo sie waren, nicht zufrieden gewesen?“

Der erste Ferientag. Die Koffer sind zwar schon gepackt, doch die Reise wird erst übermorgen beginnen. Der viereinhalbjährige Bosni und Luca, der gleichaltrige Nachbarsbub, haben mich zum nahegelegenen Schulhausplatz mitgenommen. Das Ziel ihrer Reise: Ein Brunnen in Form eines etwa drei Meter langen, zwei Meter breiten und einen Meter hohen Steins, aus dem an der obersten Stelle Wasser heraussprudelt, das dann durch eine schmale Rinne bis zum Boden hinunterfliesst. Die beiden Buben klettern auf den Stein, benetzen ihn mit dem Wasser aus dem Rinnsal, bis er an einigen Stellen ganz dunkel geworden ist. Dann versuchen sie, das Wasser an einer etwas schmaleren Stelle aufzuhalten, sodass sich oberhalb davon ein kleiner Stausee zu bilden beginnt. Verschieden grosse Steine, aufgelesen aus dem Untergrund rund um den Brunnen, sollen das bewerkstelligen, die schwereren muss ich ihnen hinaufreichen. Mit Holzschnitzeln werden sodann die Ritzen zwischen den Steinen solange vollgestopft und akribisch beobachtet, wie viel Wasser immer noch durch die Sperre hindurchläuft, bis es endlich fast nur noch ein paar Tropfen sind. Ich bin fast ganz sicher, das Spiel würde endlos weitergehen und die beiden Buben kämen noch auf tausend andere Ideen, wenn jetzt nicht Zeit um Abendessen wäre.

Auch bei der viereinhalbjährigen Fatima und ihrem zweieinhalbjährigen Bruder Nic sind am nächsten Tag die Koffer schon gepackt, aber auch bei ihnen geht die Reise erst am Tag darauf los. Heute spielen die beiden Kinder im Stadtpark. Fatima hat mich zu einem Wäldchen mit dichtem Gebüsch geführt, durch welches, wie in einem Labyrinth, kleine Wege kreuz und quer hindurch gehen. „Komm!“, ruft sie, und ist schon hinter einem kleinen Strauch verschwunden, huscht wie ein Wiesel über die kleinen Wege und am liebsten immer dort, wo es am engsten ist und ich mich wegen der tief hängenden Zweige am meisten bücken muss, was sie besonders lustig findet. Kurz darauf plantschen die Kinder im knöcheltiefen Wasser des Baches, der sich durch das Wäldchen hindurchschlängelt. An einer Stelle, wo das Wasser etwas tiefer ist, hat Nic augenblicklich ein lustiges Spiel herausgefunden: Er wirft einen graugrünen runden Stein mit feinen schwarzen Linien, der ganz genau in seine kleine Hand passt, ins Wasser, worauf Sand und Erde aufgewirbelt werden, sodass man wegen der Trübung des Wassers den Stein nicht mehr sehen kann. Dann sucht er mit seiner Hand den Stein an der Stelle, wo er ihn vermutet. Manchmal ist es schon beim ersten Versuch der richtige, manchmal ein ganz anderer, was dem kleinen Nic jedes Mal ein so fröhliches Lachen entlockt, dass man allein darüber schon lange philosophieren könnte, was denn daran so lustig ist, aber wahrscheinlich ist es einfach der Moment, da der Stein in seiner Hand so ganz anders aussieht, als er eigentlich erwartet hätte. Manchmal aber ist es auch ein Stein, der fast gleich aussieht wie der richtige, aber doch nicht der richtige ist. Dann schaut Nic ihn lange und gründlich an, bis er dann aufgrund eines winzigen Merkmals zu erkennen vermag, ob es der richtige ist oder nicht. Einmal gleicht ein vermeintlich falscher dem richtigen Stein so sehr, dass wir auf einmal beide nicht mehr sicher sind, welcher es nun ist, und da muss auch ich laut herauslachen. Und auch dieses Spiel würde wahrscheinlich noch stundenlang weitergehen, wenn nicht die Mama inzwischen das Abendessen gekocht hätte und auf uns warten würde.

Eines Tages werden die Menschen nicht mehr auf der Flucht sein. Weder vom Norden nach dem Süden, noch vom Süden in den Norden. Weder aus dem Reichtum in vermeintliche Paradiese früherer Jahrtausende, noch aus Armut, Hunger und Verzweiflung in eine ersehnte glücklichere Zukunft. Weder auf der Flucht vor anderen, noch auf der Flucht vor sich selber. Wenn alles wieder im Lot ist. Wenn Arbeit, Freizeit, Lebensfreude, Spiel und Genuss nicht mehr verschiedene, voneinander getrennte Dinge sind, sondern alles nur einzelne Facetten eines grossen Ganzen. Wenn sich jeder Mensch in seiner täglichen Arbeit leidenschaftlich, selbstbestimmt und ohne äussere Zwänge so verwirklichen kann, dass er seine Träume und Sehnsüchte nicht mehr länger in andere Zeiten und andere Welten hinausschieben muss. Wenn alles weltweit unter alle so gerecht verteilt ist, dass nicht die einen so viel Geld haben, dass sie damit gar nicht genug lange und weit reisen können, während andere im gleichen Land selbst in der Ferienzeit in kleinen, stickigen Wohnungen ausharren müssen und sich nicht einmal einen Ausflug zur Grossmutter leisten können, die hundert Kilometer weit von ihnen entfernt wohnt, und wieder andere nicht einmal dort, wo sie geboren wurden, ein gutes und schönes Leben für sich und ihre Kinder und ihre Zukunft haben können. Wenn alle Grenzen offen sind, die Menschen aber dennoch nicht wie wildgewordene Wespen quer über alle Kontinente rasen, sondern Reisen wieder etwas Langsames, Behutsames, Sanftes, Genussvolles geworden ist, alle Wunder der Natur in ihrer Einmaligkeit, Schönheit und Unversehrtheit so heilig haltend, dass sie auch noch in hundert oder tausend Jahren die Augen und die Seelen der Menschen erfreuen werden. Wenn wir alle, alles miteinander teilend, ohne schlechtes Gewissen und ohne immer und immer wieder verdrängte und hinausgeschobene Sehnsüchte jeden Tag des Lebens so geniessen können wie die Kinder, die soeben zur Welt gekommen sind. Wenn es keine Ferien mehr braucht, weil das ganze Leben nichts anderes ist als eine einzige grosse, genussvolle und sinnerfüllte Ferienzeit.

Gesperrte UNRWA-Gelder: Was auf den ersten Blick nach einem gutschweizerischen Kompromiss aussieht, ist in Tat und Wahrheit nichts anderes als eine jeglicher Verhältnismässigkeit spottende Absage an die jahrhundertealte demokratische, humanitäre und neutralitätspolitische Tradition unseres Landes…

Der Zürcher SP-Gemeinderat Severin Meier möchte, wie der „Tagesanzeiger“ am 12. Juli 2024 berichtet, mittels eines Postulats an den Stadtrat bewirken, dass „die Stadt Zürich angesichts der humanitären Situation in Gaza prüfen soll, wie schnellstmöglich ein substanzieller Betrag zugunsten des UNO-Palästinenserhilfswerks UNRWA getätigt werden könnte“. Denn die Lage in Gaza sei, so Meier, „verheerend“: 81 Prozent der Haushalte hätten keinen Zugang zu sauberem Wasser, 1,1 Millionen Menschen hätten ihre Essensvorräte aufgebraucht, eine Hungersnot stehe kurz bevor. Da der Bundesrat nur einen kleinen Teil der ursprünglich vorgesehenen Mittel von 20 Millionen Franken der UNWRA zur Verfügung stellen möchte, müssten nun halt, so Meier, die Städte einspringen, um Schlimmeres zu verhindern. Doch die Vertreterinnen und Vertreter der Mitte und der FDP halten dagegen: Beide Parteien sehen es ausschliesslich als Aufgabe des Bundes, Aussenpolitik zu betreiben. FDP-Gemeinderat Michael Schmid meinte sogar, die Stadt würde durch eine Zustimmung zu diesem Postulat ihre Kompetenzen überschreiten und die Aussenpolitik der Schweiz „übersteuern“. Der Stadtrat hat nun theoretisch zwei Jahre Zeit, um sich des Anliegens des Postulats anzunehmen. Meier und seine Mitunterzeichnenden hoffen indessen, dass der Stadtrat entgegen dieser Bedenken das Postulat aufgrund der Notlage in Gaza rascher umsetzen werde.

Blenden wir zurück: Ende Januar 2024 erhebt die israelische Regierung den Vorwurf, zwölf Mitarbeiter der UNRWA seien an den von der Hamas verübten Terrorattacken gegen israelische Zivilpersonen am 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen, ohne allerdings hierfür Beweise vorzulegen. Der Vorwurf wird unmittelbar von zahlreichen westlichen Regierungen, inklusive der Schweiz, übernommen und eine Streichung bzw. Kürzung der finanziellen Unterstützung der UNRWA beschlossen. Die bürgerliche Mehrheit in der Aussenpolitischen Kommission des schweizerischen Nationalrats entscheidet, dass vorerst kein Geld aus der Schweiz an die UNRWA fliessen soll. Man wolle zuerst mit „anderen Partnern“ sprechen – gemeint ist unter anderem die rechte israelische Lobbyorganisation UN Watch, die schon seit längerem gegen die UNWRA agiert.

Am 28. März 2024 erklärt der Schweizer Diplomat Philippe Lazzarini, langjähriger Chef der UNRWA, in einem Interview mit der „Wochenzeitung“: „Was wir heute in Gaza beschreiben müssen, ist eine drohende Hungersnot, die absolut unfassbar ist. Mehr als eine Million Menschen befinden sich in einer katastrophalen, akuten Hungersituation. Wo bleibt die Weltempörung? Es ist, als ob wir der Tragödie, die sich vor unseren Augen abspielt, fast völlig unbeteiligt zusehen würden. Die Hungersnot könnte zwar noch abgewendet werden. Doch dazu müssten wir den Gazastreifen mit Nahrungsmitteln überschwemmen. Als ich letzte Woche nach Gaza einreisen wollte, wurde ich von den israelischen Behörden ohne jegliche Begründung daran gehindert. Die Anschuldigungen gegen die UNRWA-Mitarbeitenden haben sich bis heute nicht bewahrheitet. Es läuft eine unabhängige Untersuchung zu diesem Vorwurf, aber bislang haben weder Israel noch andere Staaten Beweise vorgelegt – obwohl sie dazu aufgerufen wurden. Ich bin überrascht, wie sehr Anschuldigungen und Behauptungen für bare Münze genommen werden.“

Am 24. April berichtet Radio SRF, Beweise für eine Verwicklung der UNWRA in die Terroranschläge vom 7. Oktober 2023 würden nach wie vor fehlen, doch dies hätte bislang keine Sinnesänderung bei den bürgerlichen Politikern bewirkt. Auch wird im Bericht darauf hingewiesen, dass Bundesrat Ignazio Cassis schon immer ein UNRWA-Kritiker gewesen sei. So hätte er auf einer Reise nach Jordanien im Jahre 2018 die UNRWA als Teil, nicht aber als Lösung des Nahostproblems bezeichnet, worauf es internationale Kritik gehagelt hätte.

Am 30. April weist der „Tagesanzeiger“ auf die zentrale Figur hin, welche zur negativen Haltung der bürgerlichen Parteien gegenüber der UNRWA entscheidend beigetragen hätte. Es handelt sich um Hilel Neuer, einen kanadischen Anwalt, der alles daran setze, sein Publikum davon zu überzeugen, dass die UNRWA zerschlagen gehöre, weil sie von der radikalislamischen Hamas unterwandert sei. Von Genf aus steuert Neuer, der auch Direktor der rechten Nichtregierungsorganisation UN Watch ist, die Kampagne gegen das Hilfswerk. In der Budgetdebatte der letzten Wintersession hätte sich SVP-Nationalrat David Zuberbühler explizit auf Recherchen von UN Watch berufen, um für das Ende der UNRWA-Gelder zu weibeln.

Im gleichen „Tagesanzeiger“-Artikel vom 30. April lesen wir, dass Schweizer Entwicklungs- und Hilfsorganisationen zwei Petitionen mit über 45’000 Unterschriften an den Bundesrat eingereicht hätten, welche einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza und die Freigabe der UNRWA-Gelder forderten. Auch wird darauf hingewiesen, dass keine andere Organisation auch nur annähernd über jene Logistik verfüge, welche von der UNRWA über Jahrzehnte hinweg aufgebaut worden ist, um Hungerhilfe wie auch Bildungs- und Schulprogramme für die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen effizient umzusetzen. Auch in einem Untersuchungsbericht der UNO werde die Tätigkeit der UNRWA als „unersetzlich“ und „unverzichtbar“ beschrieben.

