Archiv des Autors: Peter Sutter

7. Montagsgespräch vom 8. April 2024: Wie lassen sich Tierwohl und menschliche Ernährungsweise vereinbaren?

Einleitend hielt Renato Werndli, aktiver Tierrechtsaktivist seit vielen Jahren, fest, dass man früher noch davon ausgegangen sei, Tiere hätten keine Empfindungsfähigkeit und könnten Schmerzen nicht wahrnehmen, heute wisse man aber, dass dies nicht der Fall sei. Dennoch sei das Töten von Tieren zur Herstellung von Nahrungsmitteln an der Tagesordnung, pro Sekunde würden schweizweit zwei bis drei Tiere getötet, im Verlaufe dieser Gesprächsrunde also etwa 18‘000. Dazu kämen die meist katastrophalen Bedingungen, unter denen die Tiere aufgezogen würden, weltweit sei Massentierhaltung für rund 90 Prozent aller „Nutztiere“ die Regel. Zudem würden allein in der Schweiz 60 Prozent aller landwirtschaftlich nutzbaren Flächen für die Herstellung von Tiernahrung verwendet – eine masslose Verschwendung hinsichtlich der Welternährungslage. Werndli plädierte daher für eine konsequent vegane Ernährungsweise. Er hoffe, dass die Menschheit eines Tages zur Einsicht gelange, dass das Töten eines Tiers ebenso ein Verbrechen sei wie das Töten eines Menschen.

In der nachfolgenden Diskussion zeigte sich, dass auf diesem Weg noch zahlreiche Hindernisse zu überwinden sind. Ein häufig gehörter Einwand ist, dass ausschliesslich vegane Ernährung gesundheitsschädlich sei. Dies, so Werndli aus seiner Sicht als Hausarzt, treffe nicht zu, einzig ein Mangel an Vitamin B12 könne auftreten, hierfür aber gäbe es Alternativen. Als weiterer Punkt wurde erwähnt, dass Fleisch, vor allem durch entsprechende Subventionen, viel zu billig sei und deshalb auch so massenhaft konsumiert werde. Eine Diskussionsteilnehmerin verwies auf die komplexen Zusammenhänge innerhalb der gesamten Produktionskette bis hin zum Endkonsum, es sei deshalb wichtig, sämtliche daran Beteiligte ins Boot zu holen, um gemeinsame Lösungen zum Wohle aller zu finden. Kontrovers wurde diskutiert, inwieweit tierfreundlichere Haltungsformen eine Alternative sein könnten, dem wurde aber entgegengehalten, dass auch das Leben dieser Tiere viel zu früh und gewaltsam beendet werde, Tiere mit einer Lebenserwartung von zehn Jahren würden schon im Alter von einem halben Jahr getötet. „Kognitive Dissonanz“ sei ein weiteres Hindernis: Eigentlich wisse man es ja schon längst, aber verhalte sich im Alltag dennoch nicht entsprechend.

Abschliessend erinnerte eine Diskussionsteilnehmerin daran, dass tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen nicht von heute auf morgen zu realisieren seien, als Beispiel erwähnte sie das Frauenstimmrecht, für das jahrzehntelang gekämpft werden musste, heute aber nicht mehr wegzudenken ist. So, meinte sie, würde auch eine vegane Ernährungsweise in Zukunft, im Gegensatz zu heute, selbstverständlich und nicht mehr wegzudenken sein. Hierfür aber brauche es viel Aufklärungsarbeit und Menschen wie Renato Werndli, die sich unermüdlich und unbeirrt für dieses Ziel einsetzen.

Das Märchen von der sich wiederholenden Geschichte: Eine neue Zeit kommt, aber sie kommt nicht von selber

Immer wieder, und in der heutigen Zeit ganz besonders, geistert dieses Märchen durch die Lande, die Geschichte würde sich endlos stetig wiederholen. Dann kommen die Vergleiche mit 1933 oder mit dem Vorabend des Ersten Weltkriegs. So als handle es sich um Gesetzmässigkeiten, denen wir machtlos ausgeliefert wären und die wie Naturkatastrophen regelmässig über uns hereinbrächen. Oder, wie mein Vater mich stets, wenn ich an ein mögliches Ende aller Kriege glaubte, belehrte: „Weisst du“, sagte er, „Kriege gab es schon immer und wird es deshalb auch immer wieder geben.“

Als sei alles sozusagen vorprogrammiert. Als sei die Geschichte mächtiger als wir Menschen. Als wären wir bloss das Opfer irgendwelcher höherer Mächte, die das alles schon lange so geplant hätten. Die Folge: Ein verheerender Fatalismus. Das Gefühl so vieler Menschen, etwas ganz Grossem, Schwerem und Schrecklichem hilflos ausgeliefert zu sein, nichts dagegen tun zu können. Als wäre jeglicher Widerstand ohnehin zwecklos. Nur so ist zu erklären, weshalb in diesen Tagen, da ganz unverhohlen und offen mehr denn je wieder die Rede ist von einem drohenden dritten Weltkrieg, nicht Millionen und Abermillionen von Menschen auf der Strasse sind und für Frieden demonstrieren, nicht an allen Häusern quer durch alle Länder Peace-Fahnen hängen und nicht jeden Tag Abertausende Friedensbriefe geschrieben werden an jene, die über Krieg oder Frieden entscheiden. Lieber flüchtet man sich in alle noch so absurden Freizeitvergnügungen, um sich von all dem Bedrohlichen abzulenken. „Ich würde das nicht aushalten“, sagte mir eine jüngere Frau, „ich muss abschalten und mir möglichst viele Momente schaffen, in denen ich das Leben geniessen kann.“ Aber wie soll man denn das Leben geniessen können, wenn man doch weiss, dass genau zur gleichen Zeit unzählige Kinder im Gazastreifen unter den Trümmern ihrer zerbombten Häuser um ihr Leben schreien, während ihre Eltern mit blossen Händen nach ihnen graben, und die Kinder immer weiterschreien, bis das Schreien irgendwann ganz leise wird und irgendwann auf einmal verstummt? Und wie soll man das Leben geniessen können, wenn doch ganz tief im Inneren diese Angst trotz aller Ablenkungen nicht auszulöschen ist, diese Angst, dass das, was für die Kinder im Gazastreifen heute „normal“ ist, auch für unsere eigenen Kinder und uns selber schon bald ebenso „normal“ sein könnte?

Wer kann ein Interesse an diesem Fatalismus, an dieser Schicksalsgläubigkeit, an diesen Ohnmachtsgefühlen, an all diesen Ablenkungen und Selbsttäuschungen haben? Doch nur jene, die aus dem Tod anderer einen Nutzen ziehen, nur jene, die eben kein Interesse daran haben, dass Kriege für immer ein Ende finden, so wie der US-Aussenminister Antony Blinken, der kürzlich in aller Öffentlichkeit sagen konnte, er hoffe, dass der Krieg in der Ukraine noch möglichst lange weitergehe, könnten dadurch doch zahlreiche Arbeitsplätze in der US-Rüstungsindustrie erhalten werden – eigentlich hätte er auch sagen können, dass hiermit dieser Rüstungsindustrie weiterhin lukrative und immer noch lukrativere Aufträge gesichert werden können, aber so weit wollte er dann offensichtlich auch wieder nicht gehen.

Interesse an diesem Fatalismus und an all diesen Ablenkungen können nur jene weltweit Reichsten und Mächtigsten haben, die nicht wollen, dass eine weltweite Revolution des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit ausbricht, weil dann nämlich all die Privilegien, die sie als Minderheit auf Kosten der überwältigenden Mehrheit friedliebender Menschen über alle Grenzen hinweg geniessen, fundamental bedroht wären. Und so setzen sie alles daran, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommt, halten unerbittlich an ihrer Machtbesessenheit fest und sind dabei schon so blind geworden, dass sie nicht einmal mehr merken, dass, wenn die ganze Welt untergeht, auch sie selber untergehen.

Doch es ist nicht zu spät. Die Geschichte muss sich nicht zwangsläufig wiederholen. Sie darf sich nicht wiederholen. Jedes neu geborene Kind ist der lebendige Beweis dafür, dass eine der wertvollsten oder vielleicht sogar die wertvollste aller Gaben, über welche die Menschen verfügen, darin besteht, aus Fehlern lernen zu können. Ohne diese Gabe wäre es nicht möglich, dass sich ein Baby, das wie ein auf dem Rücken liegender Käfer hilflos am Boden zappelt, im Verlaufe von nicht einmal vier Jahren in ein Kind verwandelt, das sich mit traumtänzerischer Sicherheit durch die Welt bewegt, alle seine Sinne voll ausgebildet hat, schon eine unglaubliche Vielzahl an Geheimnissen seiner Umwelt durch eigenes Forschen entschlüsselt hat und auf vielfältigste und subtilste Weise mit seiner Umgebung kommunizieren kann, alles erlernt auf dem Weg von Versuch und Irrtum, Scheitern und Gelingen, Fehler machen und daraus lernen. Die Erwachsenen müssten es bloss gleich machen wie die Kinder, dieses frühe Wunderwerk auch im späteren Leben weiterführen: Aus gemachten Fehlern lernen, alles, was sich nicht bewährt hat, neu erfinden, Gewalt aufgrund viel zu vieler schlechter Erfahrungen in Gewaltlosigkeit verwandeln, Hass in Liebe, Krieg in Frieden. Und dies alles im festen Vertrauen, dass der Mensch im Grunde gut ist, so wie das der bekannte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi schon vor über 200 Jahren wusste: „Der Mensch ist gut und will das Gute. Und wenn er böse ist, dann hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“

Der Mensch kann und muss stärker sein als die Geschichte. Nicht die Geschichte muss ihn bestimmen, er muss die Geschichte bestimmen. Alle Märchen und Mythen, die im Laufe der Jahrhunderte über die kindliche Seele geschüttet wurden und immer noch geschüttet werden, müssen überwunden und beiseitegeschafft werden. Man muss dem Menschen nichts aufzwingen, ihn nicht belehren, man muss ihn nur befreien zu sich selber. Wir sind nicht klein und machtlos und scheinbar unveränderbaren äusseren Verhältnissen ausgeliefert. Wir sind gross und stark und fähig, diese Verhältnisse zu verändern und dafür zu sorgen, dass die Geschichte nicht einfach immer nur eine Wiederholung bereits begangener Fehler, Untaten, Versäumnisse und Verbrechen ist, sondern jeden Tag die Chance bietet zu einem radikal neuen Anfang.

