Archiv des Autors: Peter Sutter

Judith Kohlenberger: Gegen die neue Härte

In ihrem neuen Buch zeigt Judith Kohlenberger auf beeindruckende Weise, wie eng unsere gesellschaftlich drängenden Probleme mit den Fragen von Migration und Flucht verknüpft sind. Während sich die Europäische Union an ihren Grenzen mehr und mehr von einem Konsens der Menschlichkeit verabschiedet, erreicht die dort erprobte Härte zusehends auch das Innere unserer Gesellschaft und unseres Alltags. ISBN 978-3-423-28448-6.

Chantal, 15, aus Angola: Die Sonne Afrikas im Appenzellerland

Chantal war vier und ihr Bruder Léo zwei Jahre alt, als die Polizei ihre Mutter zum ersten Mal ins Gefängnis holte. Das war in Luanda, der Hauptstadt Angolas, im Herbst 2013. Die Mutter war fünf Jahre zuvor aus dem Kongo, wo seit über 30 Jahren ein unvorstellbar grausamer Krieg wütet und wo sie nicht nur ihre Eltern, sondern auch die ganze übrige Verwandtschaft verloren hatte, nach Angola geflüchtet. Dort kamen Chantal und Léo zur Welt. Der Grund dafür, dass die Mutter in Luanda in der Folge insgesamt fünf Mal über kürzere oder längere Zeit im Gefängnis sass, war nicht, dass sie etwas Unrechtes getan hätte. Der Grund war einzig und allein, dass sie eine Kongolesin ist. Und dass viele Menschen in Angola Menschen aus dem Kongo hassen. Und dass Nachbarn nur genug lange und genug oft über andere Menschen Schlechtes reden müssen, und dass das dann schon genügt, dass eines Nachts die Polizei in dein Haus einbricht und du die nächsten Tagen und Wochen hinter Gittern verbringst.

Die Kinder waren, während die Mutter im Gefängnis sass, gänzlich auf sich alleine gestellt. Manchmal halfen ihnen Leute, manchmal nicht. Manchmal fanden sie in einem Haus Unterschlupf, manchmal lebten sie einfach auf der Strasse, bettelten um Essen. Ausser einem Kehrichtsack besassen sie nichts, um sich in der Nacht gegen die Kälte zu schützen. In einem Land, wo Gewalt gegen Frauen und Kinder nicht die Ausnahme ist, sondern die ganz „normale“, alltägliche Regel.

Chantal war fünf Jahre alt, als sie das Schlimmste erlebte, was ein Kind in diesem Alter erleben kann. Es war so schlimm, dass sie es bis heute, zehn Jahre später, noch nie jemandem erzählt hat, nicht einmal ihrer eigenen Mutter. Und es war so schlimm, dass sie noch heute immer wieder mitten in der Nacht aufwacht und zitternd und schweissgebadet im Bett liegt und sich genau so fühlt, wie sie sich damals gefühlt hatte.

In dieser Zeit war der Vater von Chantal und Léo schon längst bei einer anderen Frau. Mit dieser hatte er vier weitere Kinder und dann mit zwei weiteren Frauen noch einmal sieben weitere Kinder.

Als Chantal sieben und Léo fünf Jahre alt waren, beschloss die Mutter, mit ihren Kindern Angola zu verlassen und in Europa Schutz zu suchen. Der Landweg kam nicht in Frage, es sind bis zum Mittelmeer über 6000 Kilometer, durch Länder, wo in zahlreichen Regionen Krieg herrscht und insbesondere Flüchtlinge alltäglicher Gewalt schutzlos ausgeliefert sind. Fast ein halbes Jahr verkaufte die Mutter von früh bis spät auf dem Markt Gemüse und Früchte, bis sie das nötige Geld für einen Flug in die Schweiz beisammen hatte. Doch es war nicht genug, um beide Kinder mitzunehmen. Sie musste sich entscheiden, welches der beiden Kinder sie mitnehmen und welches sie seinem Schicksal überlassen wollte. Da für elternlose Mädchen die Gefahr, früher oder später in die Gewalt von Menschenhändlern zu geraten und sexueller Ausbeutung ausgeliefert zu sein, ungleich viel grösser ist als für Knaben, entschloss sie sich, die siebenjährige Chantal mitzunehmen und den fünfjährigen Léo einer Nachbarin zur Obhut zu überlassen.

Das Asylverfahren in der Schweiz zog sich über mehrere Jahre hinweg. Während dieser Zeit schwebten Chantal und ihre Mutter beständig zwischen der Hoffnung, in der Schweiz bleiben zu können, und der Angst, nach Angola zurückgeschafft zu werden, hin und her. Dazu kam die quälende Ungewissheit, wie es Léo ging und ob er überhaupt noch lebte.

Es kam, wie Chantal und ihre Mutter trotz aller zeitweiliger Hoffnungen es insgeheim befürchtet hatten: Ihr Asylgesuch wurde abgelehnt. Sie wurden in ein Flüchtlingsheim eingewiesen, wo ausschliesslich Asylsuchende untergebracht sind, die bereits einen negativen Entscheid bekommen haben, aber aus unterschiedlichen Gründen noch nicht in ihr früheres Heimatland ausgeschafft werden können, sei es, weil es die dortigen Zustände nicht zulassen, oder weil das betreffende Land nicht bereit ist, sie zurückzunehmen. Über 80 Männer, Frauen und Kinder leben dort auf engstem Raum, oft über Jahre hinweg, und jeden Abend, wenn sie sich zur Ruhe legen, wissen sie nicht, ob nicht schon in der gleichen Nacht Polizisten auftauchen, sie aus ihren Betten reissen und zu einem Flugzeug bringen werden, mit dem sie das Land ihrer letzten Hoffnung für immer verlassen müssen.

Und genau das geschah in dieser Nacht, vor etwa drei Jahren, Chantal war jetzt zwölf Jahre alt. Drei Polizisten kamen und rissen die Mutter und das Kind morgens um vier aus ihren Betten und führten sie in Handschellen ab, als wären sie Schwerverbrecher. Man sieht die Narben, welche die Handschellen an den Armen des Mädchens hinterlassen haben, noch heute.

Doch die drei Polizisten hatten nicht mit der Kraft einer 37jährigen Kongolesin gerechnet, die nichts mehr zu verlieren hat. Als die Polizisten sie und Chantal ins Flugzeug zu schieben versuchten, bäumte sie sich auf wie ein tödlich verwundetes Tier, es gelang den Polizisten trotz Aufbietung aller ihrer Kräfte nicht, die Mutter und das Kind in ihre Gewalt zu bringen. Als die Mutter bereits am ganzen Körper blutete, gaben die Polizisten auf. Das ist die sogenannte „Stufe 1“. Es gibt eine gesetzlich festgeschriebene Linie, welche die Polizisten in dieser Phase einer versuchten Ausschaffung von Gesetzes wegen nicht überschreiten dürfen.

Was Chantal und ihre Mutter nicht wussten: Zur gleichen Zeit, als dies geschah, befand sich Léo auf dem Weg in die Schweiz. Ein Familienvater in Angola hatte sich des verlorenen Kindes angenommen und ihm ein Flugbillett in die Schweiz bezahlt. Drei Wochen später hatte er seine Mutter und seine Schwester gefunden. Es sei, sagte Chantal, der glücklichste Tag ihres Lebens gewesen.

Seither geht das bange Warten weiter, die schlaflosen Nächte, die Erinnerungen an Dinge, an denen fünf- oder siebenjährige Kinder eigentlich zerbrechen müssten, wenn da nicht irgendeine unerklärliche Kraft wäre, die ihnen hilft, das alles zu überleben. Die Panikattacken, die Chantal noch vor einem Jahr fast täglich hatte, überfallen sie jetzt nur noch alle zwei oder drei Wochen. Geholfen hat ihr wohl auch sehr, dass sie alle Kinder und Jugendlichen im Heim so lieben. Sie ist die gute Seele für alle. Keine, auch nicht die professionellen Flüchtlingsbetreuerinnen im Heim, spürt so schnell, wenn es anderen nicht gut geht, und keine ist so schnell mit Aufmerksamkeit, Trost und Liebe zur Stelle.

Glücklicherweise hat sich ein engagierter Anwalt ihres Verfahrens angenommen, das jetzt in Form eines Wiedererwägungsgesuchs auf Asyl beim Bundesverwaltungsgericht liegt. Niemand weiss, wie lange es geht, bis der definitive Entscheid vorliegt, gegen den es dann endgültig keine Rekursmöglichkeit mehr gibt.

Letzten Dienstag war Chantal zum vierten Mal bei mir in der Deutschstunde. Da sie nun schon seit acht Jahren in der Schweiz ist und im Flüchtlingsheim täglich an einer Lerngruppe teilnimmt, sind ihre Deutschkenntnisse, was das Mündliche betrifft, hervorragend, zudem versteht sie Schweizerdeutsch problemlos. Einzig beim Lesen und Schreiben hapert es noch, da scheinen noch Blockierungen vorzuliegen, die möglicherweise mit ihren traumatischen Kindheitserlebnissen zusammenhängen. Aber sie macht Fortschritte, ihr Selbstvertrauen ist im Wachsen begriffen. Und ja, ich habe ihr auch gesagt, was für ein Genie sie ist, was für eine Sprachkünstlerin, und wie ich das bewundere und sie mich, obwohl ich ein ausgebildeter Sprachlehrer bin, bei Weitem übertreffe . Die 15Jährige beherrscht fünf Sprachen, drei davon nahezu perfekt. Lingali, eine afrikanische Ursprache. Portugiesisch, weil sie in Angola aufgewachsen ist. Französisch, die Sprache ihrer Mutter aus dem Kongo. Englisch, das sie im Internet selber gelernt hat. Deutsch, weil sie den grössten Teil ihres Lebens in der Schweiz verbracht hat. Und dann hat sie mir sogar noch gesagt, dass sie, wenn jemand Italienisch oder Spanisch spreche, fast alles verstehe.