Am 1. Mai schreibt der „Tagesanzeiger“: „Das Ausmass der Verzweiflung in Gaza ist unvorstellbar. Nach Angaben der UNO sind mehr als eine Million Menschen vom Hungertod bedroht, und die medizinische Versorgung steht vor dem Kollaps. Ohne rasche Hilfslieferungen droht eine humanitäre Katastrophe unvorstellbaren Ausmasses.“ Etwas überraschend habe nun die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats beschlossen, „der Organisation nicht komplett den Stecker zu ziehen“. Konkret verlangt sie, dass der Bundesrat einen Teil der Gelder für humanitäre Hilfe an die UNRWA freigeben soll. Allerdings dürften die Mittel nur für Nothilfe und humanitäre Hilfe eingesetzt werden, nicht aber für längerfristige Aufbauprojekte. Mittelfristig solle die UNRWA nicht mehr direkt finanziert werden.

Am 8. Mai beschliesst der Bundesrat, einen Beitrag von 10 Millionen – also die Hälfte der ursprünglich budgetierten 20 Millionen – an die UNRWA zu leisten. Der Beitrag ist auf reine Nothilfe zwischen Mai und Dezember 2024 beschränkt. Für die definitive Freigabe der Mittel brauche es aber noch die Zustimmung der Aussenpolitischen Kommissionen der beiden Räte, die etwa Mitte Juni zu erwarten sei.

In der „New York Times“, auf welche ein Artikel der „NZZ“ vom 30. Mai Bezug nimmt, wirft UNRWA-Chef Lazzarini Israel vor, Zivilpersonen verfolgt, gefoltert und getötet zu haben, um falsche Zeugenaussagen zu erzwingen, mit denen die UNRWA belastet werden sollte. Israel, so Lazzarini, betreibe die systematische Zerschlagung der UNRWA. Seit dem 7. Oktober 2023 seien mindestens 192 UNRWA-Mitarbeiter in Gaza getötet und mehr als 170 UNRWA-Gebäude beschädigt oder zerstört worden, darunter auch Schulen. Etwa 450 Vertriebene hätten den Tod gefunden, als sie in Schulhäusern und anderen Einrichtungen der UNRWA Schutz gesucht hätten. Zudem würden israelische Streitkräfte Angestellte des Hilfswerks regelmässig schikanieren und jeden inhaftieren lassen, der sich über Folter und Misshandlungen in israelischem Gewahrsam beklage. Mittlerweile hätten die gezielten Aktionen gegen die UNRWA auch Ost-Jerusalem erreicht. Immer wieder komme es zu gewalttätigen Demonstrationen gegen das Hilfswerk. Unter dem Beifall eines Mitglieds des Bürgermeisteramts seien mindestens zwei Brandanschläge auf ein Gebäude der UNRWA verübt worden. Ungewöhnlich scharf attackiert Lazzarini auch den Bundesrat und das Parlament: In Bern habe „«“jede Menge Lobbying zugunsten Israels“ stattgefunden. Bei der Entscheidung, der UNRWA die Gelder zu kürzen, habe sich die Politik einseitig von Israel beeinflussen lassen. Mit Neutralität habe das nichts mehr zu tun. Mit einer solchen Politik untergrabe man die Politik der Guten Dienste.

Man kann Lazzarini nur zustimmen. Gerade mal zwölf (!) von insgesamt 13’000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der UNRWA sollen in die Terrorattacken vom 7. Oktober 2023 verwickelt gewesen sein, und nicht einmal das konnte die israelische Regierung bis zur Stunde beweisen. Wären es mehr als zwölf gewesen, hätte die israelische Regierung wohl kaum davor zurückgeschreckt, eine auch weitaus höhere Zahl zu nennen. Zudem wurden neun dieser zwölf Angestellten unverzüglich entlassen und Untersuchungen gegen sie eingeleitet. Alles steht auf dermassen fadenscheinigen Behauptungen, dass es ausserordentlich schwerfällt, zu glauben, Israel ginge es auch nur im Entferntesten um so etwas wie „Gerechtigkeit“. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass es der Regierung Israels einzig und allein darum geht, die UNRWA als wichtigste Organisation für die humanitäre Unterstützung der palästinensischen Bevölkerung – mit Nahrungsmittelhilfe für 830’000 Menschen, Schulbildung für eine halbe Million Kinder und grundlegende medizinische Versorgung für 3,5 Millionen Menschen – systematisch zu schwächen oder gar zu zerstören. Dass die offizielle Schweiz dieses Spiel mit dem Leben und Tod von Millionen Menschen mitspielt und – im Gegensatz etwa zu Norwegen, Schweden, Spanien, Irland, Belgien, Österreich, Deutschland und Kanada – die Zahlungen an die UNRWA nach wie vor aussetzt, spottet jeglicher Vernunft, jeglichem Augenmass und jeglicher Solidarität mit Millionen von unschuldigen Menschen, die von unvorstellbarer Not betroffen sind. Und ausgerechnet die SVP, welche sich, wenn es ihr nicht in den Kram passt, stets mit Händen und Füssen gegen eine Einmischung des „Auslandes“ in die „inneren Angelegenheiten“ der Schweiz zur Wehr setzt, schenkt einem einzigen aus Kanada herbeigeflogenen und für seine engen Verbindungen zur israelischen Militärregierung bestens bekannten Anwalt mehr Gehör als einer von über 45’000 Schweizerinnen und Schweizern unterzeichneten Petition sowie ihrem eigenen Landsmann Philippe Lazzarini, der das UNRWA-Hilfswerk seit vier Jahren mit grosser Umsicht, grossem Engagement und Sachverständnis führt. Dass die Zahlungen an die UNRWA um die Hälfte gekürzt wurden und selbst dies noch am Widerstand bürgerlicher Politikerinnen und Politiker scheitern könnte, sieht nur auf den ersten Blick nach einem gutschweizerischen Kompromiss aus. In Tat und Wahrheit ist es eine jeglicher Verhältnismässigkeit spottende Absage an die jahrhundertealte demokratische, humanitäre und neutralitätspolitische Tradition unseres Landes. Denn, wie auch Lazzarini sagt: „Wenn wir die UNRWA in einer solchen Krise wie der heutigen abschaffen, werden wir die Verzweiflung der Menschen nur noch vergrössern, die Saat für künftige Ressentiments, Rache und Gewalt nur noch weiter säen und jeden zukunftsgerichteten politischen Prozess schon zum Vornherein untergraben.“

Die russische „Kriegspropaganda“ und die Schweiz: Wenn man auf dem einen Auge so scharf sieht, dass man auf dem anderen schon fast blind ist…

„Putins Propaganda-Sender fährt Kampagne gegen die Schweiz“ – so die Hauptschlagzeile auf der Titelseite des „Tagesanzeigers“ vom 22. Juni 2024. SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf, so lesen wir im Folgenden, sei vom russischen Staatssender RT (Russian Today) als „Kriegstreiberin“ bezeichnet worden, Viola Amherd als „KIndermörderin“, die Bürgenstock-Konferenz als „Kriegsgipfel“ und „Lachnummer“. Besonders befremdlich sei, so der „Tagesanzeiger“, dass die russische „Anti-Schweiz-Propaganda“ bei immer mehr Menschen in der Schweiz Anklang finde, so sei die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer der deutschsprachigen RT-Seite jüngst um rund 50 Prozent gestiegen. Ziel von RT sei ganz offensichtlich die „Spaltung der westlichen Gesellschaften“. Die Stimmen derer, die ein Verbot von RT für die Schweiz fordern, so wie es in der EU bereits in Kraft gesetzt worden ist, würden daher immer lauter. Auch Seiler Graf sei der Meinung, dass die Schweiz ein Verbot von RT mindestens prüfen müsse, handle es sich hier doch um „übelste Propaganda“. Die Artikel seien „so perfide konstruiert“, dass „viele Schweizerinnen und Schweizer das offenbar glauben“. Auch Mitte-Nationalrätin Nicole Barandun äussert sich dahingehend, dass „vielen schweizerischen Bürgerinnen und Bürgern offenbar die Fähigkeit oder der Wille fehlt, solche Falschinformationen als Propaganda zu erkennen“.

Bin ich auch einer von denen, der dieser „perfiden russischen Anti-Schweiz-Propaganda“ auf den Leim gegangen ist? Auch in meinen Augen nämlich ist Priska Seiler Graf, neben vielen anderen, eine „Kriegstreiberin“. Auch ich könnte, wenn dies auf den ersten Blick auch etwas gar weit hergeholt zu sein scheint, Viola Amherd als „Kindermörderin“ bezeichnen, hat sie doch mit ihrem total einseitigen Engagement für die Ukraine der schweizerischen Neutralität und damit einer der letzten Chancen für eine diplomatische Lösung des Ukrainekonflikts das Grab geschaufelt und damit fahrlässig Tausende weiterer Kriegsopfer in Kauf genommen, auch zahllose Kinder, und dies, ohne je das schweizerische Volk gefragt zu haben, ob es damit auch tatsächlich einverstanden sei. Auch ich würde die Bürgenstock-Konferenz als „Kriegsgipfel“ und „Lachnummer“ bezeichnen. Bloss: Ich bin ganz alleine zu diesem Schluss gekommen, ohne auch nur eine Sekunde lang von der russischen „Anti-Schweiz-Propaganda“ beeinflusst worden zu sein oder zu diesem Thema einen Artikel auf RT gelesen zu haben.

Denn die Fakten als solche sprechen eine genug deutliche Sprache: Russland wurde ja von Viola Amherd und Ignazio Cassis hauptsächlich deshalb nicht zur Bürgenstock-Konferenz eingeladen, weil Selenski eine Teilnahme sonst verweigert hätte – man hat sich also, fern jeglicher neutral- und friedenspolitischer Tradition, klar für die Ukraine und gegen Russland entschieden und damit die Aussicht auf eine echte Friedenslösung zum Vornherein bewusst verbaut. Dies kommt auch im Kommentar des „Tagesanzeigers“ vom 17. Juni zum Ausdruck, der das Abschlusspapier der Bürgenstock-Konferenz vor allem deshalb so „bemerkenswert“ findet, weil es „ausdrücklich Russland die Verantwortung für den Ukrainekonflikt zuweist”, das Resultat der Konferenz daher als „frischen Sauerstoff für die Solidarität mit der Ukraine“ bezeichnet und den Erfolg des Gipfels vor allem darin sieht, dass es „nicht in erster Linie um den Frieden“ gegangen sei, sondern „um die Ukraine“, um abschliessend festzuhalten, dass damit nun die „Zeit reif geworden“ sei, dass „die Ukraine nicht nur 15 neue Panzer bekommt, sondern 150 oder noch besser 1500.“ Und wenn dies alles noch nicht genug gewesen wäre, um in meinen Augen die vermeintliche „Friedenskonferenz“ als eigentliche Kriegskonferenz zu sehen, hätte es, als Tüpfelchen auf dem i, eigentlich nur noch die Aussage der US-Vizepräsidentin Kamala Harris gebraucht, die ganz unverblümt erklärte, Amerika stehe „nicht aus Nächstenliebe an der Seite der Ukraine“, sondern nur, „weil es in unserem strategischen Interesse liegt.“

Auch die „unsägliche“ und angeblich völlig aus der Luft gegriffene Behauptung von RT, SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf sei eine „Kriegstreiberin“, hat mehr als einen wahren Kern. Sie war es schliesslich, die, entgegen der ureigenen friedenspolitischen und pazifistischen Tradition ihrer eigenen Partei, mit ihrem Stichentscheid als Präsidentin der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats dafür die Verantwortung trägt, dass entgegen aller bisheriger neutralitätsrechtlicher Bedenken nun doch Schweizer Waffen an die Ukraine geliefert werden können. Dass Seiler Graf in diesem Zusammenhang gar noch von einer „Koalition der Willigen“ sprach, schlägt dem Fass endgültig den Boden aus, war dies doch zuletzt der Begriff für die mit den USA verbündeten westlichen Militärmächte, die 2003 den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak lancierten, welchem in der Folge über eine halbe Million unschuldiger Menschen zum Opfer fallen sollten. Zum Glück gibt es noch die SVP, die gegen diesen Entscheid bereits das Referendum angekündigt hat…