Ich würde mich, im traditionellen Sinne, nicht als religiös bezeichnen. Aber ich bin dennoch davon überzeugt, dass dieses wunderbare Geschöpf Mensch einen tieferen Sinn haben muss. All die wunderbare Musik, die im Laufe von Jahrtausenden erschaffen wurde, Millionen trauriger und fröhlicher Lieder, Instrumente himmlischer Klänge quer über alle Kontinente, Tanzen, Singen und Spielen, die Freude und der Stolz auf schöne Kleidung, kunstvollste Frisuren, künstlerische Wunderwerke von Höhlenzeichnungen bis zu filigransten Bauten technischer Höchstleistungen, Gedichte, Romane, Theaterstücke, Filme voller immer wieder neuer, ungeahnter Kreativität, das Lachen, Witze, Humor, die erste Liebe, all die Empfindungen beim gegenseitigen Blick in die Tiefe unserer Augen, Sehnsüchte, Erinnerungen, Inspirationen, Träume, Phantasien, Visionen, die Gaben der Empathie, der Liebe von Eltern für ihre Kinder, die Fähigkeit sich gegenseitig aufmerksam zuzuhören, sich zu trösten, voneinander zu lernen, füreinander einzustehen, der Idealismus, die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, das Mitleiden, das Mitfühlen, immer weiter sich entwickelnde Künste und Kenntnisse zum Anbau von Nahrungsmitteln und zum Zubereiten von Speisen, die abertausenden technischen, wissenschaftlichen, medizinischen Fortschritte im Laufe von Jahrtausenden, um dem Menschen schwere Lasten abzunehmen und Freiräume für Musse und Genuss zu schaffen, die nahezu unfassbare Tatsache, dass es unter Abermilliarden von Menschen, die jemals diese Erde bewohnt haben, noch nie zwei mit den genau gleichen Empfindungen, dem genau gleichen Aussehen, der genau gleichen Augenfarbe und dem genau gleichen Klang der Stimme gegeben hat, ein unermessliches Füllhorn endloser, sich im Sekundentakt übersprudelnder Phantasie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses wunderbare Geschöpf letztlich zu nichts anderem geschaffen worden wäre, als sich selber auszulöschen. Wer immer dieses Geschöpf erschaffen hat, wo, wann, wie und weshalb auch immer, dies kann nicht die Idee gewesen sein.

Eine neue Zeit kommt, das spüren immer mehr Menschen. Aber sie kommt nicht von selber. Sie braucht unsere Arbeit. Unsere Leidenschaft. Unsere Hände. Unseren Mut. Unsere Unerbittlichkeit. Unseren Glauben an das Gute im Menschen. Unsere Liebe.

Wir haben es in der Hand.

Osterfriedensmarsch am 1. April 2024 in Bern, Rede der Palästinenserin Shirine Dajani: „Tagelang schreien die Kinder unter den Trümmern ihrer zerbombten Häuser, bis sie verstummen.“

Im Folgenden die Rede der Palästinenserin Shirine Dajani anlässlich des Osterfriedensmarschs in Bern am 1. April 2024. Während sie sprach, musste sie immer wieder gegen ihre Tränen ankämpfen, legte oft längere Pausen ein, um tief durchzuatmen, bevor sie weitersprechen konnte. Als sie vom Tod ihrer 12jährigen Patentochter Shireen sprach, musste ich an meine zehnjährige Enkelin denken und wie da eine ganze Welt zusammenbräche, wenn sie sterben müsste. In meinen Tränen und in den Tränen von Shirine floss in einem kurzen Augenblick all dieses Unaussprechliche ineinander…

Mein Name ist Shirine Dajani. Ich bin Palästinenserin. Ich habe unsere palästinensische
Sprache, unsere Kultur, unseren Humor und unsere Leidenschaft überallhin mitgenommen und sie haben mich am Leben erhalten. Es hat mich menschlich gehalten, trotz allem, was ich gesehen und erlebt habe.
Die Familie meiner Mutter stammt aus Haifa. Die Familie meines Vaters aus Yaffa. Meine beiden Familien wurden 1948 aus ihren Häusern und ihrem Land in Palästina deportiert und nach Beirut, Libanon, gebracht, wo sie zu Flüchtlingen wurden. Von einem Tag auf den anderen wurden sie staatenlos, ließen alles zurück und durften nie wieder in ihre Heimat, in ihr Land zurückkehren.
Ich weiß, was die Verwüstungen des Krieges den Menschen antun können. Und vor allem, was er Kindern antun kann. Ich war ein kleines Kind während des libanesischen Bürgerkriegs, eines blutigen und schrecklichen Krieges, in dessen Verlauf die israelische Armee 1982 in den Libanon einmarschierte. Ich wurde nur wenige Wochen geboren, bevor eine libanesische Miliz mit Hilfe der israelischen Armee die Flüchtlingslager Sabra und Shatila in Beirut stürmte und Tausende von unbewaffneten Männern, Frauen und Kindern abschlachtete. Es hieß, es seien keine Schüsse, sondern nur Schreie zu hören gewesen, weil die palästinensischen Flüchtlinge mit Messern massakriert worden seien.
Meine Familie hatte das Glück, bei dieser Gelegenheit dem Tod zu entgehen, da sie nur 15 Gehminuten außerhalb der Lager eine Bleibe gefunden hatte. Das war im Jahr 1982.
1982 hatte Israel das Westjordanland und den Gazastreifen bereits 15 Jahre lang
unrechtmäßig besetzt und die Bevölkerung täglichen Demütigungen und seelisch
zermürbender Unterdrückung ausgesetzt. Palästinensisches Land zu besetzen und seine Bevölkerung einem brutalen Militärregime zu unterwerfen, ist ein sehr kostspieliges Unterfangen.
Spulen wir 42 Jahre vor. Die israelische Militärmaschinerie hat sich zu einer der mächtigsten und technologisch fortschrittlichsten Streitkräfte der Welt entwickelt.
Israel gibt jedes Jahr Milliarden von Dollar für die Aufrechterhaltung dieses Regimes aus. Im Jahr 2022 gab Israel 23 Milliarden USD für seine Militärausrüstung aus. Sie können sich vorstellen, was Israel in den letzten 6 Monaten für die Vernichtung des Gazastreifens ausgegeben hat. Was bedeutet das, all diese Milliarden von Dollar? Wie sieht das vor Ort aus?
Sie wissen vielleicht, dass die israelische Besetzung des Westjordanlandes und
Ostjerusalems nach internationalem Recht illegal ist. Israel hat 144 israelische Siedlungen im Westjordanland gebaut, die alle nach internationalem Recht illegal sind. Über 700.000 israelische Siedler leben im Westjordanland und in Ostjerusalem auf palästinensischem Land mit vollen Rechten, während über 3 Millionen Palästinenser unter israelischer Militärbesatzung leben, ohne jegliche Rechte. Diese militärische Besetzung der Palästinenser wird durch Hunderte von Checkpoints aufrechterhalten, die die Bewegungsfreiheit der Palästinenser einschränken und kontrollieren, die Palästinenser zwingen, andere Straßen zu benutzen als jüdische Israelis, und die Palästinenser erhalten andersfarbige Auto-Nummernschilder.

Eine Mauer viermal so lang wie die Berliner Mauer und 2,5mal so hoch

Ich möchte Sie mitnehmen auf eine Reise in das Leben eines Palästinensers, der im
Westjordanland lebt. Sie wurden in Bethlehem geboren. Als Palästinenser, der unter israelischer Besatzung lebt, haben Sie keine echte Staatsbürgerschaft, sondern nur einen Personalausweis. Sie können das Westjordanland nicht ohne die Erlaubnis der israelischen Regierung verlassen. Sie haben keinen Reisepass, der von den meisten Ländern anerkannt wird. Sie sitzen in der Falle. Vielleicht sind Sie Vater und haben eine Familie zu ernähren. Sie arbeiten auf dem Bau, einer der wenigen Jobs, die Ihnen zur Verfügung stehen. Sie verbringen Ihre Tage damit, Siedlungen, Häuser und Städte für jüdische Siedler zu bauen, Siedlungen, in denen Sie nicht leben dürfen. Sie wachen mitten in der Nacht auf, um zur Arbeit zu gehen, wie Tausende von Palästinensern aus dem Westjordanland. Um in den Siedlungen zur Arbeit zu gehen, müssen Sie einen oder mehrere Checkpoints passieren, die von bis an die Zähne bewaffneten israelischen Soldaten besetzt sind. Die beste Zeit, um den Checkpoint zu passieren, ist um 2 Uhr morgens, dann haben Sie die besten Chancen, durchzukommen, bevor es zu voll wird. Sie gehören zu den Tausenden von Palästinensern, die in effektive Käfige
gepfercht werden, um auf die andere Seite zu gelangen, wo Sie den Tag damit verbringen werden, für Israelis, die unendlich viel mehr Rechte und Privilegien haben als Sie, Fliesen zu verlegen, vielleicht für ein Schwimmbad. Und dann müssen Sie die zermürbende und quälende Erfahrung einer weiteren Reihe von Straßensperren und Checkpoints machen, um nach Hause zu gelangen, nur um dann wieder von vorne zu beginnen, mitten in der Nacht, tagein, tagaus.
Das Westjordanland ist nicht sehr groß. Bethlehem und Jerusalem sind weniger als 10 km voneinander entfernt. Ohne Einschränkungen würde die Fahrt 15 Minuten dauern. Für Palästinenser dauert es Stunden, weil sie die israelischen Straßen nicht benutzen dürfen und weil die israelischen Checkpoints über ihr Land verstreut sind. Die Checkpoints können von den israelischen Soldaten ohne Vorankündigung geschlossen werden, so dass die Palästinenser keine Ahnung haben, ob sie tatsächlich zur Arbeit, zur Schule, zum Krankenhaus oder zum Haus ihrer Familie gelangen werden.
Eines der imposantesten und bestrafendsten Elemente der Besatzung ist die über 700 km lange und 9 m hohe Trennmauer. Zum Vergleich: Sie ist viermal so lang wie die Berliner Mauer und 2,5mal so hoch. Die Mauer trennt palästinensische Dörfer voneinander, trennt palästinensische Bauern von ihren Ernten und isoliert ganze Dörfer, die von der Mauer umgeben sind, wobei einige dieser Dörfer nur einen Ein- und einen Ausgang haben, der wiederum von Soldaten besetzt ist, wie das Dorf Qualquilya.
Der Bau und Unterhalt der israelischen Mauer hat Milliarden von Dollar gekostet. Sie verfügt in einigen Teilen über Roboterwaffen, die Tränengas, Betäubungsgranaten und Kugeln auf Palästinenser abfeuern können. Sie nutzt künstliche Intelligenz, um Ziele zu verfolgen. Einige dieser Maschinen brauchen nicht einmal Menschen, um bemannt zu werden. Sie können aus der Ferne gesteuert werden. Können Sie sich vorstellen, Palästinenser zu sein und im Westjordanland in einer Stadt zu leben, die von dieser Mauer umgeben ist, mit nur einer Ein- und Ausfahrt, die von israelischen Soldaten kontrolliert wird? Können Sie sich vorstellen, ein Kind zu sein, das dort aufwächst und zusieht, wie seine Eltern, sein Vater, seine Mutter, seine Großeltern täglich Demütigungen ausgesetzt sind, nur um nach Hause zu kommen?
Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und vergleichen Sie Ihre Freiheit hier, wie Sie sich
bewegen, wie Sie heute hierher gekommen sind. Sie mussten nicht darüber nachdenken, welche Checkpoints Sie passieren müssen, oder sich Sorgen über die Laune des israelischen Soldaten machen, der den Checkpoint besetzt, oder nicht wissen, ob Sie eine Stunde oder neun Stunden brauchen, um hierher zu kommen, oder fast hierher kommen und zurückgeschickt werden, nachdem Sie stundenlang in einer Schlange in einem überfüllten Käfig gewartet haben. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Ihre Bewegungsfreiheit praktisch vollständig von einer ausländischen Armee kontrolliert würde? Das ist das Westjordanland.

