Archiv des Autors: Peter Sutter

Eine Weihnachtsgeschichte im Jahre 2024 aus einem der reichsten Länder der Welt…

Eigentlich war es die Idee von Jalil. Jalil ist der neunjährige Sohn von Esma und Malek, die vor zehn Jahren wegen des Bürgerkriegs aus Syrien fliehen mussten und seither in der Schweiz leben. Meistens etwa anfangs Dezember, wenn die Tage immer kürzer werden und der erste Schnee fällt, erzählen Esma und Malek ihrem Sohn, dass damals, bevor der Krieg ausbrach, sowohl die islamischen, wie auch die jüdischen und christlichen Feste immer gemeinsam gefeiert wurden, zusammen mit allen Nachbarn im Quartier, wo Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Sprache, unterschiedlicher Kultur und unterschiedlicher Religionen Seite an Seite friedlich zusammenlebten.

Das wäre doch etwas, sagte Jalil eines Morgens, als er zum ersten Mal in diesem Winter, so Ende November, an einem der Nachbarhäuser die erste Lichterkette sah. Könnten wir nicht auch hier, in der Schweiz, miteinander Weihnachten feiern, Christen und Moslems und vielleicht auch andere Religionen und vielleicht auch solche, die an überhaupt keinen Gott glauben? Esma und Malek waren zwar zunächst etwas skeptisch, denn bisher hatten sie hier in der Schweiz die meisten ihrer Nachbarn als ziemlich verschlossen erlebt, nur selten begegnete ihnen ein freundliches Lächeln, selten ein Gruss, viel öfter abwehrende Blicke, vor allem wegen des Kopftuchs von Esma, das die meisten sehr zu stören schien.

Doch Esma und Malek wollten ihrem Sohn nicht gleich zum Vornherein die ganze Freude verderben. Und ja, Jalil hatte auch schon ziemlich genaue Vorstellungen, wie man die Idee umsetzen könnte. Es lebten nämlich in dem Mehrfamilienhaus, wo sie wohnten, fünf Menschen ganz alleine in ihren Wohnungen, und weitere drei im Nachbarshaus. Man könnte doch, so stellte er sich das vor, diese acht Menschen einladen und mit ihnen gemeinsam Weihnachten feiern. Alle anderen hatten ja ihre Familien und ihre Verwandten, aber diese acht müssten dann an diesem Abend nicht, während andere fröhlich zusammen sein könnten, alleine und traurig in ihren Wohnungen sitzen. Nach und nach fanden auch Esma und Malek immer mehr Gefallen an der Idee. Es könnte ja auch, so dachten sie, eine Chance sein, sich besser kennenzulernen, mindestens diese acht einsamen Menschen, und nächstes Jahr vielleicht sogar alle anderen auch und in zwei oder drei Jahren vielleicht das ganze Dorf, wie damals in ihrer Heimatstadt.

Und dann ging es los. Jalil zeichnete schöne, bunte Einladungskarten mit Sternchen und dem Jesuskind, mit Kamelen, einer Moschee und dem arabischen Halbmond, alles zusammen im gleichen Bild. Esma schrieb den Text für die Einladung. Und Malek warf die Karten zwei Wochen vor Weihnachten in die acht Briefkästen in ihrem und dem Nachbarhaus. Ein kleiner Weihnachtsbaum aus Plastik wurde gekauft, mehr lag nicht drin, doch Jalil faltete aus verschiedenfarbigem Papier so viele bunte Vögel und hängte diese an den Baum, dass man ihn selber vor lauter Papiervögeln am Ende fast nicht mehr sehen konnte. Fürs Essen aber wurde an nichts gespart. Ihre eigenen Mahlzeiten hatten Esma und Malek eine Woche lang auf das absolute Minimum beschränkt, am Weihnachtsabend aber durfte es an nichts fehlen, die Gäste sollten mit einem wahren Festmahl beglückt werden wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

Jetzt ist es sieben Uhr. Der Zeitpunkt, den Esma auf die Einladungskarten geschrieben hatte. Alles ist bereit. Das Essen füllt den Tisch bis an den Rand. Ein paar brennende Kerzen verleihen dem winzigen Essraum, in den sich bald schon elf Leute hineinquetschen werden, eine feierliche Atmosphäre. Alle warten gespannt…

Sieben Uhr dreissig. Ausser mir ist noch niemand gekommen. Malek und Esma haben das Essen noch einmal in den Ofen geschoben, damit es nicht kalt wird. Ihre Gesichter und das von Jalil werden länger und länger. Als um acht Uhr immer noch keiner der anderen sieben Eingeladenen da ist, ruft Esma ihre beste Freundin an, ebenfalls eine Flüchtlingsfrau aus Syrien, die mit ihrem Mann und zwei Töchtern am anderen Ende des Dorfes wohnt. Und während eine Viertelstunde später die vier Erwachsenen aus Syrien, ihre drei Kinder und ich rund um den Tisch sitzen, auf dem jetzt alle Köstlichen wieder bereit stehen, fehlt von allen anderen Eingeladenen immer noch jede Spur…

In diesem Augenblick fährt vor dem Haus auf der gegenüberliegenden Seite der Strasse ein grosses weisses Auto vor, lachende Menschen steigen aus, tragen stapelweise aufeinander geschichtete Geschenkpakete, riesige Schüsseln mit Salaten und Schokoladencrème die Treppe hoch und verschwinden nach und nach in dem mittlerweile hell erleuchteten Haus, von dem man munkelt, dass hier die reichste Familie des Dorfes wohnt.

Den dort mit der schwarzen Kappe, platzt es in diesem Augenblick aus Malek heraus, den kenne ich doch, das ist doch der, welcher…

Und jetzt brechen alle diese Geschichten, wie wenn ein Damm geborsten wäre, aus Esma, Malek und ihren Freunden heraus, Geschichten, die sie entweder selber erlebt haben oder die ihnen von anderen syrischen Flüchtlingen erzählt worden sind, die inzwischen schon längst in eine andere Gemeinde umgezogen sind, weil sie den ständigen Druck, die allumfassenden Kontrollen, permanente Bevormundung, Fremdbestimmung und das Gefühl, als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden, einfach nicht mehr ausgehalten hatten. Weggezogen in irgendeine andere Gemeinde, wo es vielleicht ein bisschen weniger schlimm ist. So hatten sie zum zweiten Mal die Flucht ergriffen. Dieses Mal nicht vor Panzern und Raketen, sondern vor Gemeindebeamten, Lehrerinnen, Gemeinderäten, Schulbehörden und den ganz gewöhnlichen Einwohnerinnen und Einwohnern einer ganz normalen, durchschnittlichen Gemeinde in einem der reichsten Länder der Welt. Sprachlos höre ich zu. Und spüre immer mehr, wie wichtig es ihnen ist, diese Geschichten einem Schweizer erzählen zu können, der ihnen einfach aufmerksam zuhört, ohne schon gleich mit Abwehr und Misstrauen zu reagieren.

Alle diese Geschichten. Die Geschichte eines syrischen Vaters, der wegen eines Streits seines Sohnes mit einem gleichaltrigen Kind auf dem Pausenplatz den Vater dieses Kindes aufsuchte, um eine weitere Eskalation des Konflikts zu vermeiden, aber gar nicht erst zu Wort kam, sondern von diesem Vater sogleich beschimpft und ihm gedroht wurde, er würde sogleich die Polizei rufen, wenn sich der Syrier noch länger auf seinem Grundstück aufhalten würde. Die Geschichte einer syrischen Frau, die ihre in Finnland lebende Schwester, die sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte, und deren Familie für eine Woche zu sich einladen wollte, was ihr aber vom Sozialamt nicht erlaubt wurde, weil dieses befand, in der kleinen Wohnung wäre nicht genug Platz für neun Menschen, auch wenn es bloss für eine Woche wäre. Die Geschichte einer anderen syrischen Frau, die zu ihrem bisher einzigen Festtagskleid ein zweites hinzukaufen wollte, was ihr aber von der zuständigen Sozialbeamtin verweigert wurde mit der Begründung, eines müsste doch genügen – wo doch diese Festlichkeiten im kargen Leben einer Flüchtlingsfamilie die seltenen, wirklich ganz überragenden Gelegenheiten für Fröhlichkeit und Lebensfreude sind und sich doch auch keine einzige Schweizerin dabei stets nur in einem einzigen, immer gleichen Kleid präsentieren möchte. Die Geschichte einer weiteren Frau aus Syrien, die mehreren Kindern in ihrer Wohnung privaten Arabischunterricht erteilte, was bei einer Lehrerin der Volksschule so heftige Anschuldigungen auslöste, dass sie das Unterfangen schliesslich wieder aufgeben musste – die Lehrerin hatte ihr Vorgehen damit begründet, dass diese Kinder dadurch nicht mehr richtig Deutsch lernen würden, obwohl allgemein bekannt ist, dass eine Fremdsprache viel besser erlernt werden kann, wenn man seine eigene Muttersprache möglichst gut beherrscht. Die Geschichte von zwei Schülern einer sechsten Klasse, der eine ein Schweizer, der andere ein Syrier: Obwohl der Syrier in seinem Schlusszeugnis bessere Noten hatte als der Schweizer, wurde er der Realschule zugewiesen, der Schweizer aber der Sekundarschule, dies, weil sich seine Eltern erfolgreich gegen die Empfehlung des Klassenlehrers gewehrt hatten, während sich Flüchtlinge nicht nur in diesem, sondern auch in allen anderen Fällen, wo sie sich ungerecht behandelt fühlen, kaum je zu wehren oder aufzumucken wagen, weil sie stets zusätzliche Repressalien befürchten und die Gefahr, dass ihnen dies bei einem möglichen späteren Einbürgerungsverfahren zur Last gelegt werden könnte. Und schliesslich die Geschichte eines weiteren syrischen Oberstufenschülers, der wegen geringfügigen „Fehlverhaltens“ wie unerledigter Hausaufgaben oder zu lauten Sprechens während des Unterrichts aus der Schule geworfen wurde und drei Monate lang zu Hause bleiben musste, worauf dessen Eltern eines Tages wie ein Blitz aus heiterem Himmel von der Schulbehörde vorgeladen und ihnen mitgeteilt wurde, man hätte beschlossen, ihren Sohn in eine psychiatrische Klinik einzuweisen – ohne dass, was in solchen Fällen unerlässlich ist, ein medizinisches Gutachten vorlag und ohne dass, was ebenfalls unabdingbar ist, den Eltern das rechtliche Gehör gewährt wurde und sie den Entscheid nicht einmal in schriftlicher Form erhielten, was ebenfalls rechtlich zwingend wäre, damit ein Rekurs gegen den Entscheid ergriffen werden könnte. Nur weil der Vater eines ehemaligen Mitschülers des betroffenen Jugendlichen, ein Schweizer, von der Sache Wind bekam, sich einmischte und das missbräuchliche Vorgehen der Behörden auffliegen liess, konnte die Einweisung in eine Klinik rechtzeitig abgewendet und der Jugendliche wieder einer regelmässigen normalen Beschulung zugewiesen werden.

Ich bin tief betroffen. Einen solchen Weihnachtsabend habe ich noch nie erlebt. Ich werde das alles mitnehmen, sage ich, und noch heute in der Nacht eine Geschichte schreiben, eine Weihnachtsgeschichte aus dem Jahre 2024, aus einem der reichsten Länder der Welt.

Inzwischen sind die Kerzen schon fast zur Hälfte abgebrannt. Eigentlich wäre es ja viel schöner gewesen, man hätte einen gemütlichen Abend verbringen können. Aber das wortlose Fernbleiben der eingeladenen Gäste und die plötzlich wieder aufgebrochenen Erinnerungen an so viele Demütigungen von Menschen, die unter so leidvollen Bedingungen ihre ursprüngliche Heimat aufgeben mussten und trotz allen guten Willens dennoch bis heute immer noch keine echte neue Heimat finden konnten, waren einfach viel zu übermächtig.

Und auf einmal, weil ich ja der einzige Christ in der Runde bin, fragt mich Jalil, weshalb denn eigentlich Weihnachten gefeiert werde und was genau der Sinn davon sei. Ich erzähle ihm die Geschichte von Maria und Josef, die sich infolge einer vom römischen Kaiser Augustus angeordneten Volkszählung an den Heimatort von Josef begeben mussten, nach Bethlehem. Als sie in keiner Herberge Platz fanden, weil alles voll war, suchten sie in einem Stall Unterschlupf, wo ihr Kind zur Welt kam, ein ganz aussergewöhnlicher Mensch, wie sich später zeigen sollte. Viele nennen ihn „Sohn Gottes“, für andere ist er einfach ein überaus vorbildlicher Mensch, dessen Botschaft vom Frieden und von der Nächstenliebe unzählige Menschen elektrisierte und uns bis heute, über 2000 Jahre, immer noch tief berührt und gerade in einer so sehr von Hunger, Armut und Kriegen geplagten Welt aktueller ist denn je. Ja, erkläre ich Jalil, eigentlich ist Weihnachten das Fest der Nächstenliebe. Doch im gleichen Moment, da ich das Wort sage, wird mir gleichzeitig bewusst, wie schwer es mir gefallen ist, es über die Lippen zu bringen.

Später räumen Esma und Malek die übrig gebliebenen, während so vieler Stunden gekochten und gebackenen Köstlichkeiten wieder vom Tisch. Die Kerzen sind jetzt endgültig niedergebrannt und auch die anderen Gäste sind inzwischen wieder gegangen. Aus dem Haus auf der anderen Seite der Strasse tönt immer noch fröhliches Gelächter, fast ein wenig schmerzend. Jalil hat die Papiervögel vom kleinen Plastikbaum wieder abgenommen und fein säuberlich nebeneinander auf die Kommode gelegt. Ob man das Bäumchen wohl noch ein weiteres Mal brauchen wird? Als ich mich verabschiede und für alles bedanke, sagt Esma: „Ab heute gehörst du zu unserer Familie. Du brauchst dich nicht anzumelden, nicht vorher anzurufen, du musst nicht einmal an der Türe klopfen, du kommst einfach herein, jederzeit.“

Inzwischen hat sich die Nacht wieder in ihrer vollen Schwärze über das Dorf gelegt. Über dieses Dorf, wo alles in schweizerischer Perfektion und Gründlichkeit funktioniert, millimetergenau, im Sekundentakt, fehlerfrei auf jeden Punkt und jedes Komma gebracht. Wo wirklich alles funktioniert. Alles ausser die Liebe.