Eigentlich fallen all die Vorwürfe an die Adresse Russlands, einseitig und tendenziös zu informieren und „Kriegspropaganda“ zu betreiben, bei Lichte besehen auf den Westen selber zurück, und insbesondere auch auf die Schweiz. Denn die Einseitigkeit, mit der unsere Mainstreammedien zum Thema Ukraine und Russland berichten, lässt sich wohl kaum überbieten. So etwa wird die ganze Vorgeschichte des Ukrainekriegs von der seit Jahrzehnten seitens namhafter US-Politiker immer wieder erhobenen Forderung nach einer „Zerstückelung“ Russlands über die entgegen sämtlicher früherer Zusagen kontinuierlich vorangetriebene NATO-Osterweiterung, die Verwicklungen der CIA in den Maidanputsch 2014 und die Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine bis zum Konfliktlösungsvorschlag Putins im Dezember 2021, der von der US-Regierung kommentarlos zurückgewiesen wurde, in sämtlicher Berichterstattung systematisch ausgeklammert und mit allen Mitteln die Fiktion aufrechterhalten, wonach der Ukrainekrieg genau am 22. Februar 2022 angefangen hätte und keinen einzigen Tag zuvor. Auch werden sämtliche Themen, die auf die westliche Seite ein schlechtes Licht werfen könnten, systematisch unterdrückt bzw. verschwiegen: Bis heute gilt das „Massaker von Butscha“ als eigentliches Mahnmal für die Brutalität und Grausamkeit der russischen Kriegsführung, obwohl nie eine unabhängige Untersuchung dieses Ereignisses stattgefunden hat. Ebenso liegt über den Hintergründen der Anschläge auf die Nordstream-Pipelines in der Ostsee nach wie vor ein Deckel der Verschwiegenheit. Auch darüber, dass bereits Tausende von russischsprachigen Lettinnen und Letten, die sich weigerten, lettische Sprachkurse zu besuchen, inzwischen ausgebürgert wurden, konnte man in den allermeisten westlichen Medien nie etwas lesen. Auch dass Alexei Nawalny, der in den westlichen Medien durchwegs zum Repräsentanten für Demokratie und Menschenrechte im Kampf gegen den brutalen Diktator Putin emporstilisiert wurde, in Tat und Wahrheit ein Rassist übelster Sorte war, ethnische Minderheiten als „Kakerlaken“ bezeichnete, ihre Deportation forderte oder gar ihre Vernichtung mithilfe von Marschflugkörpern, all dies fand nie Platz in der Berichterstattung der westlichen Mainstream-Medien. Da beispielsweise im „Tagesanzeiger“ über Wochen ausschliesslich positive und in höchstem Masse lobende, geradezu glorifizierende Berichte über Nawalny erschienen, sah ich mich zu einem Leserbrief veranlasst, in dem ich auf die negativen Seiten Nawalnys hinzuweisen versuchte. Der Leserbrief wurde nicht veröffentlicht. Auf meine Nachfrage an die Chefredaktion, ob es nicht im Sinne demokratischer Meinungsbildung liegen müsste, auch alternative Sichtweisen zu verbreiten, erhielt ich nie eine Antwort. Zwar heisst es in einem kürzlich vom Bundesrat veröffentlichten Bericht zur Informationspolitik, das Bundesgericht vertrete in seiner Rechtsprechung die „Grundannahme, dass die Individuen jede Meinung und Information sollen hören können, um sich im freien Austausch aller Äusserungen selbst eine Meinung bilden zu können“, doch Theorie und Praxis scheinen mittlerweile erschreckend weit auseinanderzuklaffen.

Wie tendenziös, ja geradezu militarisiert die ganz „gewöhnliche“ Sprache in den meisten Medien schon geworden ist, kann man auf Schritt und Tritt bei der täglichen Zeitungslektüre feststellen. So etwa war im „Tagblatt“ vom 22. Juni 2024 Folgendes zu lesen: „Russlands revanchistischer Imperialismus bedroht die europäische Sicherheitsordnung“, „Links- und rechtsaussen werden unter dem Deckmantel einer rigid ausgelegten Neutralität pazifistische Lieder angestimmt, eine gefährliche, den Interessen eines kleinen, auf die Respektierung des Völkerrechts angewiesenen Landes kaum dienende Grundhaltung“, „Unverständlich ist das antiamerikanische Grundrauschen“, „Im Umfeld von Roger Köppel kommen offen prorussische und reaktionäre Anwandlungen an die Oberfläche, die mitunter an der demokratischen Gesinnung zweifeln lassen“, „Im Nationalrat sind die als Pazifisten und Neutralisten verkleideten Antiamerikaner in der Mehrheit, sie verhindern eine längst angezeigte Zusammenarbeit der Schweiz mit der Nato“. Und nicht anders tönt es in der „NZZ am Sonntag“, so etwa am 23. Juni: „“Als Botschafter des globalen Chaos ist Putin nach Osten gereist und hat dort mit vagen Drohungen Amerikas Verbündete aufgebracht“ und „Russland hat einen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen, doch global ist es in der Defensive“. Beliebig viele weitere Beispiele liessen sich anfügen.

Dass bei soviel einseitiger und tendenziöser Berichterstattung, bei der fast alle Medien das Feld von Objektivität, Ausgewogenheit und journalistischer Sorgfaltspflicht schon längst weit hinter sich gelassen haben, eine zunehmende Anzahl von Schweizerinnen und Schweizern in „Versuchung“ gerät, sich alternative Informationen zu beschaffen und diese dann unter anderem bei RT findet, ist ja nun wirklich nicht verwunderlich. Auch ich habe mir unlängst kurz überlegt, den RT-Newsletter zu abonnieren, habe es dann aber unterlassen. Eigentlich brauche ich die Propaganda von der anderen Seite gar nicht, um all die Einseitigkeiten, Widersprüchlichkeiten, subtilen Unterstellungen bis hin zu geradezu unverfrorenen Lügen unserer eigenen, westlichen Propaganda zu durchschauen.

Als Gipfel aller dieser Versuche, die Öffentlichkeit bewusst hinters Licht zu führen, hat nun, wie „Fricktal24“, die Online-Zeitung für das aargauische Fricktal, am 20. Juni berichtete, der Bundesrat in seiner Sitzung vom 19. Juni einen umfassenden Bericht unter dem Titel „Auslegeordnung zur Bedrohung der Schweiz durch Desinformationskampagnen“ gutgeheissen, in dem ausschliesslich, wie „Fricktal24“ schreibt, „staatliche Beeinflussungsakteure, die offensiv andere Werte, Normen und politische Systeme propagieren und demokratische Institutionen untergraben wollen“, thematisiert werden. Im Klartext: Desinformation erfolgt ausschliesslich durch das „böse“ und „andersartige“ Russland – dass in kriegerischen Zeiten wie der unseren auch die vermeintlich lupenreine eigene Seite in nicht weniger grossem Umfang Propaganda und Desinformation betreibt, wird zum Vornherein ausgeschlossen…

So etwa ist im besagten Bericht des Bundesrates über „Beeinflussungsaktivitäten und Desinformation“ vom 19. Juni Folgendes zu lesen: „Mit Russlands militärischer Aggression gegen die Ukraine ist Krieg zurück in Europa und die Sicherheitsordnung des Kontinents nachhaltig erschüttert.. die Aktivitäten Russlands, aber auch Chinas, dürften mittel- und langfristig die grösste Relevanz für die Sicherheit der Schweiz behalten… einem globalen Publikum bieten russische Kanäle in sozialen und Online-Medien Desinformation und die gezielte Verfälschung der Realität in der Ukraine… es besteht zudem das Risiko, dass das Territorium der Schweiz als Drehscheibe missbraucht wird, um Beeinflussungsaktivitäten gegen Drittstaaten oder gegen internationale Organisationen durchzuführen oder zu finanzieren… zur Verbreitung seiner Sicht nutzt Russland beispielsweise oft betont apolitische Tarninstitutionen und Vereine als Fassade sowie gewisse russlandfreundliche Parteien und Politiker in westlichen Staaten, wobei die Verbindung und Finanzierung durch den russischen Staat nicht offensichtlich sein muss… der Kreml schuf mittels Parteispenden, Konferenzen und Einladungen nach Russland ein wohlgesinntes Netzwerk aus europäischen Politikerinnen und Politikern aus dem ganzen politischen Spektrum… Russland nutzt digitale Informations- und Kommunikationsmittel rege, um Desinformation zu streuen… seit Beginn des Kriegs in der Ukraine ist ein Zuwachs russischer Propagandainhalte in europäischen Sprachen auf kaum regulierten, nichtwestlichen Plattformen wie Tiktok und Telegram festzustellen… die Schweiz ist als Teil der westlichen Wertegemeinschaft schon länger Ziel von allgemeinen, auf westliche Staaten abzielenden Beeinflussungsaktivitäten… Für die Schweiz stehen im Zusammenhang mit Beeinflussungsaktivitäten Russland, aber auch China als mutmassliche Urheber im Vordergrund.“

Aber auch, was mögliche Massnahmen gegen die angeblich zunehmende russische und chinesische Propagandalawine betrifft, wird alles, was aus dem Westen kommt, ohne kritisches Hinterfragen als „gut“ und „richtig“ dargestellt. So etwa ist zu lesen: „Die demokratischen Staaten entwickeln unterschiedliche Instrumentarien zur Bekämpfung ausländischer Einflussnahme, in den USA zum Beispiel beobachtet das Global Engagement Center die Lage und stellt durch Russland verbreiteten Narrativen Fakten gegenüber… das European Digital Media Observatory ist ein von der EU finanziertes Netzwerk, das Desinformationskampagnen analysiert und die Medienkompetenz der Bevölkerung stärkt… führende westliche Social-Media-Unternehmen wie Facebook, Youtube und X schränkten in unterschiedlichem Ausmass den Zugang zu Inhalten aus staatsnahen russischen Quellen ein… die Nato wird in ihren Bemühungen gegen Desinformation durch ein unabhängiges Kompetenzzentrum unterstützt… Bemühungen der USA und der EU, Beeinflussungsaktivitäten und Desinformation durch den Einsatz von KI zunehmend aufzudecken, bieten der Schweiz Möglichkeiten der Übernahme und können als Vorbild dienen.“

Im Weiteren fordert der Bericht weitergehende Kompetenzen für all jene Institutionen, welche Beeinflussungsversuche ausländischer Mächte analysieren, kontrollieren und bei Bedarf weiter einschränken sollten: „Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) kann Beeinflussungsaktivitäten im Ausland bearbeiten, wenn diese für die sicherheitspolitische Lage der Schweiz von Bedeutung sind… der NDB kann auch einem schweizerischen Provider empfehlen, eine ausländische Website zu sperren, insbesondere wenn staatliche russische Akteure nachweislich kriminelle Organisationen für ihre Zwecke einspannen… Fedpol kann Einreiseverbote und Ausweisungen verfügen, wenn eine Person mit ihren Beeinflussungsaktivitäten die innere und die äussere Sicherheit der Schweiz gefährdet… der NDB hat die mit der hybriden Konfliktführung einhergehenden Beeinflussungsmöglichkeiten insbesondere Russlands und Chinas aufzuklären… Desinformation kann Armeeangehörige bereits vor dem Eintritt in den Dienst oder während ihrer Auftragserfüllung beeinflussen, die Armee beobachtet deshalb den Informationsraum im Alltag, insbesondere aber im Rahmen von Einsätzen und Operationen, entsprechende Erkenntnisse fliessen in einen wöchentlichen Lagerapport des Kommandos Operationen ein… derzeit konzipiert die Bundeskanzlei eine Informations-App für die Kommunikation des Bundesrates als direkten Kanal zur Bevölkerung, dieser könnte im Krisenfall wie auch im Fall von Beeinflussungsaktivitäten, bei denen eine Reaktion des Bundesrates erforderlich ist, durch Push-Benachrichtigung eingesetzt werden… künftig soll die Kerngruppe Sicherheit regelmässig die Thematik Beeinflussungsaktivitäten und Desinformation traktandieren, ebenso soll das Potenzial zum Ausbau und zur Institutionalisierung des internationalen Austauschs und der Zusammenarbeit geprüft werden, namentlich bezüglich des Zugangs zu Datenbanken und Analysen des Europäischen Auswärtigen Diensts.“