Seit wann ist es eine radikale Idee, zu fordern, dass man aufhört, Tausende von Kindern zu töten?

Von Gaza habe ich noch gar nicht gesprochen. Aber was ich Ihnen sagen kann, ist, dass Israels Bombenangriff auf Gaza in den letzten 6 Monaten zu den tödlichsten und zerstörerischsten in der jüngeren Geschichte gehörte. Israel hat zwischen Oktober und Dezember 2023 über 45.000 Bomben auf Gaza abgeworfen, das sind 65.000 Tonnen Bomben. Aus dem Weltraum betrachtet hat Gaza jetzt eine andere Farbe.
Was bedeutet das für uns? Was bedeutet das für die Menschen? Wir verwenden Worte wie „Opfer“ oder „Kollateralschäden“, um über Menschen zu sprechen, die auf die schrecklichste Weise getötet werden. Amnesty International hat Israel vorgeworfen, in den letzten Monaten weiße Phosphorbomben auf dicht besiedelte zivile Gebiete eingesetzt zu haben. Wie funktioniert eine Phosphorbombe? Weißer Phosphor ist für den Menschen auf allen Expositionswegen schädlich. Weißer Phosphor kann tiefe und schwere Verbrennungen verursachen, die sogar Knochen durchdringen. Aus diesem Grund gilt der Einsatz von weißem Phosphor als Brandwaffe in Gebieten mit
Zivilbevölkerung nach internationalem Recht weitgehend als illegal.
Ich habe meine Patentochter in Gaza verloren, sie wurde am 18. Dezember getötet.
Weiße Phosphorbomben fielen auf und um ihr Haus im Norden des Gazastreifens.
Sie war 12 Jahre alt, ihr Name war Shireen, sie wurde nach mir benannt. Weißer Phosphor verbrannte ihre Lunge, ihre Organe, sie litt tagelang, bis sie starb. Ihre Mutter hielt sie noch stundenlang nach ihrem Tod in den Armen. Das ist es, was die Waffenindustrie ist. Das ist es, was sie bedeutet. Sie bedeutet, dass über 13.000 Kinder auf grausamste Weise getötet werden, dass sie tagelang unter den Trümmern eines Gebäudes festsitzen, bis sie sterben, dass sie tagelang schreien, bis sie sterben.
Mindestens 13.000 weitere Kinder wie Shireen wurden seit dem 7. Oktober im Gazastreifen auf brutale Weise getötet, das sind mehr als alle Kinder, die in den letzten vier Jahren in Konflikten auf der ganzen Welt getötet wurden, zusammen. Wie ist das möglich? Haben wir das Töten von Kindern normalisiert?
Die Palästinenser fordern einen Waffenstillstand. Sie fordern, wie menschliche Wesen
behandelt zu werden. Sie fordern das Recht auf Existenz wie jeder andere Mensch hier. Das ist nicht radikal. Was sie fordern, ist so elementar, und doch ist es ein so polarisierendes Thema, gerade hier in der Schweiz.
Wir schreien danach, dass die Welt aufhört, uns zu töten. Wir fordern grundlegende
Menschenrechte, und doch sind unsere Forderungen zu radikal, zu extrem. Seit wann ist es eine radikale Idee, zu fordern, dass man aufhört, Tausende von Kindern zu
töten, sie zu verstümmeln, sie zu Waisen zu machen, indem man ihre Eltern und ihre ganzen Familien ermordet? Haben wir unseren Verstand verloren? Haben wir völlig den Verstand verloren?
Wir haben keine Zeit mehr für Debatten und Überlegungen. Wir haben keine Zeit mehr. Der Schaden, der den Palästinensern, den Überlebenden, zugefügt wurde und wird, wird sich auf alle kommenden Generationen auswirken. Der Schaden für die israelische Gesellschaft, die eines Tages aufwachen wird und mit dem leben muss, was ihre Regierung und ihre Soldaten getan haben, wird über Generationen hinweg nachwirken. Dies ist ein Schandfleck für unsere Menschheit, und wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um dem Einhalt zu gebieten und zu verhindern, dass dies jemals wieder geschieht.
Ein Waffenstillstand ist das absolute Minimum. Wir müssen alle Waffenexporte nach Israel stoppen. Wir müssen das barbarische und unmenschliche Aushungern des palästinensischen Volkes beenden. Wir müssen unsere Stimme erheben, um Nein zum Krieg zu sagen. Wir dürfen das Töten von unschuldigen Menschen und Kindern niemals normalisieren. Wir dürfen uns nicht abwenden, sondern müssen uns einander zuwenden und NEIN zu diesem Wahnsinn sagen.
Die Leute fragen mich, wie sie helfen können. Geben Sie Informationen darüber weiter, was in Gaza passiert. Viele Menschen wissen es nicht, weil unsere Medien hier sehr wenig über die Gräueltaten berichten. Sie alle können helfen, indem Sie Ihre Stimme einsetzen, um für die Stimmlosen einzutreten. Sprechen Sie lauter. Nutzen Sie Ihre Stimmen. Rufen Sie Ihre Politiker an. Schreiben Sie an sie. Boykottieren Sie Waffenhersteller und jedes Unternehmen, das vom Krieg profitiert. Und lassen Sie sich von niemandem einreden, dass dies einfach ein normaler Teil der Welt ist, wie
sie eben funktioniert. Das ist nicht normal, und wir dürfen die brutale Unterdrückung und Tötung von Menschen niemals als normal akzeptieren. Alles, was wir haben, ist unsere Menschlichkeit, und wir müssen Widerstand leisten und uns mit allem, was wir haben, wehren, um sie zu schützen.

Friedenskundgebung für Palästina in Bern: In Trümmern liegt nicht nur der Gazastreifen, sondern auch die internationale Solidarität…

Bern, 6. April 2024, Bundeshausplatz. Ein sonniger Frühlingstag in der Hauptstadt der Schweiz. Allmählich eintrudelnde kleinere und grössere Menschengruppen. Peace-Fahnen. Auf einem grossen Plakat sind die Forderungen der heutigen Kundgebung zu lesen: Sofortiger Stopp des Aushungerns der Menschen in Gaza. Sofortiger Waffenstillstand. Sofortige Freilassung der israelischen Geiseln und von willkürlich inhaftierten palästinensischen Gefangenen. Ende der völkerrechtswidrigen Besatzung der palästinensischen Gebiete durch Israel. Weiterführung der Finanzierung des UNO-Hilfswerks für die palästinensischen Flüchtlinge (UNWRA). Kurz nach 16 Uhr die Begrüssung durch ein Mitglied der GSoA, die diesen Anlass zusammen mit Amnesty International Schweiz, der Jüdischen Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina und der Palästina-Solidarität Schweiz organisiert hat. Dann mehrere Ansprachen, von denen jede mehr unter die Haut geht als die andern, von der jungen jüdischen Friedensaktivistin bis zum palästinensischen Kinderarzt. Fassungslosigkeit und Sprachlosigkeit darüber, dass alle Friedensbemühungen seit Monaten im Sand stecken, während das unfassbare Leiden der Menschen im Gazastreifen mit bisher über 30’000 Toten, davon rund 13’000 Kindern, der Zerstörung von rund 70 Prozent sämtlicher Häuser und einer immer bedrohlicher sich abzeichnenden Hungersnot unvermindert Tag für Tag weitergeht, auch in bitterkalten Nächten pausenlos, wenn die Schreie der noch lebenden, unter den Trümmern verschütteten Kinder, nach denen ihre Eltern mit blossen Händen graben, besonders laut und anklagend zu hören sind – bis sie dann, wieder und wieder, auf einmal für immer verstummen…

Mein Blick schweift über den Platz. Gerade mal ein paar hundert Menschen sind gekommen, einzelne Medien werden von 500 Personen sprechen, andere von allerhöchstens 1000, mehr nicht. Unter ihnen Pia Hollenstein, ehemalige Nationalrätin der Grünen, und Ruth Dreifuss, frühere SP-Bundesrätin. Zwei Einzelfiguren, wie Relikte aus einer anderen Zeit, als der Einsatz für eine friedlichere Welt noch das Normale war und Abseitsstehen die Ausnahme, während es heute offensichtlich genau das Gegenteil ist. Ruth Dreifuss braucht Hilfe, um die Rednertribüne zu erklimmen, eine ganz grosse Kämpferin der alten Schule, anklagend, kein Blatt vor den Mund nehmend, und doch gleichzeitig liegt eine Heiterkeit auf ihrem Gesicht, inmitten aller tiefsten Betroffenheit die Zuversicht verbreitend, dass alles doch noch eines Tages zu einem guten Ende kommen wird.

Rückblende: März 2003, kurz vor dem Ausbruch des Kriegs der USA gegen den Irak. Ich erinnere mich noch gut. Schon in der Unterführung des Berner Hauptbahnhofs eine Menschenmasse, die sich wie ein unaufhaltsamer Strom so weit dahin wälzte, wie das Auge kaum hinzureichen vermochte. Rund 40’000 waren gekommen, aus allen Ecken und Enden das Landes. Ein Meer von Fahnen und von winzigen bis ganz grossen Schildern und Plakaten voller origineller Parolen und Zeichnungen, viele von ihnen von Kindern gemalt. Und heute? Fahnen – ausser die Peace-Fahnen – sind verboten, Pappschilder, Transparente und Parolen jeglicher Art ebenfalls. Das einzige Plakat, das trotz des Verbots mitgeführt wird und auf dem „Stoppt den Völkermord in Gaza!“ zu lesen ist, erregt sogleich die Aufmerksamkeit von zwei Mitarbeitern eines privaten Sicherheitsdienstes, welche die Plakatträgerin ansprechen, sie dann aber nach einem kurzen Disput „grosszügerweise“ gewähren lassen.