Gestern war sie wieder bei mir, hat ein selber gemaltes Bild mitgebracht und mir geschenkt: Ein Landschaftsbild, im Vordergrund schwarze Erde, schwarze Blumen, schwarze Bäume, darüber schwarze Wolken. Im Hintergrund: Ein leuchtender gelboranger Himmel, eine riesige gelbe Sonne. Jedes Wort, die Bedeutung des Bildes zu erklären, wäre eines zu viel.

Anschliessend haben wir in ihrem speziell für anderssprachige Kinder konzipierten Deutschbuch weitergearbeitet. In einer der Übungen musste sie Fragen zu ihrer Person beantworten, Name, Alter und so weiter. Dann die Frage: „Wo bist du geboren?“ Und auf die Linie, wo andere Kinder vielleicht den Namen einer albanischen Stadt oder eines afghanischen Dorfes schreiben, hat sie geschrieben: „Auf der Strasse.“

Heute Morgen sitzen wir im Zug Richtung St. Gallen, um dann von dort nach Stein im Kanton Appenzell weiterzufahren, wo auf zehn Uhr ein Vorstellungsgespräch abgemacht ist, nachdem Chantal letzte Woche ihre Bewerbungsunterlagen für eine zweijährige Lehre als Angestellte für Gesundheit und Soziales (AGS) an das dortige Altersheim geschickt hat. Es ist das vierte Vorstellungsgespräch innerhalb der letzten zwei Wochen. Auch konnte sie schon an mehreren Stellen schnuppern. Eine Zusage aber hat sie zurzeit noch nicht. So reifeln wir mittlerweile alle paar Tage quer durch die Kantone St. Gallen und Appenzell, ich begleite sie immer und auf den Wegen und in den Zeiten zwischendurch erzählt sie mir ihr ganzes Leben. Wir sind schon ein richtig gut eingespieltes Team.

Noch bevor wir in St. Gallen ankommen, erhält Chantal auf ihrem Smartphone eine Nachricht: Lehrstelle in Stein abgesagt. Ein weiterer Hoffnungsschimmer ist zerschlagen. In St. Gallen also einfach umsteigen und wieder nachhause statt nach Stein fahren? Ich rufe im Altersheim Stein an. Ob es möglicherweise ein Missverständnis sei? Chantal hätte ja heute einen Termin für ein Vorstellungsgespräch. Es tue ihm leid, so der Mann am Apparat, aber die Heimleitung hätte heute Morgen angesichts der so zahlreichen Bewerbungen eine Vorauswahl treffen müssen. Aber wenn wir ja jetzt schon auf dem Weg seien, würde er nochmals fragen und mir so schnell wie möglich Bescheid geben. Und tatsächlich, fünf Minuten später: Es sollte ja nicht sein, dass wir vergeblich die Fahrt auf uns genommen haben. Wir sollen kommen. Was für eine Erleichterung.

Als wir das Altersheim betreten, ruft Chantal, wie überall bei unseren bisherigen Besuchen, den in ihren Rollstühlen sitzenden oder an Stöcken gehenden Menschen ihr so unbeschreiblich warmes und fröhliches „Hallo“ zu, so dass die Leute gar nicht anders können, als ihr eben noch fest verschlossenes Gesicht zu öffnen und der jungen Afrikanerin ebenso warm und fröhlich entgegenzulachen. Da kommt sie, niemand kennt sie, und wie eine Zauberfee verwandelt sie tiefe Trübseligkeit innerhalb weniger Augenblick in hellste Freude.

Am Tisch sitzen drei für die Lehrlingsausbildung zuständige Pflegefachfrauen und begutachten Chantal zunächst etwas skeptisch. Wir erfahren den Grund für die Absage heute Morgen: Sie sei vorgenommen worden aufgrund der eingereichten Schulzeugnisse. Und da in Chantals Zeugnis bei den einzelnen Fächern keine Noten stehen, sondern nur das Wort „besucht“, hätte man angenommen, ihre schulischen Leistungen seien so schlecht, dass man ihr gar keine Noten hätte geben können. Ich erkläre den drei Frauen, dass es in der Heimschule keine eigentlichen Klassen gäbe, sondern nur eine Lerngruppe mit Kindern und Jugendlichen unterschiedlichsten Alters und daher auch keine vergleichenden Prüfungen und Noten. Dass aber Chantal über hervorragende Deutschkenntnisse verfüge und weitere vier Sprachen nahezu perfekt beherrsche, zudem sehr ehrgeizig, lernfreudig und neugierig sei und beim Lernen rasch Fortschritte mache und im Flüchtlingsheim wegen ihrem fröhlichen Wesen und ihrer Fürsorglichkeit bei sämtlichen Bewohnerinnen und Bewohnern überaus beliebt sei. Die Gesichter der drei Frauen hellen sich unverkennbar nach und nach auf.

Auf die Frage, weshalb sich Chantal ausgerechnet für diesen Beruf interessiere, sagt sie, sie hätte in ihrem Leben schon so viel Schlimmes erlebt, dass sie einfach alles daran setzen möchte, andere Menschen so glücklich zu machen wie nur irgend möglich. Und wieder, wie so oft in den letzten Tagen, frage ich mich, woher diese Kraft und diese Überfülle an Liebe aus einer 15jährigen Jugendlichen kommen mag, die in ihrem Leben bisher schon so viel unvorstellbar Schlimmes erleiden musste, dass sie nicht einmal ihrer eigenen Mutter alles davon zu erzählen vermochte. Und wieder finde ich auf diese Frage keine Antwort.

Und dann sagt sie etwas, was ich ganz gewiss nie mehr in meinem ganzen Leben vergessen werde: „Ich möchte einfach diesen Menschen, bevor sie sterben, ein Lächeln mitgeben, das sie dann mitnehmen können in ihr nächstes Leben, um dieses möglichst gut zu beginnen.“ Die erste der drei Pflegefachfrauen macht sich, sichtlich gerührt, Notizen, die zweite wischt sich eine Träne aus dem Gesicht und die dritte sagt: „Du kannst nächste Woche zwei Tage zu uns schnuppern kommen, wir nehmen dich in unsere engste Auswahl.“ Für einmal ist die Menschlichkeit stärker gewesen als alles andere.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle verströmt Chantal weiterhin ihre Heiterkeit. Selbst einer Gruppe von Bauarbeitern unweit der Strasse ruft sie ihr unwiderstehliches „Hallo“ zu. Und, so etwas habe ich noch nie erlebt: Der eine von ihnen, der sich in diesem Moment wegen einer Schaufel, die er in die Hand nahm, von unseren Blicken abgewendet hat, dreht sich um, ruft „Hallo“ zurück und entschuldigt sich sogar, dass er sich gerade abgewendet und nicht sofort zurückgerufen habe.

Und so geht es weiter. Auch ein paar Kinder am Strassenrand lächeln Chantal zurück, auch ein jüngerer Mann, der stechenden Schrittes mit einer Aktenmappe unter dem Arm die Strasse überquert. Am liebsten würde ich jetzt, wenn ich genug Zeit hätte, ein ganzes Buch schreiben. Den Titel wüsste ich schon: „Die Sonne Afrikas im Appenzellerland“.

Auf dem weiteren Weg plaudert Chantal wie ein nie versiegender Bergbach weiter. Nichts hasse sie so wie den Krieg. Und nichts liebe sie so wie Menschen, die einfach so seien, wie sie am liebsten sein möchten: Homosexuelle Männer liebe sie besonders, die würden sich so elegant bewegen, aber auch alle anderen, die sich nicht von anderen unterkriegen lassen, denn niemand solle anderen vorschreiben oder dazu zwingen, wie sie zu leben hätten, das müsste jeder Mensch ganz alleine für sich selber entscheiden. Und so weiter und so vieles mehr, ein Füllhorn von 15 Jahren Lebenserfahrung, die wohl die allermeisten Menschen hierzulande nicht einmal im Alter von 90 oder 100 Jahren je auch nur annähernd erreicht haben werden und von der wir so unermesslich privilegierten Menschen so unglaublich viel lernen könnten.

Wir haben in den nächsten Tagen weitere Vorstellungsgespräche und Schnuppertermine vor uns. An fünf Orten ist Chantal mittlerweile in der engsten Auswahl. Meine anfängliche Angst hat zunehmend einem stärker werdenden Optimismus Platz gemacht. Wenn Chantal auf diesen Sommer einen Lehrvertrag hat, ist die Chance gross, dass sie, ihre Mutter und ihr Bruder dauerhaft in der Schweiz bleiben können.

Wenn nicht, könnte ein definitiv negativer Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts dazu führen, dass „Stufe 2“ in Kraft tritt. „Stufe 2“ bedeutet: Es kommen nicht nur drei Polizisten, sondern mindestens zehn. Und Chantal, Léo und ihre Mutter werden nicht in Handschellen abgeführt, sondern am ganzen Körper so gefesselt, dass selbst der stärkste Mann der Welt nicht die geringste Chance hätte, sich daraus zu befreien.

Im Jahre 2024 wurden aus der Schweiz 7205 Asylsuchende in ihre Heimatländer zurückgeschafft, ein Drittel freiwillig, zwei Drittel mit Gewalt, das waren etwa zwölf an jedem einzelnen Tag dieses Jahres. SP-Bundesrat und Justizminister Beat Jans, zuständig für die schweizerische Asylpolitik, sagte am 23. Januar 2025: „Wir sind in verschiedenen Bereichen den europäischen Ländern deutlich voraus. Wir haben in diesem Jahr 25 Prozent aller Pendenzen abbauen können. Auch die Rückkehrzahlen steigen, mit einer Rückführungsquote von annährend 60 Prozent steht die Schweiz in Europa an der Spitze. Das Staatssekretariat für Migration SEM macht eine hervorragende Arbeit. Wir sind auf dem richtigen Weg. Doch wir sind noch nicht zufrieden. Der immer noch zu grosse Pendenzenberg muss rascher abgebaut werden.“

Fragst du Leute auf der Strasse, wie viele definitiv in der Schweiz aufgenommene Flüchtlinge auf 100 Personen der einheimischen Bevölkerung kommen, nennen die meisten von ihnen Zahlen zwischen 20 und 50. Einer sagte sogar, es gäbe in der Schweiz mehr Flüchtlinge als Einheimische und das Boot sei schon längst „übervoll“. Das ist das Resultat jahrelanger systematischer fremdenfeindlicher Politpropaganda. Tatsächlich kommt in der Schweiz auf 100 Einheimische nicht einmal ein einziger anerkannter Flüchtling mit Bleiberecht. Und allen Ernstes soll das reichste Land der Welt nicht einmal das verkraften können?