Beim genaueren Lesen des Berichts fallen seine inneren Widersprüchlichkeiten auf. So wird zwar einerseits ein krasses Bedrohungsbild durch russische und chinesische Desinformationspropaganda an die Wand gemalt, dann aber heisst es, der Bundesrat beurteile „deren Reichweite aber letztlich als gering“. Zudem bedient sich der Bericht höchst manipulativer Aussagen, obwohl er ja genau dies dem politischen Gegner unterstellt: So ist zu lesen, dass eine im Jahre 2021 durchgeführte Internetnutzungsumfrage durch das Bundesamt für Statistik ergeben hätte, dass „45 Prozent der Bevölkerung angibt, auf Nachrichtenseiten oder in sozialen Netzwerken fragwürdige Informationen gesehen zu haben“. Weil aber im ganzen Bericht stets nur die Rede von russischen und chinesischen Beeinflussungsversuchen die Rede ist, wird auch diese Aussage in den gleichen Kontext gestellt, obwohl die Umfrage aus dem Jahr 2021 höchstwahrscheinlich viel mehr mit der Coronakrise zu tun hatte und der Ukrainekrieg ja noch gar nicht begonnen hatte. Weiter steht im Bericht, das „Zusammenspiel von öffentlichen und privaten Medien sowie das Mehrparteiensystem mit seiner auf Konsens basierenden Politik stärken im internationalen Vergleich die Widerstandsfähigkeit der Schweiz gegen Polarisierung und Populismus“ – wiederum aber geht es bei dieser Aussage ausschliesslich um die Widerstandsfähigkeit gegen Einflussnahme von ausserhalb der Schweiz, nicht aber um Widerstandsfähigkeit gegenüber der Einseitigkeit und zunehmend tendenziösen Ausrichtung der eigenen, offensichtlich über sämtliche Zweifel erhabenen Medien. Wenngleich dann aber ein paar Seiten später eingeräumt wird, das allgemeine Vertrauen in die Schweizer Medien sei „von 50 Prozent im Jahr 2016 auf 42 Prozent im Jahr 2023 gesunken“ – ohne dass aber auch nur mit einem Wort auf mögliche Ursachen dieser Entwicklung eingegangen wird. Im Bericht wird auch das für Radio und Fernsehen geltende „Sachgerechtigkeitsgebot“ erwähnt, welches dann verletzt sei, „wenn Informationsinhalte so manipuliert werden, dass sich das Publikum kein persönliches Bild mehr machen kann“ – dieses Sachgerechtigkeitsgebot wird aber heute in weit grösserem Ausmass dadurch verletzt, dass auch schweizerische Radio- und Fernsehprogramme viel zu häufig unhinterfragt die westliche bzw. US-Optik übernehmen und viel weniger oder sogar gar nicht dadurch, dass russische oder chinesische Propaganda in Nachrichtensendungen einfliessen würde.

Beim Lesen des bundesrätlichen Berichts fühlt man sich unwillkürlich in die schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges zwischen 1945 und 1991 zurückversetzt. Die Wortführer von damals scheinen aus ihren Schlupflöchern wieder herausgekrochen zu sein und ein richtiges Comeback zu feiern. Nur dass es diesmal nicht gegen den „bösen“ Kommunismus in Gestalt der Sowjetunion geht, sondern um Putin und das heutige Russland, das zwar längst nichts mehr mit Kommunismus zu tun hat, sondern im Gegenteil ein durch und durch kapitalistisches Land ist, aber egal, Hauptsache, man hat wieder ein Feindbild, auf das man mit allen Rohren schiessen kann. Es scheint eben doch trotz aller gegenteiligen Behauptungen so zu sein, dass der Westen zu seiner eigenen Legitimierung unbedingt auf ein Feindbild angewiesen ist, ob das nun die Sowjetunion, Russland, der Terrorismus oder ganz allgemein der Islam ist. Diese Vermutung wird auch dadurch bestätigt, dass der Westen das Ansinnen Russlands im Mai 1997, der Nato beizutreten, mit der Begründung ausschlug, dass ja dann die Nato ihren Sinn verlieren würde.

Ein dermassen aufgebauschtes Feindbild, das offensichtlich darin besteht, mit dem einen Auge so scharf zu sehen, dass das andere schon fast gänzlich blind geworden zu sein scheint. Denn „Manipulation“, „Desinformation“ und „Beeinflussungsaktivitäten“ gibt es nicht nur seitens Russlands und Chinas, sondern ebenso, und möglicherweise sogar noch in höherem Ausmass , seitens des Westens und insbesondere der Nato, wie folgender in der „Wochenzeitung“ vom 16. September 1999 veröffentlichter Artikel von Andreas Zumach, UNO-Korrespondent der „tageszeitung“ von 1988 bis 2020, über den Nato-Krieg gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999, den sogenannten „Kosovokrieg“, zeigt.

„Für die Informationsarbeit der Nato-Staaten vor, während und nach dem Kosovokrieg“, so Zumach, „waren vor allem zwei Erfahrungen der Vergangenheit von Bedeutung: der Vietnamkrieg der USA in den sechziger und siebziger Jahren sowie der Golfkrieg einer US-geführten Allianz gegen den Irak im Frühjahr 1991. Der Vietnamkrieg wurde für Washington zu einem innenpolitischen Debakel, als die drei grossen Fernsehnetzwerke der USA (CBS, NBC und ABC) begannen, ihre eigenen, vom Pentagon weitgehend unabhängigen Bilder und Berichte vom Kriegsschauplatz zu verbreiten. Das wollten die Militärs nicht noch einmal erleben. Bereits im Vorfeld des Golfkriegs wurden deshalb 95 Prozent der US-Zeitungen, Fernseh- und Rundfunkanstalten vom Pentagon vertraglich zur Selbstzensur verpflichtet. Nur wer diese Verträge unterschrieb, erhielt beschränkten, vom US-Militär auf Schritt und Tritt kontrollierten Zugang zur Kriegsregion. Als zentrale Informationsquellen wurden das Verteidigungsministerium in Washington und sein damaliges Kriegshauptquartier in Saudi-Arabien vorgegeben. Die Medien und JournalistInnen aus dem ‚Rest der Welt‘, obwohl nicht Partner dieser Selbstzensurverträge, hielten sich fast alle daran. Die perfekte Informationssteuerung im Golfkrieg des Frühjahrs 1991 wurde noch erleichtert durch die zentrale Rolle, die erstmals der – weitgehend an den Vorgaben Washingtons orientierte – US-Kabelsender CNN spielte. Von ihm übernahmen die Fernsehanstalten fast der ganzen Welt ihre Bilder – zumeist ohne weitere Überprüfung. Und auch im Kosovokrieg, dem völkerrechtswidrigen Angriff der Nato gegen Jugoslawien im Frühling 1999, verfing die Strategie. Die von der Allianz unter Führung der USA vorgegebenen Begriffe, Sprachregelungen und Interpretationen wurden in 90 Prozent aller US-amerikanischen Medienberichte umstandslos übernommen, wie inzwischen vorliegende Untersuchungen zeigen. So war in den Medien fast immer nur von der ‚Luftkampagne‘ der Nato die Rede, seltener von ‚Luftangriffen‘ und fast nie von ‚Krieg‘ (genau das, was Russland im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg vorgeworfen wird, wenn Putin nicht von einem ‚Krieg‘ spricht, sondern von einer ‚Militäroperation‘!). Von 291 Quellen, die zwei der einflussreichsten Fernseh-Abendnachrichtenprogramme in den USA in ihrer Berichterstattung zitierten, waren lediglich acht kritisch gegenüber dem Nato-Luftkrieg. Über den – inzwischen bestätigten – vielfachen Einsatz von Splitterbomben und von Granaten mit uraniumgehärteten Sprengköpfen wurde während des Krieges im Deutschen Fernsehen bloss ein einziges Mal berichtet. Alle anderen Medien gaben sich offenbar mit Dementis aus Brüssel zufrieden. Und dies trotz massiver Indizien und der seit einigen Jahren wohl bekannten, verheerenden Folgen, die der Einsatz derartiger Waffen im Golfkrieg von 1991 unter der irakischen Zivilbevölkerung verursacht hat.
Am politisch folgenreichsten aber war das Versagen der meisten Medien und JournalistInnen in den Wochen vor Beginn des Nato-Krieges – insbesondere während und nach den Verhandlungen zwischen Serbien und Vertretern der Kosovo-Albaner in Rambouillet und Paris unter Federführung der ‚Balkan-Kontaktgruppe‘, den Aussenministern der USA, Russlands, Grossbritanniens, Deutschlands, Frankreichs und Italiens. Das von Mitgliedsstaaten dieser Gruppe seinerzeit öffentlich verkündete Ziel der Verhandlungen – ein Statut für eine autonome jugoslawische Provinz Kosovo – wurde umstandslos weiterverbreitet, der Entwurf der Kontaktgruppe für ein Abkommen hingegen zunächst gar nicht oder nur sehr oberflächlich zur Kenntnis genommen. Nach dem Scheitern der Verhandlungen wurde die Darstellung der Aussenminister, ‚alle politischen und diplomatischen Möglichkeiten‘ für eine friedliche Lösung des Kosovo-Konflikts seien ausgeschöpft worden, von den meisten Medien übernommen. Ohne weiteres geschluckt wurde auch die nachweislich falsche Darstellung, Russland habe während der Verhandlungen die Position der westlichen Staaten mitgetragen. Als Mitte April der inzwischen berühmt gewordene Annex B des Vertragsentwurfs über die Rechte der Kosovo-Besatzungsmacht durch einen Artikel in der Berliner ‚tageszeitung‘ einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde und damit die Darstellungen des deutschen Aussenministers Joschka Fischer und seiner Kollegen ernsthaft in Frage gestellt wurden, reagierte das deutsche Bundesaussenministerium bloss mit heftigen Angriffen auf den verantwortlichen Journalisten.“

Es ist kaum davon auszugehen, dass die Propagandamethoden der Nato heute viel anders sind als vor 25 Jahren, zur Zeit des Kosovokriegs. Im Gegenteil, höchst wahrscheinlich sind sie heute noch viel raffinierter und noch viel weniger durchschaubar. So raffiniert und undurchschaubar, dass sich die Mehrheit auch der Schweizer Bevölkerung noch immer in den guten alten Zeiten von Demokratie, Selbstbestimmung und Neutralität wähnt, während wir in Tat und Wahrheit doch schon längst, heimlich, schleichend und ohne dass dies auch nur im Entferntesten demokratisch abgestützt worden wäre, zum integralen Bestandteil der westlichen, von den USA angeführten Kriegsmacht geworden sind und damit die historische Chance, als echte, neutrale Friedensmacht durch diplomatische Vermittlung zu einer gewaltfreien Lösung des Ukrainekonflikts und damit zur Verhinderung eines allesvernichtenden dritten Weltkriegs entscheidend beitragen zu können, längst vertan wurde – genau das, was uns die vermeintliche russische „Kriegspropaganda“ heute so gnadenlos vor Augen hält. Und wir, von allen guten Geistern verlassen, alles, was unsere Weltsicht in Frage stellen könnte, in Bausch und Bogen verwerfen, statt es zum Anlass einer Denkpause zu nutzen und noch einmal auf das Feld Null zurückzukehren…

Amin, Ela, Baran und Aziz: Eine afghanische Flüchtlingsfamilie und wie sich mein Leben in so kurzer Zeit so tiefgreifend verändert hat…

Amin und Ela mit ihren beiden Buben, dem viereinhalbjährigen Baran und dem eineinhalbjährigen Aziz, sind vor drei Wochen bei mir eingezogen. Seither ist mein Haus, das nach dem Auszug unserer drei Kinder und dem Tod meiner Frau vor fünfeinhalb Jahren für mich alleine viel zu gross gewesen war, zum ersten Mal wieder voller Leben. Aziz kann von den Kirschen, die jetzt nach und nach reif werden, gar nicht genug bekommen. Baran spielt am liebsten mit dem roten Spielzeugferrari und hat schon einen Riesenturm aus Legosteinen gebaut. Ela hat die paar wenigen Kleidungsstücke und den Schmuck, den sie vor vielen Jahren von ihrer Mutter geschenkt bekommen und nun auf die Reise in die Schweiz mitgenommen hat, fein säuberlich in ihrem neuen Zuhause eingeräumt. Die grosse Schiefertafel beim hinteren Hauseingang ist voll mit von Amin gezeichneten persischen Schriftzügen, ein richtiges kleines Kunstwerk. Und auf dem Küchentisch steht ein noch warmer afghanischer Kuchen, dessen Duft das ganze Haus durchströmt. Schon lange nicht mehr hat sich mein Leben in so kurzer Zeit so stark verändert.