Anmerkung 1: Die Rahmenhandlung dieses Textes ist erfunden, beruht aber auf tatsächlichen Begebenheiten und Erfahrungen von syrischen Flüchtlingen im Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung einer schweizerischen Kleinstadt. Sie könnte sich zweifellos genau so ereignet haben. Die im Text erwähnten Beispiele von Geschichten, welche syrische Flüchtlinge in dieser Stadt erlebt haben (inkl. Fast-Einweisung eines Jugendlichen in eine psychiatrische Klinik), sind aber alle 1:1 authentisch.

Anmerkung 2: Als Esma den Artikel gelesen hatte, schrieb sie mir, es tue ihr so leid, dass ich an diesem Tag so traurig gewesen sei. Was für wunderbare Menschen. Haben so viel Leid erfahren und bedauern dann sogar noch, dass mich das traurig macht und ich nicht so richtig unbeschwert und fröhlich Weihnachten „feiern“ konnte.

Weihnachtsgedanken

Die 82jährige Esther Schönmann kümmert sich, wie der „Tagesanzeiger“ am 22. Dezember 2024 berichtet, seit ihrer Pensionierung vor 20 Jahren um Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. In der ganzen Region sammelt die vitale Frau übrig gebliebene Lebensmittel ein und verteilt sie an Armutsbetroffene. 2015 wurde sie für ihren aussergewöhnlichen Einsatz sogar von der Radio-SRF-Hörerschaft zur „Heldin des Alltags“ gewählt und Kurt Aeschbacher nannte sie in seiner Talkshow die „Mutter Theresa von Langenthal“.

Schön, gibt es noch Menschen, die sich um andere kümmern, denen es weniger gut geht, und die übrig gebliebene Lebensmittel sammeln, um diese an Armutsbetroffene zu verteilen, damit diese an Weihnachten nicht vor einem leeren Teller sitzen müssen.

Aber so ehrenwert solches karitatives Engagement auch ist, so sehr lenkt es auch ab von der eigentlichen Grundfrage, weshalb denn überhaupt so viele Menschen in diesem Land so arm sind. Während die 300 Reichsten des gleichen Landes innerhalb von nur einem Jahr wieder einmal um insgesamt 38,5 Milliarden Franken reicher geworden sind, ohne dass sie dafür auch nur den kleinen Finger hätten krümmen müssen.

Aber das ist schon die Antwort auf die Frage. Denn Armut ist kein dummer Zufall und schon gar nicht, obwohl das immer wieder hartnäckig behauptet wird, selbstverschuldet. Armut ist die ganz logische Folge eines Wirtschaftssystems, in dem man durch den Besitz von Aktien, durch Erbschaften, den Besitz von Immobilien oder durch eine möglichst hohe Position auf der Karriereleiter viel leichter und schneller reich werden kann als allein durch harte Arbeit. Das Geld, das in den Taschen der Armen fehlt, liegt in den Taschen der Reichen. „Wärst du nicht reich“, sagt der arme Mann zum reichen in einer Parabel von Bertolt Brecht, „wäre ich nicht arm.“ Eigentlich müssten sich nicht die Armen ihrer Armut schämen, sondern die Reichen ihres Reichtums.

Wäre es nicht an der Zeit, gerade an Weihnachten, dem Fest der „Nächstenliebe“, auch mal über solche Fragen nachzudenken? Damit Armut schon gar nicht erst entstehen müsste. Und die 82jährige Esther Schönmann endlich auch ihre Pensionierung in Ruhe geniessen könnte, statt Tag und Nacht bei eisigen Temperaturen übrig gebliebene Nahrungsmittel zusammensammeln müsste.

Das Rezept ist einfach: Nicht die Armut muss man bekämpfen, sondern den Reichtum. Wenn man den Reichtum bekämpft, dann verschwindet die Armut ganz von selber.

Syrien, 7. bis 20. Dezember 2024: „Wie wunderschön wäre es, wenn ich meinen Kindern ein sicheres und friedliches Syrien zeigen könnte!“

Bahira und Ahmad aus Syrien, die ihre Heimat im Jahre 2014 wegen des Bürgerkriegs verlassen mussten und seither in der Schweiz leben, sind ausser sich vor Freude über den Sturz des Assad-Regimes. Sie hätten zwar bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 ein gutes Leben gehabt, der Wohlstand sei ziemlich gerecht verteilt gewesen, die verschiedenen ethnischen und religiösen Minderheiten hätten friedlich zusammengelebt. Aber es sei eben zugleich eine brutale Diktatur gewesen, ohne Meinungsfreiheit. Regimekritiker seien gnadenlos verfolgt worden, lebenslange Inhaftierungen und Folterungen seien an der Tagesordnung gewesen. Und deshalb sind sie jetzt so glücklich, voller Optimismus und Hoffnung auf bessere Zeiten.

Diese besseren Zeiten wünschte man sich ihnen und dem ganzen syrischen Volk noch so sehr. Werfen wir aber einen näheren Blick auf die sich überstürzenden Ereignisse der letzten Tage, so müssen unweigerlich eine Unmenge an Zweifeln und offenen Fragen aufkommen…

Anhand von Zeitungsausschnitten seit dem 7. Dezember 2024 im Folgenden der Versuch, einigen dieser Zweifel und offenen Fragen auf die Spur zu kommen…

Tagblatt, 7. Dezember 2024: Seit einer Woche befindet sich ein von der syrischen Islamistengruppe Haiat-Tahrir al-Scham (HTS) angeführtes Rebellenbündnis auf dem Vormarsch. Nach dem Fall der Millionenmetropole Aleppo nahmen die Brigaden der rund 25’000 Mann starken Extremistenvereinigung neben mehr als 200 Dörfern und Positionen zuletzt die Stadt Hama ein. Das Ziel der Rebellenallianz ist nach Worten ihres Anführers Abu Mohammed al-Julani der Sturz von Syriens Machthaber Baschar al-Assad. Der 42Jährige Al-Julani hat sich vor acht Jahren von der im Irak entstandenen Terrororganisation Al Kaida abgespaltet, um sich in Syrien auf den Kampf gegen das Assad-Regime zu konzentrieren. Seither versucht er, seiner Gruppe einen moderaten Anstrich zu verpassen. Der aus Syrien stammende amerikanische Terrorexperte Hassan Hassan charakterisiert ihn aber anders: „Al-Julani lässt sich am besten als ein Syrer beschreiben, der aus demselben Holz geschnitzt ist wie die Assads: brutal und zynisch, mit der Tendenz, immer als Sieger hervorzugehen.“ Al-Julani sei es gelungen, die Führer der beiden grössten Terrororganisationen der Welt zu überlisten. Sein Ziel sei es, die HTS zu einem toleranten Äquivalent der Taliban aufzubauen. Zehntausende Syrierinnen und Syrer, vor allem Angehörige der alawitischen Minderheit, sowie chaldäische und armenische Christen sind bereits aus der Region Aleppo geflohen, weil sie befürchten, dass Al-Julani ein Kalifat nach dem Vorbild der Taliban aufbauen wird, sobald er seine Macht konsolidiert hat. Hauptgrund für den Zusammenbruch des Assad-Regimes in weiten Teilen Nordsyriens ist der taktische Sieg der israelischen Armee über die Hisbollah im Libanon. Um die proiranischen Milizionäre entscheidend zu schwächen, hatte die israelische Luftwaffe auch in Syrien zahlreiche Stellungen der Hisbollah, den iranischen Revolutionsgarden sowie der Assad-Truppen massiv bombardiert. Von dem so entstandenen militärischen Vakuum haben die Verbände der HTS zweifellos profitiert. Dass Russland gleichzeitig Truppen, Flugzeuge und Militärgerät aus Syrien abgezogen hat, spielt den Islamisten, die umfangreiche Militärhilfe aus der Türkei erhalten, ebenfalls in die Karten. Selbst die Ukraine rühmt sich, die HTS durch Lieferung von kriegserprobten Kampfdrohnen zu unterstützen.

Was hier als ein sich auf dem Vormarsch befindliches „Rebellenbündnis“ bezeichnet wird, ist in Tat und Wahrheit doch nichts anderes als ein Angriffskrieg gegen einen souveränen Staat, von der HTS Seite an Seite mit Israel und der Türkei geführt, zusätzlich sogar noch von der Ukraine unterstützt – die nichts unversucht lässt, Russland wo immer zu schwächen – und mit den USA als „Schirmherr“ im Hintergrund, vergleichbar mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, bloss mit dem Unterschied, dass Russland im März 2022 als Aggressor gegen den Westen an den Pranger gestellt wurde, während die HTS und ihre Verbündeten als Kämpfer für Freiheit und Demokratie von diesem gleichen Westen nun hochgejubelt werden. Was für eine abgrundtiefe Doppelmoral. Dass die USA die gleiche HTS, die jetzt diesen Krieg anführt, als „Terrororganisation“ eingestuft und auf dessen Anführer Al-Juani ein Kopfgeld von 10 Millionen Dollar ausgesetzt hat, scheint plötzlich keine Rolle mehr zu spielen, so etwas scheint einfach zum Spiel zu gehören. Wie auch zum Spiel zu gehören scheint, dass bereits Zehntausende von Menschen aus Angst vor einem drohenden Kalifat aus der Region Aleppo geflohen sind. Alles offenbar nicht so schlimm und keiner grösseren Schlagzeile wert, denn die würde das Bild von dem heldenhaften Aufstand eines gebeutelten Volks gegen seinen brutalen Unterdrücker nur unnötig stören…

Tagesanzeiger, 7. Dezember 2024: Nach dem Vormarsch der HTS ist Assads Herrschaftsgebiet nur noch ein Rumpfstaat. Seine Schwäche ermutigt auch andere Gegner, von denen es im Land viele gibt. Zum Beispiel den islamischen Staat (IS), der in der syrischen Wüste überlebt hat. Anders als in früheren Jahren fallen die Verbündeten des Diktators aus – er kann kaum noch auf Russland zählen, ebenso wenig auf den Iran und die Hisbollah. Das einflussreichste Land in Syrien ist nun die Türkei. Erdogan hat zwei Ziele: Das eine ist, dass syrische Geflüchtete aus der Türkei in ihr Land zurückkehren, denn wegen der mehr als drei Millionen Syrierinnen und Syrier in der Türkei steht Erdogan innenpolitisch unter Druck. Das zweite ist, dass Erdogan eine Lösung für den Konflikt mit den Kurden sucht. Er erhofft sich wohl, dass die syrischen Rebellen auch die kurdischen SDF-Verbände zurückdrängen, zusammen mit der Syrischen National Army (SNA), die unmittelbar auf die Befehle aus Ankara hört.

Der Kampf um die Vorherrschaft im entstehenden Machtvakuum ist in vollem Gange. Nichts kann dies mehr verdeutlichen als die Aussage des türkischen Präsidenten, er hoffe, dass der Marsch der Rebellen „bis Damaskus“ weitergehe…

Sonntagszeitung, 8. Dezember 2024: Aleppo war bis zum Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 eine christliche Hochburg. Rund 250’000 Christen lebten da, mehrheitlich arabisch sprechende und Armenier, aufgeteilt in elf verschiedene Konfessionen. Seither ergriffen die meisten von ihnen die Flucht, die christliche Bevölkerung schrumpfte auf zuletzt 20’000 Personen. Unter ihnen macht sich nun Panik breit. Viele befürchten, dass es mit ihrer jahrtausendealten Kultur endgültig zu Ende gehen könnte. Joel Veldcamp vom christlichen Hilfswerk CSI meint, die Machtübernahme durch die HTS müsse nicht unbedingt die Vertreibung oder den Tod von Christen bedeuten, in der Regel würden diese aber als „Ungläubige“ zu Bürgerinnen und Bürgern zweiter Klasse degradiert. Sie dürften dann vor Gericht nicht gegen Muslime aussagen, müssten mehr Steuern zahlen und dürften die Religion nicht mehr öffentlich leben.

Der im Westen so pauschal als „brutaler“ und „menschenverachtender“ Diktator dargestellte Bashir al-Assad war immerhin, was in der westlichen Berichterstattung beinahe völlig unterschlagen wird, Garant dafür, dass in seinem Land viele verschiedene Glaubensrichtungen zugelassen waren und deren Angehörige friedlich zusammenlebten, wie das Beispiel von Aleppo zeigt. Die grosse Massenflucht infolge religiöser Unterdrückung war nicht eine Folge von Assads Herrschaft, sondern eine Folge des Bürgerkriegs ab 2011. Joel Veldcamp vom CSI weist deshalb auch darauf hin, dass Diktatoren für religiöse Minderheiten meistens das kleinere Übel seien als die Islamisten. Sollten sich, so Veldcamp, die USA jetzt offiziell auf die Seite der HTS stellen, wäre dies für die Christen eine Katastrophe. Es wäre allerdings nicht das erste Mal, dass die USA Islamisten unterstützen würden, um ihre strategischen Ziele durchzusetzen, man erinnere sich an die Unterstützung der Taliban durch die USA im Kampf gegen die mit der Sowjetunion liierte Regierung Afghanistans oder die Unterstützung islamistischer Milizen mit dem Ziel, den libyschen Machthaber al-Ghadaffi zu stürzen.

Watson, 8. Dezember 2024: Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sprach nach dem Sturz von Assad von einem „historischen Tag in der Geschichte des Nahen Ostens“ und fügte hinzu, Assads Sturz sein ein „direktes Ergebnis der Schläge, die wir dem Iran und der Hisbollah versetzt haben.“ Dies habe eine „Kettenreaktion“ im Nahen Osten ausgelöst. Nun gebe es „wichtige Gelegenheiten“ für Israel…

Echt nun also was? Der mutige Volksaufstand gegen einen „blutrünstigen Diktator“? Oder die Gelegenheit für eine islamistische Terrororganisation, an einer geopolitisch so bedeutungsvollen Stelle ihr so lange ersehntes Kalifat zu errichten? Oder gar die Verwirklichung des zionistischen Traums eines jüdischen Grossreichs weit über die Grenzen des bisherigen Israel hinaus? Und wenn vielleicht sogar alles gleichzeitig, wie würde dann Israel mit einem Kalifat in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zurechtkommen? Und was würde das alles für das soeben von Assad „befreite“ syrische Volk bedeuten?