Während kein Mensch davon spricht, dass in einem Land wie dem Libanon tatsächlich auf 100 Einheimische 100 Flüchtlinge kommen, Bangladesch trotz bitterer Armut im eigenen Land allein im Jahre 2024 gleichzeitig mit einem der schlimmsten Zyklone aller Zeiten, verheerenden Überschwemmungen – über fünf Millionen Menschen mussten ihre Häuser verlassen -, einem Regierungsumsturz, politischen Unruhen und mit einem Zustrom von über einer Million Flüchtlinge aus dem Bürgerkrieg im benachbarten Myanmar fertig werden musste und im Sudan in Folge des seit zwei Jahren wütenden Bürgerkriegs über zehn Millionen Menschen innerhalb der eigenen Landesgrenzen auf der Flucht sind…

18. Montagsgespräch vom 10. März 2025: Sollte das Bargeld abgeschafft werden?

Wird das Bargeld verschwinden? Und was für Folgen hätte dies? Darüber wurde am 10. März im Rahmen des 18. Buchser Montagsgesprächs diskutiert. Mit dabei war auch Eric Zaindl, Ökonom, Unternehmer und Autor des Buches „Eine Welt ohne Geld?“, der sich seit vielen Jahren mit der Entstehung des Geldes und seiner Rolle in Wirtschaft und Alltagsleben beschäftigt.

Niemand in der Runde wünschte sich eine gänzliche Abschaffung des Bargeldes. Würde Geld nur noch digital verwendet, könnte es zu einem enormen Autonomieverlust des einzelnen Bürgers und der einzelnen Bürgerin kommen, zu einer Machtkonzentration und der Steuerung und Kontrolle des gesamten Geldsystems in der Hand einiger weniger globaler Konzerne oder, wenn die Staatsmacht diese Aufgabe übernähme, zu einer permanenten Überwachung des Alltagslebens, wie man das am Beispiel von China sehen könne, wo durch Videoüberwachung und KI-gesteuerter Gesichtserkennung erfasstes „Fehlverhalten“ mit finanziellen Einbussen bestraft werde.

Ein ausschliesslich digitales Geldsystem sei auch für technische Störungen, Hackerangriffe oder Auswirkungen von Naturkatastrophen oder weltpolitischen Umwälzungen viel anfälliger. Zudem würden digitale Bezahlmöglichkeiten dazu verleiten, zu schnell und unüberlegt Geld auszugeben und sich auf diese Weise zu verschulden.

Mehrfach wurde aber auch darauf hingewiesen, dass bargeldloses Zahlen vieles vereinfache und gewisse Kosten wie das Herstellen von Bargeld einsparen könne. Es wäre aber wohl, so die übereinstimmende Meinung der Anwesenden, mit viel zu grossen Gefahren verbunden, auf Bargeld gänzlich zu verzichten. Deshalb begrüsse man die kürzlich zustande gekommene Bargeldinitiative, welche verlangt, dass Bargeld nicht wegdigitalisiert werden dürfe.    Eric Zaindl vermittelte abschliessend einen interessanten Einblick in die Entstehung des heutigen Geldsystems. Noch im 17. Jahrhundert hätten die damaligen Königshäuser jeweils eigene, quasi dezentralisierte Zahlungssysteme in der Art von Münzen, etc. gehabt. Erst nach und nach sei ein zentralisiertes Geldsystem aufgebaut worden. Dieses ursprünglich zur Sicherung der Lebensverhältnisse geplante, gerecht verteilte „Bürgergeld“ habe sich aber im weiteren Verlauf immer mehr in ein Machtmittel transformiert, das sich bis heute in immer grösserer Menge bei einer immer kleineren Anzahl von Reichen und Mächtigen konzentriere und zu einer Art modernen „Sklaventums“ geführt habe, in dem jene, die viel Geld besitzen, über jene bestimmen und entscheiden, die wenig oder gar kein Geld besitzen. Lokale und regionale Währungen, wie sie zurzeit da und dort wieder am Entstehen seien, könnten ein mögliches Gegengewicht zu dieser Entwicklung bilden. Lohnen könnte sich, so Zaindl, auch der hypothetische Blick in eine Welt, in der es gar kein Geld mehr gäbe, mit einer zugrundeliegenden, zeitgerechten Neuausrichtung über alle Lebensbereiche. Ein Diskussionsansatz, der anlässlich eines weiteren Montagsgesprächs vertieft werden soll.

Als die Faschisten in der Ukraine an die Macht kamen: Eine Rede von Gregor Gysi 2014 im deutschen Bundestag…

Folgender Ausschnitt aus einer Rede von Gregor Gysi im deutschen Bundestag nach der Machtergreifung der neuen ukrainischen Regierung nach dem Maidan im Frühjahr 2014 bedarf wohl kaum eines weiteren Kommentars…

Die neue ukrainische Regierung wurde sofort von US-Präsident Obama, von der EU und der Bundesregierung anerkannt. Frau Merkel: Der Vizepremierminister, der Verteidigungsminister, der Landwirtschaftsminister, der Umweltminister, der Generalstaatsanwalt sind Faschisten. Der Chef des Nationalen Sicherheitsrates war Führungsmitglied der faschistischen Swoboda-Partei. Faschisten haben wichtige Posten und dominieren beispielsweise den Sicherheitssektor. Und noch nie sind Faschisten von der Macht freiwillig wieder ausgetreten, wenn sie einmal einen Teil davon erobert hatten, und zumindest die Bundesregierung hätte hier eine Grenze ziehen müssen, schon aufgrund unserer Geschichte. Als Haiders FPÖ in die österreichische Regierung kam, gab es Kontaktsperren. Und bei den Faschisten in der Ukraine machen wir nichts. Swoboda hat engste Kontakte zur NPD und zu anderen Naziparteien in Europa. Und der Vorsitzende, Oleg Tjahnybok, hat Folgendes wörtlich erklärt: „Schnappt euch die Gewehre, bekämpft die Russensäue, die Deutschen, die Judenschweine und andere Unarten.“ Es gibt jetzt schon Übergriffe gegen Jüdinnen und Juden und gegen Linke und gegen all das sagen Sie nichts. Mit diesen Swoboda-Leuten reden Sie! Ich finde das einen Skandal!

Frank Urbaniok und die Frage, woher das Böse in der Welt kommt: Individualgewalt und Systemgewalt…

In der Welt der Wissenschaften treffen wir immer wieder auf einzelne herausragende Repräsentantinnen oder Repräsentanten ihres Fachgebiets, die oft ein so grosses öffentliches Ansehen geniessen, dass die von ihnen verkündeten Sichtweisen oder Lehren kaum noch jemals kritisch hinterfragt werden. Einer dieser Koryphäen ist Frank Urbaniok, Professor für forensische Psychiatrie mit Schwerpunkt Sexual- und Gewaltstraftaten, der während mehr als 20 Jahren den Psychiatrisch-Psychologischen Dienst des damaligen Amtes für Justizvollzug des Kantons Zürich leitete. Heute ist er als Gutachter, Berater, Supervisor und Buchautor tätig. Gemäss SRF vom 12. September 2019 ist Urbaniok „der bekannteste und einflussreichste forensische Psychiater der Schweiz“, der, „welcher uns die Seelen von Verbrechern erklärt.“

Als ich kürzlich einen öffentlichen Vortrag von Urbaniok besuchte, war förmlich zu spüren, wie die Zuhörerinnen und Zuhörer seine Worte nahezu andächtig in sich aufsaugten, als spräche da ein Wesen aus einer höheren Welt zu ihnen – quer durch die Reihen war breiteste Zustimmung zu spüren, allenthalben Kopfnicken und manchmal sogar begeisternder Zwischenapplaus. Gleichzeitig verspürte ich zunehmend ein mulmiges Gefühl in mir aufkommen, das ich mir zunächst nicht erklären konnte, das dann aber im Verlaufe des Vortrags dennoch immer stärker wurde, sodass ich dann zuhause, in Ruhe und aus einem gewissen Abstand heraus, darüber nachzudenken begann, woher und weshalb sich dieses ungute Gefühl wohl eingestellt hatte…

Vor mir habe ich den „Tagesanzeiger“ vom 28. Februar 2024 mit einem ganzseitigen Interview mit Urbaniok. Es geht um die Frage, ob man junge Erwachsene , die als Minderjährige einen Mord begangen haben, zukünftig verwahren können sollte. Urbaniok befürwortet das und weist darauf hin, dass es Fälle gäbe, bei denen sich die „erste Auffälligkeit“ schon „früh in der Kindheit“ zeige und sich das dann „im Jugendalter bis hin zu schweren Gewaltdelikten kontinuierlich steigern“ könne. In der „Luzerner Zeitung“ vom 26. Juli 2016 sagt Urbaniok, dass „ausgeprägte Risiko-Eigenschaften“ im Verhalten eines Menschen „früher oder später durchdrücken“ würden. Und im „Tagesanzeiger“ vom 14. Februar 2023 beantwortet er die Frage nach seinem Menschenbild wie folgt: „Ich würde es als skeptisch beschreiben. Ich mache mir keine Illusionen, es steckt zwar viel positives Potenzial im Menschen, aber leider auch sehr viel Negatives. Wenn man bedenkt, wie sich manche Menschen in Politik und Wirtschaft oder gegenüber der Umwelt verhalten, wie sie andere Menschen foltern, Kriege führen – das Repertoire an schädlichen Verhaltensweisen ist erschreckend gross.“