Obwohl sich die Menschenrechtslage in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban im Juli 2021 weiter verschlechtert hat, weisen die Schweizer Behörden, wie „Swissinfo“ am 6. April 2023 berichtete, weiterhin die überwiegende Mehrheit der schutzsuchenden Afghaninnen und Afghanen ab – eine Politik, die in krassem Gegensatz zur grosszügigen Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge steht. Wer eine Chance haben will, aus Afghanistan in ein europäisches Aufnahmeland zu gelangen, muss zunächst, wie das inzwischen über 1,6 Millionen Menschen getan haben, über die Grenze in den Iran oder nach Pakistan fliehen und dort ein humanitäres Visum beantragen. Doch die Hürden sind hoch. So wurden im Jahr 2022 von sämtlichen von Afghaninnen und Afghanen für die Einreise in die Schweiz beantragten humanitären Visa gerade mal 5,5 Prozent bewilligt. Antragstellende müssen eine unmittelbare, individuelle, konkrete und ernsthafte Bedrohung für Leib und Leben nachweisen, die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe wie Frauen oder Mädchen reicht nicht. Zudem müssen sie einen engen und aktuellen Bezug zur Schweiz haben, etwa durch Verwandte oder einen früheren Aufenthalt im Land. Doch auch für all jene, welche es nach Überwindung aller dieser Hürden schliesslich bis in die Schweiz geschafft haben, ist die Zukunft immer noch ungewiss: Im Jahre 2022 erhielten von sämtlichen in der Schweiz Asyl suchenden Afghaninnen und Afghanen nur 533 eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung (Ausweis B), 2’274 eine vorübergehende Aufenthaltsbewilligung (Ausweis F) und 1’231 Anträge wurden abgewiesen. Personen mit einer F-Bewilligung sind mit Einschränkungen bei Reisen ins Ausland, bei der Sozialhilfe und bei der Familienzusammenführung konfrontiert, zudem schreckt der Status der befristeten Bewilligung potenzielle Arbeitgeber ab. Eine F-Bewilligung bedeutet, nie sicher zu sein, dauerhaft in der Schweiz bleiben zu können.

Amin, Ela, Baran und Aziz gehören zu den wenigen Glücklichen, die es geschafft haben, eine B-Aufenthaltsbewilligung zu bekommen und dauerhaft in der Schweiz bleiben zu können. Doch auch ihr Weg war steinig. Auch sie tragen schwere Wunden. Amin musste mit ansehen, wie Elas Eltern beim Verlassen einer Moschee, wo er auf sie gewartet hatte, vor seinen Augen von Talibankämpfern niedergeschossen wurden, seine geliebten Schwiegereltern, einfach so beide innerhalb einer Sekunde tot. Alle, so Amin, hätten vor allen anderen Angst, keiner traue einem andern über den Weg – ein permanenter Schockzustand. Käme einem jemand auf der gegenüberliegenden Strassenseite entgegen, wisse man nie, ob der nicht schon im nächsten Augenblick eine Waffe zücken werde. Auch wenn man zum Mitfahren in ein fremdes Auto steige, müsse man stets damit rechnen, vom Fahrer mit einem Messer attackiert zu werden. Das Schrecklichste sei jene Nacht gewesen, in der Amin bei einer Tante, die in einem kleinen Bergtal lebt, auf Besuch war und dort übernachtete. Das Raketenfeuer von den beiden gegenüberliegenden Seiten des Tales hätte den Himmel taghell erleuchtet, dazu ein ohrenbetäubender Höllenlärm, die Kinder der Tante, zitternd vor Angst, hätten während der ganzen Nacht kein Auge zugetan. Als er die Tante gefragt hätte, weshalb sie immer noch dort wohne, hätte sie ihm erklärt, dass sie gar keine andere Wahl hätte, weil ihr winziges Guthaben niemals ausreichen würde, um eine andere Wohnung oder ein anderes Haus zu kaufen. In jenem Bergtal war es auch, wo Amin im Garten eines Nachbarhauses ein etwa fünfjähriges Mädchen erblickte, das auf ihn einen besonders erbärmlichen Eindruck machte. Als er es fragte, welches sein grösster Wunsch sei, gab das Mädchen zur Antwort: Wenigstens einmal pro Tag Essen zu bekommen…

Als die Angriffe der Taliban immer heftiger wurden, hätten Amin und sein Vater, der Soldat bei den Regierungstruppen war, beschlossen, das Land zu verlassen. Als sie mit dem Auto in Richtung der iranischen Grenze fuhren, seien plötzlich von allen Seiten Talibankämpfer aufgetaucht, der Vater hätte das Auto dermassen beschleunigen müssen, dass es schliesslich mit voller Wucht in eine Felswand geprallt sei, Amin mit gebrochenem Unterarm und seinem glücklicherweise unverletzt gebliebenen Vater gelang es nur um Haaresbreite, den Angreifern zu entkommen und schliesslich, grösstenteils zu Fuss, in den Iran zu gelangen, wo sie Arbeit in einer Textilwerkstatt gefunden hätten, der Vater aber nach all den Strapazen so geschwächt gewesen sei, dass er schon nach kurzer Zeit im Alter von 55 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben sei. Doch nicht nur seinen Vater und seine Schwiegereltern hat Amin verloren, sondern auch noch viele weitere Verwandte, Nachbarn, Schulkollegen und mehrere seiner allerbesten Freunde.

Zu diesem Zeitpunkt war Ela mit Baran und Amins Mutter, seiner Schwester und seinen beiden Brüdern noch in Kabul verblieben. Aziz kam erst zur Welt, als Amin seine Familie schon längst hatte verlassen müssen. Später flohen die anderen Familienmitglieder ebenfalls in den Iran, Ela und die beiden Buben erhielten nach längerer Zeit die sehnlichst erwarteten Reisedokumente und durften in die Schweiz einreisen, wo Amin vor drei Wochen auf dem Zürcher Flughafen seinen inzwischen eineinhalbjährigen zweiten Sohn zum ersten Mal sah. Alles, was Ela und die beiden Buben besassen, hatte in einem einzigen Koffer Platz. Amins Mutter, seine Schwester und seine beiden Brüder leben weiterhin im Iran, höchstwahrscheinlich wird Amin sie zeitlebens nie wieder sehen.

Aber Amin kennt auch all die Geschichten der sogenannten „Illegalen“, von denen einer seiner besten Freunde buchstäblich den ganzen Weg von Afghanistan bis in die Schweiz zu Fuss zurücklegte, zwei Mal im Gefängnis landete, doch meist nach kurzer Zeit wieder entlassen wurde. Er kennt auch die Geschichte jener schwangeren Frau, die sich mit letzter Kraft im Schnee und in der Kälte über das dreitausend Meter hohe Elbrusgebirge quälte und im kärglichen Schutz einer kleinen Felshöhle ihr Kind zur Welt brachte. Er kennt auch die Geschichte jener Familie, deren Vater unterwegs gestorben war und den sie einfach so schutzlos liegen lassen mussten, um, vom Hunger getrieben, nicht zu viel Zeit zu verlieren. Er hat auch Kenntnis von Vorfällen an der bulgarisch-türkischen Grenze, Frauen, die von bulgarischen Polizisten vergewaltigt wurden und deren blutige Kleider später im Wald gefunden wurden. Man hat ihm auch davon erzählt, dass auf Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze Bluthunde gehetzt werden, Männer und Frauen verprügelt, ihnen ihr Geld abgenommen und ihre Kleider vom Leibe gerissen werden. Und er weiss auch, dass von den 18’000 Flüchtlingen, welche zwischen Januar und Mai 2024 die Fluchtroute über Westafrika zu den Kanarischen Inseln gewählt hatten, 4808 unterwegs auf dem Weg über den Atlantik ihr Leben verloren, unter ihnen viele Afghaninnen und Afghanen.

Unweigerlich kommen mir die im Vorfeld der schweizerischen Parlamentswahlen letzten Herbst bis zum Überdruss wiederholten Worte des damaligen SVP-Präsidenten Marco Chiesa in den Sinn, es kämen „zu viele Ausländer“ in die Schweiz und vor allem die „Falschen“. Doch welches sind die „Richtigen“ und welches sind die „Falschen“? Und wer entscheidet das? Sind die Multimillionäre aus Kuweit, die an bester Lage am Genfersee ihre Luxusvillen bauen lassen, die „Richtigen“? Und wäre die Frau aus Afghanistan, die im Schnee und in der Kälte des iranischen Elbrusgebirges ihr Kind zur Welt brachte, eine der „Falschen“? Wie viel Herzlosigkeit bräuchte es, wenn man einen Abend lang solche Geschichten zu hören bekommen hätte und dann dennoch immer wieder so viel blinden Hass verbreiten würde? Und wenn Chiesa sagte, es kämen „zu viele“: Ich habe mal nachgerechnet, auf 100 Menschen in der Schweiz kommt ein einziger Flüchtling! Sind wir nicht genug stark und reich, um dies zu verkraften, und vielleicht sogar noch einiges mehr? Muss es uns nicht zu denken geben, wenn wir das beispielsweise mit einem wirtschaftlich ungleich viel schwächeren Land wie dem Libanon vergleichen, wo auf 100 Einheimische nicht nur einer, auch nicht nur zwei, nicht einmal zwanzig, sondern sage und schreibe 100 Flüchtlinge kommen?

Amin zeigt mir auf seinem Smartphone ein Schwarzweiss-Foto. Kabul 1954. Kaum zu glauben: Durch die afghanische Hauptstadt rollen Trolleybusse! Afghanistan war zu jener Zeit ein relativ wohlhabendes Land mit moderner Infrastruktur, einem Zweikammerparlament im Rahmen eines konstitutionellen Königtums, mit Meinungs- und Pressefreiheit sowie Frauenwahlrecht, und dies bereits 40 Jahre, bevor es in der Schweiz eingeführt wurde. Heute, so Amin, ist alles kaputt. Seit 1978, im permanenten Strudel wechselnder Machtkämpfe zwischen rivalisierenden Warlords und den sich von aussen einmischenden Grossmächten Sowjetunion und USA, ist Krieg der ganz „normale“ Alltag in Afghanistan. Nach rund 300’000 Kriegsopfern, Millionen Geflüchteter und der weitgehenden Zerstörung von Wirtschaft, Infrastruktur und zivilen Einrichtungen und Institutionen zählt Afghanistan heute zu den ärmsten Ländern der Welt. Millionen von Afghaninnen und Afghanen, sagt Amin, sind im Krieg geboren, sind im Krieg aufgewachsen, haben im Krieg geheiratet, haben im Krieg gearbeitet und sind im Krieg gestorben. Nie haben sie etwas anderes gekannt als Krieg.

„Wer hat, dem wird gegeben“, „Es regnet immer dorthin, wo es schon nass ist“, „Der Teufel scheisst immer auf den grössten Haufen“ – diese bekannten Redewendungen, in Anlehnung an ein Bibelzitat auch als „Matthäus-Effekt“ bekannt, sind wohl für wenige Länder so zutreffend wie für Afghanistan. Das kriegsgeplagte, von himmelschreiender Armut betroffene Land wurde, wie die „Wochenzeitung“ vom 23. Mai 2024 berichtete, anfangs Mai Opfer sintflutartiger Überschwemmungen. „Der Fluss war voll mit allem, was man sich vorstellen kann“, erzählt ein im betroffenen Gebiet im Norden Afghanistans lebender Arzt, „Lehm, Holz, Metall, Stein, Menschen und Tiere – ein Anblick des Grauens.“ Den offiziellen Zahlen der Taliban zufolge wurden 420 Menschen getötet, die Dunkelziffer dürfte freilich viel höher liegen. Viele Menschen gelten weiterhin als vermisst, die Rettungstrupps müssen sich durch zwei Meter dicke Schlammschichten kämpfen. Ganze Dörfer wurden mitgerissen. Auch ist die Rede von 10’000 ertrunkenen Rindern und Schafen, 6000 zerstörten Häusern und vielen unbrauchbar gewordenen Ackerfeldern. „Die Menschen“, so der Arzt, „werden sich kaum von dieser Katastrophe erholen können, doch schon steht die nächste an, denn auf die Flut wird der Hunger folgen und dieser wird wahrscheinlich abermals unzählige Afghaninnen und Afghanen zur Flucht zwingen.“ Man stelle sich einmal ein derartiges Ereignis mitten in Europa vor – alle Zeitungen, Radio und Fernsehen würden tage-, wenn nicht wochenlang über nichts anderes mehr berichten. Dass in unseren Medien kaum etwas von dieser verheerenden Flutkatastrophe in Afghanistan zu hören oder zu sehen war – auch das ist eine schreiende Form von Rassismus und Menschenverachtung.