Was ist im Verlaufe dieser 21 Jahre passiert? Weshalb konnte sich die Welt so dramatisch verändern? Wo sind die Herzen geblieben, die damals für die Menschen im Irak schlugen, und denen das heutige Leiden der Palästinenserinnen und Palästinenser so gänzlich gleichgültig zu sein scheint? Wer, wo, wann und mit welchen Mitteln wurden all jene Fäden zerrissen, die es, über alle Grenzen hinweg, damals noch gab und von denen heute kaum mehr etwas zu sehen ist? Haben wir unsere Herzen verloren? Wo ist die Parteikollegin, fünf Tramminuten vom Bundeshausplatz entfernt wohnend, mit der ich in jüngeren Jahren noch stundenlang über die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus ihren ursprünglichen Lebensgebieten diskutierte, voller Mitgefühl für dieses geplagte Volk, hätte sie nicht wenigstens heute nur für ein einziges Mal ihren samstäglichen Saunatermin absagen können, und wäre es bloss gewesen, um der von ihr einst so bewunderten und geliebten Bundesrätin Ruth Dreifuss die Ehre zu erweisen?

Irgendetwas ganz Fürchterliches muss geschehen sein. Denn heute liegt nicht nur der Gazastreifen in Trümmern. Nein, auch die internationale Solidarität scheint in Trümmern zu liegen. Es ist wohl so ganz schleichend gekommen, wie oft bei grossen Katastrophen. Man nimmt es nicht so deutlich wahr wie ein Erdbeben oder einen Wirbelsturm. Aber es kann, in ganz kleinen, winzigen Portionen am Ende zum gleichen Ergebnis führen und genauso verheerend sein. Denn dass heute auf dem Bundesplatz in Bern nur etwa 500 bis 1000 Leute stehen und nicht 40’000 oder 100’000, hat buchstäblich tödliche Folgen. Denn es kann denen, die an einem Ende dieses unsäglichen Blutvergiessens kein Interesse haben und schon gar nicht an einem Ende aller Kriege und aller Aufrüstung, als bester Vorwand dafür dienen, den herrschenden Wahnsinn als das „Normale“ ohne Widerstand unvermindert weiterzuführen, sind es doch nicht einmal 1000 von 9 Millionen Menschen in diesem Lande, die das nicht gut finden. Es ist sogar so, dass sie es nicht einmal zur Kenntnis nehmen müssen und es buchstäblich totschweigen können. In der Tat. Nicht einmal eine Sekunde ist es ihnen wert, die Öffentlichkeit darüber zu informieren: Als ich mir am Abend nach der Kundgebung die Tagesschau am Schweizer Fernsehen anschaue, muss ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass mit keinem einzigen Wort und keinem einzigen Bild über diese Kundgebung berichtet wird. Stattdessen ein ausführlicher Bericht, wie „die Schweiz“ diesen wunderbaren Frühlingstag genossen hätte: Leute im Badekostüm in der Sonne brutzelnd, Würste auf dem Grill, fröhliche Gesichter allenthalben. Aber wenigstens, denke ich, wird doch wohl in der Spätausgabe etwas zu sehen sein. Fehlanzeige! Wieder nichts, einfach nichts. Dafür noch einmal die Menschen im Badekostüm, Menschen, die ins Wasser springen, Würste auf dem Grill. Alles scheint wichtiger zu sein als der Auftritt einer ehemaligen, von der ganzen Schweiz so tief verehrten Bundesrätin und ihrer so unglaublich wichtigen und buchstäblich lebensnotwendigen Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand in Gaza. Badeplausch, Menschen mit Sonnenbrille und Würste auf dem Grill: Wichtiger als die Tränen einer jungen Jüdin, die offensichtlich so sehr leidet, dass im Namen ihres Landes und ihrer Religion so unglaubliche Verbrechen begangen werden, mit denen sie am liebsten nicht das Geringste zu tun haben möchte. Badefreuden und Grillwürste wichtiger als die gebrochene Stimme eines palästinensischen Kinderarztes, der über den Tod seines besten Freundes erzählt, der die schwerverletzten Kinder in dem Spital, wo er gearbeitet hatte, um nichts in der Welt verlassen wollte und dafür mit seinem Leben bezahlen musste, dieser so liebenswürdige, bescheidene und zutiefst menschliche palästinensische Kinderarzt, der das erzählt und dabei die Tränen kaum zurückhalten kann und so ein zutiefst anderes Bild eines palästinensischen Mannes vermitteln würde als jenes, das in Form eines schwerbewaffneten Hamaskämpfers in den Köpfen wohl der meisten Menschen hierzulande festsitzt, die in jedem Palästinenser einen potenziellen Terroristen vermuten und deshalb auch so unglaublich grosses Verständnis aufbringen für die Politik der derzeitigen israelischen Regierung, all dieses „Böse“ so schnell wie möglich auszulöschen, selbst unter Hinnahme des Todes zehntausender unschuldiger Männer, Frauen und Kinder.

Auch im „Tagesanzeiger“ suche ich vergeblich einen Bericht über die Kundgebung in Bern…

Doch die Frage nach den zerrissenen Fäden früherer Solidarität ist noch nicht beantwortet. Ein Schlüssel hierzu könnte jene inzwischen schon fast legendäre Aussage der damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher sein, die im Jahre 1987 Folgendes zum Besten gab: „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht, es gibt nur Individuen.“ Seither ist der Geist des „Neoliberalismus“ – der im Grunde nichts anderes ist als der noch weiter als je zuvor auf die Spitze getriebene Kapitalismus – wie ein Tsunami in winzigen Portionen ins Land gezogen und ist auf dem besten Wege, alles, was die Menschen mitfühlend und mitleidend miteinander verbindet, nach und nach auszulöschen. Es ist die Lehre, dass jeder nur für sich selber verantwortlich sei, seines eigenen Glückes Schmied sei und sich daher auch nicht um das Leiden und das Schicksal anderer zu kümmern brauche, da diese ja in aller Regel an ihrem Elend selber schuld seien und deshalb auch nichts anderes verdient hätten. Es ist die Lehre, dass es den „Kapitalismus“ und alle seine Mechanismen von Ausbeutung, Unterdrückung und Bereicherung der einen auf Kosten der anderen gar nicht wirklich gäbe, sondern wir alle sozusagen in einer völlig wertefreien und der glücklichsten aller möglicher Welten leben würden, in der es den Menschen besser gehe als je zuvor. Alles andere, selbst der tägliche Tod Abertausender von Kindern durch Armut, Hunger und Kriege, seien bloss „Kollateralschäden“ und hätten nicht das Geringste mit der Art und Weise zu tun, wie die Glücklichen dieser Welt mit Badeplausch, Sauna und Grillwürsten weiterhin ohne schlechtes Gewissen ihr Glück geniessen könnten…

Gegen Ende der Kundgebung zieht eine Gruppe von japanischen Touristinnen und Touristen hinter dem Rednerpult vorbei, wo gerade der palästinensische Kinderarzt unter Tränen vom Tod seines besten Freundes erzählt. Skurriler könnte das Bild nicht sein. Die Japanerinnen und Japaner bleiben erstaunt stehen, kichern und zücken ihre Handys. Das Bild von der Kundgebung mit den Peace-Fahnen wird für sie neben dem Matterhorn und der Kappelbrücke in Luzern eines von vielen Erinnerungsbildern an Europa sein, eine Touristenattraktion wie so viele andere. Ja, die Globalisierung hat buchstäblich alle Grenzen gesprengt, Informationen sausten noch nie so schnell und in solcher Fülle um den ganzen Erdball. Auch im Strassencafé, wo ich anschliessend ein Bier trinke, gucken alle wie gebannt in ihre Handys. Was sehen sie? Was suchen sie? Werden wir unser Herz, unsere Fähigkeit, das Leiden anderer wahrzunehmen, mitzufühlen, das Bewusstsein, dass alles miteinander zusammenhängt und jeder Einzelne und jede Einzelne für alles mitverantwortlich ist, was in jeder Sekunde hier auf dieser Erde irgendwo geschieht, werden wir das alles je in unseren Herzen wieder finden?

(Nachtrag am 8. April 2024. Meine Anfrage an SRF, weshalb über diesen Anlass in der Tagesschau des Schweizer Fernsehens nicht berichtet worden sei, wurde wie folgt beantwortet: „In der Schweiz und auf der Welt passieren täglich unzählig viele Sachen. Leider ist es uns nicht möglich, über jedes Ereignis zu berichten. In den News-Sendungen, die zeitlich beschränkt sind und meist über Tagesaktualitäten berichten, ringen wir tagtäglich um die richtigen Prioritäten und das richtige Mass – es ist verständlich, dass diese Aufgabe eine schwierige ist und man immer darüber diskutieren könnte, ob dieses oder jenes in unserer Berichterstattung noch hätte Platz finden sollen. Bei der Themenauswahl orientieren wir uns stets an den publizistischen Leitlinien von SRF. Bei SRF wird die Themenwahl von den Kriterien Relevanz und Publikumsinteresse bestimmt. In jeder Publikation muss sich diese Gewichtung spiegeln.“– Interessant, Grillwürste in der Schweiz haben also eine höhere Priorität als der drohende Hungertod von Abertausenden palästinensischer Kinder. Bisher war ich strikt gegen eine Senkung der SRG-Gebühren. Jetzt muss ich mir das noch einmal gut überlegen.)

(Nachtrag am 15. April 2024: Auch an die Redaktion des „Tagesanzeigers“ habe ich geschrieben, bis heute, mehr als eine Woche später, noch keine Antwort bekommen. So also geht demokratische Berichterstattung in einem demokratischen Land in dieser Zeit.)

Heimlich verliebt

Ein Kasperletheater für Kinder ab 4 Jahren. Figuren: Kasperle, Krokodil, Äffchen, Gretel, Rabe, Fritzli. Fritzli ist Kasperles Freund, Gretel eine Freundin von Kasperle und Fritzli. Anstelle des Krokodils und des Äffchens können auch andere Tiere oder Menschen verwendet werden, anstelle des Raben ein anderer Vogel. Gegenstände: Ein Handy und eine kleine Blechdose, darin eine kleine Figur, die ein Mädchen darstellt (falls nicht vorhanden, kann es auch eine Zeichnung sein, die ein Mädchen darstellt).

Erstes Bild: Der Kasperle erzählt den Kindern, sein Freund Fritzli sei verschwunden. Er habe ihn gestern besuchen wollen, ihn aber nicht zuhause angetroffen. Er hätte ihm dann eine SMS geschrieben, doch keine Antwort bekommen. Heute Morgen wäre er noch einmal zu ihm nachhause gegangen, hätte ihn aber erneut nicht angetroffen. Dann sei er zur Bäckerei gegangen, wo Fritzli jeden Tag sein Brot einkaufe, dort habe er erfahren, dass Fritzli schon seit drei Tagen nicht mehr aufgetaucht sei. Auch auf eine weitere SMS habe er keine Antwort bekommen. Sodann hätte er Fritzlis Mutter angerufen, aber auch die hätte nicht gewusst, wo Fritzli sein und was mit ihm passiert sein könnte. Der Kasperle sei ratlos und mache sich Sorgen um seinen Freund. Er bittet die Kinder, alle Menschen oder Tiere, denen sie begegnen, zu fragen, ob sie etwas wüssten. Und jetzt würde er zu dem Kiosk gehen, wo Fritzli immer seine Gummibärchen kaufe, vielleicht wüssten die etwas.