Langsam komme ich meinem Unbehagen auf die Spur…

Ist es nicht viel zu kurz gegriffen, von Missständen in Politik und Wirtschaft, von Respektlosigkeit gegenüber der Natur und von Krieg und Folter auf das Böse im Menschen zu schliessen und dabei gleichzeitig alles in den gleichen Topf zu werfen? Müsste ein seriöser Wissenschaftlicher hier nicht ganz klar und deutlich unterscheiden: Auf der einen Seite die ursprünglichen, natürlichen, abgeborenen Anlagen des Menschen, auf der anderen Seite all jene Verfehlungen, welche von Erwachsenen begangen werden, die sich bereits in einem ganz bestimmten Machtsystem bewegen und dort ganz bestimmte Rollen einnehmen und Verhaltensweisen ausüben, die sich auf ihre Mitmenschen schädlich oder gar zerstörerisch auswirken können? Denn Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Kind bereits als potenzieller Mörder oder Vergewaltiger geboren wird, ich kann mir aber sehr wohl vorstellen, dass ein Mensch im Verlaufe seines Heranwachsens mit so vielen schädlichen Einflüssen, mit so vielen Enttäuschungen und so viel Gewalt konfrontiert wird, dass sich negative und zerstörerische Einstellungen und Verhaltensweisen nach und nach heranbilden können. Es besteht doch ab dem Moment, da ein Mensch auf die Welt kommt, eine permanente Wechselwirkung zwischen seinem eigenen Verhalten und der Umgebung, in welcher er aufwächst. Es ist doch auch längst schon erwiesen, dass erlittene Gewalt häufig wiederum späteres gewalttätiges Verhalten der Opfer zur Folge haben kann. Auch besteht erwiesenermassen ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Armut und Kriminalität, zwischen erlittenen Demütigungen und späterem übertriebenem Machtgebaren, zwischen den Wertvorstellungen der Gesellschaft – wie etwa Materialismus und Egoismus – und der Art und Weise, wie die Heranwachsenden mit diesen Wertvorstellungen zurecht kommen, sich ihnen anpassen, sich dagegen auflehnen oder daran zerbrechen.

Offensichtlich hat Urbaniok, anders kann ich mir das nicht erklären, im Laufe seiner beruflichen Tätigkeit schon mit so vielen „bösen“ Menschen zu tun gehabt, dass er früher oder später unweigerlich zum Schluss gekommen ist, das Böse müsse wohl in der Natur des Menschen liegen, etwas, was sich dann im Laufe des Lebens „kontinuierlich steigern“ und im Verhalten der betreffenden Menschen „früher oder später durchdrücken“ könne. Wer sich erst einmal auf eine solche Sichtweise festgelegt hat, kommt offensichtlich gar nicht mehr auf die Idee, das „Böse“ könnte auch ausserhalb des Individuums liegen, in den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnissen. Man erinnert sich bei einer solchen Sichtweise unweigerlich an religiöse Glaubenssätze früherer Zeiten, wie etwa jenem von der „Erbsünde“, wonach jeder Mensch als grundsätzlich „sündiges“ Wesen geboren werde und nur durch die Unterwerfung unter ein bestimmtes Glaubensbekenntnis von diesen Sünden „erlöst“ werden könne. Von einer solchen Sichtweise zu der Auffassung, dass „böse“ Menschen eher bestraft und von der Gesellschaft weggesperrt als „therapiert“ werden müssen, ist es dann freilich nur noch ein kleiner Schritt.

Urbaniok hat diesen so einseitigen Blick auf das Wesen des „Bösen“ sogar dermassen akribisch systematisiert, dass daraus ein eigens von ihm entwickeltes und in der Fachwelt höchst umstrittenes Diagnosesystem unter der Bezeichnung FOTRES (Forensisches Operationalisiertes Therapie-Risiko-Evaluations-System) mit einem dazugehörigen 654-seitigen Handbuch entstanden ist, bei dem aufgrund ausschliesslich individueller Persönlichkeitsmerkmale mithilfe eines Algorithmus, von dem niemand weiss, wie er tatsächlich funktioniert und wie viel Gewicht jedes einzelne der insgesamt 80 Kriterien hat, ermittelt werden kann, wie „gefährlich“ ein Mensch ist – Hinweise darauf, dass auch Faktoren in der Umgebung, in der ein Mensch aufwächst, für seine Entwicklung „gefährlich“ sein könnten, sucht man vergebens.

Dabei gäbe es genug andere Sichtweisen auf das Wesen des „Bösen“, die genau zu einem gegenteiligen Schluss kommen und dieses „Böse“ nicht vor allem in der Seele des Individuums orten, sondern vielmehr in den äusseren Verhältnissen, unter denen ein Mensch aufwächst. Schon der begnadete Pädagoge und Menschenfreund Johann Heinrich Pestalozzi sagte vor über 250 Jahren: „Der Mensch ist gut und will das Gute. Und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“ Auch Rutger Bregman kommt in seinem Buch „Im Grunde gut“ zum Schluss: „Dass Menschen von Natur aus egoistisch und aggressiv sind, ist ein hartnäckiger Mythos. Ein positives Menschenbild ist durchaus realistisch und lässt sich mit unzähligen Beispielen aus der Geschichte der Menschheit belegen, über die aber in den Geschichtsbüchern und den Medien leider viel zu wenig zu lesen ist.“

Ein Grossvater, auch darüber ist im Buch von Bregman zu lesen, sagte einst zu seinem Enkel: „In mir findet ein Kampf statt, ein Kampf zwischen zwei Wölfen. Einer ist schlecht, böse, habgierig, eifersüchtig, arrogant und feige. Der andere ist gut – er ist ruhig, liebevoll, bescheiden, grosszügig, ehrlich und vertrauenswürdig. Diese beiden Wölfe kämpfen auch in dir und in jeder anderen Person.“ Der Junge dachte einen Moment nach und fragte dann: „Welcher Wolf wird gewinnen?“ Der alte Mann lächelte und sagte: „Der Wolf, den du fütterst.“ Dazu Bregman: „Wenn wir glauben, dass die meisten Menschen im Grund nicht gut sind, werden wir uns gegenseitig auch dementsprechend behandeln. Dann fördern wir das Schlechteste in uns zutage. Jeder Mensch hat eine gute und eine schlechte Seite, die Frage ist, welche Seite wir stärken wollen.“ Auch Mooji, ein spiritueller Lehrer, der aus Jamaika stammt und heute in Portugal lebt, hat einmal gesagt: „Man sieht die Welt nicht so, wie sie ist, sondern so, wie man selber ist.“ Mit anderen Worten: Die Kategorien von „Gut“ und „Böse“ sind nicht in Stein gemeisselt. Sie sind fliessend und veränderbar. Es kommt darauf an, wie wir Menschen damit umgehen, wie wir sie sehen, formen und gestalten. Liebe kann sich in Hass verwandeln, aber ebenso kann sich auch Hass wieder in Liebe verwandeln.

Ich kenne ein 15jähriges Mädchen aus Angola, das wegen des dortigen Bürgerkriegs vor acht Jahren mit ihrer Mutter fliehen musste, heute in einem schweizerischen Flüchtlingsheim lebt und jederzeit damit rechnen muss, aufgrund eines negativen Asylentscheids in ihre Heimat zurückgeschafft zu werden. Sie erzählt, dass ihre Mutter in Angola fünf Mal im Gefängnis war, nicht, weil sie etwas verbrochen hatte, sondern einzig und allein aufgrund ihrer Nationalität als Kongolesin, leiden doch Menschen aus dem Kongo in Angola unter extremster Diskriminierung und kaum vorstellbarem Fremdenhass. Das Mädchen war damals sieben Jahre alt und musste, während die Mutter im Gefängnis war, jeweils im Freien übernachten, auch bei bitterer Kälte. Um sich ein klein wenig gegen die Kälte zu schützen, hätte sie nichts anderes zur Verfügung gehabt als einen Kehrichtsack. Auch hätte sie nie genug zu essen gehabt und sei häufig von Männern grundlos verprügelt worden. Doch auch der Schutz und die vermeintliche Sicherheit, die ihr und ihrer Mutter gewährt sind, seit sie als Asylsuchende in der Schweiz leben, hängen an einem hauchdünnen Faden. Vor zwei Jahren wurde ihr Asylgesuch bereits ein erstes Mal abgelehnt und es wäre beinahe zu einer zwangsweise Ausschaffung gekommen: Eines Morgens stürmten Polizisten ihr Zimmer und führten sie und ihre Mutter in Handschellen ab. Hätte nicht ihre Mutter in dem Augenblick, da man sie ins Flugzeug zu schieben versuchte, übermenschliche Kräfte entwickelt und es den drei Polizisten verunmöglicht, sie durch den Eingang ins Flugzeug hindurchzuzwängen, wären sie heute nicht mehr in der Schweiz. Seit der erfolglosen Abschiebung liegt der Fall nun beim Bundesverwaltungsgericht. Sollte das Gericht den negativen Asylentscheid bestätigen, droht erneut die zwangsweise Rückschaffung, dann aber auf der sogenannten Stufe zwei, was bedeutet, dass nicht nur drei, sondern etwa zehn Polizisten aufmarschieren werden und die Mutter und das Kind am ganzen Körper so eng gefesselt werden, dass Widerstand nicht mehr möglich ist. Hat das Mädchen aus Angola nicht schon dermassen viel Schlimmes erlebt, dass man eigentlich erwarten müsste, nun einen völlig aggressiven, gewaltbereiten Menschen vor sich zu haben? Doch genau das Gegenteil ist der Fall! Die 15Jährige hat trotz allem die Hoffnung nicht aufgegeben, mit ihrer Mutter dauerhaft in der Schweiz bleiben zu können. Sie möchte einen Beruf erlernen, mit dem sie andere Menschen glücklich machen könne. Wenn sie andere Menschen fröhlich machen und sie zum Lachen bringen könne, das sei für sie das Schönste, mehr brauche sie nicht, um glücklich zu sein. Woher nur kann bei so viel erlittenem Hass und so viel erlittener Gewalt so viel Liebe kommen? Gibt es vielleicht so etwas wie eine unbegreifliche innere Kraft des Guten im Menschen, die sich auch unter widrigsten Umständen dennoch im Verlaufe des Lebens nach und nach durchzudrücken vermag?