Laut „Tagesanzeiger“ vom 20. Juni 2024 ist Afghanistan „ein Land im Dauernotstand“. Nebst den Repressalien der Taliban und den wirtschaftlichen Problemen wird das Land auch immer wieder von Naturkatastrophen wie Erdbeben und Überschwemmungen heimgesucht, nicht zuletzt als Folge des Klimawandels – jetzt gerade ist es in der Gegend, wo Amin aufwuchs, 51 Grad heiss! Zu alledem hat sich die humanitäre Krise durch die erzwungene Rückkehr von rund 650’000 Afghaninnen und Afghanen aus Pakistan weiter zugespitzt. Über drei Millionen Menschen sind Vertriebene im eigenen Land. Allein in den vergangenen drei Jahren flohen 1,6 Millionen aus Afghanistan. Die Zahl der weltweit gemeldeten afghanischen Flüchtlinge liegt bei 6,4 Millionen. Amin meint, tatsächlich sei die Zahl um ein Vielfaches höher, weil es sich bei den meisten um „Illegale“ handle, und die kämen in den Statistiken gar nicht vor. Von den 43 Millionen Menschen, die noch in Afghanistan leben, bräuchten über 23 Millionen humanitäre Hilfe, 6 Millionen Menschen leben in totaler Verzweiflung. Doch die den Hilfsorganisationen zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel reichen bei weitem nicht aus. Das UNO-Flüchtlingswerk UNHCR hat für das laufende Jahr einen Finanzbedarf von rund 480 Millionen Dollar, doch erst 30 Prozent davon sind gesichert. Der Gesamtbedarf aller Hilfsorganisationen für Afghanistan beläuft sich zurzeit auf 3 Milliarden, auch das ist nur zu 20 Prozent gedeckt. Die fehlenden 2,4 Milliarden wären ein winziger Bruchteil jener rund 640 Milliarden, welche die USA im Verlaufe des 20jährigen Afghanistankriegs für ihre Armee, für Waffen und andere Rüstungsgüter verpulvert hat. Offensichtlich war dafür, ganze Landstriche in Wüsten zu verwandeln, ganze Wohnquartiere dem Boden gleichzumachen, in der gesamten Bevölkerung pausenlos Angst und Schrecken zu verbreiten und friedliche Hochzeitsfeiern in die Luft zu sprengen, so viel Geld nötig, dass jetzt, um wenigstens einen kleinen Teil des angerichteten Schadens wieder gutzumachen, nichts mehr übrig geblieben ist bzw. für andere, neue Kriege gebraucht wird. Zweifellos verfolgten die USA schon im Afghanistankrieg wie auch in allen anderen der über 40 seit 1945 angezettelten Militärschläge, Regierungsputschs und Kriege die gleiche Strategie, die sie aktuell auch jetzt wieder im Ukrainekrieg verfolgen und die von der US-Vizepräsidentin Kamala Harris anlässlich der Bürgenstock-„Friedenskonferenz“ so treffend auf den Punkt gebracht wurde, als sie sagte: „Wir müssen die Wahrheit sagen. Amerika steht nicht aus Nächstenliebe an der Seite der Ukraine, sondern weil es in unserem strategischen Interesse ist.“

Und auch die Schweiz. Anfang Juni entschied der Ständerat, das Militärbudget in den nächsten vier Jahren um 4 Milliarden zu erhöhen und die Hälfte davon bei der Entwicklungshilfe zu sparen. Bei der humanitären Hilfe der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit würden 470 Millionen Franken gestrichen, Hier geht es um Gelder zur Linderung der Not der Menschen in Krisengebieten oder nach Naturkatastrophen. Betroffen werden unter anderem Afghanistan, Syrien, der Jemen und der Sudan sein. Zudem steht die Unterstützung der Flüchtlingsorganisation UNHCR zur Disposition. Und dem Beitrag des internationalen Komitees vom Roten Kreuz droht eine Kürzung von 20 Prozent. Bei der Entwicklungszusammenarbeit der Deza würde am meisten gespart: 1,2 Milliarden Franken. Dies hätte den Rückzug aus sechs bis acht Schwerpunktländern zur Folge, unter anderem Albanien, Serbien, Bosnien und Herzegowina, Georgien, Tunesien, Ägypten, Myanmar und Mali. Zudem sind die Beiträge an die fünf grössten Schweizer Nichtregierungsorganisationen in der Höhe von 90 Millionen in Gefahr. Weitere 450 Millionen könnten bei der Unterstützung des Kinderhilfswerks Unicef, des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Krankheiten wie Aids, Tuberkulose und Malaria sowie des Afrikanischen Entwicklungsfonds gespart werden. Die Abteilung für Frieden und Menschenrechte des EDA müsste Einsparungen von weiteren 330 Millionen beisteuern, hier käme es zu einem Rückzug aus mehreren Schwerpunktländern sowie Kürzungen in den Bereichen Klima, Migration und Menschenrechten. Es ist wohl nicht übertrieben, zu sagen, dass hier gerade systematisch ein Massenmord geplant wird. Doch Mitte-Ständerat Beat Rieder kann allen Ernstes sagen, es sei „gut, wenn die Schweiz die Demokratie fördern will“, es „bringt aber nichts, Geld in Länder wie Afghanistan zu investieren.“ Und FDP-Ständerat Benjamin Mühlemann, der die Sparanträge eingebracht hat, kann sogar in aller Öffentlichkeit die schier unfassbare Aussage machen, dass Entwicklungshilfe zwar „zweifellos wichtig“, die „Wehrhaftigkeit der Schweiz in der gegenwärtigen Situation aber noch viel wichtiger“ sei – ohne dass ein Aufschrei der Empörung durch unser Land geht…

Und dies in einer Welt, in der sich im Jahr 2023 jeder 69. Mensch auf der Flucht befand, total fast 120 Millionen, mehr als je zuvor. „Als wäre das nicht schon tragisch genug“, schreibt Chefredaktorin Melanie Steiger in der „Liechtensteiner Woche“ vom 23. Juni, „kommt ein weiterer Rekord hinzu: Noch nie waren so viele Kinder und Jugendliche auf der Flucht wie heute – mehr als 50 Millionen.“ Die grössten Fluchtbewegungen kommen aus Afghanistan, Syrien, der Ukraine, Venezuela, Honduras, Myanmar, der Demokratischen Republik Kongo und dem Sudan. Entgegen der weitverbreiteten Meinung, die meisten dieser Flüchtlinge würden nach Europa kommen, zeigen Daten des Kinderhilfswerks Unicef, dass der überwiegende Teil der Flüchtlinge innerhalb des Globalen Südens in anderen Ländern Zuflucht suchen, drei Viertel sämtlicher weltweit registrierter Flüchtlinge sogar in sichereren Regionen ihres eigenen Landes. „Kaum vorstellbar“, so Melanie Steiger, „was die Menschen auf der Flucht auf sich nehmen und welchen Gefahren sie sich aussetzen, schliesslich durchqueren sie andere Konfliktgebiete, die Wüste, das Meer. Und dann stecken sie in Flüchtlingslagern fest und müssen dort erneut unter widrigsten Umständen leben.“

In der Nacht, als mir Amin erklärte, weshalb er ein tausendprozentiger Pazifist geworden sei, wäre in mir auch noch der letzte Rest an Rassismus oder westlicher Überheblichkeit zerplatzt, falls es ihn überhaupt noch gegeben hätte. Stärker denn je zuvor wurde mir bewusst, dass das Gerede von den „kulturellen Unterschieden“ und dass der „demokratische“ Westen den sogenannten „unterentwickelten“ Völkern zum Vorbild dienen müsste und dass insbesondere „bildungsferne“ Menschen mit den zivilisatorischen Errungenschaften unserer „hochentwickelten“ europäischen Gesellschaften vertraut gemacht werden müssten, dass dies alles bloss Lügen sind, mit denen man die Menschen verschiedener Völker, Sprachen und Kulturen auseinanderzuspalten versucht, während der einzig wesentliche Unterschied tatsächlich nicht darin besteht, wo auf diesem Planeten wir geboren wurden, sondern einzig und allein nur darin, ob wir den Krieg wollen oder den Frieden, ob wir andere Menschen hassen oder ob wir sie lieben, ob wir das, was wir besitzen, dazu benützen, immer noch mehr und mehr davon zusammenzuraffen, oder dazu, es möglichst gerecht mit vielen anderen zu teilen, ob wir Türen dazu benützen, sie zu schliessen, oder dazu, sie für andere zu öffnen. Dass Amin und Ela trotz allem, was sie an Schrecklichem erleben mussten, dennoch so liebenswürdige, sanfte, friedfertige Menschen geblieben sind, und ihre beiden Kinder genau so liebevoll und sorgfältig die Bauklötze aufeinanderschichten wie meine in der Schweiz geborenen Enkelkinder, müsste uns allen doch endgültig die Augen dafür öffnen, wie stark das Gute in jedem Menschen über alle Grenzen hinweg sein muss und dass bei Weitem nicht alle, sondern höchstens ein winziger Teil all jener, denen auf irgendwelche Weise Gewalt angetan wurde, selber wieder zu Menschen werden, die anderen Menschen Gewalt antun. Was für eine Hoffnung trotz allem…

Freilich kann die Lösung des weltweiten Migrationsproblems nicht darin bestehen, alle Grenzen zu öffnen und sämtliche aus den armen in die reichen Länder Drängenden hier aufzunehmen. Doch werden auch die dicksten Mauern und die tiefsten Gräben die Millionen Verzweifelter nicht daran hindern, für sich und ihre Kinder eine bessere Zukunft zu erkämpfen, genau so, wie auch unsere europäischen Vorfahren in Zeiten von Armut oder Verfolgung ihr Glück in fernen Ländern suchten, wo sie sich eine glücklichere Zukunft erhofften. Flüchtlinge wird es erst dann nicht mehr geben, wenn alle Güter weltweit auf alle Menschen und alle Länder gerecht verteilt sind. Solange dies aber nicht der Fall ist, können wir Reichen, die über Jahrhunderte von der Ausplünderung und Verelendung des Südens profitiert haben, uns nicht aus der Verantwortung stehlen. Es gilt, alles daran zu setzen, um eine neue, gerechte zukünftige Wirtschaftsordnung zu verwirklichen, gleichzeitig aber auch, unsere Türen so weit als irgend möglich zu öffnen und uns mit so viel Aufwand und Verzicht auf eigene Privilegien wie nur irgend möglich um all jene Menschen zu kümmern, die im weltweiten Kampf ums Überleben ihr Dasein auf der Schattenseite fristen.

Nach allem, was Amin erlebt habe, sagt er, sei er zu tausend Prozent Pazifist geworden, jeder Dollar, der für Waffen ausgegeben werde, sei einer zu viel. Er muss es wissen. Wenn wir herausfinden wollen, wie eine bessere Zukunft aussehen könnte, müssen wir nicht Spitzenpolitiker, Politikwissenschaftler, Militär- oder gar Rüstungsexperten fragen, sondern Menschen wie Amin, Ela, Baran und den kleinen Aziz. Heute Nachmittag hat er mir lange zugeschaut, als ich Schachtelhalme aus dem Kiesboden zupfte. Bis er selber einen aus der Erde zog und in den Kübel mit den Gartenabfällen warf. Wir haben uns verstanden, auch wenn wir nicht die gleiche Sprache sprechen. Baran und Aziz nennen mich übrigens in ihrer Muttersprache, dem Persischen, „Opa“. So habe ich, ohne es beabsichtigt zu haben, sozusagen über Nacht zwei neue Enkelkinder bekommen…

Wenn du wissen möchtest, wie diese Geschichte weitergeht, dann schreibe doch bitte eine Email mit dem Stichwort “Afghanistan” an: info@petersutter.ch. Dann bekommst du die bisherigen und die zukünftig erscheinenden Artikel.

Veringenstadt, 8. Juni 1680: Kommunistinnen ihrer Zeit

Dies ist das 6. Kapitel aus meinem Buch PRO MEMORIA – EINE ANDERE GESCHICHTE DES KAPITALISMUS, das voraussichtlich Mitte 2025 erscheinen wird. Eine Geschichte der Schattenseiten des Kapitalismus und der Opfer eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das trotz allem immer noch von vielen als die einzige mögliche und alternativlose Art und Weise angesehen wird, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten organisiert werden kann.

Wenn du in der Suchfunktion PRO MEMORIA eingibst, findest du die weiteren bereits publizierten Kapitel des Buches.

Die 1619 im deutschen Liesen geborene Anna Kramer war in zweiter Ehe mit einem 24 Jahre älteren Mann verheiratet, der sie dermassen grob behandelte, oft verprügelte und sie täglich zusätzlich zur Hausarbeit schwere Feldarbeiten verrichten liess, dass es immer wieder zu heftigen Streitigkeiten kam, selbst auf der Strasse, was Leute in der Nachbarschaft dazu veranlasste, beim städtischen Schultheiss Klage gegen das «Höllenspektakel» einzureichen. Als Ermahnungen, Arrest- und Geldstrafen nichts bewirkten, wandten sich der Schulthess, der Bürgermeister und der Stadtrat an die fürstliche Oberbehörde in Sigmaringen, die aber vorläufig untätig blieb.