Zweites Bild: Nacheinander erscheinen das Krokodil, das Äffchen und Gretel. Doch niemand weiss etwas über Fritzlis Verbleiben.

Drittes Bild: Der Rabe erscheint. Er verspricht den Kindern, die ganze Umgebung abzufliegen und zu schauen, ob er Fritzli irgendwo sehen würde.

Viertes Bild: Der Kasperle kommt vom Kiosk zurück, wo auch niemand etwas gewusst hätte. Von den Kindern im Publikum erfährt er das inzwischen Geschehene. In der Zwischenzeit sei ihm noch in den Sinn gekommen, dass Fritzli oft spazieren gehe und dann meistens eine Weile auf einem Bänklein in der Nähe eines kleinen Teichs Pause mache. Fritzli hätte ihm erzählt, dass er dort so gerne den vielen Vogelstimmen lausche. Kasperle werde nun mal diesen Ort aufsuchen, möglicherweise würde er dort Fritzli vorfinden.

Fünftes Bild: Der Rabe, der jetzt eine kleine Blechdose im Schnabel trägt, habe Fritzli nirgends gesehen, jedoch an einem kleinen Teich in der Nähe eines Himbeerstrauchs diese Blechdose gefunden. Er gibt die Dose den Kindern, sie sollen sie öffnen und schauen, ob sich darin vielleicht ein wichtiger Hinweis befinde. In der Blechdose ist eine Figur, die ein kleines Mädchen darstellt. Der Rabe rätselt. Hat sich vielleicht Fritzli heimlich verliebt? Doch weshalb hat er die Blechdose verloren? Und was hat das mit dem Himbeerstrauch zu tun? Und wo ist Fritzli jetzt? Der Rabe bittet die Kinder, gut auf die Blechdose aufzupassen und er werde nun den Kasperle holen, der könne vielleicht das Rätsel lösen…

Sechstes Bild: Kasperle, der jetzt ein Handy dabei hat (er habe noch einmal erfolglos Fritzli zu erreichen versucht) wird durch die Kinder auf den neuesten Stand gebracht. Fritzli verliebt? Das wäre ihm neu. Aber vielleicht hat es ja doch etwas mit dem Himbeerstrauch zu tun. Kasperle googelt und findet folgende Information: DIE HIMBEERE IST EINE SEHR FEINE FRUCHT. ABER WENN MAN ZUVIEL DAVON ISST, KANN ES PASSIEREN, DASS MAN PLÖTZLICH IN EINE ANDERE WELT DAVON FLIEGT. UND NUR EIN 4JÄHRIGES (..oder andere Altersangabe..) KIND, DAS EIN SCHÖNES LIED SINGT, KANN DIESEN MENSCHEN WIEDER AUF DIE ERDE ZURÜCKHOLEN. Nun fordert der Kasperle das betreffende Kind im Publikum auf, ein Lied zu singen. Ob Fritzli nun wohl wieder beim Himbeerstrauch am kleinen Teich aufgetaucht ist? Der Kasperle wird nun rasch den Raben holen, damit er die Sache aufklären kann…

Siebtes Bild: Die Kinder informieren den Raben, dieser fliegt zum Teich, kommt aber schnell wieder zurück und berichtet, nichts gesehen zu haben. Ob Fritzli vielleicht inzwischen schon zuhause ist?

Achtes Bild: Tatsächlich ist Fritzli inzwischen wieder zuhause. Er erinnert sich nur schwach daran, was passiert sein könnte. Die Kinder klären ihn auf. Plötzlich kommt ihm die Blechdose in den Sinn. Ob die Kinder etwas wissen? Er ist erleichtert, als ihm die Kinder erzählen, dass sie im Besitz der Dose seien. Fritzli befürchtet nun aber, dass die Kinder die Dose geöffnet und das Mädchen gefunden haben. Haben sie tatsächlich? Au weia, er wollte doch dieses Geheimnis nicht preisgeben. Doch die Kinder beruhigen ihn, das sei doch nicht so schlimm, es sei doch im Gegenteil schön, wenn die ganze Welt darüber Bescheid wisse. Nun gut, eigentlich haben die Kinder ja Recht. Fritzli werde nun sofort den Kasperle anrufen und ihm alles erzählen…

Neuntes Bild: Kasperle zuhause, Fritzli hat soeben angerufen und ihm alles erzählt. Kasperle ist überglücklich, dankt dem Kind, das so schön gesungen hat und Fritzli damit wieder in unsere Welt zurückgeholt hat. Der Kasperle werde nun mit Fritzli und seiner Freundin gleich in ein Restaurant gehen und eine feine Pizza geniessen und vielleicht ein paar (aber nicht zu viele) Himbeeren zur Nachspeise…

Kinderlärm

Kinderlärm kann nerven oder glücklich machen, ebenso wie der Klang einer fremden Sprache, ein zu langsam fahrender Zug oder ein unerwarteter Regenguss – es kommt nur darauf an, ob ich in allem das Positive sehen will oder das Negative. Das Leben ist so viel schöner, wenn ich es mit den Augen der Liebe sehe.

Gummibärli

Gummibärli, Sauernudeln, Smarties: Multinationale Konzerne erzeugen bei den Kindern Gelüste, die dann von genervten Eltern mit grossem Aufwand, unter Tränen und Geschrei bis hin zum veritablen Familienstreit wieder bekämpft werden müssen. Wo immer sich die einen masslos bereichern, müssen andere in irgendeiner Form darunter leiden. Nur ist das nicht immer so offensichtlich.

Jesus und Ostern: Die von den Mächtigen tausendfach umgeschriebene Geschichte des ersten grossen Revolutionärs…

Jesus, so wird gepredigt, sei am Kreuz gestorben, um uns Menschen von unseren Sünden zu befreien. Ohne diesen Opfertod wären wir zu ewiger Verdammnis verurteilt. Und daher könnten wir vom Bösen nur erlöst werden, wenn wir die Gnade Gottes bedingungslos annehmen. Jesus sei in die Welt gekommen, um alle, die an ihn glauben, mit Gott zu versöhnen. Sein Tod am Kreuz und seine Auferstehung dienten dazu, den Riss zwischen Gott und seinen Geschöpfen zu heilen.

Schon als Kind empfand ich, wenn ich solche Worte hörte, einen tiefen inneren Widerstand. Tausende Fragen schwirrten mir durch den Kopf. Weshalb soll dieses grausame Martyrium und der Tod dieses wunderbaren Menschen notwendig gewesen sein, bloss um uns Menschen mit Gott „auszusöhnen“? Und was ist das für ein Gott, der seinen eigenen, angeblich so geliebten Sohn opfert, um die Welt zu „retten“? Und weshalb soll der Mensch von Natur aus sündig sein, wenn doch ausgerechnet Jesus selber die Erwachsenen stets ermahnte, so zu werden wie die Kinder, ansonsten sie nicht ins „Himmelreich“ kämen? Und was ist mit all den andern, den Moslems, den Buddhisten, den Hindus, den Angehörigen anderer Religionen und all den sogenannt „Nichtgläubigen“, welche nicht das Glück haben, von Jesus erlöst worden zu seien, schmoren die nun für immer in der Hölle? Und wie ist es zu erklären, dass ausgerechnet unzählige Anhänger und Verfechter dieser christlichen Religion, deren wichtigstes Fundament angeblich das Gebot der der von Jesus gepredigten Nächstenliebe ist, mit der Bibel in der Hand fast die ganze Urbevölkerung Amerikas ausgelöscht und bei der Versklavung von rund 15 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner an vorderster Front eifrig mitgemacht haben?

Und so wuchsen in mir im Laufe der Zeit immer grössere Zweifel, ob uns mit der offiziellen Geschichte von Ostern, von Jesus und von der „Erlösung“ der Menschheit nicht über Jahrtausende ein gigantisches Märchen aufgetischt worden ist, das mit der eigentlichen Realität von Jesus, seinem Leben, seinem Wirken, seiner Botschaft und seinem unerschütterlichen Einstehen für eine friedlichere und gerechtere nur sehr wenig zu tun hat, dafür umso mehr mit den Macht- und Profitinteressen all jener, welche die christliche „Lehre“ dafür missbrauchten, um ihre Macht immer noch weiter und weiter auszudehnen und dabei auch von den schlimmsten jemals in der Geschichte der Menschheit begangenen Verbrechen nicht zurückzuschrecken.

Heute bin ich überzeugt: Jesus wurde nicht getötet, damit die Welt „gerettet“ werden konnte. Jesus wurde schlicht und einfach nur deshalb getötet, weil er den Mächtigen seiner Zeit viel zu gefährlich geworden war. Denn es war ja kein anderer als der Statthalter Pontius Pilatus, der auf Druck der römischen Machthaber Jesus verhaften und zum Tode verurteilen liess, weil, wie es in der Überlieferung heisst, diese sich über die zunehmende „Beliebtheit“ und die „neuen Ansichten“ von Jesus geärgert hätten. Seltsamerweise wird diese Geschichte – die machtpolitische – viel weniger häufig erzählt als die „theologische“, eben jene von der Erlösung der Menschen durch den Opfertod von Jesus. Stellen wir hingegen die machtpolitische Begründung seines Todes in den Vordergrund, dann ist die Tötung von Jesus im Grunde gar nichts anderes als das, was über viele weitere Jahrhunderte hinweg zahllosen anderen Menschen aus dem genau gleichen Grunde ebenfalls widerfuhr, von Abraham Lincoln, John F. Kennedy, Martin Luther King über Mahatma Gandhi, Patrice Lumumba, Bischof Romero, Salvador Allende bis zu Sophie Scholl, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Olaf Palme, Jitzchak Rabin und vielen, vielen anderen, deren Namen längst vergessen sind, oder deren Geschichte ebenso wie jene von Jesus von den Mächtigen tausendfach umgeschrieben wurde: Tausende zu Tode gefolterte und verbrannte „Hexen“ zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert in Europa, drei Millionen tatsächliche oder vermeintliche „Kommunisten“ 1965 in Indonesien, Hunderttausende Regimekritikerinnen und Regimekritiker in Südamerika in den 1970er und 1980er Jahren…