Ich selber habe, im Gegensatz zu Urbaniok, zwar keine wissenschaftlichen Studien vorzuweisen. Aber immerhin Berufserfahrung von 38 Jahren als Oberstufenlehrer von insgesamt über all die Jahre wohl an die tausend ganz unterschiedlichen Jugendlichen. Mein Befund ist zu 100 Prozent: Ich hatte bei keinem einzigen dieser jungen Menschen je den Eindruck, es versuchte von „unten“ etwas Schlechtes, sich im Laufe der Zeit mehr und mehr „durchzudrücken“. Nein, wenn etwas Schlechtes sich durchzudrücken versuchte, kam es nie von „unten“, sondern stets von „aussen“ oder von „oben“, in Form überrissener Strafen oder anderer Disziplinarmassnahmen durch Lehrpersonen, übertriebener, nicht erfüllbarer Erwartungen seitens der Eltern, Verlust an Selbstvertrauen durch das permanente Verglichenwerden mit den Mitschülerinnen und Mitschülern in Form von Prüfungen, Noten, Zeugnissen oder Diskriminierung und Stigmatisierung infolge von in diesem Alter ganz natürlichen, aber gesellschaftlichen nicht akzeptierten Verhaltensweisen. Die Schlussfolgerung ist eigentlich ganz banal: Wenn ich in den Menschen vor allem das Gute sehe, dann wird das Gute immer stärker, ebenso wie das „Schlechte“ immer stärker wird, wenn ich in den Menschen in erster Linie das Schlechte sehe.

Immer klarer wird mir, woher mein Unbehagen während des Vortrags von Frank Urbaniok gekommen war: Genau von daher, dass er keinen Unterschied macht zwischen Individualgewalt, die von einzelnen „Übeltätern“ oder „Bösewichten“ verübt wird, und der weitgehend unsichtbaren Systemgewalt, die doch das eigentliche Grundübel ist und den Menschen daran hindert, so zu werden, wie er eigentlich von Natur aus „gedacht“ war.

Im Gratisblatt „20minuten“ vom 21. Februar 2025 lese ich ein Interview mit Frank Urbaniok zur Frage, wie mit gewalttätigen Asylsuchenden umzugehen sei. Nur schon der Titel des Interviews ist mehr als tendenziös: „Endlich über Schattenseiten sprechen“ – als würden die meisten Menschen nicht sowieso schon am meisten und am liebsten über „Negatives“ sprechen und sich darüber aufregen, statt über möglichst viel „Positives“ zu sprechen und sich darüber zu freuen. Urbaniok behauptet, es sei „kein Zufall“, dass bei Delikten häufig Asylsuchende die Täter seien. Er erwähnt, dass zum Beispiel Afghanen bei „schweren Gewaltdelikten“ mit „554 Prozent überrepräsentiert“ seien. Tönt, als würden Afghanen 554 Prozent aller schweren Straftaten begehen, was allein schon aus mathematischen Gründen ziemlich schwierig sein dürfte, aber halt schon ziemlich krass tönt. Tatsächlich meint er, dass auf 100’000 Schweizer 100 ein Gewaltdelikt begehen, auf 100’000 Afghanen aber 554. Woher Urbaniok diese Zahlen hat, bleibt schleierhaft, es wird keine Quelle genannt. Ich bin auf eine andere Zahl gekommen: Schaut man sich die Homepage der SVP an, wo täglich akribisch sämtliche auch noch so geringfügige, von Asylsuchenden begangene Delikte aufgelistet werden, findet man, in Bezug auf Afghanen, beispielsweise im ersten Halbjahr 2023 gerade mal zwei schwere Delikte und zehn zumeist ziemlich harmlose wie zum Beispiel Telefonbetrügereien, und dies bei einer Gesamtzahl von zurzeit etwa 35’000 in der Schweiz lebenden Afghaninnen und Afghanen. Urbaniok lässt sich hier auf das Niveau all jener herab, die lieber von zwei Afghanen sprechen, die im Laufe eines halben Jahres eine schwere Straftat begangen haben, als von den 34’988, die sich während des gleichen Zeitraums nicht eines einzigen Delikts schuldig gemacht haben. Mindestens müsste er als einigermassen seriöser Wissenschaftler zumindest darauf hinweisen, dass Menschen, die in ihrem bisherigen Leben so viel Leid erfahren haben, deren ganzes Land durch einen Krieg zerstört wurde, die zahllose engste Verwandte, oft ihre Eltern oder selbst ihre eigenen Kinder verloren haben und auch auf der Flucht, bis zu 7500 Kilometer zu Fuss, unsäglichen Gefahren, Entbehrungen und Todesängsten ausgeliefert waren, verständlicherweise eher zu einer verzweifelten Gewalttat neigen als Menschen, die ihr gesamtes bisheriges Leben lang gänzlich wohlbehütet und in einer sicheren Umgebung aufwachsen konnten. Doch kein Wort von alledem. Urbaniok nimmt auch unbesehen den unsäglichen Begriff der „Ausländerkriminalität“ in den Mund, der zwei Begriffe miteinander verknüpft, die nichts miteinander zu tun haben, aber unbewusst den Eindruck erweckt, jeder Ausländer sei ein potentieller Krimineller, während es keinem Menschen je in den Sinn käme, im Zusammenhang mit Delikten wie Steuerhinterziehung, Mietzinswucher oder irgendwelchen dubiosen Finanzgeschäften, die eher typisch sind für Einheimische, von „Inländerkriminalität“ zu sprechen.

Besonders aufschlussreich ist ein beinahe zweiseitiges Interview mit Urbaniok, das in der „Sonntagszeitung“ vom 23. Februar 2025 erschienen ist und in dem er den Zustand Deutschlands zur Zeit der zurzeit stattfindenden Bundestagswahlen unter die Lupe nimmt. Darin wirft er unter anderem der deutschen Justiz vor, stets den Opfern recht zu geben, nie den Opfern. Es gehe, so Urbaniok, nicht mehr um die „individuelle Schuld“, sondern nur noch um „Ideologie“. Mit „Ideologie“ meint er wohl nichts anderes als die mittlerweile in der Fachwelt weitherum anerkannte Praxis, bei jedem Verbrechen auch die Einflüsse des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfelds zu berücksichtigen, eine Erkenntnis, die ihm, der stets die Schuldhaftigkeit des einzelnen „Bösewichts“ in den Vordergrund stellt, freilich nicht gefällt. „Die Idee, man müsse nur die Waffen abschaffen, dann hätten wir Frieden, ist vollkommen naiv“, sagt er weiter, „genauso die Idee, man müsse nur besonders lieb sein miteinander, verhandeln und reden, dann komme es schon gut.“ Einerseits zieht er mit solchen Worten auch Methoden der Friedensförderung durch Dialog offensichtlich ganz bewusst ins Lächerliche, anderseits bleibt er die Erklärung schuldig, was denn aus seiner Sicht eine bessere Alternative zum „Verhandeln“ und „Reden“ wäre. Etwa der kompromisslos weitergeführte Krieg? Das getraut er sich dann aber wohl doch nicht zu sagen und so schweigt er lieber darüber. Im Folgenden ist zu lesen: „Es ist zwar eine sympathische Idee, dieses romantische Multikulti, dass sich alle lieb haben, vertragen, gleich sind und am selben Strick ziehen, doch es ist höchst einseitig und darum sehr unrealistisch.“ Wieder zieht er etwas, was ihm nicht gefällt, ins Lächerliche, und wieder äussert er sich mit keinem einzigen Wort darüber, was denn die Alternative zur Idee eines für alle Seiten möglichst fruchtbaren interkulturellen Zusammenlebens sein könnte. „Eine intelligente Migration“, so nachfolgend, „fördert das riesige Potenzial von Einwanderung, bekämpft aber gleichzeitig Schäden und Risiken.“ Im Klartext: Solange uns Migrantinnen und Migranten wirtschaftlich etwas bringen und für wenig Lohn die Drecksarbeit verrichten, die von den besser gebildeten Einheimischen schon längst gemieden wird, sind sie uns willkommen. Wenn sie aber mit „Schäden“, Verletzungen und Traumatisierungen zu uns kommen – an denen gerade im Fall von Afghanistan Deutschland durch seine Kriegsbeteiligung an der Seite der USA grösste Mitschuld trägt -, dann sollen sich gefälligst andere darum kümmern. Schliesslich geht Urbaniok sogar so weit, zu fordern, man dürfe vor härteren Massnahmen gegen missliebige Menschen auch dann nicht zurückschrecken, „wenn man dafür heute geltende Regeln ganz abschaffen oder ändern muss.“ Besonders interessant ist folgende Aussage: „Weil man die sogenannte kognitive Dissonanz vermeiden will, hat man ein bestimmtes Weltbild, und alles, was nicht reinpasst, wird ignoriert, weil es sonst unbequem wird.“ Besser als mit dieser Definition könnte Urbaniok wohl sich selber nicht beschreiben. In der Fachsprache der Psychologie nennt man so etwas eine klassische „Projektion“. Aber das müsste Urbaniok als einer der berühmtesten Psychiater Europas selber eigentlich am besten wissen…

Dass in der Öffentlichkeit die sichtbare, gut beschreibbare und durch die Medien stets emotional bestens aufbauschbare Individualgewalt im Vordergrund steht und die dahinter liegenden, weitgehend unsichtbaren und dennoch omnipräsenten Formen von Systemgewalt kaum je ernsthaft thematisiert und offen gelegt werden, wissen wir zur Genüge. Umso mehr wäre es die Aufgabe von Wissenschaftlern, genau diese Zusammenhänge aufzuzeigen. Denn wohin uns das Ausblenden und das Ablenken von der Systemgewalt auf die Individualgewalt geführt haben, müssten wir eigentlich nach Jahrhunderten von Kreuzzügen gegen Andersgläubige, Hexenprozessen, Judenverfolgung und zahlloser weiterer Verbrechen im Zuge von Rassismus, Fremdenhass und Diskriminierung ethnischer Minderheiten schon längst gelernt haben.