Tagesanzeiger, 9. Dezember 2024: Der Kreml, so Islamwissenschaftler Reinhard Schulze, habe entschieden, Syrien aufzugeben, was eine „enorme strategische Niederlage für Russland“ darstelle. Der Verlust der Position am östlichen Mittelmeer zeige, dass Russland militärisch „nicht mehr in der Lage“ sei, seine Verbündeten zu verteidigen. Bereits gebe es Stimmen im Iran, die an der Allianz mit Russland zu zweifeln begännen. Es sei sogar denkbar, dass Assads Sturz einen Einfluss auf den Ukrainekrieg haben könnte, denn ein grosser Teil von Russlands Waffen stamme aus dem Iran. Den Vertrauensverlust sehe man zum Beispiel auch in libanesischen Zeitungen, wo unter anderem zu lesen sei, Russland sei „zu einem Zwerg geschrumpft“.

Nicht zum ersten Mal erweist sich der an der Universität Bern lehrende „Islamwissenschaftler“ Reinhard Schulze als Repräsentant jenes alten Denkens, das man im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion nur zur Genüge kennt. Den Rückzug Russlands aus Syrien sieht er als „enorme strategische Niederlage“. Ja wäre es denn besser gewesen, Russland hätte bis zum bitteren Ende für das Assadregime gekämpft und sinnlos Abertausende Menschen geopfert? War der Rückzug nicht die denkbar weiseste Entscheidung, um weiteres unnötiges Blutvergiessen zu verhindern? Schulze scheint es nachgerade auszukosten, dass Russland auf diese Weise zu einem „Zwerg“ zu schrumpfen und seine ehemaligen Verbündeten nach und nach zu verlieren droht. Doch ist dadurch einer echten Friedensordnung im Nahen Osten gedient? Sollen nun die „Sieger“ in diesem historischen Konflikt – USA, Israel, die Türkei und die ihr vorgeschobenen Rebellenverbände – auf den „Verlierern“ – Restsyrien, Iran, Hisbollah, Russland – so lange herumtrampeln, bis nichts mehr von ihnen übrig bleibt? Wie bei einer Schlägerei zwischen Jugendlichen: Liegt der eine schon am Boden, trampelt der andere so lange weiter auf ihm herum, bis er sich nicht mehr bewegt. Wäre es nicht endlich an der Zeit, solchem „Triumph- und Siegerdenken“ ein Ende zu bereiten? Sich nicht darüber zu freuen, dass Russland nun endlich zu einem „Zwerg“ geschrumpft ist – denn eine solche massive Demütigung muss doch früher oder später immense Rache- und Wiedergutmachungsgefühle auslösen und die gegenseitige Gewaltspirale nur immer weiter anheizen -, sondern, im Gegenteil, Hand zu bieten für eine gemeinsame Lösung, die für alle Beteiligten akzeptabel ist und das jahrzehntelange Gegeneinander endlich in ein konstruktives, zukunftsbezogenes Miteinander verwandelt. Bedenklich, dass auf Lehrstühlen Schweizer Universitäten immer noch so ewiggestrige „Wissenschaftler“ und „Experten“ sitzen…

Tagblatt, 10. Dezember 2024: Wie schon früher, hat die von der Türkei gesteuerte Syrian National Army (SNA) nun eine Offensive gegen die kurdisch dominierten SDF bei der Stadt Menbidsch im Norden Syriens lanciert – unterstützt von der türkischen Luftwaffe. Auch verfolgt die Türkei nach wie vor ihr Ziel, die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die „Mutter der SDF“, zu vernichten und die kurdische Autonomie im Nordosten Syriens zu beenden. Praktisch zeitgleich versuchen Gruppen der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) im Nordosten IS-Dschihadisten zu befreien, welche die SDF seit Jahren in Gefängnissen und Lagern festhalten. Um dies zu verhindern, fliegt die amerikanische Luftwaffe zahlreiche Einsätze gegen die IS-Terroristen. Eine drohende Zersplitterung Syriens scheint also zumindest im Nordosten wahr zu werden.

Türkische Luftwaffe? IS? Amerikanische Luftwaffe? Israel? Was um Himmels Willen haben die alle in Syrien verloren? Ist Syrien jetzt, da Assad gestürzt wurde, eine Art Freiwild, an dem sich alle nach Lust und Laune austoben können?

Tagblatt, 10. Dezember 2024: Die riesige Kluft zwischen dem Lebensstandard der syrischen Bevölkerung und dem der ehemaligen syrischen Präsidentenfamilie war einer der Gründe, wieso die Einnahme des Palastes innert weniger Stunden zum Massenspektakel wurde. Unter anderem wurden dort über 40 Luxusfahrzeuge, darunter ein Rolls Royce, entdeckt.

Zweifellos stossend in einem Land, wo mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter Hunger leiden. Aber westliche Medien könnten, wenn es um soziale Gegensätze geht, beispielsweise auch erwähnen, dass jeden Tag weltweit 10’000 Kinder unter fünf Jahren sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Zwar nicht unbedingt in Ländern, in denen es gleichzeitig sagenhaften Reichtum gibt, aber innerhalb des weltweit vernetzten kapitalistischen Wirtschaftssystems, in dem der Hunger in Afrika eine unmittelbare Folge des Überflusses in den reichen Ländern des Nordens ist, denn in einem einzig und allein auf Profitmaximierung fixierten Wirtschaftssystem fliessen die Güter eben nicht dorthin, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo man mit ihrem Verkauf am meisten Geld verdienen kann. Und diese westlichen Medien, wenn sie schon den Reichtum von Assad anprangern, müsste dann ehrlicherweise auch darauf hinweisen, dass neun von den zehn reichsten Männern der Welt US-Amerikaner sind, von denen der reichste, Jeff Bezos, mit 243 Milliarden Dollar ein Vermögen besitzt, welches jenes von Assad um das etwa 200fache übertrifft. Bezeichnend für die gesamte westliche Berichterstattung über die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Syrien ist auch, dass die Schuld an sämtlichen Missständen ausschliesslich dem Assad-Regime in die Schuhe geschoben wird, nur selten aber die vom Westen seit Jahrzehnten gegen Syrien verhängten Wirtschaftssanktionen erwähnt werden, die zu einem wesentlichen Teil für die katastrophalen Lebensbedingungen im heutigen Syrien mitverantwortlich sind. „Die Sanktionen“, so stellt das christliche Hilfswerk CSI fest, „haben keine politische Lösung in Syrien herbeigeführt. Im Gegenteil, sie haben zu einer der schlimmsten humanitären Katastrophen unserer Zeit beigetragen. Infolgedessen haben Millionen Zivilisten einen stark eingeschränkten Zugang zu Nahrungsmitteln, Treibstoff und Medikamenten. Das ohnehin schon stark betroffene syrische Volk leidet wegen der verhängten Sanktionen um ein Vielfaches mehr.“

Tagblatt, 10. Dezember 2024: Die USA und Grossbritannien erwägen, die für den Sturz des syrischen Präsidenten verantwortliche Rebellengruppe HTS von ihrer Terroristenliste zu streichen, hätten diese doch „bislang die richtigen Dinge gesagt und getan“…

So schnell geht das. Kennen wir doch schon lange. Jedes Schaf lässt sich in einen Wolf verwandeln und umgekehrt. Kommt einzig und allein drauf an, was gerade am meisten nützt oder schadet. Sogenanntes westlich-demokratisches „Wertesystem“. Vielleicht können die USA statt der HTS nun die israelische Regierung auf ihre Terrorliste setzen. An Begründungen dürfte es nicht fehlen…

Tagblatt, 10. Dezember 2024: In Assads Horrorknast, dem berüchtigten Saidnaja-Gefängnis in der Nähe von Damaskus, wird mit allen Mitteln nach Wegen gesucht, um die weiterhin in den Kerkern schmorenden Insassen zu befreien. Es wird vermutet, dass bis zu 90 Meter unter dem Boden versteckte Zellen liegen. Bilder und Videos von befreiten Häftlingen zeigen abgemagerte, teilweise verstörte Menschen. In einem Video ist ein Kleinkind zu sehen, das mutmasslich im Gefängnis geboren wurde.

Dass Abertausende politisch Verfolgte während der Regentschaft Assads in Militärgefängnissen verschwanden, ist unbestritten und soll auch unter keinen Umständen schöngeredet werden. Dennoch muss man im Zeitalter von KI beim Betrachten solcher Bilder und Videos vorsichtig sein. Anhand zahlreicher Faktenchecks hat die „Deutsche Welle“ am 13. Dezember einen Bericht publiziert, wonach Fake News nicht selten sind. So etwa entpuppte sich das Foto eines angeblichen Gefangenen aus dem Saidnaja-Gefängnis, der mit weit aufgerissenen Augen aus einem Loch kriecht, als ein am 3. Dezember auf TikTok veröffentlichtes, KI-generiertes Bild. Das in verschiedenen sozialen Netzwerken viral gegangene Bild eines abgemagerten, langhaarigen und in einer Zelle angeketteten Mannes entstand im August 2008 und ist auf der Webseite einer britischen Fotografie-Agentur zu finden. Mehrere, angeblich aus dem Saidnaja-Gefängnis stammende Bilder entstammen dem Youtube-Kanal des vietnamesischen Kriegsopfer-Museums, zeigen also Opfer US-amerikanischer Kriegsverbrechen. Auch die Aufnahme eines Kleinkindes, das sich angeblich in einer unterirdischen Zelle von Saidnaja befindet, durch eine kleine Öffnung in einem Haufen Schutt blickt und auf TikTok über 2,7 Millionen Aufrufe hat, erwies sich als Fake News. Zudem wurden gemäss „Deutscher Welle“ sämtliche bisher erhobenen Behauptungen über angebliche versteckte unterirdische Zellen im Saidnaja-Gefängnis widerlegt. Am 9. Dezember führte ein Team einer Freiwilligenorganisation, die mit regierungsfeindlichen Rebellen verbunden ist, eine gründliche Untersuchung des Gefängnisses durch und setzte dabei ausgebildete Suchhunde ein. Anschliessend teilte die Organisation mit, dass nach der Inspektion aller Eingänge, Ausgänge, Belüftungsschächte, Abwassersysteme, Wasserleitungen, elektrischen Verdrahtungen und Überwachungssysteme „keine versteckten oder versiegelten Bereiche festgestellt wurden“.

Tagblatt, 10. Dezember 2024: Nur einen Tag, nachdem Assad Syrien verlassen hatte, forderte SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi auf dem sozialen Netzwerk X einen „sofortigen Asylstopp für Syrer, da die Asylgewährungsgründe, sprich die Verfolgung durch das Assad-Regime, nicht mehr gegeben sind.“ Keine vier Stunden später teilte das Staatssekretariat für Migration (SEM) mit, dass Asylverfahren und -entscheide für Flüchtlinge aus Syrien per sofort sistiert würden.

Ist es übertrieben zu behaupten, dass das SEM mittlerweile so etwas ist wie der verlängerte Arm der SVP? Wohl kaum. Der Meister ruft, das Hündchen rennt. Alle anderen Parteien mit ihren möglicherweise anderslautenden Stellungnahmen scheinen schon gar nicht mehr zu existieren. Der SVP aber kann es gar nicht genug schnell gehen. Allen Ernstes spekuliert sie sogar mit der Idee, sämtliche syrische Flüchtlinge in ihre Heimat zurückzuschicken. Und das in ein Land, wo 13 Millionen hungern, sieben Millionen in Lagern oder provisorischen Unterkünften leben, viele Krankenhäuser in Schutt und Asche liegen, Abertausende schutzlos dem kommenden eisigen Winter ausgesetzt sind, an allen Ecken und Enden Menschen fieberhaft Landminen und nicht explodierte Waffen wegzuräumen versuchen und die israelische Armee gerade damit beschäftigt ist, vieles von dem, was noch übrig geblieben ist, in Schutt und Asche zu legen.

Tagblatt, 10. Dezember 2024: Der sich noch im Amt befindliche amerikanische Präsident Joe Biden spricht von „grundsätzlichen Unsicherheiten“ in Bezug auf Syriens Zukunft. Zum einen stehen die Anführer der HTS immer noch auf der US-Terrorliste. Zum anderen ist da die Terrormiliz IS, die, so Biden, versuchen werde, jedes Vakuum auszunützen, um ihre Macht zu erweitern. Um dies zu verhindern, griff die US-Force unmittelbar nach dem Sturz Assads mit Bombern vom Typ B-25 und Kampfflugzeugen F-15 und A-10 Stellungen des IS in Zentralsyrien an. Zudem plant die Biden-Administration die Kontrolle über Assads Chemiewaffen, ein höchst heikles Unterfangen. Und was sagt der zukünftige Präsident Trump? „In jedem Fall ist Syrien ein Schlamassel, aber es ist nicht unser Freund und die USA sollten damit nichts zu tun haben.“

Ein scheidender Präsident, der in den letzten Wochen seiner Amtszeit noch jede Menge Bomber und Kampfflugzeuge schickt, und ein angehender Präsident, der von einem „Schlamassel“ spricht und mit dem Ganzen nichts mehr zu tun haben will. Wo und wie wird das enden?