Es scheint ganz so, als sei die Geschichte von Jesus und seinen unbequemen „neuen Ansichten“ nach seinem Tod so schnell wie möglich umgedeutet und umgeschrieben worden, wiederum von anderen, neuen Machthabern, für welche die Ideen von Jesus genau so gefährlich hätten werden können wie für die damaligen Machthaber des römischen Reiches. Endgültig umgeschrieben wurde die Geschichte von Jesu im Jahre 380, als der oströmische Kaiser Theodosius das Christentum zur Staatsreligion erklärte. Fortan marschierten christliche Machthaber und Würdenträger Seite an Seite mit staatlichen Machthabern und Würdenträgern, eroberten Seite an Seite neue Länder, plünderten sie Seite an Seite miteinander aus und begingen Seite an Seite die grössten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit – mit den ursprünglichen Ideen von Jesus hatte dies alles nichts mehr, aber auch nicht das Geringste mehr zu tun. Und das ist bis auf den heutigen Tag so geblieben. Und auch heute noch haben die Reichen und Mächtigen nicht das Geringste Interesse daran, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, die im Laufe von Jahrhunderten aufgetürmten Lügen aufzudecken und all das Wirklichkeit werden zu lassen, wovon dieser Jesus vor über 2000 Jahren geträumt, von dem er erzählt und was er sich erhofft hatte, nämlich nichts Geringeres, als die Welt auf den Kopf zu stellen. Nähme man seine Visionen ernst, würde man sie in Taten umsetzen, ja, es würde tatsächlich die Welt auf den Kopf stellen…

Eine einzige Aussage von Jesus würde schon genügen, um alles umzudrehen: „Niemand kann zwei Herren dienen. Ihr könnt nicht gleichzeitig Gott dienen und dem Reichtum.“ Auf den ersten Blick mag an dieser Stelle das Wort „Gott“ zwar abschreckend wirken, veraltet, aus der Zeit gefallen, nicht mehr aktuell. Wenn man aber bedenkt, dass Jesus das „Göttliche“ stets mit dem Begriff der „Liebe“ verband und auch sagte „Gott ist die Liebe“, dann würde es schon ganz anders klingen: Man kann nicht gleichzeitig der Liebe und dem Reichtum bzw. dem Geld dienen – ein radikaler Gegenentwurf zur heutigen kapitalistischen Welt, in der Reichtum als das höchste aller Ziele geht, selbst auf Kosten von Armut und Ausbeutung jener, die von diesem Reichtum ausgeschlossen sind. Da ist Jesus durch und durch konsequent: „Geben ist seliger als nehmen“, sagt er, immer wieder plädiert er für „Besitzlosigkeit“, für das „Teilen“ und sagt unmissverständlich: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Reich Gottes kommt“, anders gesagt: Wer Reichtum auf Kosten anderer anhäuft, versündigt sich, lebt nicht so, wie es eigentlich von Gott bzw. einem „Schöpfungsplan“ der Liebe und der Gerechtigkeit „gedacht“ war. Und Jesus geht noch weiter: „Selig sind die, die da hungern und dürsten nach Gerechtigkeit“, es ist die konkrete Aufforderung zum politischen Widerstand gegen ausbeuterische Machtverhältnisse, und weiter: „Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden.“ Jesus ist auf der Seite all jener, die so leidenschaftlich wie er für die Gerechtigkeit kämpfen, dass sie sogar ihren Tod dafür in Kauf nehmen, so wie jene Abertausenden von kommunistischen Widerstandskämpfern, die in den 70er Jahren in den unterirdischen Gefängnissen der südamerikanischen Militärdiktaturen von Argentinien bis Honduras zu Tode gefoltert oder lebendigen Leibes über dem Meer aus Flugzeugen abgeworfen wurden.

Auch seine Botschaft einer radikalen Nächstenliebe, ja sogar Feindesliebe, würde alles Bisherige aus den Angeln reissen. Hätte man zu seinen Lebzeiten, statt ihn zu töten, dieses Gebot verstanden und ernst genommen, dann hätten schon damals alle Kriege bis hin zum Zweiten Weltkrieg und zu all den fürchterlichen Kriegen, die selbst heute noch, und erst noch in wachsender Zahl, weltweit wüten, verhindert werden können und es hätten Abermillionen von Menschenleben gerettet werden können. Doch statt die Idee einer konsequenten Feindesliebe überhaupt erst einmal auszuprobieren, wird sie aller Vernunft und allem gesunden Menschenverstand zum Trotz selbst heute noch und mehr denn je in ihr pures Gegenteil verdreht und es wird den Menschen mit allen Mitteln der Verführung und der Propaganda in den Kopf gehämmert, so etwas wie Pazifismus sei es „aus der Zeit gefallen“ und der US-Aussenminister muss es nicht einmal verheimlichen, sondern kann es öffentlich in die Welt hinausposaunen, dass es doch auch seine guten Seiten hätte, wenn der Krieg in der Ukraine noch möglichst lange weitergehe, weil dadurch die Arbeitsplätze in der US-Rüstungsindustrie gesichert werden könnten. Alles, woran Jesus glaubte, wurde ins Gegenteil verdreht. Denn so, wie man nicht gleichzeitig der Liebe und dem Geld dienen kann, so kann man auch nicht gleichzeitig dem Krieg und dem Frieden dienen. Es gibt nur den radikalen Gegenentwurf, nicht nur im Grossen, sondern auch im Allerkleinsten: „Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen.“ Eine solche Haltung ist nicht Schwäche, es ist die grösstmögliche Stärke, ganz simpel: Eine Faust, die auf eine andere Faust trifft, wird dadurch nur stärker, eine Faust, die ins Leere saust, ist sinnlos und verliert all ihre Kraft.

Als Jesus am Brunnen eine Frau aus dem Volk der Samariter trifft, diesem Volk, das von den Juden verachtet wurde, sodass kein Jude, der etwas von sich hielt, jemals mit einer solchen Frau gesprochen geschweige ihr in die Augen geblickt hätte, als Jesus diese Frau trifft, erkundigt er sich nach ihrem Wohlergehen, ist es doch aussergewöhnlich, dass eine Frau ganz alleine, und erst noch um die Mittagszeit, an einem Brunnen Wasser holt. So erfährt er, dass sie wegen Ehebruch aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen wurde. Jesus geht zu den Menschen, zu denen sonst niemand hingeht, zu den Aussätzigen, den Ehebrechern, den Betrügern, den verhassten Zöllnern, spricht mit ihnen, grenzt niemanden aus und ist auch in diesem Sinne ein Vorbild für alle kommenden Generationen, ist doch das gegenseitige Ausgrenzen, gegenseitige Verachtung, Herabwürdigung, Diskriminierung, Rassismus das Grundübel fast aller Formen von Gewalt bis hin zum Krieg. „Alle Menschen“, sagt Jesus, „sind meine Mütter und meine Brüder“. Wo die Menschen sich voneinander verabschieden, versöhnt und verbindet er sie mit dem Band der Liebe. Daher auch seine grosse Bewunderung für die Kinder, welche alle diese Formen von Ausgrenzung, die ihnen immer erst im Verlaufe des Älterwerdens anerzogen werden, noch nicht kennen: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich hineinkommen“. Was für revolutionäre Worte in einer so patriarchalen Zeit. Und immer wieder verbringt Jesus auch Zeit mit Frauen, spricht, wie seine Jünger übereinstimmend berichten, einfühlsam und auf Augenhöhe mit ihnen. Er reist mit ihnen. Und während gewöhnliche Rabbiner nur junge Männer unterrichten, unterrichtet Jesus auch Frauen. Es trifft zwar zu – und wird von patriarchal eingestellten Christen auch heute noch gerne betont -, dass Jesus auch zahlreiche gegenteilige Äusserungen machte wie etwa jene, dass die Frau dem Manne untertänig sein und ihm dienen solle, doch darf man die Zeitumstände nicht ausser Acht lassen. Auch Jesus – und das zeigt eben, dass er auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut war – konnte sich nicht gänzlich von allen damaligen Wertvorstellungen lösen, war vielleicht sogar selber oft hin- und hergerissen. Seine Einstellung gegenüber Frauen war aber für die damalige Zeit zweifellos durchaus revolutionär.

Ganz und gar nicht gut zu sprechen ist Jesus auf Scheinheiligkeit und Vortäuschung von Werten, die nicht echt sind und nicht gelebt werden: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist fern von mir.“ Die „Geldwechsler“ möchte er am liebten „aus dem Tempel jagen“: „Haut ihre Tische um. Schafft das alles fort. Macht aus dem Haus meines Vaters keinen Marktplatz!“ Hatte Jesus 2000 Jahre in die Zukunft blicken können? Sah er schon die globalen Börsenmärkte, die Aktienkurse, die auf purer Ausbeutung beruhende globale Marktwirtschaft, die Broker und die „Geldwechsler“ des modernen Kapitalismus? Schon klar, dass die alle keine Freude hätten, würde man das, was Jesus sagte, nur richtig so verstehen, wie er es gemeint hatte.

Die offizielle christliche Lehre beruht ja auf der Annahme, dass der „Himmel“ bzw. das „Paradies“ auf der Erde nicht zu verwirklichen sei, sondern erst im „Jenseits“ jenen Menschen eröffnet werde, die sich in ihrem irdischen Leben wohl verhalten hätten. Mit dieser „Lehre“ wurden die Menschen über Jahrhunderte geknechtet und ihnen sogar gesagt, je mehr sie in ihrem irdischen Leben leiden müssten, umso besser würde es ihnen dann nach ihrem Tode gehen – zynischerweise wendeten jene, die das propagierten, genau dies aber bei sich selber meistens ganz und gar nicht an, sondern lebten in aller Regel in Saus und Braus und erst noch auf Kosten jener, denen das Leiden als Heilmittel für ihr späteres Glück verschrieben worden war.

Alles sähe ganz anders aus, wenn man davon ausginge, dass das Paradies nicht erst in irgendeinem erfundenen Jenseits verwirklicht werden kann, sondern hier und heute mitten auf dieser Erde. Wenn Jesus vom „Himmel“ spricht, so könnte man das ja auch durchaus als so etwas verstehen wie eine zweite, spirituelle Ebene, die stets auch das irdische Leben durchdringt. Es würde ja auch Sinn machen. Weshalb sonst hätte Jesus die Menschen aufgefordert, die Feinde zu lieben, dem Krieg abzuschwören, so zu werden wie die Kinder, Reichtum nicht zu raffen, sondern zu teilen. Damit wäre ja, wenn die Menschen dem allem nachgelebt hätten, das Paradies auf Erden verwirklicht worden. Es wäre ja nicht logisch gewesen, dies alles von den Menschen zu fordern, wenn Jesus nicht zugleich daran geglaubt hätte, dass sie das auch tatsächlich schaffen könnten und sich dann die Idee irgendeines jenseitigen Paradieses ohne Gewissheit, ob es das überhaupt gibt, ganz und gar erübrigen würde.