Zugegeben: Die Diskussion darüber, wie stark Gewalt in Form des herrschenden Gesellschaftssystems möglicherweise die eigentliche Ursache fast aller bei einzelnen Individuen auftretenden Formen von Gewalt bildet, ist viel aufwendiger, komplizierter und braucht weitaus mehr Zeit und Geduld, als mit dem moralischen Zeigefinger auf einzelne „Bösewichte“ und „Übeltäter“ wie renitente Jugendliche, ausrastende Sozialhilfebezüger, militante Klimaaktivisten oder potentiell kriminelle Flüchtlinge zu zeigen. Es braucht auch die Bereitschaft, bestehende Denkmuster radikal zu hinterfragen. Dann freilich könnte man wohl schon sehr bald einmal zum Schluss gelangen, dass etwa die Art und Weise, wie sich die Schweiz über Jahrhunderte dank Ausbeutung von Rohstoffen aus Ländern des Südens masslos bereichert hat und dies dies bis heute tut, oder die Tatsache, dass in einzelnen Unternehmen die am besten Verdienenden einen 300 Mal höheren Lohn haben als die am schlechtesten Verdienenden, oder die Verweigerung von Mindestlöhnen durch Arbeitgeberverbände, existenzbedrohende plötzliche Entlassungen infolge von unternehmerischer „Gesundschrumpfung“, entwürdigende Behandlung durch Vorgesetzte, massiver und stetig weiter zunehmender Leistungsdruck in den Schulen und die wie riesige Damoklesschwerter über allen hängenden Bedrohungen durch einen möglichen dritten Weltkrieg und die Zerstörung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen – dass all dies eben auch Formen von Gewalt sind, die man zwar nicht so deutlich als solche erkennen kann wie etwa eine Messerstecherei oder einen Bombenanschlag oder eine Schlägerei zwischen Jugendlichen, die aber in ihrer Gesamtheit unvergleichlich viel verheerendere und länger andauernde Auswirkungen haben.

Es wird durch seine eigene Biografie erklärbare und nachvollziehbare Gründe dafür geben, dass Urbaniok zu einem eher negativen oder zumindest „skeptischen“ Menschenbild gekommen ist und daher das „Böse“ vor allem im einzelnen Individuum sieht und nicht in herrschenden Machtsystemen . Man kann das verstehen und es soll ja auch niemandem verwehrt sein, sich im Laufe seines Lebens jenes Menschen- und Weltbild aufzubauen, das seinen eigenen Lebenserfahrungen am ehesten entspricht. Gefährlich wird es aber dann, wenn man einseitige Menschen- und Weltbilder so sehr verabsolutiert, dass sie am Schluss sozusagen als einzige mögliche „Wahrheit“ im Raum stehen. Denn wenn im Umfeld dominanter und meinungsbeherrschender „Koryphäen“ wie Urbaniok so etwas wie ein Vakuum entsteht, in dem keine Kontroversen und kein kritisches Denken mehr stattzufinden vermag, dann hört die Wissenschaft auf, wissenschaftlich zu sein, und droht selber zu einem Teil der Systemgewalt zu werden.

Auch die „NZZ am Sonntag“ vom 13. April 2025 widmet einem Interview mit Urbaniok eine ganze Seite. „Das Messer ist ein gutes Symbol für das Titelbild meines Buches“, ist Urbaniok überzeugt, „es soll eine unsichere Atmosphäre im öffentlichen Raum symbolisieren.“ Und: „Kann ich mich abends alleine am Bahnhof aufhalten? Werde ich angegriffen, wenn ich am Wochenende ausgehe?“ Übelste SVP-Manier des Angstschürens. Und wieder nimmt er das Wort „Ausländerkriminalität“ in den Mund, obwohl er schon längst wissen müsste, dass man dann konsequenterweise, wenn ein typischer Schweizer eine Steuerhinterziehung in Millionenhöhe begeht, auch von „Inländerkriminalität“ sprechen müsste, und ebenso von „Männerkriminalität“, wenn ein Mann seine eigene Frau umbringt. Aber nein, er bleibt unbeirrt dabei: „Wenn Sie mich fragen, ob wir ein Problem mit Ausländerkriminalität haben, dann muss ich sagen: Ja, eindeutig. Angehörige von gewissen Ländern werden deutlich häufiger kriminell als Schweizer.“ Urbaniok scheint extrem lernresistent zu sein und keine einzige der zahlreichen Studien zur Kenntnis genommen zu haben, die Kriminalität nicht mit Nationalität, sondern mit den sozialen Bedingungen erklären. Ebenso wenig scheint er zu wissen, dass in England die Anzahl von Rentnern, welche Ladendiebstähle begehen, in den letzten zwei bis drei Jahren explosionsartig zugenommen hat, nicht, weil es Engländer sind oder weil sie eine weisse Hautfarbe haben, sondern schlicht und einfach, weil immer mehr von ihnen in existenzbedrohende Armut abrutschen. Urbaniok hält wacker dagegen und verschliesst Augen und Ohren: „Die überproportionale Kriminalität hat viel mit kulturellen Prägungen zu tun.“ Das ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass von 35’000 in der Schweiz lebenden Afghaninnen und Afghanen jährlich etwa ein Dutzend schwerere Straftaten begehen. Afghanen und Afghaninnen haben nämlich, und das weiss ich aus eigener Erfahrung, ein sehr hochstehendes kulturelles und soziales Bewusstsein, von dem sich die meisten Schweizerinnen und Schweizer eine ganz gehörig dicke Scheibe abschneiden könnten. Doch immer und immer widerspricht sich Urbaniok, wenn man ihm sachliche Argumente entgegenhält, und sagt dann zum Beispiel: „Bei manchen Migrantengruppen kommen eben Morde dazu, die allein aus kulturellen Überzeugungen heraus entstehen. Natürlich sind das Extremfälle.“ Aha, also doch Extremfälle, obwohl er ja dauernd mit Zahlen um sich wirft, wie viele Male häufiger diese oder jene Nationalität krimineller sei als eine andere. Und was würde er wohl auf die Frage antworten, aus welchen „kulturellen Überzeugungen“ heraus einmal pro Woche ein Schweizer Mann seine Frau umbringt? Solche Fragen scheinen in Urbanioks Kopf offensichtlich keinen Platz zu haben, ganz im Gegenteil: „Ich verstehe nicht, dass die Nationalität keine Rolle spielt bei der Frage, wen wir ins Land lassen. Die Kriminalitätsquote sollte zum Beispiel bei der Beurteilung von Asylgesuchen eine Rolle spielen. Aus Ländern mit hohen Kriminalitätsquoten sollten wir weniger Menschen aufnehmen.“ Unglaublich, denn würde man diesen Vorschlag tatsächlich umsetzen, hätte dies ja zur Folge, dass man dann zum Beispiel auch Frauen aus Afghanistan – das in Urbanioks Liste zu den kriminellsten Ländern gehört – weniger Chancen gäbe, in der Schweiz ein Bleiberecht zu bekommen – lieber würde man sie dann in ihre Heimat zurückschicken und dort auspeitschen oder steinigen lassen, zum Beispiel, wenn sie Ehebruch begehen. „Die Schaffung eines absoluten Rechts auf Asyl ist falsch“, sagt einer, der dem Namen nach selber auch kein „waschechter“ Schweizer ist, dessen Vorfahren aber offensichtlich das Glück hatten, auf der Suche nach einem besseren Leben eine neue Heimat zu finden, wo nun ihr Sprössling solchen Unsinn von sich gibt und anderen Menschen die gleichen Chancen, von denen er selber profitiert hat, zu verwehren versucht, bloss weil er sie in seinen rassistischen Feindbildstrukturen auf die falsche Seite der Trennlinie zwischen den „Guten“ und den „Bösen“ befördert hat. Dies alles sagt ja nicht nur über Urbanioks Menschenbild Unsägliches aus, sondern vor allem auch über einen Zeitgeist, der es möglich macht, dass ein Mensch mit einer so lebensfeindlichen Ideologie der „bekannteste forensische Psychiater der Schweiz“ werden konnte, auf den sich nun zukünftig alle rassistisch geprägten politischen Kräfte der Schweiz nur allzu gerne berufen werden…

Der deutsche Wahlkampf: Seltsame Figuren, die irgendwann nur noch Karikaturen sein werden in den Geschichtsbüchern der Zukunft…

Seit Wochen tobt in Deutschland der Wahlkampf um die zukünftige Sitzverteilung im Bundestag. Wobei Kampf genau das richtige Wort ist. Vielleicht fällt es mir als Schweizer, der das alles als Zuschauer mit einer gewissen Distanz von aussen mitverfolgt, noch stärker auf als denen, die selber mittendrin sind. Was ich vor allem wahrnehme: Viel Hass, viel Aggressivität, gegenseitige Schuldzuweisungen aller Art, sture Rechthaberei, wenig Bereitschaft, anderen zuzuhören, Phrasen und Schlagwörter, mit denen man den politischen Gegner klein zu machen versucht. Nur selten Humor, fast nie ein verzeihendes Lächeln, kaum je die Bereitschaft, gegensätzliche Meinungen ernst zu nehmen, etwas daraus zu lernen oder gar eigene Fehler einzugestehen.

Es kommt mir vor wie Mäuse in einem zu engen Käfig. Man kennt das von Experimenten: Ist zu wenig Platz vorhanden, nimmt die Aggressivität zwischen den einzelnen Tieren immer mehr zu, und jede Zunahme von Aggressivität erzeugt wiederum ein noch höheres Mass an Aggressivität. Wobei es in diesem Wahlkampf nicht, wie im Fall der Mäuseexperimente, um die Anzahl der Quadratmeter oder Quadratzentimeter geht, welche dem Einzelnen zur Verfügung stehen, sondern um den geistigen Raum, in dem man sich bewegt.