Tagesanzeiger, 10. Dezember 2024: Die Hamas im Gazastreifen und die Hizbollah im Libanon sind von der israelischen Übermacht dezimiert, wenn nicht aufgerieben worden. Nun haben die Iraner obendrein ihre Basis in Syrien verloren, die Mullahs stehen mit dem Rücken zur Wand. Netanyahu nutzt das, um sich selbstbewusster zum Vater des Sieges auch in Syrien zu erklären. Dies, so Netanyahu, sei ein „direktes Ergebnis der Schläge, die wir dem Iran und der Hizbollah versetzt haben“. Die aktuelle Bedrängnis, in der sich das iranische Regime befindet, könnte allerdings dazu führen, dass der Iran die Urananreicherung weiter beschleunigt, und dies könnte eine militärische Kettenreaktion auslösen. Netanyahu hat stets versprochen, die iranische Atombombe mit allen Mitteln zu verhindern. Mit breiter Brust und einem US-Präsidenten Donald Trump könnte sich Netanyahu nun ermutigt fühlen zu einem grossen Angriff. Vorerst aber sieht sich Netanyahu offensichtlich gedrängt, auf die neue Situation in Syrien zu reagieren, denn ein Islamistenstaat an den eigenen Grenzen wäre ebenso eine Bedrohung wie der Ausbruch eines Chaos innerhalb Syriens. Die israelische Armee hat deshalb bereits vorsorglicher Weise schnell reagiert. Vor zwei Tagen rückten Truppen in die rund 100 Kilometer lange Pufferzone zwischen dem israelisch kontrollierten und dem syrischen Teil der Golanhöhen ein und übernahmen zudem einen strategisch wichtigen, inzwischen verlassenen syrischen Armeeposten – die Bilder von israelischen Soldaten und israelischen Fahnen aus syrischem Gebiet machten in sozialen Netzwerken schnell die Runde. Und Netanyahu spricht bereits davon, dass der Golan „auf ewig“ zu Israel gehören werde. Schnell einsatzbereit zeigte sich auch die israelische Luftwaffe. Aus verschiedenen Teilen Syriens einschliesslich Damaskus wurden bereits zahlreiche Angriffe gemeldet. Aussenminister Gideon Saar bestätigte, dass man „strategische Waffensysteme“ wie etwa verbliebene Chemiewaffen oder Langstreckenraketen angreife, „damit sie nicht in die Hände von Extremisten fallen“. Und Verteidigungsminister Israel Katz kündigte an, dass diese Luftangriffe in den kommenden Tagen fortgesetzt würden. Das Militär werde „schwere strategische Waffen in ganz Syrien zerstören“.

Völkerrechtswidriges Eindringen Israels in die Pufferzone auf dem Golan und die Zerstörung strategischer Waffen in ganz Syrien, „mit breiter Brust“ und den USA im Rücken, wird damit gerechtfertigt, dass diese Waffen nicht in die Hände von „Extremisten“ fallen dürfen. Die Argumentation scheint zu genügen, um jeglicher internationaler Kritik an dieser Machtdemonstration Israels zum Vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen, denn wer könnte schon ein Interesse daran haben, „Extremisten“ den Zugang zu Waffensystemen zu ermöglichen, mit denen sie eine drohende Machtergreifung militärisch absichern könnten. Ein Diskurs, der vollkommen ausblendet, dass Begriffe wie „Extremismus“ oder „Terrorismus“ aus westlicher Sicht bereits zum Vornherein dermassen willkürlich und einseitig gesetzt sind, dass kaum mehr irgendwer auf die Idee kommt, sie grundsätzlich zu hinterfragen. Denn würde man das tun, so müsste man unweigerlich zum Schluss gelangen, dass man mit dem gleichen Recht, mit dem die HTS oder der IS als „extremistisch“ oder „terroristisch“ bezeichnet werden, auch die israelische Führung, die mittlerweile über 90’000 Menschenleben im Gazastreifen auf dem Gewissen hat – direkte und indirekte Opfer der durch Israel verübten militärischen Gewalt – und im Westjordanland – weiterhin und erst recht auch im Windschatten des Syrienkonflikts – täglich schwerste Menschenrechtsverletzungen begeht, ebenso als „extremistisch“ und „terroristisch“ bezeichnen müsste. Wie man auch den Begriff der „Achse des Bösen“, mit dem immer nur Russland, der Iran, schiitische Milizen im Irak, die Hizbollah, die Hamas und die Huthi im Yemen gemeint sind, ebenso oder sogar noch viel begründeter auf die USA und ihre Verbündeten anwenden könnte, die seit 1945 für weltweit immerhin 45 Kriege und Militäroperationen hauptverantwortlich sind, welche insgesamt 50 Millionen Tote und 500 Millionen Verletzte zur Folge hatten. Doch weil die Geschichte auch heute noch nicht von den Opfern geschrieben wird, sondern immer und immer wieder von den Siegern „mit breiter Brust“, konnten sich alle diese Lügen, auf denen stets wieder neue Lügen aufgebaut werden, so tief in den Köpfen der westlichen Öffentlichkeit festsetzen, dass zwar alles aufheult, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, um eigene Machtinteressen zu schützen, aber niemand aufschreit, wenn Israel mit der genau gleichen Begründung fremdes Territorium überfällt, annektiert und mit Bombenteppichen übersät.

Tagesanzeiger, 11. Dezember 2024: Der schweizerische Ständerat will neben der palästinensischen Hamas auch die libanesische Schiittenmiliz Hizbollah verbieten. Die entsprechende Motion der Sicherheitspolitischen Kommission wurde mit 31 zu 1 Stimmen bei 10 Enthaltungen gutgeheissen.

Die Hizbollah gibt es seit 42 Jahren, die Hamas seit 37 Jahren. Dass der Ständerat – und wahrscheinlich nächstens auch der Nationalrat – ausgerechnet jetzt, nach so vielen Jahren, da man die Existenz dieser Organisationen offensichtlich nicht grundsätzlich in Frage gestellt hat, diese verbieten möchte, ist wohl ein weiterer Ausdruck des Siegestaumels, in dem sich der Westen gerade befindet. Wenn man schon gerade dran ist, dann bitte so gründlich wie möglich – dass damit alle Fäden durchrissen werden, die vielleicht schon bald dringend nötig sein könnten, um wieder nur einigermassen etwas mit Frieden und Versöhnung Vergleichbares aufzubauen, scheint ganz und gar nicht bedacht zu werden bzw. wird gerade noch von einer einzigen (!) Gegenstimme in Erinnerung gerufen.

FOCUS-online, 11. Dezember 2024: Die deutsche Migrationsrechtlerin Sandra Göke warnt davor, syrische Flüchtlinge vorschnell zurückzuweisen bzw. ihre Asylgesuche gar nicht mehr erst zu bearbeiten: „Alles eskaliert zurzeit komplett. Ich habe seit gestern über 1000 WhatsApp-Nachrichten bekommen. Zusätzlich sind hunderte E-Mails eingegangen. Ich komme kaum noch hinterher, ans Telefon oder Handy zu gehen. Alle wollen wissen, wie es weitergeht, vor allem die Leute, die im Asylverfahren sind, aber auch jene, die bereits einen Aufenthaltstitel haben. Sie fragen sich: Bekomme ich noch eine Antwort auf meinen Asylantrag? Kann ich hierbleiben? Wie lange wird das Ganze dauern? Viele Männer haben ihre Frauen und Kinder in der Türkei in irgendwelchen Zelten sitzen. Nun ist wieder Winter, und der Druck ist gross, die Frauen und Kinder aus diesen Zelten herauszuholen. Insbesondere, weil viele Kinder in diesen Auffanglagern krank sind und keine medizinische Versorgung vorhanden ist. Der Druck auf die Männer ist enorm, jeden Tag rufen ihre Frauen weinend an, und das betrifft so viele Leute. Wir haben auch Leute, die schon viele Jahre hier sind, einen Aufenthaltstitel haben und sich eine Existenz aufgebaut haben. Auch unter ihnen geht die Angst um, dass ihre Existenz in Deutschland komplett wegbrechen könnte. Das Problem ist, dass die Leute über Jahre in eine Hängepartie geraten können, da die Situation in Syrien sich nicht so schnell stabilisieren wird. Besonders schlimm ist es für die Minderjährigen, die jetzt 18 Jahre alt werden und ihre Eltern nicht mehr nachholen können. Alles ist blockiert. Und die Politiker schauen nur darauf, wieder gewählt zu werden, und das funktioniert im Moment am besten, wenn man sich gegen Flüchtlinge und Ausländer positioniert. So etwa forderte CDU-Politiker Jens Spahn, für alle, die nach Syrien zurückwollten, Flugzeuge zu chartern und jedem ein Startgeld von 1000 Euro mitzugeben.“

Ähnlich werden die Diskussionen auch in der Schweiz laufen. Einmal mehr werden auch hierzulande Flüchtlinge zur Manövriermasse politischer Macht- und Ränkespiele. Schon ertönen auch Forderungen wie etwa jene, nur erwerbslose Flüchtlinge fortzuschicken oder solche, welche in Berufen tätig sind, wo sie durch Einheimische ersetzt werden können, auf keinen Fall aber Spezialisten, Fachkräfte und schon gar nicht Ärzte – obwohl diese ja, wenn schon, in ihrem Heimatland am allerdringendsten gebraucht werden könnten…

Tagesanzeiger, 11. Dezember 2024: Die israelische Luftwaffe zerstört seit vier Tagen Luftwaffenbasen wie diejenigen in Qamishli, Shinsar bei Homs und Aqraba bei Damaskus. Und das samt Flugzeugen und Technik. Auch Bodentruppen sollen in kleinerer Zahl vorgestossen sein. Allein bei den zwischen 250 und 300 Luftangriffen sollen Dutzende syrische Jets und Helikopter sowie Radarsysteme, Waffenlager und Depots für weitreichende Raketen getroffen worden sein. Experten gehen davon aus, dass Syriens Luftwaffe in wenigen Tagen komplett vernichtet sein wird, wenn die Israelis in diesem Ausmass weiterbombardieren. Die Rebellen haben keine Luftabwehr. Nach Ansicht Netanyahus darf das neue syrische Regime keine strategischen Waffen besitzen. Zur Zerstörung von Syriens Chemiewaffen-Programm wurden daher Depots, Produktionsstätten und das Forschungslabor in Barza bei Damaskus bombardiert.

Laut eigenen Angaben hat Israel insgesamt rund 480 Ziele attackiert. Ein klarer Verstoss gegen das Völkerrecht, wie Experten verschiedenster Länder einhellig übereinstimmen. Ben Saul, UN-Sonderberichterstatter für die Förderung der Menschenrechte, sagt, es gäbe keinerlei rechtliche Grundlage dafür, ein Land zu entwaffnen, nur weil man es nicht möge. Das könnte zu einem Rezept für ein weltweites Chaos werden, wenn andere Länder die gleiche Ideologie für sich in Anspruch nähmen. Viele Länder hätten Gegner, die sie gerne ohne Waffen sehen würden, doch das, was Israel mache, sei völlig gesetzlos. Auch George Katrougalos, ein weiterer UN-Sonderberichterstatter, sagt, was Israel mache, sei ein erneuter Fall von Gesetzlosigkeit, den Israel in der Region demonstriere: Angriffe ohne Provokation gegen einen souveränen Staat.

Tagesanzeiger, 13. Dezember 2024: Im Kampf gegen den IS hatten die Kurden im Nordosten Syriens ein Gebiet eingenommen, das mittlerweile etwa ein Drittel Syriens umfasst. Seitdem ist dort eine basisdemokratisch organisierte Regionalregierung entstanden. Rojava nennen viele dieses Gebiet, AANES heisst es offiziell. Und auch wenn man sich hier genauso wie anderswo über den Zerfall des Assad-Regimes freut: Die Zukunft von Rojava ist ungewiss. Al-Jolani, der Anführer der HTS, spricht zwar davon, auf alle ethnischen und politischen Gruppen in Syrien zugehen zu wollen. Aber viele seiner Männer haben früher für den IS gekämpft. Mancher dürfte den Wunsch verspüren, sich an den Kurden für die Niederlagen in den vergangenen Jahren zu rächen. Und im türkischen Präsidenten Erdogan könnten sie dafür sogar einen Verbündeten gefunden haben. Die kurdisch geprägte Selbstverwaltungszone ist der türkischen Regierung schon lange ein Dorn im Auge. Ein De-Facto-Staat südlich ihrer Grenze untergräbt aus Sicht Erdogans das eigene Vorgehen gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK in der Türkei, die dort und in der EU als Terrororganisation gilt. Erdogan unterstützt daher einige der Rebellengruppen, die Assad gestürzt haben, allen voran die Söldnergruppe Syrische Nationale Armee (SNA). Während die Kämpfer der HTS in Richtung Damaskus zogen, eröffnete die von der Türkei finanzierte SNA sofort eine Front gegen Rojava. Ziel der SNA ist es, die Kurden mithilfe der Lufthoheit, über die sie dank von der Türkei gelieferter Drohnen verfügen, hinter den Euphrat zu drängen. Bereits befinden sich etwa hunderttausend Kurden und Jesiden von der SNA umzingelt, Zehntausende sind inzwischen bereits mit Bussen, überfüllten Autos und Pritschenwagen in andere Gebiete der Selbstverwaltung geflüchtet. Doch dort ist niemand auf so viele Flüchtlinge vorbereitet. Es fehlt an Medizin, an genügend Nahrung und an Zelten, bereits sind Kinder an Unterkühlung gestorben. Doch internationale Hilfe ist bisher noch nicht eingetroffen, es droht eine humanitäre Katastrophe.