Diese Blumen in meinem Garten, jede einzelne mit einer Blüte so unbeschreiblicher Vollkommenheit. Der Nebel über den Bergen. Ein tanzendes, singendes und lachendes Kind. Der Gesang der Vögel. Die Musik, die aus den Bäumen klingt, wenn der Wind durch sie hindurchweht. Wir sind doch mitten im Paradies. Was suchen wir denn noch, wenn es doch so nahe ist? Wäre es nicht viel gescheiter, dafür zu sorgen, dass das Paradies auf Erden, wo es noch vorhanden ist, für immer erhalten bleibt, und wir alle Phantasie, Liebe und Leidenschaft dafür aufbringen, es dort, wo es inzwischen verloren gegangen ist, wieder aufzubauen? Ein Blick in die vorchristliche Zeit zeigt uns, dass die Idee eines Paradieses auf Erden durchaus nichts Aussergewöhnliches ist. Der Garten Eden, der Inbegriff des Paradieses, war nicht erfunden, sondern real. Es war das sagenhafte Zweistromland zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris, Mesopotamien, dieses Stück Erde, das 2000 Jahre später ausgerechnet von einem US-Präsidenten in Schutt und Asche gelegt wurde, der sich als bekennenden Christen bezeichnet und vermutlich, bevor er den Befehl zum ersten Bombenschlag gab, noch sein Morgengebet aufgesagt und sich gewiss heftig bekreuzigt hatte…

Die letzten Tage wurde wieder einmal Ostern gefeiert. Aber nur mit den „Lippen“, nicht mit dem „Herzen“. Gefeiert haben wir nämlich nicht wirklich die „Auferstehung“ von Jesu und die Botschaft, die uns dieser erste ganz grosse Revolutionär der Geschichte hinterlassen hat. Gefeiert haben wir tatsächlich etwas ganz anderes: Nämlich, dass diese Geschichte im Verlaufe von fast 2000 Jahren in ihr pures Gegenteil umgeschrieben worden ist. Sonst hätten wir nämlich diese Ostertage nicht vor allem damit verbracht, wieder einmal länger und weiter in alle Welt zu verreisen, mehr Fleisch aus Tierfabriken, mehr Eier und mehr aus kolonialer Ausbeutung gewonnene Schokolade zu verzehren und fast noch systematischer als ohnehin schon die Augen vor Hunger, Armut, sozialer Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Krieg und der Zerstörung unserer zukünftigen Lebensgrundlagen zu verschliessen.

Am Friedensostermarsch in Bern haben gerade mal ein paar hundert Menschen teilgenommen. Ein paar hundert von neun Millionen. Als eine palästinensische Menschenrechtsaktivistin in eindringlichen Worten die heutige Lage in Westjordanien und im Gazastreifen beschrieb, wo man oft tagelang noch das Schreien der Kinder aus den Trümmern der zerbombten Häuser hört, bis es irgendwann verstummt, stand auch für mich einen Augenblick die Welt still. Eine unendliche Traurigkeit. Und zugleich eine unendliche Hoffnung. Dass wir doch noch eines Tages verstehen werden, was uns Jesus vor über 2000 Jahren sagen wollte. Und dass diese Geschichte, die so systematisch umgeschrieben und in ihr Gegenteil verkehrt wurde, doch auch wieder in die andere Richtung zurückgeschrieben werden kann. Wenn nur genug Menschen dies wollen.

Asylsuchende aus Afrika in Europa: Welches sind die Täter, welches die Opfer?

Wie das „Tagblatt“ am 21. März 2024 berichtete, hat der neue schweizerische Justizminister Beat Jans das Bundesasylzentrum Boudry im Kanton Neuenburg besucht. Dieses schweizweit grösste Asylzentrum mit Verfahrensfunktion hatte in letzter Zeit in der öffentlichen Debatte und in den Medien viel zu reden gegeben, weil es, wie es der Neuenburger Sicherheitsdirektor Alain Ribaux ausdrückte, mit einem „Tsunami der Kriminalität“ konfrontiert sei. Landesweit hatten Polizeikorps seit Wochen von einer Zunahme von Diebstählen und Einbrüchen durch junge Männer aus den Maghrebstaaten Tunesien, Algerien und Marokko berichtet. Auch bei den „renitenten“ Asylsuchenden in Boudry handelt es sich laut Polizeiangaben mehrheitlich um dieses „Täterprofil“. „Die Akzeptanz des Asylsystems“, so Karin Kayser-Frutschi, Co-Präsidentin der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren, „droht in der Bevölkerung zu erodieren. Wir stehen kurz vor dem Kipppunkt.“ Bereits hat die Neuenburger Regierung Ende Februar die Weiterführung des Asylzentrums in Boudry grundsätzlich in Frage gestellt.

Nun also hat Bundesrat Beat Jans das Asylzentrum in Boudry besucht. Er konnte gar nicht anders, so gross war der Druck in der Öffentlichkeit. Vor den Medien erklärte Jans, die Situation für die Bevölkerung sei „herausfordernd“, auch die Vorfälle in anderen Asylzentren hätten ihn „geschockt“ und die Bevölkerung hätte das „Recht, in Sicherheit zu leben“. Deshalb solle bis Ende April 2024 schweizweit ein neues „24-Stunden-Verfahren“ eingeführt werden, und zwar für sämtliche Asylsuchende aus Ländern mit einer Asylgewährungsquote von weniger als einem Prozent. Dies betrifft vor allem Asylsuchende aus Marokko, Tunesien und Algerien.

Die asylpolitischen Hardliner sind begeistert. Jans, so Patrik Müller im „Tagblatt“ vom 21. März, zeige sich „resistent gegen den linken Reflex, Missstände kleinzureden“. Er benenne die Probleme, insbesondere die „Kriminalität von Asylsuchenden aus Nordafrika, die für einen Grossteil der Einbrüche verantwortlich sind“. Er „fackelt nicht lange und ergreift Massnahmen“. Und er lasse sich „nicht durch einen drohenden Liebesentzug durch die SP beirren“, auch nicht durch den „Protest von Flüchtlingsorganisationen gegen die neuen Massnahmen“. Jans halte „Kurs“. Auch wenn sein Herz bisweilen „rebellieren“ möge, aber schliesslich regiere man nicht mit dem Herzen, sondern „mit dem Kopf“. Jans‘ Politik sei die helvetische Antwort auf die Aussage des US-Politologen Bret Stephens, wonach Politiker wie Trump, Le Pen oder die AfD davon profitierten, dass „etablierte Parteien das Migrationsproblem ignorieren.“

Starker Tubak. Aber bitte schön alles der Reihe nach. Ein „Tsunami der Kriminalität“ in Boudry? Tatsache ist, dass gerade mal zwei Prozent sämtlicher Asylsuchender in der Schweiz Straftaten begehen, zumeist erst noch ziemlich harmlose wie etwa Diebstähle oder Einbrüche mit meist ziemlich bescheidenem Diebesgut. Wenn das ein „Tsunami“ ist, was sind denn da die von Schweizern begangenen Straftaten, im Bereich von einem Prozent der Bevölkerung, wobei da auch massivste Verbrechen mit tödlichen Folgen in nicht geringer Anzahl dabei sind und etwa die Steuerhinterziehung im Bereich von jährlich 15 Milliarden Franken, die man ja wohl kaum anders nennen kann als Diebstahl in grossem Ausmass, noch nicht einmal mitgerechnet ist. Wenn also die Vorkommnisse in Boudry und anderen Asylzentren ein „Tsunami der Kriminalität“ sein sollen, was sind dann die von Schweizern begangenen Straftaten? Nur ein Orkan? Oder vielleicht doch etwas zwischen einem Tsunami und einem Orkan? Und ist nicht, ganz abgesehen davon, nur schon die Verwendung des Begriffs „Tsunami“ eine jegliches Augenmass sprengende Verzerrung der Realität? Wenn wir uns die Bilder des Tsunami in Erinnerung rufen, der im Dezember 2004 die Meeresküsten von Sri Lanka, Thailand, Indien, Indonesien, Malaysia, Somalia und der Malediven verwüstete, die haushohen Fluten, die wie Streichholschachteln zersplitternden Häuser, ganze bis auf den Erdboden ausradierte Dörfer, über 230’000 Todesopfer, und das mit den Einbrüchen rund um schweizerische Asylzentren vergleichen, wo bisher unter der betroffenen Schweizer Bevölkerung noch kein einziges Todesopfer zu beklagen war – was hat das eine mit dem anderen auch nur im Entferntesten zu tun? Sind die von Asylsuchenden begangenen Delikte etwa so banal, dass man sie mit dermassen weit hergeholten und jeglicher Verhältnismässigkeit spottenden Begriffen aufladen muss, um damit auch garantiert die gewünschte politische Wirkung zu erzielen?

Selbst die Statistik, wonach zwei Prozent der Asylsuchenden „straffällig“ seien, muss kritisch hinterfragt werden, denn es handelt sich dabei nur um die Anzahl der Anzeigen, nicht um jene der tatsächlich begangenen und verurteilten Straftaten. Untersuchungen haben gezeigt, dass Ausländerinnen und Ausländer pro Kopf gut dreimal häufiger für Straftaten beschuldigt werden als Schweizerinnen und Schweizer. Dies gilt für die gesamte ausländische Wohnbevölkerung, insbesondere aber für Asylsuchende, die offensichtlich geradezu unter dem Generalverdacht stehen, potenziell kriminell zu sein. Dies zeigt sich auch im Begriff der sogenannten „Ausländerkriminalität“, die auf völlig unzulässige und menschenverachtende Weise zwei Begriffe miteinander verbindet, die nichts miteinander zu tun haben. Denn wenn Ausländerinnen und Ausländer „kriminell“ werden, dann nicht deshalb, weil sie „Ausländerinnen“ und „Ausländer“ sind, sondern weil sie, wie Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, zu bedenken gibt, „soziale und persönliche Umstände“ erfahren haben oder diesen ausgesetzt sind, welche „Kriminalität verursachen“. Unter vergleichbaren Umständen – Armut, Verfolgung, Diskriminierung, Folter, Krieg, Verlust von Familienangehörigen, usw. – würden Schweizerinnen und Schweizer in genau gleichem Ausmass straffällig, ohne dass jemand auch nur im Entferntesten auf die Idee käme, von einer „Inländerkriminalität“ zu sprechen.