Dieser geistige Raum, in dem sich die deutschen Bundestagswahlen zurzeit gerade bewegen, scheint ziemlich eng zu sein. Und so nimmt die Aggressivität der darin Agierenden ebenso laufend zu wie die Aggressivität der sich in einem zu engen Käfig befindlichen Mäuse. Dieser beschränkte geistige Raum nämlich ist letztlich nichts anderes als das kapitalistische Wirtschafts- und Denksystem. Ob es sich um den wachsenden Zeitdruck, Stress und Konkurrenzkampf am Arbeitsplatz handelt, die permanente Zunahme psychischer Erkrankungen, die soziale Ausgrenzung eines wachsenden Teils der Bevölkerung, die immer tiefer werdende Kluft zwischen Arm und Reich, die Ängste vor „Überfremdung“ und Bedrohung eigener kultureller Werte, den Klimawandel oder die sich insbesondere bei jungen Menschen immer weiter ausbreitende Resignation und Ohnmacht in Bezug nicht nur auf die individuelle, sondern auch auf die Zukunft der gesamten Menschheit, noch zusätzlich verstärkt durch die Angst vor einem drohenden dritten Weltkrieg – alle diese und beliebig viele weitere Missstände und Fehlentwicklungen , unter denen viel zu viele und immer mehr Menschen nicht nur in Deutschland, sondern weltweit leiden, lassen sich, ohne dass es hierfür irgendwelcher aufwendiger Analysen oder Studien bedürfte, unmittelbar auf das herrschende Machtsystem eines globalisierten Kapitalismus zurückführen, das beinahe ausschliesslich auf unbeschränkte Profitmaximierung und nicht enden wollende Bereicherung und Privilegierung einzelner Bevölkerungsgruppen auf Kosten anderer ausgerichtet ist. Kein Wunder, äussern sich in Umfragen, in Deutschland ebenso wie in anderen Ländern, regelmässig eine Mehrheit der Befragten dahingehend, dass der Kapitalismus insgesamt mehr Schaden als Nutzen anrichte.

Doch statt dass sich Politikerinnen und Politiker über alle Grenzen hinweg zusammensetzen und endlich darüber nachzudenken beginnen, wie denn eine Alternative zum Kapitalismus aussehen könnte und wie sich eine solche verwirklichen liesse, klammern sie sich unerbittlich am eingeschlagenen Irrweg fest. Radikal antikapitalistisches Denken findet höchstens noch in ein paar winzigen Nischen „Ewiggestriger“ statt und wird von den Mächtigen in aller Regel schon nach zaghaftestem kurzen Aufblitzen unmittelbar ins Reich des Bösen und der ewigen Finsternis verbannt. Als hätte das Denken in Alternativen zu jenem Zeitpunkt endgültig aufgehört, als der amerikanische Politologe Francis Fukuyama im Jahre 1989, berauscht vom scheinbar endgültigen Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus, verkündete, nun sei die Menschheit am „Ende ihrer Geschichte“ angelangt. Und nicht einmal in Deutschland wurde diese Behauptung Fukuyamas in den vergangenen 35 Jahren jemals ernsthaft in Frage gestellt, als hätte es in diesem Land nie einen Georg Friedrich Hegel gegeben, der schon vor über 200 Jahren in seiner wegweisenden Lehre der Dialektik genau das Gegenteil postulierte, nämlich, dass die Geschichte nie am Ende sei, sondern sich, ausgehend von Thesen und ihnen widersprechenden Antithesen, zu stets wieder neuen Synthesen weiterentwickeln kann. Es wäre im Jahre 1989 wohl um vieles zukunftsträchtiger gewesen, nicht auf Fukuyama zu hören, sondern auf eben diesen Georg Friedrich Hegel, um das kapitalistische Primat individueller Selbstverwirklichung und das sozialistische Primat sozialer Gerechtigkeit nicht gegeneinander auszuspielen und den Sieg des Ersteren gegen das Zweite zu feiern, sondern aus diesen beiden Ansätzen im Sinne einer Synthese etwas Neues, Drittes, Besseres zu schaffen.

Nun gibt es aber nebst dem Stillstand alternativen Denkens und der Absage an die Dialektik wohl auch noch einen weit handfesteren Grund dafür, dass sich die bestehenden politischen Parteien nicht aus dem kapitalistischen Denksystem zu lösen vermögen bzw. dies auch gar nicht wirklich wollen. Denn sie selber gehören ja in der kapitalistischen Klassengesellschaft zu 99 Prozent zu den Privilegierten, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, und haben deshalb auch kein echtes Interesse an einer grundsätzlichen Überwindung eines Machtsystems, das ihnen selber so viele Vorteile verschafft. Und so verlaufen die tatsächlich entscheidenden Konfliktlinien eben nicht zwischen den einzelnen politischen Parteien, sondern vielmehr zwischen den einzelnen Schichten der kapitalistischen Klassengesellschaft von ganz oben im Paradies der Reichsten bis ganz unten in der Hölle der Ärmsten und am meisten Ausgebeuteten. Tiefgreifende politische Veränderungen können daher nur von aussen oder von unten kommen, nicht aus dem Inneren des bestehenden Politsystems.

Einmal mehr ist auch der gegenwärtige, von Hass und Schuldzuweisungen geprägte deutsche Wahlkampf ein Paradebeispiel dafür, wie von den tatsächlich lebensbedrohenden Problemen, welche der Kapitalismus Tag für Tag verursacht, abgelenkt wird, indem man sich am untersten Rand dieses Machtsystems gezielt einzelne individuelle Sündenböcke aussucht, auf denen dann alle, gegenseitig sich anstachelnd und miteinander wetteifernd, bis zum Gehtnichtmehr herumhacken können. Da das „Böse“ ja nicht in den Grundprinzipien der herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung liegen darf, muss es demzufolge im Wesen oder in der Herkunft von ganz besonders „bösen“ Individuen liegen, die, wie man ihnen unterstellt, nichts anderes im Schilde führen, als den angeblich so ehrlich erschaffenen Wohlstand ihres „Gastlandes“ zu missbrauchen, zu gefährden oder gar zu zerstören: Die typische Ablenkung von der Systemgewalt auf die Individualgewalt, um die Existenz des herrschenden Machtsystems nicht zu gefährden, wie das auch schon zur Zeit der Hexenverfolgungen oder anderer Progrome so hervorragend funktionierte. Denn, wie schon Karl Marx sagte: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“

Ein einzelner Afghane oder Syrier, der eine Mordtat begeht, wird über Tage und Wochen zum fast einzigen Thema sämtlicher Zeitungsartikel, TV-Nachrichten, Talkshows und öffentlichen Debatten emporstilisiert, während allein in Deutschland gleichzeitig durchschnittlich jeden Tag eine Frau von ihrem eigenen Mann umgebracht wird, jeden Tag rund 50 unschuldige palästinensische Kinder von den Machthabern eines Staats getötet werden, mit dem man eng befreundet ist und dem man sogar in grossem Stil Waffen zum Töten dieser Kinder liefert, und jeden Tag weltweit rund 15’000 Kinder unter fünf Jahren sterben, weil sie nicht genug zu essen haben, und zwar nicht etwa deshalb, weil insgesamt zu wenig Nahrungsmittel vorhanden wären, sondern aus dem einzigen und alleinigen Grund, dass im globalisierten Kapitalismus – der angeblich einzig möglichen und besten Wirtschaftsweise aller Zeiten – die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo die multinationalen Nahrungsmittelkonzerne damit am meisten Geld verdienen können. Doch Meldungen und Nachrichten dieser Art sucht man in den allermeisten Medien vergebens, und erst recht nicht in den Verlautbarungen all jener Politikerinnen und Politiker, die jetzt gerade im Wahlkampf stehen. Wie man auch nie etwas davon hört, dass auf jeden Flüchtling, der eine Straftat begeht, etwa zehntausend andere kommen, die sich noch nie auch nur des geringsten Vergehens schuldig gemacht haben. Und man auch nie etwas davon hört, dass die vielbeklagte Migration aus dem Süden in den Norden nichts anderes ist als die zwangsläufige Folge von 500 Jahren kolonialer Ausbeutung, welche die Voraussetzung dafür war, dass die Länder des Nordens trotz weitgehenden Mangels an Rohstoffen und Bodenschätzen überhaupt so reich werden konnten, wie sie heute sind, Reichtum also, der letztlich nur entstehen konnte aus der Ausbeutung, Beraubung, Plünderung, Fremdbestimmung und Verelendung des Südens. Was nichts anderes bedeutet, als dass Menschen, die aus dem Süden in den Norden fliehen, nichts anderes versuchen, als sich einen winzigen Teil dessen, was ihnen und ihren Vorfahren über Jahrhunderte gestohlen wurde, wieder zurückzuholen.

Diese systematische Täter-Opfer-Umkehr, das geradezu hysterische Herumhacken auf den Schwächsten, hat mittlerweile schon fast dermassen pseudoreligiöse, wahnhafte Dimensionen angenommen, dass selbst eine durchaus intelligente und kritische Politikerin wie Sahra Wagenknecht das „Migrationsproblem“ an die oberste Stelle ihrer politischen Agenda gesetzt hat, weil sie genau weiss, dass sie sonst im gegenseitigen Macht- und Konkurrenzkampf mit den anderen Parteien kläglich untergehen würde. Erfolgreich ist heute offensichtlich nur noch, wer die dicksten Muskeln zeigt, gnadenlos auf den Allerschwächsten herumhackt und die eigentlichen Ursachen aller wirklich grossen Probleme systematisch verschweigt und von ihnen ablenkt. Hass als politisches Programm.

Luisa Neubauer spricht in Bezug auf den Klimawandel von „Kipppunkten“, kürzesten Zeitfenstern, in denen Dinge geschehen können, die sich definitiv nie mehr rückgängig machen lassen werden. Auch die Schwelle zu einem dritten, alles vernichtenden Weltkrieg als letzte, perverseste Konsequenz kapitalistisch-patriarchaler Weltherrschaft könnte ein solcher Kipppunkt sein.