„Die im Lichte sieht man, die im Dunkeln sieht man nicht“ – diese Worte von Bertolt Brecht sind wieder einmal aktueller denn je. Während man in den Medien zu Boden geschleifte Assadstatuten und ganze Strassen voller tanzender, singender und jubelnder Menschen sieht, bleibt das Leiden des im Nordosten Syriens an Unterkühlung gestorbenen Kindes und seiner Abertausender Leidensgenossinnen und Leidensgenossen unsichtbar, es würde das Bild des westlichen Triumphs über die „Achse des Bösen“ nur allzu sehr stören…

Tagesanzeiger, 14. Dezember 2024: Um die Panik, mit der zurzeit Zehntausende Menschen die Region Rojava fluchtartig verlassen, zu verstehen, genügt nur schon die Geschichte von Sepan Ajo, einer 25jährigen Jesidin, die derzeit den Schweizer Nationalrat dazu bringen will, den islamistischen Terror in ihrer Heimat zum Völkermord zu erklären. Sepan Ajos Leidensgeschichte begann im August 2014, als Kämpfer der IS die nordirakische Region Sinjar an der Grenze zu Syrien überfielen, die Heimat von über einer halben Million Jesiden, einer ethnisch-religiösen Minderheit. Zuvor, so Sepan Ajo, hätte sie ein ganz normales Leben gelebt, sie sei in einer grossen Familie mit elf Geschwistern aufgewachsen, hätte Fussball gespielt und sei zur Schule gegangen. Doch an jenem Tag hätte sich alles geändert. Ihr Dorf sei beschossen und alle Bewohnerinnen und Bewohner in eine Schule zusammengetrieben worden. Der IS hätte die Männer getötet, darunter ihren Vater und einen ihrer Brüder und hätte sie in einem Massengrab verscharrt. Die Frauen und die Kinder seien voneinander getrennt worden. Die damals 15jährige Sepan und weitere Frauen und Mädchen seien nach Raqqua verschleppt worden, der damaligen Hauptstadt des IS-Kalifats. Dort sei sie dem IS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani als Sklavin übergeben worden. Von da an hätte ihr Leben nur noch aus Hunger, Schlägen, Erniedrigungen und Vergewaltigungen bestanden. Sie hätte auch ihren Namen nicht mehr tragen dürfen, sondern sei Bakia genannt worden. Später sei sie im Haushalt von Abu Bakr al-Baghdadi gelandet, dem selbst ernannten Kalifen des IS. Dort hätte sie als Haussklavin gedient, hätte kochen, putzen und sich um die Kinder kümmern müssen. Fast täglich hätte Al-Baghdadi Mädchen und Frauen vergewaltigt. Sie hätte begonnen, im Geheimen ein Tagebuch über ihre Erlebnisse zu schreiben. Dieses sei eines Tages entdeckt worden und zur Strafe sei sie sieben Tage in einen Keller gesperrt worden, ohne Licht, mit nur etwas Wasser und wenig Fladenbrot. 2021 sollte sie in den Libanon gebracht und dort verkauft werden. Doch das Auto, in dem sie transportiert worden sei, sei auf eine Mine getroffen. Alle ihre Begleiter seien getötet worden, sie selber hätte schwere Verletzungen erlitten, ihre Beine trügen noch heute die Narben der Schrapnellsplitter. Nach sieben Jahren Folter und Isolation sei es ihr gelungen zu fliehen und sie hätte bei einer arabischen Familie im syrischen Daraa Zuflucht gefunden. Es sei ihr gelungen, mit ihrer Mutter Kontakt aufzunehmen. Diese sei zusammen mit vier ihrer Kinder im Rahmen eines humanitären Programms von Deutschland aufgenommen worden, dort aber sei ihre Mutter lebensgefährlich erkrankt. Sie hätte ihre todkranke Mutter noch einmal sehen und umarmen wollen, aber die Behörden hätten ihr Visum zu spät bewilligt. Zwei Wochen nach dem Tod ihrer Mutter hätte sie dann selber auch nach Deutschland reisen und dort bleiben können. Dort besuche sie jetzt die Grundschule und lerne Deutsch, das sie neben ihrer Muttersprache, dem Kurdischen, und Arabisch schon leidlich gut spreche. Für Sepan Ajo wäre die Anerkennung des IS-Terror gegen die Jesidinnen und Jesiden durch die Schweiz ein wichtiger Schritt, aber längst nicht der letzte, denn noch immer seien 2500 jesidische Frauen und Kinder vermisst, noch immer gäbe es Massengräber, die nicht geöffnet worden seien, und noch immer gäbe es Schläferzellen des IS.

Ob sie mit oder ohne Bart foltern, vergewaltigen und um sich herumballern, mit oder ohne Turban Bomben werfen oder mit dem Messer auf Wehrlose losgehen: Sie alle, egal welche Flagge sie vor sich hertragen und zu welchem Gott sie beten, sind Mörder und sie alle sind Männer, vom ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush, der eine halbe Million Irakerinnen und Iraker auf dem Gewissen hat, dem israelischen Ministerpräsidenten Netanyahu, der innerhalb nicht ganz eines Jahres in Gaza 90’000 unschuldige Menschen, zwei Drittel davon Frauen und Kinder, umbringen liess, über Bashir al-Assad, vor dessen Folterkellern nicht einmal Frauen und Kinder verschont blieben, und den islamistischen Fanatikern des IS , vor denen jetzt wieder Tausende von Kindern und Frauen auf der Flucht sind, bis zu den sudanesischen Generälen Abdad al-Burhan und Mohamed Hamdan Dagalo, die mit ihrem gegenseitigen kompromisslosen Machtkampf um die Regentschaft ein ganzes Volk in den Abgrund gerissen, Hunderttausende in die Flucht getrieben und eine humanitäre Katastrophe unbeschreiblichen Ausmasses ausgelöst haben, von der wiederum am allerhärtesten Frauen und Kinder betroffen sind, eine humanitäre Katastrophe, die aber heute, angesichts der Ereignisse in Syrien, bereits wieder aus sämtlichen Schlagzeilen verschwunden ist. Wer heute, in Bezug auf den Regierungsumsturz in Syrien, von einer „Zeitenwende“ und einem „Schritt von weltgeschichtlicher Bedeutung“ faselt, hat offensichtlich noch immer nicht begriffen, worum es geht. Von einer wirklichen Zeitenwende können wir frühestens dann sprechen, wenn das Patriarchat, das mit Abstand verheerendste Terrorsystem aller Zeiten, für immer überwunden ist.

NZZ am Sonntag, 15. Dezember 2024: Das Stillleben in der verwaisten iranischen Botschaft in Damaskus illustriert die Tragweite des Sturzes des syrischen Regimes von Bashir al-Assad. Zwischen zerbrochenem Glas und zertrampelten Postern des Diktators liegt ein zerrissenes Porträt von Hassan Nasrallah, dem einst mächtigen Chef der libanesischen Schiiten-Miliz Hizbollah, getötet im Herbst durch einen israelischen Angriff auf seinen Bunker in Beirut. Und auch das Konterfei des Obersten Führers der Islamischen Republik Iran, Ayatollah Ali Khamenei, liegt zerstört im Schmutz. „Die Dominosteine fallen, einer nach dem andern“, sagt James Jeffrey, ehemals stellvertretender Sicherheitsberater unter George W. Bush und Syrien-Beauftragter der USA, und spricht von „tektonischen Veränderungen, die derzeit im Nahen Osten passieren“, letztlich ausgelöst von dem „fürchterlichen Angriff der palästinensischen Terrorgruppe Hamas auf den Süden Israels vom 7. Oktober 2023“, diesem „Wendepunkt der Geschichte des Nahen Ostens“, welcher sodann die Vergeltungsschläge Israels gegen die Hamas und gegen die Hizbollah zur Folge hatte und damit eine derart massive Schwächung der Verbündeten Assads, dass sich auch dieser nicht länger an der Macht halten konnte. Nun ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis auch der nächste Dominostein, nämlich der Iran, fallen wird, denn, so Ali Vaez, Iran-Experte des US-Think-Tanks „Crisis Group“: „Irans Achse des Widerstands existiert schlicht nicht mehr. Sie beruhte vor allem auf einem direkten Landzugang von Teheran aus über Bagdad, Damaskus bis Beirut. Dieser Korridor ist nun weg. Es wird Iran schon allein deshalb nicht mehr gelingen, die Hizbollah und auch versprengte proiranische Milizen in Syrien wieder aufzurüsten. Die Huthi-Milizen im Jemen und die schiitischen Milizen im Irak sind die letzten noch intakten Teile der Achse, doch auch diese werden nicht mehr allzu viel bewirken können.“ Darauf hat der israelische Präsident Netanyahu nur gewartet und hat sich bereits in einer Videobotschaft an die iranische Bevölkerung gewendet, von der Möglichkeit eines Sturzes des iranischen Regimes gesprochen und dabei den Slogan der iranischen Frauenbewegung „Frauen, Leben, Freiheit, das ist die Zukunft des Irans“ zitiert. Israels Armeeführung, ermutigt durch die bisherigen Erfolge gegen die Hizbollah und den Iran, denkt nun bereits laut darüber nach, dass der Zeitpunkt für weitere Angriffe im Moment mehr als günstig wäre. Armeesprecher haben sich bereits dahingehend geäussert, dass israelische Militärjets nun, nach der Schwächung der Hizbollah und dem Ende Assads in Syrien, sichere Flugrouten fliegen könnten, um iranische Nuklearanlagen zu bombardieren. Und früher oder später könnte dann vielleicht sogar auch noch das irakische Regime ins Wanken geraten.

Will man dieser Argumentation folgen, war also der 7. Oktober 2023 der „Wendepunkt der Geschichte des Nahen Ostens“, an dem die „Achse des Bösen“ sozusagen ihr eigenes Grab zu schaufeln begonnen hätte und alles andere nur noch eine logische Folge davon gewesen wäre. Als wäre zuvor nichts gewesen. Als hätte es die gewaltsame Landnahme durch jüdische Einwanderer nach dem Zweiten Weltkrieg nie gegeben. Als wären nie unzählige palästinensische Dörfer niedergebrannt und Tausende von Menschen in die Flucht geschlagen worden. Als hätten sich jüdische Siedler nie im Westjordanland widerrechtlich niedergelassen. Als sässen nicht zahllose Jugendliche über Jahre in israelischen Militärgefängnissen, bloss weil sie ein paar Steine warfen als Zeichen der Auflehnung gegen eine Kolonialmacht, die in ihrer Verachtung und Herabwürdigung der von ihr beherrschten und drangsalierten Bevölkerung vor nichts zurückschreckt. Würde man die „Logik“ der scheinbar „berechtigten Vergeltung“, die auf den 7. Oktober 2023 folgte, gedanklich weiterführen, dann würde sich also der – teils durch direkte militärische Gewalt, teils durch deren weitere Folgen verursachte – Tod von mittlerweile rund 90’000 zu über 99 Prozent unschuldigen Männer, Frauen und Kinder in Gaza rechtfertigen lassen durch den Tod von 1200 Opfern des Angriffs der Hamas vom 7. Oktober 2023? Aber mit welchem Begriff müsste man dann die Ermordung dieser 90’000 Menschen bezeichnen, wenn man für den Überfall der Hamas das Wort „Terror“ verwendet? Müsste man dann nicht konsequenterweise von „Terror hoch 75“ sprechen, denn so viel Mal mehr Menschen sind bis zur Stunde davon betroffen im Vergleich zu den Opfern des 7. Oktober. Und müsste man dann konsequenterweise nicht auch der Gegenseite wieder das Recht zu einer entsprechenden Gegenvergeltung einräumen? Was dann, mit dem Faktor 75 weitergerechnet, bedeuten würde, dass 6,8 Millionen Israelis zu Tode kommen müssten, also mehr als zwei Drittel der Gesamtbevölkerung des Landes. Aber das ist noch längst nicht alles. Mit welchem Recht denkt die israelische Führung jetzt an die Bombardierung iranischer Nuklearanlagen, ausgerechnet die Führung dieses Landes, das selber über geschätzte 100 bis 400 Atomsprengköpfe verfügt, ohne dass dies jemals in Diskussionen zu möglichen „Friedenslösungen“ für den Nahen Osten auch nur Erwähnung findet und einem grossen Teil der westlichen Bevölkerung vermutlich nicht einmal bekannt ist. Ganz abgesehen davon, dass ja auch nie, von keinem einzigen Historiker und keinem einzigen westlichen „Nahostspezialisten“, jemals die Frage aufgeworfen wird, wie und aufgrund welcher Ausbeutungs- und Geldhortungsmechanismen es überhaupt so weit kommen konnte, dass ein einziger Staat, nämlich die USA, mehr Waffen besitzt als alle anderen Staaten der Welt zusammen, und damit auch Israel als einer ihrer Vorpfosten letztlich seine ganze Existenz bloss dieser militärischen Übermacht verdankt. Aber wer sollte jetzt noch so dumme Fragen stellen angesichts der einmaligen Chance, die sich jetzt gerade dem Westen bietet, so viele Dominosteine gleich aufs Mal umzustossen. Nicht einmal die unfassbare Tatsache, dass sich Netanyahu plötzlich dermassen für das Schicksal iranischer Frauen interessiert, die sich weigern, ein Kopftuch zu tragen, erregt öffentliches Aufsehen. Und auch nicht, dass er, nachdem er im Gazastreifen bereits zehntausende Frauen mit oder ohne Kopftuch umbringen liess, sogar noch die Vermessenheit besitzt, sich die Parole „Frauen, Leben, Freiheit“ der iranischen Frauenbewegung zu eigen zu machen.

„www.nachdenkseiten.de“, 16. Dezember 2024, Betrachtungen der deutschen Journalistin Karin Leukefeld: Die Drahtzieher dessen, was in Syrien derzeit geschieht, versuchen, mit einem bunten Strauss voller Wundertüten die Syrer zumindest eine Zeitlang ruhigzustellen. Diese Drahtzieher sind Staaten und deren Führungspersonal, die sich auf Einladung Jordaniens am Wochenende in Akaba trafen. Da waren arabische Staaten vertreten, die 2011/12 den Aufstand in Syrien mit Geld und Waffen politisch und medial befeuerten. Da waren die USA und die EU vertreten, die Syrien mit einseitigen Wirtschaftssanktionen seit 2011 (EU) und seit 2019 (USA) so sehr schädigten, dass kein Wiederaufbau möglich war und durch Armut und Korruption die gesamte Gesellschaft an den Rand menschlicher Lebensmöglichkeiten gezwungen wurde. Nun rollen eben diese Staaten für die international als Terrororganisation gelistete HTS den roten Teppich aus und stellen ein Ende jener Wirtschaftssanktionen in Aussicht, die auf das Land seit über zehn Jahren so verheerende Auswirkungen gehabt haben.