Als die häuslichen Streitereien im Laufe der Zeit immer heftiger wurden, verliess Anna des Öftern das Haus und streifte in den benachbarten Orten umher, wo sie kranke Kinder und Frauen besuchte und ihnen mit Kräutern und Heilgetränken zur Genesung verhalf. Dies führte zur Verbreitung von Gerüchten, Anna verfüge über gefährliche Zauberkräfte. Einige behaupteten sogar, wegen ihr eine tödliche Krankheit bekommen zu haben. Anzeigen häuften sich und der Druck auf die Behörden, eine umfassende Untersuchung einzuleiten, wurde immer grösser. Am 15. Juni 1676 fand eine Anhörung sämtlicher Personen statt, die gegen Anna Vorwürfe erhoben hatten. Dabei wurden die bereits bekannten Vorwürfe wiederholt, ohne dass aber stichhaltige Beweise vorgelegt werden konnten. Trotzdem trat niemand für ihre Schuldlosigkeit ein, nicht einmal ihr Mann und der eigene Sohn.

Im April 1680 behauptete Annas nächster Nachbar, der bis anhin stets gesagt hatte, er wisse nichts Unrechtes von ihr, nun auf einmal, Anna hätte seine im März verstorbene Frau und seinen Sohn, der Ende März schwer erkrankt war, verhext. Die Sache ging bis zum Vizekanzler Johannes Kirsinger in Sigmaringen, der schliesslich am 9. Mai kurz nach Mitternacht Anna Kramer festnehmen liess. 

Die Protokolle des Hexenprozesses von Anna Kramer liegen noch heute im Stadtarchiv von Veringenstadt und vermitteln einen erschütternden Einblick in eines der schlimmsten Kapitel in der Geschichte der Menschheit. Diesen Protokollen zufolge begannen die Verhöre am 11. Mai 1680. Am ersten Tag wurde Anna während vier Stunden mit Fragen durchlöchert, mit wem sie wann Kontakt gehabt hätte, ob sie an Gott glaube, ob sie die heiligen Sakramente erhalten hätte und anderes mehr. Ein Stallknecht, der als Zeuge zugegen war, beteuerte, über Anna nur Gutes gehört zu haben, fügte aber hinzu, er hätte, als Anna gefangen genommen worden sei, beim Hauseingang eine Kröte und eine schwarze Katze gesehen.

Am zweiten Verhörtag, dem 15. Mai, wurden zehn Personen, die gegen Anna Anschuldigungen erhoben hatten, befragt. Sie berichteten von allerlei Krankheiten, Beschwerden und seltsamen Vorfällen, die immer dann aufgetreten seien, wenn sie mit Anna Kontakt gehabt hätten: Atemnot, Fieberkrämpfe, Herzbeschwerden, Schwellungen am Hals, schwarze Hautflecken, Lähmungen. Auch Pferde und Kühe seien auf unerklärliche Weise plötzlich verstorben. Anna bekräftigte ihre Unschuld, was aber vom Vorsitzenden zurückgewiesen und worauf sie wieder ins Gefängnis gebracht wurde. Am dritten Verhörtag, dem 16. Mai, wurde ihr Ehemann befragt. Er sagte, Anna sei eine unausstehliche, unverträgliche Person, die ihm immer wieder entlaufen sei und die er deshalb auch immer wieder «wie einen Ochsen» geschlagen habe. Etwas anderes Unrechtes oder Verdächtiges hätte er aber nie bemerkt. Anna wies alle bisher gegen sie erhobenen Vorwürfe zurück, worauf der vorsitzende Richter die beiden Scharfrichter rufen liess und ihnen befahl, Anna in die Folterkammer zu führen und ihr sämtliche Folterwerkzeuge zu zeigen und deren Gebrauch zu erklären. Dennoch beharrte Anna darauf, keine Hexe zu sein.

17. Mai 1680, der vierte Tag des Verhörs. Nachdem Anna erneut ihre Unschuld beteuert hatte, wurde sie von den Scharfrichtern in die Folterkammer geführt, wo ihr die Hände auf dem Rücken zusammengebunden wurden, um sie daran in die Höhe zu ziehen. Zu diesem Zweck befand sich an der Decke über dem Folterstuhl ein Flaschenzug, über den ein Seil lief, an welchem ein eiserner Haken befestigt war und das am anderen Ende auf einer mit einer Kurbel versehenen Walze aufgerollt werden konnte. Nachdem der eine der beiden Scharfrichter den Haken zwischen den zusammengebundenen Händen befestigt hatte, rollte der andere das Seil durch Drehung der Kurbel auf der Walze auf. Dadurch wurde sie an den verdrehten Armen in die Höhe gezogen. Als «sich die Hände auf der Höhe des Kopfes befanden, sich die Schultern abwärts drehten und die Gelenke knackten, stiess sie, noch bevor sie frei in der Luft hing, einen entsetzlichen Schrei aus». Anna flehte die Scharfrichter an, von einem weiteren Hochziehen abzulassen, und sagte: «Ich will eine Hexe sein, wie ihr verlangt». Die Folter wurde unterbrochen, die Schultergelenke wieder eingerenkt und Anna mit Weihwasser besprengt. Als sie zugab, das Schuldbekenntnis nur wegen der unerträglichen Schmerzen abgegeben zu haben, wurde sie sogleich erneut in die Höhe gezogen und «trotz markerschütterndem Schreien drei Vaterunser lang» frei in der Luft hängen gelassen. Wieder unten auf dem Stuhl, wiederholte Anna die vorangegangene Aussage, sie sei tatsächlich eine Hexe und hätte dem Teufel versprochen, ihm zu dienen und dafür Geld zu bekommen. Auf die Frage, wie oft sie es mit dem Teufel getrieben habe, gab sie keine Antwort und wurde sogleich wieder in die Höhe gezogen, dieses Mal «sechs Vaterunser lang». Erst als sie bekannte, es mit dem Teufel getrieben zu haben, wurde sie wieder heruntergelassen. Es folgte eine «höchst schamlose» Untersuchung, mit der die Scharfrichter «diese Unzucht nach allem Detail zu erforschen trachteten». Anna war so verwirrt, dass sie sich bei der folgenden Befragung über die Details der «Unzucht» dermassen in Widersprüche verwickelte, dass sie erneut hochgezogen wurde, diesmal für «eine halbe Viertelstunde». Ohnmächtig geworden, wurde sie für kurze Zeit in Ruhe gelassen. Dann erklärte sie, zu allem bereit zu sein und nur noch sterben zu wollen. Schliesslich wurde sie wieder ins Gefängnis gebracht.

Es folgten zehn weitere Verhörtage, an denen sie wiederum abwechslungsweise gefoltert wurde, Schuldbekenntnisse abgab und diese stets erneut widerrief. Die Zeiten, während denen man sie am Seil hängen liess, wurden von Tag zu Tag verlängert. Am achten Verhörtag band man ihr zusätzlich einen Steinblock von 20 Pfund an beide grossen Zehen und zog sie dann wieder mehrmals hintereinander für längere Zeit in die Höhe.

Unzufrieden mit dem bisherigen Verlauf, wandte sich der vorsitzende Richter sodann an einen auswärtigen Rechtsgelehrten und stellte ihm das gesamte Aktenmaterial zu, um auf diesem Weg zu einem endgültigen und unwiderruflichen Schuldbekenntnis zu gelangen. Am 1. Juni war das Gutachten erstellt. Es besagte, Anna Kramer sei eine «wahre und recht verhärtete Hexe», welche die bisherigen Torturen nur deshalb überlebt hätte, weil sie mit dem Teufel im Bunde stünde. Das Gutachten empfahl, nun «schärfere Torturen» anzuwenden: Schlafberaubung während der Nacht, Aufziehen mit noch schwereren Gewichten, Daumenstock, Beinschrauben, ins Fleisch eindringende Spiesse und Zangen und «Bockspannen», um den Gliedern «unglaubliche» Schmerzen zuzufügen, ohne diese aber auszurenken. Am neunten Verhörtag legte Anna Kramer aufgrund der Androhungen durch diese zusätzlichen und weitergehenden Folterungen ein umfassendes Schuldbekenntnis ab. Den zehnten Verhörtag hält das Protokoll mit folgenden Worten fest: « Heute hat sich die Malefikantin ganz schwach erzeigt; Hunger und Angst während einer vierwöchentlichen strengen Gefangenschaft, die brennenden Schmerzen der verrenkten Glieder und überspannten Sehnen, die quälende Gewalt des zurückgehaltenen Schlafbedürfnisses, die Gewissheit eines baldigen ehrlosen, schmachvollen Todes haben alle Kräfte der 61jährigen Frau gebrochen und sie einer Sterbenden gleichgemacht.»

Am 5. Juni erfolgte die Schlussverhandlung. Hierzu wurden sieben «ehrenhafte und unparteiische» Bürger eingeladen, die mit ihren Unterschriften bestätigten, dass die Angeklagte sämtliche Bekenntnisse des vorangegangenen Verhörtags freiwillig abgegeben hätte, den Pakt mit dem Teufel, das Töten von Vieh mit der Hexensalbe, die Zerstörung von Feldfrüchten durch ein Hagelgewitter, das Verhexen und Ermorden von Kindern, Hexentänze auf Pferden und Kühen. Nach diesem Akt wurde Anna Kramer zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt, ihr aber «gnädigerweise» das Verbrennen bei lebendigem Leibe durch eine vorgängige Enthauptung erlassen.

Am 8. Juni 1680, morgens um acht Uhr, wurde die «Malefikantin» in Begleitung mehrerer Geistlicher, Richter, Schützen, Wächter und einer grossen Volksmenge unter dem Geläute der Kirchenglocken zur Gerichtsstätte geführt. Nach einem gemeinsamen Vaterunser wurde Anna vom Scharfrichter enthauptet, der Leichnam auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Augenzeugen berichteten später, eine «abscheulich dicke Kröte» sei aus dem Haufen herausgekrochen und «sieben Raben» hätten den Ort des Geschehens mehrmals umkreist, bevor sie weiter geflogen seien.

Schätzungsweise gab es, zur Hauptsache zwischen 1450 und 1750, in Europa insgesamt rund drei Millionen Hexenprozesse, die Zahl der zum Tode Verurteilten und Hingerichteten belief sich auf 40‘000 bis 60‘000, drei Viertel davon waren Frauen, nicht selten schon 14- oder 15Jährige. Meistens wurden sie, wie Anna Kramer, so lange gefoltert, bis sie, um den unsäglichen Leiden ein Ende zu setzen, zugaben, eine «Hexe» bzw., wenn es sich um Männer handelte, ein «Hexerich» zu sein.

Eine wesentliche Ursache der Hexenverfolgungen findet man wohl bei den Zeitumständen, die von Krieg – vor allem dem Dreissigjährigen Krieg zwischen 1618 und 1648 –, extremen Unwettern, Hagelstürmen, Missernten, Inflation, Seuchen wie der Pest und apokalyptischen Zukunftsängsten geprägt waren. Nur zu schnell sind in solchen Zeiten Sündenböcke für jedes und alles ausgemacht. Oft genügten, wie auch im Falle von Anna Kramer, schon kleinste Gerüchte, die dann weitererzählt, immer mehr aufgebauscht und mit Legenden aus früheren Zeiten über sündiges Treiben von Hexen im Bunde mit dem Teufel vermischt wurden, sodass auf einmal ganz gewöhnliche Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung zu höchst gefährlichen, bedrohlichen und teuflischen Wesen wurden. Die «geistige» Grundlage für die Hexenprozesse bildete der im Jahre 1486 vom deutschen Theologen Heinrich Kramer verfasste und bis zum Ende des 17. Jahrhunderts in rund 30‘000 Exemplaren verbreitete «Hexenhammer», in dem Frauen als Wesen beschrieben wurden, welche von «sexueller Unersättlichkeit» und einem «Zauber» erfüllt seien, dem Männer meist leichtfertig «zum Opfer» fielen. Weiter beschrieb der «Hexenhammer» im Einzelnen, wie eine Angeklagte zu verhören und unter welchen Voraussetzungen welche Folterpraktiken anzuwenden seien. Eine der häufig angewandten Methoden bestand in der sogenannten «Wasserprobe»: Das Opfer wurde entkleidet, darauf kreuzweise gefesselt, sodass die rechte Hand an die grosse Zehe des linken Fusses und die linke Hand an die grosse Zehe des rechten Fusses so fest geknüpft war, dass es sich nicht rühren konnte. Daraufhin wurde das Opfer an einem Seil in einen Fluss oder Teich bis zu drei Mal hinabgelassen. Wenn es an der Oberfläche blieb – angeblich infolge der ihm vom Teufel verliehenen Leichtigkeit –, wurde es für eine Hexe gehalten, wenn nicht – was in aller Regel den Tod durch Ertrinken zur Folge hatte –, galt es als unschuldig.