Aber könnte es nicht auch Kipppunkte in die umgekehrte Richtung geben? Ist nicht denkbar, dass der Hass, den so viele sich heute an der Macht Befindliche um sich herum verbreiten, doch noch eines Tages ins Gegenteil kippen könnte? So etwas wie Menschenliebe scheint aus der heutigen Politik nahezu gänzlich ausgelöscht worden zu sein. Aber das heisst doch nicht, dass sie sich deshalb in nichts aufgelöst hat. Irgendwo anders staut sie sich doch gewiss wieder auf, wie Wasser im See hinter einer Staumauer, wie Blumen, die aus den Ruinen zerstörter Städte wieder neu herauswachsen, wie ein jedes Kind, das voller Hoffnung und Sehnsucht nach einer Welt voller Frieden, Gerechtigkeit und einem Leben voller Glück und voller Lachen neu geboren wird. Irgendwann werden doch diese seltsamen Figuren, die heute noch das Weltgeschehen dominieren, für immer der Vergangenheit angehören müssen und nur noch Karikaturen sein in den Geschichtsbüchern der Zukunft, die in den Händen neuer Generationen, die das alles fast nicht mehr glauben können werden, die Runde machen werden. Ja, so utopisch es klingen mag, aber die Liebe ist der einzige Schlüssel, der die althergebrachten Denkmuster, die schon viel zu viel Schaden angerichtet haben, aufzubrechen und den Blick in eine neue, von Grund auf andere Zukunft zu öffnen vermag. Nicht die am meisten von Hass, Arroganz und Rechthaberei Besessenen werden in dieser neuen Zeit die verantwortungsvollsten Posten in der Gesellschaft einnehmen, sondern die Liebevollsten, Zärtlichsten, Dünnhäutigsten, Empfindsamsten. Die, welche sich selber so stark lieben, dass sie auch jeden anderen Menschen voll und ganz lieben, in allem zuallererst das Gute sehen, auch noch das „Fremdeste“ in ihr Herz hereinlassen, auch noch mit den „Verrücktesten“ das Gespräch suchen und die auch selber erst dann wirklich ruhig schlafen können, wenn auch alle anderen Menschen auf dieser Welt frei von Hunger, Armut, Ausbeutung, Verfolgung und Kriegen ebenso ruhig schlafen können…

17. Montagsgespräch vom 10. Februar 2025: Soll TikTok verboten werden?

Dieser Artikel wurde von Laura Alilovic, freier Mitarbeitern der Lokalzeitung „W&O“, verfasst.

Mitglieder des Buchser Jugendrats diskutierten mit weiteren Interessierten über TikTok. In Australien wurde die Nutzung der Internetplattform für unter 16-Jährige verboten, in den USA drohte zu Beginn dieses Jahres ebenfalls ein TikTok-Verbot. Auch in der Schweiz sprechen sich gemäss einer Umfrage 78 Prozent der Bevölkerung für ein Verbot von TikTok für Kinder aus. Doch ist die Plattform tatsächlich so gefährlich? Was meinen die Jugendlichen selbst dazu?

Vier der sechs anwesenden Jugendratsmitglieder nutzen TikTok aktiv. Sie berichteten darüber, wie sie durch die App Englisch gelernt, Freunde gefunden und neue Interessen entdeckt haben. TikTok sei auch der Ort, an dem sie sich am meisten über das Weltgeschehen informieren. «Durch die Kurzvideos bekommt man sehr schnell sehr viele Informationen», erklärte Fadri Michel. Auch seien die Informationen oft vielseitiger als in anderen Medien. «Wenn es Social Media nicht gegeben hätte, hätte ich kaum mitgekriegt, was in Palästina passiert, da in unseren Medien sehr wenig darüber berichtet wird», so Mohammed Bijo. Doch nicht für alle überwiegen die Vorteile. «Ich benutze kein TikTok mehr, denn es macht zu stark süchtig», erzählte Amy Wood. Ausserdem bemerkte sie, wie schädlich das Ansehen von Kurzvideos sich auf die Aufmerksamkeitsspanne auswirke. Es falle einem dadurch viel schwerer, beispielsweise in längeren Konversationen aufmerksam zu bleiben. Auch Silas Gall verwendet TikTok nicht. Doch wenn er ein Business hätte, würde er die Plattform durchaus für Marketing nutzen. Zu diesem Zweck, gestand er ein, eigne sich TikTok ausgezeichnet.

Kurzvideos, von 10 Sekunden bis zu wenigen Minuten, seien laut zahlreichen Studien besonders schädigend für das Gehirn. Der Konsum führe zu Konzentrations- und Verhaltensveränderungen. Das Gehirn werde durch den schnellen Informationsfluss komplett überfordert, was sich insbesondere bei Jugendlichen, die sich noch in einer psychischen Entwicklungsphase befänden, bedeutende Auswirkungen habe. Zudem hätte das Format sehr hohes Suchtpotenzial. «Viele Fachleute forschen tagtäglich daran, wie man Nutzer süchtiger machen kann. Und die klugen Köpfe, die sich das ausdenken, schicken ihre Kinder währenddessen auf Schulen, wo man nicht einmal Handys benutzen darf», mahnt einer der älteren Teilnehmer. Der Algorithmus sei so ausgelegt, dass er den Nutzern genau auf sie zugeschnittene Inhalte präsentiere, um so möglichst lange ihre Aufmerksamkeit zu behalten. Doch das Suchtpotenzial sei nicht die einzige Gefahr, die vom TikTok-Algorithmus ausgehe, findet Silas Gall: «Durch den Algorithmus entstehen auch gefährliche politische Bubbles.» Er ist nicht der Einzige, der sich über diese politischen «Gesinnungsblasen» sorgt. Man verliere dadurch auf lange Zeit die Fähigkeit, Dinge zu hinterfragen und sich mit Andersdenkenden auszutauschen. Deshalb sei es wichtig, nicht nur TikTok, sondern diverse Medien zur Meinungsbildung zu verwenden.

Ein TikTok-Verbot für unter 16-Jährige hielten dennoch die meisten Diskussionsteilnehmer für keine gute Option. «Wenn man es verbietet, gehen die Leute einfach auf eine andere Plattform», so Mohammed Bijo. Silas Gall schlug alternativ ein allgemeines Kurzvideo-Verbot vor. Die Teilnehmenden waren sich jedoch einig, ein TikTok-Verbot wäre schwierig umzusetzen, leicht zu umgehen und ein grober staatlicher Eingriff. Stattdessen sei ein Appell an die Eltern der Jugendlichen nötig. Die Eltern seien dafür verantwortlich, ihre Kinder zu schützen, zu begleiten und ihnen beizubringen, kritisch zu denken. Dazu brauche es aber zuerst Elternbildung. Durch Weiterbildung solle die Gesellschaft auf neue Herausforderungen vorbereitet und aufgeklärt werden, bevor zu Verboten gegriffen wird.

Von Benjamin Netanyahu über Donald Trump und Leon de Winter bis zur Sonntagszeitung vom 9. Februar 2025: Man muss es mindestens zwei Mal lesen, um es zu glauben…

Man muss es zwei Mal lesen, um es zu glauben: Ein israelischer Ministerpräsident lässt Zehntausende Kinder, Frauen und Männer töten und ihre Heimat in Schutt und Asche legen. Ein soeben gewählter US-Präsident hat die glorreiche Idee, alle, welches dieses Massaker überlebt haben, in andere Länder fortzuschaffen und auf den Ruinen der zerstörten Häuser eine Riviera mit Badestränden für Reiche aus aller Welt zu bauen. Ein niederländischer Erfolgsautor findet das eine „tolle Idee“. Und die Sonntagszeitung stellt diesem Autor zwei ganze Seiten zur Verfügung, um seine Begeisterung kundzutun.

Für diesen Autor namens Leo de Winter ist Donald Trump ein „Dichter“, der sogar „neue Wörter kreiert“, in dessen „ganz grossen Träumen“ es „keine Grenzen“ gibt, der „höchst intelligent“ ist und der „mit seinem Rhythmus die meisten seiner Kritiker einfach überfordert“. Auf den Ruinen der zerstörten palästinensischen Wohnhäuser die „besten, schönsten und grössten Hotels, die es je auf der Welt gegeben hat“, zu bauen, findet de Winter einen „schönen Gedanken“. Und dem Vorschlag Trumps, die verbliebenen Palästinenserinnen und Palästinenser nach Indonesien zu verfrachten, wo es noch „Tausende sehr schöne,  unbewohnte Inseln“ gäbe, würde er sich ebenfalls anschliessen.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein solcher Artikel vor fünf Jahren hätte geschrieben werden können, zu gross wäre die Empörung der Leserschaft gewesen. Inzwischen scheint der Wahnsinn offensichtlich zur Normalität geworden zu sein.

Nicht verschiedene Arten von Liebe

In der zukünftigen Welt gibt es nicht verschiedene Arten von Liebe. Auch der Grossvater mit seiner Enkelin ist ein Liebespaar. Auch der König und die Prinzessin. Auch der Baum und der Vogel, der auf ihm seine Lieder singt. Auch das Meer und die Korallen. Auch die Spinne und das Netz, das sie baut. Auch der Himmel und die Erde. Während aber der Mann und die Frau, selbst wenn sie verheiratet sind und sich ewige Liebe geschworen haben, alles andere sein können als ein Liebespaar.

300 Reichste um 38,5 Milliarden Franken reicher geworden und immer mehr Obdachlose im gleichen Land: Kein Zufall…

Immer mehr Menschen in der Schweiz sind von Obdachlosigkeit betroffen. Gleichzeitig sind die 300 Reichsten innerhalb eines Jahrs um 38,5 Milliarden Franken reicher geworden. Auf den ersten Blick hat das nichts miteinander zu tun. Tatsächlich aber findet unsichtbar eine permanente Umverteilung statt, von denen, die viel zu viel haben, zu denen, für die immer weniger übrig bleibt. So sind Tiefstlöhne und sich überpurzelnde Konzerngewinne die beiden unauflöslich miteinander verbundenen Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze. Das Gleiche gilt auch bei der „Gesundschrumpfung“ von Betrieben: Bedeutet das für die einen Erwerbslosigkeit und Armut, so bedeutet es für die anderen höhere Profite, da sie nun mit geringeren Lohnkosten eine höhere Rendite erreichen. Solche Zusammenhänge werden kaum je diskutiert. Obwohl es evident ist: Geld fällt nicht vom Himmel, es wächst auch nicht auf Bäumen. Wenn es sich am einen Ort so gewaltig auftürmt, fehlt es an anderen Orten umso schmerzlicher. „Wärst du nicht reich“, sagt der arme zum reichen Mann in einer bekannten Parabel von Bertolt Brecht, „dann wäre ich nicht arm.“ Deshalb lässt sich dieses Problem nicht durch mehr Sozialprogramme oder Notschlafstellen lösen, sondern nur durch eine radikale Umgestaltung des Wirtschaftssystems. Es braucht nicht Almosen, sondern Gerechtigkeit. Man muss nicht die Armut bekämpfen, sondern den Reichtum. Wenn der übermässige Reichtum verschwindet, dann verschwindet die Armut ganz von selber.