Dass der Aufstand gegen das Assadregime, angefangen mit den Studentenprotesten im Jahre 2011, vom Westen „mit Geld und Waffen politisch und medial befeuert“ wurde. Dass die vom Westen seit 2011 verhängten Wirtschaftssanktionen katastrophalste Auswirkungen auf die Lebensbedingungen hatten und damit eine wesentliche Mitursache bildeten für den sich in der Bevölkerung zunehmend ausbreiteten Unmut gegen das Assadregime. Dass Syrien, wie kaum ein anderes Land, über Jahrzehnte mit einer dermassen hohen Anzahl von Flüchtlingen konfrontiert war, dass auch jedes andere Land zweifellos daran zerbrochen wäre: 1948 wurden Zehntausende Palästinenser aufgenommen, die von zionistischen Milizen vertrieben worden waren, weitere Palästinenser folgten nach dem Sechstagekrieg 1967 und erneut nach dem Krieg mit Israel 1973; nach dem US-Überfall auf den Irak (2003) und dem folgenden blutigen inneren Krieg, der 2005 seinen Höhepunkt fand, wurden 1,5 Millionen Iraker in Syrien aufgenommen; Millionen Libanesen kamen nach Syrien während des Krieges 2006 und zuletzt während der Bombardierungen des Südlibanons durch Israel, die vom September bis zum November 2024 dauerten und den Tod von mehr als 3900 Zivilpersonen und 16’500 Verletzten zur Folge hatten. Alle diese historischen und aktuellen Hintergründe, Zusammenhänge und Mitursachen für den Zusammenbruch des Assadregimes haben in der aktuellen medialen Berichterstattung, die völlig einseitig von emotional zugespitzten Bildern über fahnenschwenkende und jubelnde Menschenansammlungen, zu Boden gerissenen Assadstatuen und Bildern am Boden kauernder und mit leerem Blick vor sich hinstarrender Menschen im Gefängnis von Sednaya dominiert werden, absolut nicht den kleinsten Platz. Wenn heute, wie es uns die westliche Politpropaganda weismachen will, durch Ereignisse wie den Sturz des Assadregimes „Geschichte geschrieben“ werde, dann können solche Vereinfachungen, Verfälschungen und Lügen nur deshalb funktionieren, weil die tatsächliche, reale Geschichte vollkommen ausgeblendet und sämtliche noch vorhandenen Erinnerungen an frühere Zeiten systematisch ausgelöscht werden. „Geschichte“ in der öffentlichen Wahrnehmung ist dann nur noch gerade das, was uns hier und heute in Form möglichst sensationell aufbereiteter Bilder gezeigt wird, um schon am folgenden Tag erneut wieder durch noch sensationeller aufbereitete Bilder wieder zugeschüttet zu werden, Emotionen im Sekundentakt, weil es ja den global agierenden Medienkonzernen nicht im Entferntesten darum geht, die „Wahrheit“ zu vermitteln, sondern bloss darum, im gegenseitigen Konkurrenzkampf und Buhlen um einen möglichst hohen Publikumsanteil die höchstmöglichen finanziellen Profite herauszukitzeln. Bis dann die grosse Mehrheit der Bevölkerung in der ach so „demokratischen“ und „aufgeklärten“ westlichen Welt allen Ernstes daran glaubt, der Ukrainekrieg hätte genau am 24. Februar 2022 mit dem Angriff eines brutalen, menschenverachtenden russischen Despoten auf ein wehrloses, demokratische Land begonnen, ohne jeglichen Bezug zur gesamten Vorgeschichte des Konflikts. Und dass der Nahostkonflikt genau am 7. Oktober 2023 mit dem Überfall der Hamas begann, als hätte es nie so etwas gegeben wie die gewaltsame Vertreibung Hunderttausender Palästinenserinnen und Palästinensern aus ihren angestammten Wohngebieten im Verlaufe von über 70 Jahren. Und dass das Leiden des syrischen Volks genau an jenem Tag des Jahres 2000 begann, als Bashar al-Assad Präsident Syriens wurde und demzufolge auch genau am 7. Dezember 2024 mit seinem Sturz wiederum ein Ende haben und somit für Syrien automatisch ein neues Zeitalter von Freiheit und Demokratie anbrechen würde. Wenn es so weitergeht, werden die aufgeklärten und so „objektiv“ informierten Menschen des Westens bald wohl auch daran glauben, dass sich der Mond gar nicht um die Erde dreht, sondern die Erde um den Mond…

Tagblatt, 16. Dezember 2024: Der aus Syrien stammende und heute in St. Gallen lebende Ahmad Garhe ist angesichts der aktuellen Ereignisse in seiner Heimat zwischen Hoffnung und Angst hin- und hergerissen. „Den einzigen Weg in eine stabile Zukunft“, sagt er, „sehe ich im Pluralismus und in demokratischen Strukturen. Syrien hatte das Pech, zum Schauplatz eines Stellvertreterkrieges zu werden. Die westlichen und antiwestlichen Mächte fanden im syrischen Bürgerkrieg ab 2011 Gründe, ihre jeweiligen Interessen geltend zu machen. Wie wunderschön wäre es, wenn ich meinen Kindern ein sicheres und friedlicheres Syrien zeigen könnte. Sie haben ihren Geburtsort jung verlassen und seit 2009 nicht mehr gesehen. Das ist mein grösster Traum, mit ihnen unbesorgt durch Damaskus zu spazieren.“ Und auf X hat die 14jährige Bana Alabed geschrieben: „Die Sonne der Freiheit muss endlich auch in unserem Land scheinen. Wir blicken mit Hoffnung auf eine Zukunft, in der alle Kinder in Frieden leben können.“

Dem ist eigentlich nichts beizufügen…

20. Dezember. Heute habe ich mich ein zweites Mal mit meinen syrischen Freunden ausgetauscht. Immer noch ist ihre Begeisterung über das Ende des Assad-Regimes riesig. Ausführlicher berichten sie heute über die schlimmen Erfahrungen, die sie und viele ihrer Verwandten und Bekannten auch vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahre 2011 gemacht hatten. Entweder war man Teil des Regierungssystems, dann ging es einem ziemlich gut. Befand man sich aber ausserhalb davon oder wagte man es gar, sich gegenüber dem Regime kritisch zu äussern, war man mannigfachen Repressalien und Diskriminierungen ausgesetzt. So gesehen ist die spontane Begeisterung über das Ende des Assad-Regimes nur allzu gut nachvollziehbar. Und ebenso nachvollziehbar ist dieser unerschütterliche Optimismus und der Glaube an eine demokratische Zukunft ihres Landes. Ich spüre den Stolz auf ihre Heimat – wer wollte seine Heimat, die Wiege seiner Herkunft, den Boden seiner Lebenswurzeln, nicht lieben wollen. Es ist der gleiche Stolz, mit dem auch Milad immer wieder von seinem Heimatland Afghanistan schwärmt, von seiner so reichen Geschichte, seinen Naturschönheiten, der Gastfreundschaft seiner Menschen, und in solchen Augenblicken völlig zu verdrängen scheint, in was für einem desolaten Zustand das Land sich gerade befindet. Und dann spüre ich auch bei meinen syrischen Freunden eine Kraft, die auch mich ein Stück weit mitreisst und auch in mir die Hoffnung stärkt, es mögen sich ihre Zukunftsträume erfüllen und es mögen aus den Trümmern der Vergangenheit an allen Ecken und Enden in allen Farben neue Blumen wachsen und ein Land erblühen lassen, das an einer auch historisch und geopolitisch so bedeutungsvollen Lage im Nahen Osten zu einem Vorbild werden könnte für andere. Denn nur wenn möglichst viele Menschen solche Zukunftsträume haben und nicht mehr länger bereit sind, immer wieder in die gleichen zerstörerischen Muster von Gewalt und Gegengewalt zurück zu fallen, kann nach und nach eine friedlichere und gerechtere Welt entstehen.

15. Montagsgespräch vom 9. Dezember 2024: Was brächte ein bedingungsloses Grundeinkommen?

Das 15. Buchser Montagsgespräch befasste sich mit der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens, das jedem Bürger und jeder Bürgerin unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Lage in Form einer gesetzlich festgelegten, vom Staat ausbezahlten finanziellen Zuwendung ohne Gegenleistung zur Verfügung stehen würde. Über die Einführung eines solchen BGE wurde in der Schweiz – im Jahre 2016 – bereits einmal abgestimmt, die Vorlage erhielt eine Zustimmung von immerhin 23 Prozent.

Eingangs stellte Markus Härtl, der sich seit Jahren in der Schweiz, in Liechtenstein und Deutschland für die Einführung eines BGE einsetzt, die möglichen Vorzüge eines solchen Grundeinkommens vor. Ein BGE würde unabhängig von äusseren Umständen eine lebenslange Existenzsicherung garantieren und damit auch eine uneingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe. Es würde die Selbstbestimmung fördern, weil niemand mehr gezwungen wäre, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, die mit schlechten Arbeitsbedingungen und zu niedriger Entlohnung verbunden ist. Und es würde all jene heute noch unentgeltlichen Care-Arbeiten entschädigen, ohne welche eine Gesellschaft nicht überlebensfähig ist. Zudem würde es zu einem Abbau der Bürokratie führen, die heute noch für Kontrollen, Abklärungen und Zuweisungen zu den unterschiedlichen Sozialleistungen notwendig ist.

Weitere Vorteile eines BGE wurden in der folgenden Diskussion genannt. Ein BGE würde zu einer Umverteilung in Richtung mehr soziale Gerechtigkeit führen. Der durch KI und andere technologische Entwicklung zu erwartende Verlust an Arbeitsplätzen könnte besser aufgefangen werden. Wichtige Gesellschaftsbereiche wie Kultur, Bildung und politische Arbeit bekämen einen höheren Stellenwert.

Es tauchten in der Diskussion aber auch einige offene Fragen auf: Wie könnte die Finanzierung eines BGE langfristig gesichert werden? Besteht angesichts der herrschenden politischen Machtverhältnisse und einer anhaltenden Sparpolitik nicht die Gefahr, dass ein BGE auf das absolute Minimum gedrückt würde und man dann am Ende schlechter dastehen würde als mit den heutigen Sozialleistungen? Ist es fair, wenn ein Konzernchef, der heute schon mehrere Millionen Franken pro Jahr verdient, zusätzlich ein von der Allgemeinheit finanziertes BGE bekäme?

Eine immer wieder gehörte kritische Frage zum BGE ist, ob die Menschen, wenn ihre Existenz gesichert wäre, überhaupt noch einer Erwerbsarbeit nachgehen würden. Die Befürworterinnen und Befürworter eines BGE gehen davon aus – und dem wurde eigentlich nicht widersprochen –, dass Menschen grundsätzlich gerne arbeiten und einen Beitrag zur Gesellschaft leisten möchten. Allerdings müssten dann die Arbeitsbedingungen so ausgestaltet sein, dass Arbeiten grundsätzlich Freude macht und nicht mit unnötigem Stress, Fremdbestimmung und fehlender Wertschätzung verbunden ist – genau dies wäre aus Sicht der Befürworterinnen und Befürworter eine wünschbare Konsequenz, die sich aus der Einführung eines BGE ergeben müsste.

Syrien: Jubeln und Frohlocken, dass wieder Krieg ist?

Der durch die westliche Welt gehende Jubel über den Vormarsch eines islamistischen Rebellenbündnisses gegen Syriens Regierung unter Bashar al-Assad befremdet schon sehr.

Erstens ist der Zeitpunkt des Angriffs unmittelbar nach dem Sieg der israelischen Armee über die Hisbollah im Libanon und den massiven Bombardierungen von Stellungen der Hisbollah und der iranischen Revolutionsgarden in Syrien sowie syrischer Regierungstruppen durch die israelische Luftwaffe wohl alles anderes als ein Zufall. Man scheint die Gunst der Stunde nutzen zu wollen, das bereits geschwächte Assad-Regime weiter zu schwächen oder ihm gar den Garaus zu machen, was auch in den Worten des türkischen Präsidenten Erdogan zum Ausdruck kommt, wenn er davon spricht, der Marsch der Rebellen müsse „bis Damaskus“ gehen.

Zweitens werden durch die Wiederankurbelung des Kriegs nach einer längeren Phase relativer Ruhe und Stabilität wiederum Zehntausende von Syrierinnen und Syriern in die Flucht geschlagen und unsägliches Kriegselend angerichtet. Drittens gibt Erdogan offen zu, mit der Unterstützung der Rebellen auch die kurdischen SDF-Verbände zurückdrängen zu wollen.

Viertens mutet es schon mehr als seltsam an, wenn ausgerechnet die islamistische Gruppe HTS, die von den USA als Terrororganisation eingestuft und auf deren Anführer Abu Mohammed al-Julani ein Kopfgeld von 10 Millionen Dollar ausgesetzt wurde, nun vom Westen im Kampf gegen Assad dermassen hochgejubelt wird, obwohl die reale Gefahr besteht, dass die HTS, sollte sie diesen Kampf gewinnen und ihre Macht konsolidieren, in Syrien ein Kalifat nach dem Vorbild der Taliban aufbauen könnte.

Und fünftens wird aller Voraussicht nach auch der vom Westen sonst so geächtete Islamische Staat IS von dieser Machtverschiebung erneut profitieren. Jubeln kann da wohl nur, wer an machtpolitischem Eigennutz ein weitaus grösseres Interesse hat als an der friedlichen Zukunft eines schon mehr als genug leidgeprüften Landes.   

(„Die letzten Tage eines Diktators“, lese ich auf der Titelseite der „NZZ am Sonntag“ vom 8. Dezember 2024. Meine syrischen Freunde aber sagen, sie hätten bis 2024, vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs, ein gutes und friedliches Leben gehabt. Und da war Assad immerhin bereits 14 Jahre lang an der Macht. So grausam und blutrünstig, wie er nun vom Westen dargestellt wird, kann er wohl nicht gewesen sein.)