Wo es Opfer gibt, da gibt es immer auch Profiteure. Was für die betroffenen Frauen ein Weg durch die Hölle war, verschaffte anderen – bezeichnenderweise ausschliesslich Männern – unverhofften Reichtum. «Eine ganze Schar von Rechtsgelehrten, Advokaten, Richtern und Räten», so Maria Mies in ihrem 1986 erschienenen und 2015 neu aufgelegten Buch «Patriarchat und Kapital», «kamen zu viel Geld. Sie waren durch ihre komplizierten und gelehrten Textinterpretationen in der Lage, die Prozesse so zu verlängern, dass die Kosten dafür stiegen. Es gab auch eine enge Beziehung zwischen den weltlichen Autoritäten, der Kirche, den Herrschern der kleinen Feudalstaaten und den Rechtsanwälten. Die Tatsache, dass die Hexenjagd eine so lukrative Geldquelle war, führte in gewissen Gebieten sogar zur Einrichtung besonderer Kommissionen, die die Aufgabe hatten, noch mehr Menschen als Hexen oder Zauberer zu denunzieren. Wenn die Angeklagten für schuldig befunden wurden, mussten sie und ihre Familien sämtliche Prozesskosten tragen, angefangen bei den Rechnungen für Speise und Alkohol für die Hexenkommission bis zu den Kosten des Holzes für den Scheiterhaufen. Eine weitere Geldquelle waren die Summen, welche reichere Familien den gelehrten Richtern und Anwälten bezahlten, um eines ihrer Mitglieder von der Verfolgung zu befreien, deshalb gab es unter den Hexen fast nur arme und nur selten reiche Frauen. Im Weiteren zogen auch die sich bekriegenden europäischen Fürsten, vor allem zur Zeit des Dreissigjährigen Kriegs zwischen 1618 und 1648, finanziellen Nutzen aus den Hexenverfolgungen, um ihre Kriege zu finanzieren. Gewisse Fürsten organisierten sogar gezielt Hexenjagden, um den Besitz ihrer Untertanen konfiszieren zu können.»

Entgegen der landläufig weit verbreiteten Meinung, Hexenverfolgungen seien vor allem durch die von traditioneller Frauenfeindlichkeit geprägte katholische Kirche vorangetrieben worden, waren die Hexenverfolgungen in protestantischen Gebieten mindestens so, wenn nicht sogar noch weiter verbreitet. Die meisten Hexenprozesse fanden in Deutschland statt, in ausschliesslich katholischen Ländern wie Spanien und Portugal gab es fast keine Fälle, viel weniger als etwa in der Schweiz. Männer, die als heldenhafte Erneuerer eines erstarrten kirchlichen Machtsystems in die Geschichte eingegangen sind, gehörten sogar zu den vehementesten Befürwortern der Hexenverfolgungen. So etwa der deutsche Reformator Martin Luther, der von der Möglichkeit eines Teufelspaktes überzeugt war und in einer Predigt am 6. Mai 1526 unter anderem folgende Äusserungen von sich gab: Es sei ein «überaus gerechtes Gesetz, Zauberinnen zu töten», denn sie «richten viel Schaden an», können «Kinder verzaubern», «geheimnisvolle Krankheiten» erzeugen und stünden oft «im Bunde mit dem Teufel». Auch der Genfer Reformator Johannes Calvin befürwortete die Verfolgung und Hinrichtung von Hexen, behauptete, Gott selber hätte die Todesstrafe für Hexen festgesetzt und war davon überzeugt, die Pest, von der Genf drei Jahre lang schwer befallen war, sei von «Zauberkünsten» ausgelöst worden, in der Folge kam es in Genf zwischen 1520 und 1660 zu insgesamt 65 Hexenverbrennungen. Auch in Zürich: Ein Jahr nach dem Amtsantritt des Reformators Huldrych Zwingli als Pfarrer am Grossmünster wurde im Jahre 1520 auch in der für die damaligen Verhältnisse als «modern» geltenden Stadt erstmals eine «Hexe» zum Tode verurteilt. Protestanten, welche sich offen gegen die Hexenverfolgungen ausgesprochen hätten, so der Zürcher «Kirchenbote» am 4. Oktober 2018, «muss man mit der Lupe suchen». Auch Anna Göldi, die «letzte Hexe Europas», wurde im Jahre 1782 in Glarus nicht von einem katholischen Gremium, sondern vom kantonalen Evangelischen Landrat zum Tode verurteilt. Und es war auch ein reformierter Pfarrer, nämlich Johannes Zollikofer aus dem appenzellischen Herisau, der Ende 17. Jahrhundert nach der Hinrichtung dreier Frauen in seiner Predigt die Frage aufwarf, ob man nicht vorsichtshalber auch die Kinder der drei Frauen hätte töten sollen.

Die Vermutung liegt nahe, dass die Hexenverfolgungen nicht nur oder vielleicht sogar nicht einmal in erster Linie eine Folge von Aberglauben und religiösem Fanatismus waren, sondern mindestens so sehr eine Folge der aufkommenden Neuzeit und damit auch der sich immer stärker durchsetzenden Prinzipien kapitalistischen Fortschrittsglaubens. Die Hexenverfolgungen fanden ja nicht im «dumpfen» Mittelalter statt, sondern in einer Zeit der «Aufklärung», der zunehmenden Bedeutung der Wissenschaften und bahnbrechender Erfindungen wie dem Buchdruck durch Johannes Gutenberg im Jahre 1450. Auch gab es offensichtlich Bezüge zwischen der mit Puritanismus und strenger Arbeitsmoral verbundenen Ausrichtung der Reformation, insbesondere des Calvinismus, und den Grundprinzipien des Kapitalismus. Bezeichnend ist auch, dass es innerhalb der orthodoxen Kirche Osteuropas praktisch keine Hexenverfolgungen gab, ausser in Russland, und dies erst im Zuge einer von Zar Peter vorangetriebenen und auf Zentraleuropa ausgerichteten «Modernisierung» nach kapitalistischem Muster. Schliesslich ist nicht zu übersehen, dass die Hexenprozesse grösstenteils nicht von kirchlichen, sondern von weltlichen Gerichten durchgeführt wurden und die weltlichen Gerichte meist viel schärfere Urteile fällten als die kirchlichen. In höchstem Grade kapitalistisch war auch die Praxis der weltlichen Gerichte, Zeugen für ihre Aussagen Geld zu geben – man kann sich vorstellen, wie viele Falschaussagen dies zur Folge hatte.  

Und damit sind wir bei Silvia Federici, Professorin für Philosophie und internationale feministische Studien sowie Autorin mehrerer Bücher zu den historischen Hintergründen der Hexenverfolgungen. Der Kapitalismus, so argumentiert Federici, konnte sich als Produktionsweise, welche die Industrie als Hauptquelle der Akkumulation etablierte, nur durchsetzen, wenn es gelingen würde, eine neue gesellschaftliche Disziplin zu schaffen, mit der die produktive Kapazität der Arbeitskraft massiv erhöht werden konnte. Das bedeutete, dass alles, was der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft Grenzen setzte, ausgetilgt werden musste, und damit eben auch die Macht der Frauen mit ihrem Bezug zu den Geheimnissen der Natur und ihrer Fähigkeit, ihren Lebensunterhalt aus eigenen, «nichtkapitalistischen» Kräften zu bestreiten, so wie Anna Kramer dies tat, indem sie sich nicht von ihrem Mann unterkriegen liess, nicht davor zurückschreckte, sich ihm selbst im öffentlichen Raum offen entgegenzustellen und, ausserhalb des Hauses und der ehelichen Gewalt, ihren eigenen, selbstbestimmten Weg zu gehen, also genau das zu verkörpern, was wir heute unter einer «emanzipierten» Frau verstehen.

«Die Rationalisierung der Welt», so Federici, «vollzog sich durch die Zerstörung der Hexe. Die unaussprechlichen Qualen, denen die angeklagten Frauen ausgesetzt waren, bildeten nichts anderes als eine Form von Exorzismus gegen ihre natürlichen Kräfte. Die Beschreibung der weiblichen Sexualität als etwas Teuflisches war für die Definition von Hexerei zentral. Denn aus der Sicht der neuen kapitalistischen Elite war die weibliche Sexualität eine eigenständige, mächtige wirtschaftliche Gegenkraft». Deshalb musste die weibliche Sexualität und alles, was an Eros, Lust und Anziehungskraft mit ihr verbunden war, verteufelt und bekämpft werden. Die weibliche Sexualität sollte fortan nur noch der Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse des Mannes und der Erzeugung eines möglichst reichlichen Nachschubs an Arbeitskräften dienen. «Jenseits der Ehe», so Federici, «stellte die weibliche Sexualität für die Kapitalisten nichts anderes dar als eine Bedrohung der Arbeiterdisziplin, eine unheimliche Macht über andere und ein Hindernis für die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Hierarchien und insgesamt der Klassengesellschaft. Die Hexenjagd als extremste Form dieser Gewalt war ein eigentliches Terrorregime gegen alle Frauen, für die es nun keinen anderen Weg mehr gab, als sich gehorsam und unterwürfig der männlichen Ordnung anzupassen. Die Hexe war die Kommunistin ihrer Zeit, die Hexenjagd das Mittel, mit dem die Frauen in Europa für ihre neue soziale Rolle im Dienste der kapitalistischen Gesellschaft erzogen wurden. Auf dem Scheiterhaufen wurden nicht nur die Körper dieser Frauen vernichtet, sondern auch eine ganze Welt sozialer Beziehungen und ein riesiger Wissensschatz über Kräuter, Magie oder Mittel zur Empfängnisverhütung, den Frauen im Laufe der Generationen von den Müttern zu den Töchtern weitergegeben hatten.»

Doch Frauen wurden nicht nur als Hexen beschuldigt, verfolgt, gefoltert und verbrannt, sondern auch auf vielerlei andere Weise unterjocht, gedemütigt und zu willfährigen Dienerinnen ihrer Männer erzogen. So etwa war in den meisten französischen Städten des 14. Jahrhunderts die Gruppenvergewaltigung proletarischer Frauen weit verbreitet. Oft brachen die Vergewaltiger in Gruppen von zwei bis fünfzehn Männern mitten in der Nacht in die Wohnungen ihrer Opfer ein oder schleppten die Frauen durch die Strasse, ohne jeglichen Versuch, sich zu verstecken oder ihre Identität zu verbergen. Unter den Tätern befanden sich oft junge Handwerksgesellen, bessergestellte Hausdiener oder Söhne wohlhabender Familien, die Opfer waren meist Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen. Einmal vergewaltigt, blieben sie meist lebenslang stigmatisiert und landeten oft in der Prostitution. Im 16. Jahrhundert wurden, insbesondere in Spanien und England, Prostituierte, die auf der Strasse arbeiteten, durch Verbannung, Prügelstrafe oder andere grausame Formen der Züchtigung bestraft, so etwa mittels des berüchtigten «Tauchstuhls»: Das Opfer wurde gefesselt, manchmal auch in einen Käfig gesperrt, und dann wiederholt in einen Fluss oder Teich getaucht, bis es beinahe ertrank. In Madrid war es Vagabundinnen und Prostituierten nicht erlaubt, auf der Strasse oder vor den Stadttoren zu schlafen. Wurden sie dort aufgefunden, gab es zur Strafe hundert Peitschenhiebe und die Verbannung aus der Stadt für sechs Jahre, ausserdem wurden ihre Kopfhaare und Augenbrauen geschoren. Die zunehmende Diskriminierung der Frau als «minderwertiges» Wesen nahm sogar – um nur ein Beispiel zu nennen – in England ein derart extremes Mass an, dass dort im 17. Jahrhundert Gesetze eingeführt wurden, wonach sich Frauen nicht alleine im öffentlichen Raum bewegen durften und solche, die man der «Zankhaftigkeit» beschuldigte, mit Maulkörben durch die Strassen geführt wurden.

Massiv veränderte sich auch der Zugang der Frauen zur Arbeitswelt. Waren sie im Mittelalter noch in zahlreichen handwerklichen Berufen tätig gewesen und hatten ihr eigenes Geld verdienen können, so wurde ihnen nun um aufkommenden kapitalistischen Zeitalter der Zugang zu einer wachsenden Zahl von Berufen verwehrt und sie dadurch immer weiter in die Abhängigkeit von ihren Ehemännern gebracht, es begann die bis in unsere Tage bestehende zunehmende Feminisierung der Armut und die Reduktion der Frau auf nichtbezahlte Haus- und Familienarbeit.