Und damit kommen wir zur eigentlichen Kernfrage, nämlich zur Frage, wer denn – unabhängig von allen diesen einseitigen und künstlich aufgebauschten Schuldzuweisungen und Vorurteilen – die eigentlichen Täter und die eigentlichen Opfer sind. Um diese Frage zu beantworten, genügt schon ein kurzer Blick in die Geschichte…

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Afrika noch einer der reichsten Kontinente, gesegnet mit fruchtbarster Erde und einem Klima, in dem sozusagen alles nur Erdenkliche, was das Herz begehrte, gedieh. Die Menschen lebten einfach, aber niemand musste hungern, alle hatten reichlich Arbeit. Zur gleichen Zeit war Europa einer der ärmsten Kontinente, so arm, dass Abertausende, um nur einigermassen überleben zu können, in fremde Länder auszuwandern begannen, nach Amerika, nach Australien und anderswohin. Dann begann der grosse Raubzug. Wie Heuschrecken überfielen die europäischen Kolonialmächte von Spanien bis England, von Italien bis Belgien, von Holland bis Deutschland den afrikanischen Kontinent, rafften alles zusammen, was zusammenzuraffen war. Auf den fruchtbaren Böden, die zuvor der Eigenversorgung der einheimischen Bevölkerung gedient hatten, liessen die Eindringlinge aus dem Norden Kakao, Kaffee, Bananen, Ananas, Mango, Palmöl, Baumwolle, Datteln, Erdnüsse und vieles mehr produzieren, in die Länder des Nordens verschiffen und dort möglichst gewinnbringend verkaufen. Die Brutalität, mit der die afrikanischen Menschen gezwungen wurden, sich bis zum Tode für die Luxus- und Profitinteressen des Nordens abzurackern, kannte keine Grenzen. Im Gebiet der heutigen Republik Kongo liess der belgische König Leopold II allen Arbeiterinnen und Arbeitern, die bei der Gewinnung von Kautschuk das jeweilige Tagessoll nicht zu erfüllen vermochten, die Hände abhacken. Schon kleinste Kinder wurden gezwungen, unter Lebensgefahr in glühendheisse Schächte hinabzusteigen, um dort nach Diamanten und anderen Kostbarkeiten zu schürfen. Auf endlosen Plantagen mussten Männer und Frauen, die kaum genug zu essen hatten, unter glühender Hitze von frühmorgens bis spät in der Nacht arbeiten, nachdem schon 15 Millionen ihrer Vorfahrinnen und Vorfahren im Verlaufe von 300 Jahren unter grausamsten Bedingungen als Sklavinnen und Sklaven nach Amerika verfrachtet worden waren, um dort das gleiche Schicksal zu erleiden und infolge der unmenschlichen Arbeitsbedingungen meist schon nach wenigen Jahren zu sterben. Und so verwandelte sich innert kürzester Zeit einer der ärmsten in einen der reichsten und einer der reichsten in einen der ärmsten Kontinente. Wenn man etwas als Tsunami bezeichnen könnte, dann dies. Es war nicht nur einer, es waren Tausende von Tsunamis.

Und das war ja noch längst nicht das Ende. Die Ausbeutung Afrikas durch die industrialisierten Länder des Nordens geht bis zum heutigen Tag gnadenlos weiter. Und die Schweiz ist da nicht irgendeine Trittbrettfahrerin, nein, sie ist an vorderster Front mit dabei. Obwohl auf schweizerischem Boden noch nie eine Kaffee- oder Kakaobohne wuchs und in schweizerischer Erde noch nie auch nur ein einziger Tropfen Öl gefunden wurde, kein Staubkorn Gold und kein einziger Diamant, gibt es dennoch kein anderes Land, wo mit dem Kaufen und Verkaufen dieser Produkte so viel Geld verdient wird wie in der Schweiz. Die Schweiz rühmt sich zwar, in Sachen „Entwicklungshilfe“ besonders grosszügig zu sein, aber die Profite, welche sie im Handel mit den Ländern des Südens erwirtschaftet, übertreffen diese sogenannte „Entwicklungshilfe“ um nicht weniger als das Fünfzigfache!

Seit Jahrhunderten gilt die eiserne Regel, erfunden und bis zum heutigen Tag weiterbetrieben durch die reichen und mächtigen Länder des Nordens, dass der echte Wert einer Ware erst dann entsteht, wenn sie industriell verarbeitet wird. So gilt noch immer als selbstverständlich, dass der Lohn einer Landarbeiterin, die auf einer afrikanischen Kaffeeplantage schuftet, nur einen winzigen Bruchteil jenes Profits ausmacht, mit dem dann der aus den Kaffeebohnen gewonnene Cappuccino in einem Starbucks-Café irgendwo in Zürich, Genf oder Chur verkauft wird. Dabei müsste es doch genau umgekehrt sein, bilden die Kaffeebohne und die Leistung der Kaffeearbeiterin doch die eigentliche, unverzichtbare und durch nichts zu ersetzende Basis dafür, dass überhaupt irgendwer irgendwo damit zusätzliches Geld verdienen kann. Die – bei vielen Produkten sogar oft noch weiter wachsende – Kluft zwischen den Rohstoffpreisen und den mit den Fertigprodukten erzielten Milliardengewinnen hat zudem zur Folge, dass sich die rohstoffreichen, aber wenig industrialisierten Länder laufend mehr verschulden müssen. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank gewähren ihnen dann zwar „grosszügige“ Kredite, aber nur unter knallharten Auflagen, indem etwa sogenannte „Wirtschaftsreformen“ umgesetzt werden müssen, bei denen zuallererst meist Nahrungsmittelsubventionen sowie Sozial- und Bildungsprogramme zusammengestrichen werden. Auch sind die gewährten Kredite stets mit der Verpflichtung verbunden, dass sie, zusammen mit horrender Zinsbelastung, wieder zurückzuzahlen sind. Wie Daumenschrauben, die jedes Mal, wenn der Finger ein wenig dünner ist, um eine weitere Drehung angezogen werden.

Und damit sind wir wieder bei den sogenannten Maghrebstaaten Tunesien, Marokko und Algerien, aus denen die besonders „gefährlichen“, „renitenten“ und „kriminellen“ Asylsuchenden stammen, von denen sich die schweizerische Bevölkerung zurzeit so bedroht fühlt. Auch Marokko, Tunesien und Algerien sind gezwungen, landwirtschaftliche Produkte und Rohstoffe wie Zitrusfrüchte, Obst, Getreide, Gemüse, Meeresfrüchte, Fisch, Rohöl, Phosphate und andere Chemikalien zu Billigstpreisen zu verschachern, um vergleichsweise viel teurere Geräte, Maschinen und andere industrielle Produkte kaufen zu können. Auch sie leiden unter der Daumenschraube des IWF und der Weltbank. Auch in ihren Ländern mussten Nahrungsmittelsubventionen und dringend nötige Sozialprogramme gestrichen werden. Die mit dem „Arabischen Frühling“ zwischen 2010 und 2012 verbundenen Hoffnungen auf bessere Zeiten liegen schon in weiter Vergangenheit, seither ist alles noch schlimmer geworden und die Menschen sind mittlerweile so erschöpft, verzweifelt und ohne jede Hoffnung, dass sie schon gar nicht mehr die Kraft aufzubringen vermöchten, einen zweiten „Arabischen Frühling“ ins Leben zu rufen.

Welches sind die Täter, welches sind die Opfer? Ein kurzer Blick in die Vergangenheit genügt, um zur Erkenntnis zu gelangen, dass all die „unliebsamen“ Asylsuchenden aus diesen Ländern, die uns Schweizerinnen und Schweizern angeblich das Leben so schwer machen, eigentlich nichts anderes versuchen, als sich einen winzigen, kaum nennenswerten Teil jenes Raubgutes zurückzuholen, das wir ihnen so gnadenlos und systematisch im Verlaufe weniger hundert Jahre entrissen haben. Wenn sich nun Schweizerinnen und Schweizer über das Verhalten dieser Menschen aufregen und sie so schnell wie möglich wieder loshaben möchten, so ist dies nur möglich, wenn wir vor jeglicher Realität die Augen verschliessen. Denn in Tat und Wahrheit sind all jene Menschen, die auch in den reichen Ländern des Nordens und auch in der Schweiz zunehmend unter Armut leiden, die Opfer des genau gleichen weltweiten kapitalistischen Macht- und Ausbeutungssystems, unter dem auch die Menschen in Afrika und letztlich allen anderen Ländern mehr oder weniger stark leiden. Würde sich diese Erkenntnis weltweit durchsetzen, dann würden nicht mehr Menschen gegen andere Menschen ankämpfen und sie zum Verschwinden bringen wollen, sondern sie würden sich, ganz im Gegenteil, mit diesen Menschen verbünden und gemeinsam mit ihnen für eine Zukunft kämpfen, in der die Profitmaximierung und die Bereicherung einer Minderheit auf Kosten einer Mehrheit für immer der Vergangenheit angehören sollten. Dass die Reichen und Mächtigen, die vom heutigen kapitalistischen Weltwirtschaftssystem so unverschämt und immer noch unverschämter profitieren, dies nicht wollen, ist klar. Und so werden sie alles daran setzen, dass die Wahrheit darüber, welches die Täter sind und welches die Opfer, nur ja nie ans Licht kommt. Am besten im Bunde mit Politikern wie Bundesrat Beat Jans und vielen anderen, die sich, statt endlich alle diese verheerenden Lügen aufzudecken, mehr oder weniger nahtlos dem allgemeinen Zeitgeist anschliessen.

Doch wir können die Mauern zwischen der Armut und dem Reichtum, zwischen den Opfern und den Tätern, zwischen der Ausbeutung und dem Luxus noch so weit in die Höhe bauen und noch so sehr alles Unangenehme, Störende und Bedrohliche unsichtbar machen wollen – in den Herzen all jener Menschen, die schon bald, abgefertigt in den 24-Stunden-Schnellverfahren, wieder in ihre Heimat zurückkehren müssen, wird die Wahrheit dennoch nicht erlöschen, auch nicht die Erinnerungen, auch nicht die Sehnsucht. Und eines Tages, früher oder später, wird die Wahrheit ans Licht gelangen.

Ein genialer Schachzug: Wie meine dreieinhalbjährige Enkelin bewiesen hat, dass die künstliche Intelligenz niemals die natürliche Intelligenz wird ersetzen können…

„Wie KI zur Kränkung der Menschheit wird“, lese ich in der „NZZ am Sonntag“ vom 24. März 2024. Und: „Jetzt ist diese Technologie dabei, unser Selbstverständnis zu zerstören.“

Ich hätte da möglicherweise eine Gegenthese. Und zwar kam das so: Unlängst wollten meine dreieinhalbjährigen Zwillingsenkelkinder, ein Bub und ein Mädchen, Schach spielen. Sie hatten es bei der älteren Schwester gesehen und wollten es nun unbedingt auch ausprobieren. Sie kannten natürlich die genauen Regeln noch nicht, wussten aber, dass man die Figuren in zwei gegnerischen Linien aufstellt und diese sich nun gegenseitig „fressen“ müssen. So führten sie die Figuren nun kreuz und quer übers Feld und warfen sich gegenseitig vom Spielfeld. Bis das Mädchen auf einmal sagte, das sei doch langweilig, sie hätte eine bessere Idee: Statt sich gegenseitig zu „fressen“, sollten sich die Figuren, sobald sie aufeinander trafen, ineinander verlieben. Der Bub war einverstanden. Und so änderte sich alles schlagartig. Die Figuren, die sich ineinander verliebt hatten, standen am Ende des Spiels friedlich paarweise am Rande des Spielfelds. Und die beiden Kinder waren überglücklich.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass KI das geschafft hätte, was die dreieinhalbjährigen Zwillinge geschafft haben, nämlich, eine seit etwa 2000 Jahren geltende Regel einfach so über Bord zu werfen. Damit, hoffe ich, ist die Frage für immer beantwortet.