(„Das Drama der Christen im Nahen Osten“, so titelt die „Sonntagszeitung“ vom 8. Dezember 2024, und weiter unten spricht sie von Assad als „brutalem Machthaber und Kriegsverbrecher“. Die Verknüpfung der beiden Aussagen im gleichen Artikel könnte den Schluss nahe legen, Assad sei an der Vertreibung der christlichen Bevölkerung mitschuldig oder sogar dafür hauptverantwortlich. Tatsache ist aber, dass Aleppo bis zum Beginn des Bürgerkriegs 2011 eine christliche Hochburg war – und da befand sich Assad bereits elf Jahre an der Macht. Vom Vorwurf der Christenverfolgung müsste man ihn also mindestens freisprechen. Dies im Gegensatz zur HTS, welche den jetzigen Angriff auf das Assad-Regime anführt und selbst von den USA als Terrororganisation eingestuft wurde, deren erklärtes Ziel es sein, in Syrien ein Kalifat analog zu den Taliban in Afghanistan einzurichten. Oder ist Assad sowieso gar nicht dieser „grausame Diktator“, als welcher er nun vom Westen gebrandmarkt wird? Meine syrischen Freunde jedenfalls lebten in ihrem Land bis 2014 friedlich und gut, wie sie heute noch schwärmen. Und da war Assad immerhin bereits 14 Jahre lang an der Macht…)

Soll die Schweiz mehr Drohnen beschaffen statt mehr Kampfflugzeuge? Weitaus gescheiter als eine „Drohnendoktrin“ wäre wohl eine umfassende Friedensdoktrin…

ETH-Professor Roland Siegwart zeigt sich in der „Sonntagszeitung“ vom 1. Dezember 2024 erstaunt, dass die Schweizer Armee nicht die Beschaffung von Drohnen anstelle von Kampfflugzeugen geprüft hat, denn aus seiner Sicht werden Drohnen in der zukünftigen Kriegsführung eine viel entscheidendere Rolle spielen als Kampfflugzeuge, da sie viel agiler und zudem weit kostengünstiger sind. Auch der Urner Ständerat Josef Dittli fordert eine umfassende „Drohnendoktrin“, welche sowohl den Angriff wie auch die Verteidigung umfasse, zumal die Schweiz in dieser Technologie führend sei. Er hat deshalb im Parlament einen Vorstoss durchgebracht, mit dem das VBS beauftragt wurde, einen „Drohnenbericht“ auszuarbeiten.

Doch während sich Politiker und Fachleute darüber streiten, welche Waffen in einem zukünftigen Krieg die wichtigere Rolle spielen werden, gäbe es doch noch eine andere Frage, die wohl um einiges wichtiger und entscheidender wäre, nämlich die Frage, ob denn Kriege in Zukunft überhaupt noch ein taugliches Mittel sein können, um Konflikte zwischen Ländern zu lösen. Oder ob es nicht viel zielführender und obendrein noch viel kostengünstiger wäre, überhaupt keine Kriege mehr zu führen, weder mit Drohnen noch mit Kampfflugzeugen. Statt einer „Drohnendoktrin“ würde ich eine „Friedensdoktrin“ vorschlagen und statt einen „Drohnenbericht“ viel lieber einen „Friedensbericht“. Denn es stimmt zwar schon, dass die Schweiz in der Entwicklung von Drohnen führend ist. Aber weitaus erfahrener ist sie, historisch gesehen, auf dem Gebiet der Friedensförderung und der gewaltlosen Konfliktlösung. Und wenn schon alle anderen Länder dem Irrsinn militärischer Hochrüstung hinterherrennen, müsste sich die Schweiz halt umso mehr auf ihre ureigenen Traditionen besinnen und umso stärker ihr ganzes Gewicht und Ansehen in die Waagschale werfen, um dem Krieg als primitivstem Mittel der Konfliktlösung endlich ein Ende zu bereiten. Ob es gelingen würde, weiss niemand. Aber versuchen könnte man es doch wenigstens.

Die „neue Härte“ der schweizerischen Asylpolitik: Ein Blick 500 Jahre zurück

Folgender Text ist ein Auszug aus meinem neuen Buch EINE BLUME IN DER NACHT – TAGEBUCH EINER AFGHANISCH-SCHWEIZERISCHEN BEGEGNUNG, in dem ich über meine Erfahrungen mit der „neuen Härte“ der schweizerischen Asylpolitik berichte. Das Buch wird anfangs 2025 erscheinen. Mehr Informationen: info@petersutter.ch.

Alles Unheil begann am 12. Oktober 1492. Der Tag, an dem Christoph Kolumbus auf der karibischen Insel Guanahani landete und einen neuen Kontinent «entdeckte». Auf die Entdecker folgten unmittelbar die Eroberer, angelockt durch die sagenhaften Reichtümer Mittel- und Südamerikas: Gold, Silber, Edelsteine, fruchtbare Erde, auf der alles wuchs, was man sich nur erträumen konnte, Zucker, Reis, Baumwolle, Kaffee, Kautschuk, Tabak, Kakao, Gewürze, tropische Früchte aller Art. Es wurde zusammengerafft, was immer sich zusammenraffen liess, und eine endlos wachsende Menge an gewinnbringenden Produkten wanderte auf immer grösseren und zahlreicheren Schiffen zu den europäischen Häfen und Handelsstädten, wo mit dem Weiterverarbeiten, dem Verkaufen und der Vermarktung dieser Waren Reichtum geschaffen wurde, wie ihn die Welt noch nie zuvor gesehen hatte. Doch dies war erst der Anfang. Auf Süd- und Zentralamerika folgten Nordamerika, später Afrika, Indien, Süd- und Ostasien, unzählige Inseln im Pazifik, Australien und Neuseeland. Und zu Spanien und Portugal gesellten sich als weitere Kolonialmächte in der Folge vor allem England und Frankreich hinzu, aber auch Belgien, Holland, Italien, Deutschland und schliesslich auch die USA.

«Terra nullius» nannten die Europäer die von ihnen aufgefundenen Territorien: Niemandsland, das von dem in Besitz genommen und nach Belieben ausgeplündert werden durfte, der es als erster «entdeckt» hatte, denn die, welches es zuvor besessen hatten, waren aus der Sicht der Eroberer gar keine wirklichen Menschen, sondern eher so etwas wie Tiere, die zu beherrschen, zu domestizieren und deren Arbeitskraft bis zur totalen Erschöpfung und frühem Tod auszubeuten ihre neuen Herren und Gebieter geradezu als ihren «göttlichen Auftrag» betrachteten, dem sie so eifrig nachzukommen trachteten, dass sie nicht einmal vor den denkbar unmenschlichsten Grausamkeiten zurückschreckten. Schon fünfjährige Kinder wurden gezwungen, in den Silber- und Goldbergwerken Südamerikas zu schuften und meist eines viel zu frühen Todes zu sterben, wenn nicht durch Erschöpfung, dann durch das Einatmen giftiger Dämpfe, durch Gasexplosionen oder den Einsturz nur ganz notdürftig oder gar nicht gesicherter Schächte. Die Arbeitsbedingungen auf den Zuckerrohr-, Tabak- und Kaffeeplantagen waren derart hart, dass dies zu einer massiven Dezimierung der indigenen Bevölkerung innerhalb weniger Jahrzehnte führte, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich Fehl- und Unterernährung immer weiter auszubreiten begannen, dadurch, dass auf den Böden, welche zuvor der Eigenversorgung der einheimischen Bevölkerung gedient hatten, fast nur noch Nahrungsmittel für den Export angebaut werden durften.

Unter den wohl schwersten je zuvor begangenen Menschenrechtsverletzungen wurden, nachdem ein grosser Teil der indigenen Arbeitskräfte in Mittel- und Südamerika weggestorben waren, im Laufe von rund drei Jahrhunderten 15 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner zu Zwangsarbeit auf Plantagen und in Bergwerken in Amerika verdammt, um jene Profite zu erschuften, die ausschliesslich in den Taschen der immer reicher werdenden europäischen Oberschichten landeten. Sklavinnen und Sklaven, die sich den unmenschlichen Arbeitsbedingungen zu verweigern versuchten, wurden gekreuzigt, mit den Füssen an Bäumen aufgehängt, zu Tode gefoltert oder es wurde ihnen Schiesspulver in den After gestopft, das vor schaulustigen Mengen zur Explosion gebracht wurde.

Was die Spanier und Portugiesen in Mittel- und Südamerika vorgemacht hatten, wurde von den Engländern in Nordamerika weitergeführt, wo innerhalb von hundert Jahren praktisch die gesamte Urbevölkerung ausgerottet wurde. Indien verkam unter britischer Herrschaft durch gnadenlose Ausplünderung seiner natürlichen und wirtschaftlichen Ressourcen innerhalb von hundert Jahren von einem der reichsten zu einem der heute ärmsten Länder der Welt. Ganz Afrika nahmen sich die europäischen Kolonialmächte wie nimmersatte Raubtiere zum Frass vor. Im von Belgien unterjochten Kongo wurden Arbeitern, die bis zum Tagesende das geforderte Arbeitssoll nicht erreicht hatten, die Hände abgehackt. Ein Aufstand des von Deutschland versklavten Volks der Herero in Südwestafrika wurde gnadenlos niedergeknüppelt, die Aufständischen in Wüstengebiete vertrieben und von den Wasserstellen weggejagt, sodass Abertausende elendiglich verdursteten. Es war der erste grosse Völkermord des 20. Jahrhundert, den nur 15‘000 der ursprünglich 80’000 Herero überlebten.

Und so verwandelte sich nach und nach der Reichtum des von der Erde, der Natur und dem Klima gesegneten Südens in den Reichtum des Nordens, der in Anbetracht mangelnder Bodenschätze, wenig fruchtbarer Böden und unwirtlicheren Klimas eigentlich viel ärmer sein müsste, stets nach dem Prinzip, sich die Schätze des Südens kostenlos oder – durch möglichst niedrige Preise für Rohstoffe, Sklavenarbeit oder Hungerlöhne – zu möglichst günstigen Bedingungen anzueignen und sie hernach zu Fertigprodukten zu verarbeiten und diese auf dem Weltmarkt mit möglichst profitablen Renditen weiterzuverkaufen. Und das ist bis auf den heutigen Tag so weitergegangen. Kaufen wir bei Starbucks einen Kaffee für zehn Franken, so fliessen neun Franken und 95 Rappen in die Taschen von Handelsketten, Geschäftsbesitzern, multinationalen Konzernen und Börsenspekulanten, während die Landarbeiterin in Honduras, Kenia oder Madagaskar, die im Schweisse ihres Angesichts die Kaffeebohne erntet, von diesen zehn Franken gerade mal fünf Rappen sieht. Früher hatten alle Menschen in Afrika genug zu essen, während es in Europa immer wieder zu Hungersnöten kam. Heute ist es genau umgekehrt. Kein Kontinent leidet so sehr an Mangel- und Unterernährung wie Afrika, gleichzeitig landen in keinem Kontinent so viele Lebensmittel ungebraucht im Müll wie in Europa.

Doch das ist noch längst nicht alles. Dank der so entstandenen Profite konnten sich die Länder des Nordens im Gegensatz zu den Ländern des Südens auch die nötigen Mittel leisten, um ihre Privilegien gegen andere, die sie ihnen vielleicht hätten streitig machen können, abzusichern und zu schützen. Wirtschaftliche Vorherrschaft ging stets Hand in Hand mit militärischer Vorherrschaft und tut es bis heute. War Grossbritannien während 300 Jahren die Weltmacht Nummer eins – sowohl in wirtschaftlicher wie auch militärischer Hinsicht –, so sind es seit dem Zweiten Weltkrieg die USA. So ist es kein Zufall, dass die USA während der vergangenen rund 80 Jahre für die weitaus grösste Anzahl von – grösstenteils völkerrechtswidrigen – Militärschlägen und Kriegen verantwortlich sind, mit rund 50 Millionen Todesopfern und einer zehn Mal so hohen Anzahl Verletzter, dazu zahlreiche verdeckte, meist vom CIA durchgeführte Operationen, mit denen nicht wenige demokratisch gewählte Regierungen gewaltsam gestürzt wurden. Und es ist auch alles andere als ein Zufall, dass fast alle diese Kriege, von Vietnam über den Irak bis zu Afghanistan, Syrien und dem Sudan, in den Ländern des Südens stattfinden, nicht in den Ländern des Nordens, die genug Macht und Mittel besitzen, um dies zu verhindern. Und es ist wiederum auch kein Zufall, dass sich die Auswirkungen des Klimawandels genau in jenen Ländern am verhängnisvollsten auswirken, die sie – im Gegensatz zu den Industriestaaten mit ihrer wachstumsgetriebenen Produktion von Abgasen und Schadstoffen – am allerwenigsten verursachen. Nebst all den weiteren Verwüstungen, welche 500 Jahre koloniale Ausbeutung hinterlassen haben: Wassermangel, durch Pestizide und andere Chemikalien vergiftete Erde, durch Monokulturen ausgelaugte Böden, auf denen kaum mehr etwas wächst.

Geld ist Macht. Wer mehr Geld hat, hat nicht nur stärkere Waffen, er verfügt auch über die nötigen finanziellen und wirtschaftlichen Instrumente und Machtmittel wie etwa die Weltbank oder den IWF, die für jeden Kredit, den sie einem sowieso schon zutiefst entrechteten und ausgebeuteten Land leihen, einen so hohen Zins abverlangen, dass die Verarmung, die Fremdbestimmung und die Abhängigkeit dieser Länder nur immer noch grösser und grösser wird. In aller Regel verfügen die, welche mehr Geld und damit mehr Macht haben, auch über den grösseren Einfluss auf die Medien, welche weitgehend dazu dienen, die Macht der Mächtigen nicht allzu sehr in Gefahr zu bringen. Ein Beispiel: Jeden Tag sterben weltweit rund 10‘000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs, weil sie nicht genug zu essen haben. Das von den Medien in der westlichen Welt verbreitete, in der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung verankerte Bild, diejenigen, die zu wenig zu essen hätten, seien selber daran schuld bzw. lebten halt in Ländern mit unfähigen, korrupten Regierungen, seien in technischer Hinsicht hoffnungslos im Rückstand oder seien, im Gegensatz zu uns, immer wieder von besonders verhängnisvollen Naturkatastrophen betroffen, lenkt davon ab, dass alles nicht eine Frage der Mengen ist, sondern eine Frage der Verteilung. In jedem kapitalistischen System, ob klein oder gross, herrscht das Grundprinzip, dass Waren nicht dorthin fliessen, wo die Menschen sie am dringendsten brauchen, sondern dorthin, wo die Menschen genug Geld haben, um diese Waren zu kaufen, und sich deshalb dort die grössten Profite machen lassen. Das führt dazu, dass am einen Ort ein immer grösserer Mangel herrscht, während am anderen Ende immer neue, längst schon überflüssige Dinge erfunden und ausgedacht werden müssen, damit die Menschen überhaupt noch etwas kaufen. Auch das herrschende Justizsystem, das einseitig auf die Ahndung von Individualgewalt ausgerichtet ist und den Einfluss von Systemgewalt gänzlich ausblendet, ist Teil dieses allumfassenden Machtsystems. Um es wiederum an einem Beispiel zu verdeutlichen: Klaut ein Sozialhilfebezüger ein Paar Turnschuhe, dann wird der Sozialhilfebezüger verurteilt, nicht aber das herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das so gravierende soziale Ungleichheiten zur Folge hat, dass eben nur ein stets am finanziellen Limit kämpfender Sozialhilfebezüger auf die Idee kommt, Turnschuhe zu klauen, gewiss aber nicht ein Bankdirektor, der ein so hohes Einkommen hat, dass er oft sogar nicht einmal mehr weiss, was er damit überhaupt anfangen soll.

Richtet man den Fokus auf die historischen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesamtzusammenhänge, muss man unweigerlich zum Schluss gelangen,  dass die reichen Länder des Nordens nur deshalb so reich sind, weil die armen Ländern des Südens so arm sind. All die Privilegien, welche die Menschen in den reichen Ländern geniessen, sind nichts anderes als die Frucht eines mindestens 500 Jahre andauernden Raubzugs, in dem der natürliche Reichtum des Südens in den künstlichen Reichtum des Nordens verwandelt wurde. Deshalb sind Flüchtlinge aus den Ländern des Südens, die in die Länder des Nordens «einzudringen» versuchen, nicht Menschen, die uns etwas «wegnehmen» wollen, sondern nur Menschen, die sich einen ganz winzigen Teil dessen zurückzuholen versuchen, was wir ihnen über Jahrhunderte, unter Anwendung unbeschreiblicher Gewalt, weggenommen haben. Würde sich diese Erkenntnis in der breiten Bevölkerung durchsetzen, hätten die SVP und alle anderen politischen Parteien, die ihre Argumentationen auf einer systematischen Täter-Opfer-Umkehr aufbauen, früher oder später keine einzige Stimme mehr. Aber die, welche heute noch an der Macht sind und ihre Privilegien einzig und allein jahrhundertelanger Ausbeutung und jahrhundertelangen Diebstahls verdanken, werden alles daran setzen, dies zu verhindern.

Engel überall

Seit mir meine damals fünfjährige Enkelin nach dem Tod meiner Frau erklärt hat, dass sie nicht gestorben sei, sondern als Engel weiterlebe, glaube ich an Engel. Ich nehme sie jederzeit und überall wahr. Als würden sie nur darauf warten, dass wir Menschen ihre Liebesbotschaft endlich verstünden. Denn alleine schaffen sie es nicht. Sie brauchen unsere Hände, unseren Körper, unseren Geist, unsere Phantasie. Sie im Himmel und wir auf der Erde – wenn wir uns miteinander verbünden, dann können wir sie schaffen, die neue Welt.

Böses Erwachen nach der Wahl von Donald Trump: Höchste Zeit für eine radikale Selbstkritik

Gross war auch in der Schweiz in linken und intellektuellen Kreisen das Entsetzen über die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. Gründe dafür wurden hauptsächlich bei den viel zu vielen „ungebildeten“ Menschen gesucht, die sich von diesem „Populisten“ und „Demagogen“ – einige bezeichnen ihn sogar als „Faschisten“ – hätten über den Tisch ziehen lassen. Nur von Selbstkritik war praktisch nichts zu hören.

Dabei wäre es aus linker und intellektueller Sicht höchste Zeit, sich auch ein paar selbstkritische Fragen zu stellen. War Kamala Harris tatsächlich eine glaubwürdige Alternative? Wie geschickt haben sich die Linken und Intellektuellen im Wahlkampf verhalten? Müsste man nicht, statt sich in oberflächlichen Schuldzuweisungen zu verlieren, grundsätzlich die Frage stellen, in was für einer Welt wir denn eigentlich leben und weshalb so viele Menschen offensichtlich schon so verzweifelt sind, dass sie in Politikern wie Donald Trump so etwas wie die letzte Hoffnung auf ein besseres Leben setzen? Müsste man dann nicht, wenn man dieser Frage konsequent nachginge, früher oder später zum Schluss gelangen, dass die Schuld an allem vermutlich nicht vor allem bei einem besonders „demagogischen“ Präsidentschaftskandidaten und einem angeblich „ungebildeten“ und „manipulierbaren“ Volk liegt, sondern möglicherweise viel eher bei einem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, welches auf eine immer grössere soziale Ungleichheit, ein immer unverschämteres Hinabdrücken und eine immer arrogantere Entmündigung jener Abermillionen von Menschen hinausläuft, die mit ihrer täglichen Schufterei das ganze Gebäude, auf deren obersten Etagen sich neben den Reichen und Reichsten auch die überwiegende Mehrheit der sogenannten Linken und Intellektuellen sonnen, überhaupt noch vor dem drohenden Zusammenbruch bewahren? Wenn dann ausgerechnet jene, die von der Schufterei und dem täglichen knallharten Überlebenskampf derer an den untersten Rändern der Gesellschaft profitieren und sich auf deren Kosten jeden noch so unnötigen Luxus leisten können, diese dermassen Ausgebeuteten, wie das Joe Biden gegen Ende des Wahlkampfs tat, als „Müll“ bezeichnen, dann muss das Fass überlaufen.

Mittlerweile hat sich, genährt durch Armut, Ausbeutung, fehlende Wertschätzung, laufend steigende Lebenskosten und die permanente Konfrontation mit jenen privilegierteren Gesellschaftsschichten, die einen viel schöneren und weniger belasteten Alltag vorleben – den man selbst bei grösster Anstrengung nie erreichen und gegenüber dem man lebenslang im Hintertreffen bleiben wird – ein immenses revolutionäres Potenzial aufgebaut. Und genau dieses scheint nun Trump ganz einfach besser abgefangen zu haben als seine Kontrahentin – indem er sich als Systemkritiker und Gegner des „Establishments“ darstellte – obwohl er freilich selber auch ein Teil davon ist -, während Kamala Harris keine eigenen Visionen entfaltete, sondern bloss nachplapperte, was unzählige andere Politikerinnen und Politiker des herrschenden Mainstreams schon lange zuvor vorausgeplappert hatten und höchstwahrscheinlich auch weiterhin ausplappern werden. Die Unzufriedenheit in den benachteiligten Bevölkerungsgruppen ist mittlerweile dermassen gross, dass nur ein Politiker oder eine Politikerin, die Hoffnung auf „neue“ und „andere“ Zeiten zu wecken vermag, Chancen hat, gewählt zu werden. An jeden noch so kleinen Strohhalm würden sich die Menschen klammern, bloss um die Hoffnung nicht zu verlieren, dass sich etwas ändern wird – denn eigentlich, denken sie, kann es nur besser werden. Doch diese Hoffnung ist trügerisch. Denn auch Trump wird nicht viel zu verändern vermögen, solange nicht das kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell grundlegend überwunden wird. Und so stürzen die Menschen von einer Hoffnung zur nächsten und sind jedes Mal von Neuem enttäuscht, wenn sich ihre Hoffnungen nicht erfüllen. So wie damals bei Barack Obama, in den insbesondere die Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner immense Erwartungen gesetzt hatten, um anschliessend umso mehr enttäuscht zu sein und nicht mehr eine Demokratin – Hillary Clinton – zu wählen, sondern, mit Donald Trump, einen Republikaner. Gleichzeitig versinken durch diese wiederholten Enttäuschungen und zerstörten Hoffnungen immer mehr Menschen in Resignation und Verzweiflung.

„Es ist die Rache ganz normaler Leute“, sagt Scott Jennings, einst Berater von Ex-Präsident George W. Bush, „die zermürbt und beleidigt wurden. Sie sind kein Müll, keine Nazis. Sie sind einfach gewöhnliche Menschen, die jeden Tag zur Arbeit gehen, um ihren Kindern ein besseres Leben zu bieten. Diesen Leuten hat man zu erkennen gegeben, dass sie den Mund halten sollen. Dabei haben sie sich nur über Dinge beklagt, die sie im Alltag belasten: Hohe Preise, Kriminalität, die Folgen illegaler Einwanderung.“ Sie fühlen sich von den geistigen „Eliten“, den Akademikerinnen und Akademikern, den etablierten, gutverdienenden und bloss auf den Erhalt ihrer eigenen Privilegien und Machtpositionen bedachten Politikerinnen und Politikern im Stich gelassen. Das heisst nicht, dass eine Linke, die wieder erfolgreich politisieren will, auf jede Forderung und sämtliche Ängste der Bevölkerung „populistisch“ und unkritisch eingehen müsste. Aber sie müsste alles daran setzen, sich für Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit und das Wohl der Einzelnen einzusetzen. Und gleichzeitig müsste sie darüber aufklären, dass beispielsweise Kriminalität stets gesellschaftliche Ursachen hat und auch Migrantinnen und Flüchtlinge nichts anderes sind als Opfer des gleichen, auf 500 Jahren Ausbeutung und Kolonialismus beruhenden kapitalistischen Wirtschaftssystems und dass eine nachhaltige Lösung nicht darin bestehen kann, rund um die reichen Länder herum immer höhere Mauern zu bauen, sondern nur darin, eine weltweit gerechte Wirtschaftsordnung aufzubauen, so dass niemand mehr gezwungen ist, seine eigene Heimat zu verlassen, bloss um einigermassen überleben zu können.

Die Menschen an den unteren Rändern der kapitalistischen Klassengesellschaft, die einen Politiker wie Donald Trump zu ihrem Präsidenten wählen, sind nicht dumm. Im Gegenteil, sie durchschauen in aller Regel die Machtspiele der Reichen und Mächtigen sehr genau, besser sogar als all jene, die ein Leben lang – abgeschirmt vom täglichen Überlebenskampf auf der Strasse oder in herabgekommenen Wohnquartieren oder bei Arbeitstagen von 14 Stunden in Fabriken oder auf Gemüsefeldern bei Hitze und Kälte – in irgendwelchen Universitäten herumsitzen und so komplizierte Studien und Bücher verfassen, dass ein normaler Mensch sie nicht einmal verstehen, geschweige denn ihnen irgendeinen Sinn abgewinnen kann. Die Menschen an den unteren Rändern der kapitalistischen Klassengesellschaft würden auch Politikerinnen und Politkern wie Nelson Mandela, Martin Luther King oder Lula da Silva ihre Stimme geben. Aber wenn sie nur die Auswahl zwischen Donald Trump und Kamala Harris haben, dann wählen sie halt das kleinere Übel, und das ist eben der, welcher ein bisschen stärker auf die Pauke haut.

Das gilt ja alles nicht nur für die USA. Wie ja auch der Kapitalismus nicht nur in den USA wütet und immer verrücktere Blüten treibt, wenn auch dort besonders schlimm. Auch die deutsche AfD ist ein Auffangbecken für die immer zahlreicheren Opfer dieses auf reine Profitmaximierung und Ausbeutung von Mensch und Natur fixierte Wirtschaftsmodell, dessen Widersprüche immer klarer zutage treten. Und auch in Deutschland wird die Wut derer, die sich dagegen aufbäumen, nur immer noch stärker, wenn sie von den herrschenden Eliten als dumm, manipulierbar oder gar faschistisch beschimpft werden, ausgerechnet von jenen Eliten, die im Namen von „Demokratie“ und „Menschenwürde“ mit moralischem Zeigefinger gegen ihre politischen Kontrahenten auftreten, tatsächlich aber nichts anderes sind als Komplizen eines gnadenlosen weltweiten Ausbeutungssystems, an dessen oberem Ende sich immer mehr Multimilliardäre ansammeln und an dessen unterem Ende jeden Tag weltweit rund 10’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs qualvoll sterben müssen, weil sie nicht genug zu essen haben.

Auch der Erfolg der schweizerischen SVP beruht nicht nur auf falschen Versprechen und falschen Hoffnungen, sondern vor allem auf dem Versagen jener linken politischen Kräfte, die sich schon längst von ihren ursprünglichen revolutionären Idealen verabschiedet, sich himmelweit von den Sorgen und Nöten der „einfachen“ Menschen entfernt haben und sich lieber in ihre Ferienhäuschen in der Toscana zurückziehen, um dort und an vielen anderen genussvollen Orten von all den Privilegien zu profitieren, welche ihnen das sich nahtlose Einfügen in das kapitalistische Machtsystem beschert hat.

Wie sehr die Linke ihren ursprünglichen revolutionären Schwung verloren hat, zeigt sich ja auf geradezu absurde Weise bei all jenen Themen, auf die sie sich in letzter Zeit immer akribischer fokussiert. Doch mit Gendersternchen lässt sich nun mal weder das Patriarchat noch der mit ihm unauflöslich verbundene Kapitalismus mit sämtlichen seiner Ausbeutungsmechanismen wirkungsvoll überwinden. Und das müsste doch das eigentliche Hauptziel einer glaubwürdigen Linken sein. Und steht sogar immer noch, wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, im Parteiprogramm der schweizerischen Sozialdemokratischen Partei…

Die Revolution kann man nicht mieten, um sie für immer zu behalten. Man muss sie immer wieder neu erkämpfen, jeden Tag ab dem Punkt Null. Jetzt gerade droht das in allen Menschen im tiefsten Inneren steckende revolutionäre Potenzial, die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit, Frieden und einem guten Leben für alle, der Linken ganz gehörig zu entgleiten und in die Hände der Rechten geraten zu sein. Will sie es wieder zurückholen, muss sie sich ganz gehörig auf die Socken machen. Denn die unten sind längst bereit. Nur die oben haben immer noch nicht begriffen, dass die Zukunft der Menschheit nicht in Raffgier und Macht um der Macht willen liegen kann, sondern nur darin, alles Vorhandene möglichst gerecht miteinander zu teilen…